Charles Riesen - Der Arbeitsmarkt

Arbeitswelt
Charles Riesen
Mein Tag als Parlamentsweibel
Stolz bin ich, wenn ich morgens das Bundeshaus betrete. Noch
immer spüre ich diese besondere, geschichtsträchtige Atmosphäre im eichenholzgetäferten Ratssaal, unabhängig davon,
ob der Saal leer ist oder der Rat tagt. Während der Sessionen,
also in der Zeit, in der das Parlament dreiwöchige Beratungen
abhält, schlüpfe ich bereits vor 6 Uhr aus dem Bett: schnell,
schnell duschen, eilig Kaffee kochen, dann los. Immer mit
guter Laune! Ich gehe gerne zur Arbeit. Während der Sitzungen muss ich als Weibel stets präsent sein. Je nach Debatte
im Parlament enden die Tage nicht wie vorgesehen um 19 Uhr.
Unplanbarkeit ist unser Berufsrisiko. Weibel sein lernen
wir im Tun. Ich bin seit 14 Jahren dabei, nachdem ich zuvor
im Sicherheitsdienst im Casino gearbeitet hatte, Geldtransporte, Personenbetreuung, Sicherheit.
Im Bundeshaus diene ich vor allem dem Ständerat. Früher
waren wir diejenigen, die Dossiers und Dokumente für die
parlamentarischen Geschäfte vorbereiteten und auf die Plätze der Ratsmitglieder legten. Heute sind meine fünf Kollegen
und ich Mädchen für alles. Ich recherchiere Telefonnummern, reserviere Hotels, bediene Konferenzanlagen und
organisiere Meetings im Bundeshaus. Aufwendiger zu planen
sind auswärtige Sitzungen, die verschiedene Kommissionen
gemeinsam mit einem gastgebenden Kanton ausrichten.
Die Qualitäten eines Weibels sind auch in der Wirtschaft
gesucht: kommunikativ, diskret und ausgebildet für unvorhergesehenes Troubleshooting.
Der Weibel ist ursprünglich nicht nur Amtsdiener für
Dienst- und Botengänge, sondern hat protokollarische Aufgaben, zum Beispiel bei der Vereidigung eines Bundesrates.
Bei zeremoniellen Diensten lege ich den offiziellen Umhang
über in den Schweizer Farben Rot und Weiss. Darunter trage
ich eine einfache graue Uniform. Anhand der Plakette auf der
Brust lassen sich Parlamentsweibel von Bundesratsweibeln
und Gerichtsweibeln unterscheiden. Der Löwenkopf symbolisiert die Stärke, die Säulen rahmen und schützen das mittig
platzierte Schweizerkreuz.
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der
arbeitsmarkt
3 I 2015
Mein Beruf privilegiert mich, weil ich im Bundeshaus
arbeiten darf und erfahre, was die Mächtigen umtreibt. Ich
muss zu jeder Zeit verschwiegen und diskret sein, das ist
Voraussetzung für diese Vertrauensstellung. Selbstverständlich weiss ich mich zu kontrollieren, wenn ich in meiner
Funktion repräsentiere. Egal, worüber Parlamentarier diskutieren oder was ich in einer Limousine auf einer späten
Dienstfahrt höre, bei mir muss alles gut aufgehoben sein.
Keine Ausnahme! Selbst das Mienenspiel beherrsche ich,
das habe ich im Militär gelernt. Manchmal könnte ich im
Inneren mitlachen, nach aussen würde das nie jemand erkennen. Ich gelte unter Kollegen als sehr loyal, pünktlich,
kompetent und als immer ausgeglichen. Diese Fähigkeiten
erleichtern mir vieles.
Im Bundeshaus sind die 246 Parlamentarier meine Kunden. Nach jeder Wahl muss ich die neuen Namen lernen und
die dazugehörenden Gesichter erkennen. Ich unterstütze
jeden Parlamentarier oder jede Parlamentarierin und bin
erster Ansprechpartner für ihre Bedürfnisse und Anliegen.
Während die Weibel, die für einen Bundesrat arbeiten, schon
einmal ein Mittagessen kochen, darf ich auf die «Galerie des
Alpes» verweisen, das Restaurant in der Wandelhalle des
Bundeshauses. Ein wenig Mühe bereiten mir Situationen, in
denen Bedenkenträger als Bremsklötze wirken. Wir müssen
flexible Dienstleister sein; mich stört, wenn ich einem Ratsmitglied einen Gefallen nicht erfüllen kann oder darf.
Ich erhole mich abends oder wenn ich Überzeiten aus den
Sitzungsperioden abbaue. Gerne hole ich den Töff aus der
Garage und drehe eine Runde. In der Freizeit spielt mein
Ursprungsberuf als Automechaniker noch eine Rolle. Ich
habe ein Auto – die Marke verrate ich nicht – mit gleichem
Baujahr wie ich, 1966. Daran schraube ich zur Erholung leidenschaftlich gerne. Ansonsten raus ins Grüne, aber ohne
sportliche Hochleistungen; das hilft mir am besten, Abstand
zu gewinnen und die Kräfte zu schonen.
Mit Charles Riesen, 48, sprach Dorothea Bergler
Foto Simone Gloor
«Ich gelte
unter Kollegen
als sehr loyal,
pünktlich,
kompetent
und als immer
ausgeglichen.»