_ Fahrzeugentwicklung im Umbruch

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_ Fahrzeugentwicklung im
Umbruch – Baukastenstrategien
allein reichen nicht aus!
Seit Jahren beschäftigen sich die Entwicklungsabteilungen der
Automobilindustrie mit der Verkürzung der Produktentwicklung,
besserer Teilewiederverwendung, Variantenmanagement und
Baukastenstrategien. Doch der zunehmende Anteil von Software
und Elektrik/Elektronik sowie global verteilte Entwicklungsnetzwerke führen zu neuen Herausforderungen. Systems Engineering und Collaborative Engineering sind zwei der wichtigsten Fokusthemen für die kommenden Jahre und das Product Lifecycle
Management liefert die Lösungskonzepte für deren Realisierung.
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_ Die funktionale Absicherung des Produktes über eine optimierte Reifegradsteuerung von Funktion und Bauteil im
Entwicklungsprozess hilft Kosten und Entwicklungszeit in Einklang zu bringen. Zu
früh zu gut zu sein, ist mitunter sehr kostenintensiv, bedingt durch die Erstellung
von frühen, meist physikalischen Prototypen – eine späte Funktionsreife bedeutet
hingegen ein hohes Risiko, die Qualität
zum Serieneinsatztermin nicht zu erreichen.
Anzahl
testbarer
Funktionen
SOLL
Entwicklung
Foto: BMW Illustrationen: iStockphoto/Alex, NTT Data/Sabine Werner
Funktionshub
Nachfolgend einige Anwendungen und
Nutzenpotenziale von Systems Engineering in der Automobilentwicklung:
_ Ein integriertes Funktionsmanagement
schafft die Voraussetzung für die Wiederverwendung von Funktionen über Baureihen und Derivate (z. B. Einklemmschutz
beim Schließen einer Seitenscheibe). Durch
zentralisierte
Funktionsbeschreibungen
und -modelle stellt es die Grundlage einer
erfolgreichen Gleichteilstrategie dar.
_ Durch die Verwendung von funktionalen
Strukturen über alle Phasen des Produktlebenszyklus kann z.B. ein Fehlverhalten im
Fahrzeug bei einem Werkstattbesuch den
zentral gepflegten Funktionen zugeordnet
und damit in die Entwicklung zurückgespielt werden.
virtuelle
Entwicklung
Release n
IST
Entwicklung
Fehlerbehebung zur Serienreife
Systems Engineering - Integration
der Disziplinen
Systems Engineering setzt Anforderungen,
Funktionen (z. B. Heckklappe schließt auf
Gestik) und deren Wirkzusammenhang
zueinander in Beziehung und betrachtet
diese als ganzheitliches System. Hierzu
werden die Disziplinen Anforderungsmanagement, Konfigurations- und Änderungsmanagement, sowie die integrierte
Absicherung miteinander vernetzt und
zunehmend modellhaft abgebildet. So lassen sich beispielweise die Auswirkungen
der Integration neuer Funktionen in ein
Produkt virtuell analysieren und daraus resultierende Effekte sichtbar machen. Dies
erlaubt schnellere und bessere Entscheidungen und hilft Kosten zu sparen.
t
_ Unter Einbeziehung zukünftiger Anforderungen in den Bereichen (Elektro-) Mobilität und vernetztes Fahrzeug (Connectivity)
reicht die isolierte Betrachtung des Produktes Automobil nicht mehr aus. Der Kunde erwartet zukünftig Mobilitätslösungen,
bestehend aus dem Fahrzeug selbst und
ergänzenden Services abgestimmt auf die
individuelle Nutzung des Fahrzeugs. Damit
sind Services als integraler Bestandteil des
Gesamtproduktes Fahrzeug (= System) zu
betrachten. Die Möglichkeit zur Überprüfung der Verfügbarkeit von Ladestationen
im Umkreis der verbleibenden Restreich-
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weite ist ein entscheidender Faktor für
den Markterfolg der Elektromobilität und
erfordert die Berücksichtigung der Bereitstellung von Infrastrukturinformationen
als Teil des Entwicklungsprozesses. Durch
die ganzheitlichen Methoden des Systems
Engineering kann dies sichergestellt werden.
Im Kontext Systems Engineering werden
die funktionsorientierte Produktentwicklung und die modellbasierte Systementwicklung als Hebel für Veränderungen
genutzt und intensiv weiterverfolgt. Bis
zur komplett modellbasierten Entwicklung ist, unter anderem wegen noch nicht
durchgängig produktiv einsetzbarer standardisierter Methoden und Werkzeuge,
noch eine Wegstrecke zurück zu legen.
Dabei bietet die Modellbildung gerade im
frühen Stadium der Funktionsentwicklung
die Chance, qualitativ hochwertige Aussagen hinsichtlich der Produktgestaltung zu
treffen, bevor in die kostenintensive Entwicklung physikalischer Prototypen und
Software investiert wird.
lungsansätze bereits erfolgreich im produktiven Einsatz, bei denen vor der technischen
Architektur die logischen Funktionsnetze
spezifiziert werden. Die Zielsetzung besteht
darin, den Einsatz dieser Methoden auch
für komplexe Aufgabenstellungen, z. B. im
Zusammenhang mit der Entwicklung von
Lösungen zum autonomen Fahren, zu erweitern und deren Übertragbarkeit auf die
gesamte Mechatronik-Entwicklung zu
prüfen. Durch konsequente Anwendung
der funktionsorientierten Arbeitsweise
auf Basis standardisierter Methoden und
Tools lässt sich zudem die Synchronisation
zwischen on-board und off-board IT leichter herstellen. Der zunehmende Einsatz
von Autosar in Steuergeräten ermöglicht
die Entkopplung von Soft- und Hardware,
wodurch Teilaufgaben an Zulieferer ausgelagert und dadurch Einsparungspotenziale
realisiert werden können.
Im Bereich der Fahrzeugsoftware-Entwicklung sind funktionsorientierte Entwick-
Collaborative Engineering - Globale
Entwicklungsnetzwerke
Die zunehmende Vernetzung der Automobilindustrie mit ihren Entwicklungspartnern und Zulieferern wird durch regelmäßige Ankündigungen neuer Marken,
Kooperationen innerhalb der Branche,
Systems Engineering.
Der zunehmend höhere Anteil von Software und
Elektrik/Elektronik im Fahrzeug, unter anderem
bedingt durch zunehmend komplexere Assistenzsysteme, erfordert eine Integration der Entwicklungsmethoden und eine bessere Synchronisation
der Entwicklungsdisziplinen. Dies führt zu einer
Renaissance des Systems Engineering-Gedankens,
der ursprünglich aus der Luft- und Raumfahrtindustrie stammt.
Collaborative Engineering.
Global verteilte Entwicklungsnetzwerke statt zentraler Entwicklungszentren sind bereits Realität und
werden weiter zunehmen. Sowohl unternehmensinterne, als auch unternehmensübergreifende Kooperationen, Joint Ventures und Beteiligungen führen
zu immer komplexeren Prozessen. Damit steigen
auch die Anforderungen an die Kollaborationsfähigkeit der Beteiligten und deren Flexibilität bezüglich
sich verändernder Geschäftsbedingungen.
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Joint Ventures und Beteiligungen deutlich.
Neue Geschäftsmodelle wie ad-hoc car
sharing oder online-Services im Fahrzeug
und der Trend in Richtung Elektromobilität erfordern darüber hinaus vermehrt
branchenübergreifende
Kooperationen,
z. B. um Bezahlservices für Mietmodelle
anzubieten oder die Verfügbarkeit von Ladestationen für Elektrofahrzeuge sicher
zu stellen. Es müssen nicht nur Fahrzeuge,
sondern auch die passenden Serviceprodukte entwickelt und über ihren Produktlebenszyklus verwaltet und gesteuert
werden. Dadurch entsteht ein zunehmend
komplexer werdendes Netzwerk an Entwicklungspartnerschaften.
Vorhaben in diesem Umfeld sind dadurch
gekennzeichnet, dass die erforderlichen
Konzepte, Prozesse und IT-Lösungen innerhalb kürzester Zeit entwickelt und implementiert werden sollen, obwohl meist noch
nicht alle Businessanforderungen geklärt
sind. Dazu müssen Annahmen getroffen,
im Projektverlauf regelmäßig überprüft
und sukzessive angepasst werden. Einige Kernprozesse und Basisanforderungen
sind jedoch für alle Kooperationsmodelle
ähnlich oder gleich, sodass die Entwicklung von Prozess- und IT-Templates einen
sinnvollen Ansatz darstellt.
Häufig ist der erste naheliegende Gedanke, neue Entwicklungsstandorte mit exakt
den gleichen Prozessen und IT-Lösungen
auszustatten, die auch im Mutterhaus eingesetzt werden. Dieses Vorgehen hat den
Vorteil schnell arbeitsfähig zu werden,
passt aber aufgrund der unterschiedlichen
Rahmenbedingungen in den meisten Fällen nur bedingt. Ein unterschiedliches Aufgabenspektrum, deutlich kleinere Teams,
die eingeschränkte Verfügbarkeit von
Skills oder die kulturellen Unterschiede
erfordern neue und flexiblere Lösungsansätze. Viele in den letzten Jahrzehnten
monolithisch gewachsene IT-Kernsysteme
bei den OEMs sind hocheffizient auf sehr
spezifische Anforderungen und Prozesse
hin optimiert worden. Sie sind wenig flexibel anpassbar und meist nur mit erheblichem Aufwand skalierbar. Somit sind
teilweise neue Lösungen einzuführen, was
neben der Herausforderung jedoch gleichzeitig eine Chance darstellt. Durch die
Neuentwicklung können Erfahrungen mit
moderner, modularer IT-Technologie gesammelt und auf dieser Basis schlanke und
wiederverwendbare Lösungen entwickelt
werden.
Chancen zur Differenzierung durch
Systems und Collaborative Engineering
Systems Engineering stellt sicher, dass Anforderungen an neue Produkte durch einen
reifegradgesteuerten Entwicklungsprozess
optimal in Produktfunktionen umgesetzt
werden. Risiken in der Serienentwicklung
werden durch den steigenden Anteil der
virtuellen Absicherung minimiert. Die Fehlerhäufigkeit, speziell an der Schnittstelle
zwischen Hardware, Software und Elektrik/Elektronik wird durch die ganzheitliche Betrachtung des Systems minimiert
und leistet einen Beitrag zur Reduzierung
der Gewährleistungskosten. Die Simulation alternativer Lösungskonzepte und die
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Trennung von Hardware und Software in
der E/E-Entwicklung unterstützt Make-orBuy Entscheidungen mit positiven Effekten
auf die Beschaffungskosten.
Die Fähigkeit, mit Prozess- und IT-Templates neue Collaborative Engineering
Szenarien zu unterstützen, schafft Wettbewerbsvorteile durch Flexibilität. Die Bildung neuer oder die Auflösung von Kooperationen und Lieferantenbeziehungen ist
kein Hindernis mehr, sondern ein ‚enabler‘
für neue Businessmodelle. Unternehmen
können so schneller auf Marktveränderungen reagieren. Da die Steuerungsmechanismen und Zugriffsmöglichkeiten
innerhalb des Entwicklungsnetzwerkes
nach einheitlichen Regeln funktionieren,
können Entwicklungsaufgaben flexibel innerhalb des Unternehmens oder an Partner
verteilt werden. Darauf aufbauend lassen
sich Collaboration-Tools effizienter einsetzen und fördern die Zusammenarbeit von
Teams, als auch die Wiederverwendbarkeit
von Entwicklungsergebnissen im Unternehmen.
Und was hat das mit PLM zu tun? –
Die IT als Schlüsselfaktor
Die Realisierung von Systems und Collaborative Engineering bedarf einer abgestimmten PLM-Strategie als Grundlage der
zu implementierenden Prozesse. Dabei ist
es wichtig, PLM als Managementkonzept
mit weitreichenden Auswirkungen auf die
Organisation, Prozesse und IT zu verstehen und nicht als reine IT-Lösung. PLM
stellt mit seinen Kernprozessen wie z. B.
Produktportfolio- und Anforderungsma-
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nagement, Änderungs- und Freigabemanagement,
Produktstruktur/Konfigurationsmanagement, Digital Mock-Up und
Absicherungsprozesse sowie den diese
Prozesse unterstützenden IT-Lösungen die
Grundlagen zur Realisierung des Systems
und Collaborative Engineering Gedankens
bereit.
Die führenden PLM-Systemanbieter haben
Systems und Collaborative Engineering
in den Mittelpunkt ihrer Marketing- und
Produktstrategien gestellt und bereits eine
Reihe von Kundenanforderungen in die
Roadmap zur Weiterentwicklung der Systeme einfließen lassen. Dadurch haben
sich die angebotenen IT-Lösungen in den
letzten Jahren deutlich weiterentwickelt.
Themen wie ein integriertes Anforderungsmanagement oder neue Funktionalitäten
für die E/E-Entwicklung rücken in den Vordergrund. Sie bedürfen aber weiterer Anstrengungen, um den für einen durchgängigen produktiven Einsatz notwendigen
Reifegrad zu erreichen.
Wo der Entwicklungsaufwand zu hoch
erscheint, verstärken sich die PLM-Systemanbieter durch Zukäufe von komplementären IT-Lösungen. Aber auch in
diesen Fällen bleibt ein meist erheblicher
Aufwand zur Integration der neuen Systeme in das bestehende Produktportfolio.
Auch auf absehbare Zeit werden die Systems Engineering Anforderungen nicht
durch eine einzige IT-Lösung abdeckbar
sein, sondern nur durch eine Kombination
mehrerer, möglichst weniger Systeme mit
einem hohen Abdeckungsgrad und leichter
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Anpassbarkeit. Unter Berücksichtigung des
Lebenszyklus der einzelnen Applikationen
ist es unumgänglich, die geplanten Vorhaben durch eine strategische Bebauungsplanung der Engineering-IT zu unterstützen.
Die Umsetzung von Systems und Collaborative Engineering ist alternativlos
Die in den vergangenen Jahren erfolgreich
durchgeführten Pilotprojekte und produktiven Lösungen in den Themen Systems
und Collaborative Engineering zeigen
deutlich das Potenzial dieser Ansätze auf.
Disziplinübergreifend müssen Vertreter
der beteiligten Organisationseinheiten,
sowohl der Fachbereiche, als auch der IT,
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ein ambitioniertes, aber auch realisierbares
Scoping der Entwicklungsprojekte erarbeiten und die Umsetzung der geplanten Maßnahmen stringent steuern. Auch wenn dies
eine echte Herausforderung für alle beteiligten Unternehmen ist: Es gibt keine Alternative zur konsequenten Weiterverfolgung
einer möglichst weitreichenden Umsetzung von Strategien und Konzepten für
Systems und Collaborative Engineering,
um die Wettbewerbsfähigkeit von Automobilunternehmen im globalen Wettbewerb
sicher zu stellen.
Autoren: Frank Schmidt/Vice President Product Lifecycle Management, Matthias Fickler/
Senior Manager Electric/Electronic
Interdisciplinary structured development process
System Development
Mechanics
Electronics
Software
Domain Layer
System
Sub-System
Component
System Development Process Layer
Development
Processes, Tools
FEM
CAT
ECAD
CAD
Layout
FMI
HIL
DMU
SIL
AUTOSAR
ODX
nach Prof. Eigner
Application Layer
Information
Management
PLM Backbone as „digital reference“
PLM IT Infrastructure (SOA, Web Services, Cloud)
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