Rechtsgutachten von Prof. Dr. Schachtschneider - AfD

Winterabschiebeaussetzung im Freistaat Thüringen
Gutachterliche Stellungnahme
für die Fraktion der Alternative für Deutschland im Thüringer Landtag
Karl Albrecht Schachtschneider
Das Innenministerium des Freistaates Thüringen hat am 9. Dezember 2014 gegenüber dem Vizepräsidenten des Landesverwaltungsamtes angeordnet:
„Anordnung der Aussetzung von Abschiebungen gemäß § 60 a Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG)
in ausgewählte Staaten während der Wintermonate
Sehr geehrter Herr…
Es kann nicht gewährleistet werden, dass bei Rückführungen in bestimmte Staaten aufgrund der dort
herrschenden winterlichen klimatischen Verhältnisse Betroffene bei Rückkehr in allen Landesteilen
eine Aufnahme in Sicherheit und Würde erwartet. Nach hiesigen Erkenntnissen trifft dies auf die folgenden Staaten zu:
Afghanistan, Albanien, Armenien, Aserbeidschan, Bosnien-Herzegowina, Irak, Iran, Kosovo, Mazedonien, Montenegro, Pakistan, Russische Föderation, Serbien, Türkei, Ukraine.
Daher ordne ich gemäß § 60 a Abs. 1 AufenthG an, Abschiebungen in die vorstehend genannten Staaten bis zum
31. März 2015
auszusetzen.
Ausgenommen von dieser Anordnung sind Personen, bei denen eine vollziehbare Abschiebungsanordnung nach § 58 a AufenthG erlassen worden ist, Ausweisungsgründe nach den §§ 53, 54 oder 55 Abs.
1, 2 Nrn. 1 bis 5 und 8 AufenthG vorliegen oder die wegen einer im Bundesgebiet begangenen Straftat
verurteilt worden sind, wobei Geldstrafen von bis zu 50 Tagessätzen außer Betracht bleiben können.
Diese Anordnung gilt für Personen, für die eine Thüringer Ausländerbehörde zuständig ist.
Ich bitte, die Ausländerbehörden umgehend zu unterrichten.
Mit freundlichen Grüßen
Im Auftrag
Ministerialdirigent“
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Die Anordnung der Winterabschiebeaussetzung im Freistaat Thüringen durch dessen Innenministerium ist auf § 60 a Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland gestützt. Diese
Vorschrift lautet:
„Die oberste Landesbehörde kann aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur
Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von
Ausländern aus bestimmten Staaten oder von in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen allgemein oder in bestimmte Staaten für längstens sechs Monate ausgesetzt wird“.
Ergebnis
Die Anordnung des Innenministeriums ist rechtswidrig und unwirksam.
§ 60 a Abs. 1 AufenthaltsG ist keine tragfähige Grundlage der Anordnung des Innenministeriums.
Diese Vorschrift missachtet grundlegende Prinzipien des Rechtsstaates, nämlich das Prinzip der Gesetzlichkeit des Verwaltungsvollzugs, von dem der Gesetzgeber nicht suspendieren oder zu suspendieren ermächtigen darf, und das Prinzip der Bestimmtheit der Gesetze, welche Vorschriften gebieten, die
mit hinreichender Voraussehbarkeit anwendbar sind.
Die Anordnung ist zudem nicht auf „humanitäre Gründe“ im Sinne des § 60 a Abs. 1 AufenthaltsG
gestützt. „Winterliche klimatische Verhältnisse“ sind kein Hinderungsgrund für die Rückkehr in einen
Herkunftsstaat, der die Abschiebung unzumutbar macht, weil die „Betroffenen bei Rückkehr“ nicht
„in allen Landesteilen eine Aufnahme in Sicherheit und Würde erwarten“ können.
Völkerrechtliche Gründe oder politische Interessen der Bundesrepublik Deutschland macht die Anordnung ersichtlich nicht geltend.
Die Thüringer Landtagsfraktion der Alternative für Deutschland ist befugt, beim Verfassungsgericht
des Freistaates Thüringen den Antrag zu stellen, die Rechtsmäßigkeit der Anordnung des Innenministeriums über die Aussetzung der Abschiebungen vom 9. Dezember 2014 zu prüfen.
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Begründung
I
Kritik des § 60 a Abs. 1 Aufenthaltsgesetz
Der Begriff der „humanitären Gründe“ in § 60 a AufenthaltsG ist grenzenlos weit. Er ist in einem
Rechtsstaat wegen seiner Unbestimmtheit nicht geeignet, die Aussetzung der Vollziehung eines Verwaltungsaktes, eine Abschiebung, zu rechtfertigen. Der Begriff ist ohne Willkür nicht subsumtionsfähig. Er könnte allenfalls durch eine Rechtsverordnung näher materialisiert werden. § 60 a Abs. 1 AufenthaltsG ermächtigt aber nicht zum Erlass von Rechtsverordnungen. Nach Art. 80 Abs. 1 GG kann
der Bund nur eine Landesregierung zum Erlass von Rechtsverordnungen ermächtigen, nicht aber Landesminister. Es wäre zudem mit der Rechtsstaatlichkeit eines unitarischen Bundestaates unvereinbar,
wenn ein Land ermächtigt würde, die Ausführung von Bundesrecht auf Grund einer Rechtsverordnung
als einem materiellen Gesetz auszusetzen. Nach Art. 84 Abs. 3 GG kommt nur eine Ausführung der
Bundesgesetze in Frage, die dem Gesetz genügt. Davon kann auch der Bund die Länder nicht suspendieren. Der Aufenthalt der Ausländer, die kein Recht zum Aufenthalt in Deutschland haben, ist illegal
und bleibt illegal, auch wenn die Abschiebung auf Grund einer Anordnung nach § 60 a AufenthaltsG
ausgesetzt ist. Nach § 60 a Abs. 3 AufenthaltsG bleibt die Ausreisepflicht des Ausländers, dessen Abschiebung ausgesetzt ist, unberührt.
Humanitär ist es, menschlich zu handeln. Menschlichkeit (Humanitas, Humanität) ist der Imperativ
eines freiheitlichen Gemeinwesens. Sie ist die Sittlichkeit, dessen Gesetz der kategorische Imperativ
ist, das Sittengesetz. Dieser Imperativ der allgemeinen und gleichen Freiheit steht in Art. 2 Abs. 1 GG,
der die Fundamentalnorm des Grundgesetzes, Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG, die Unantastbarkeit der Menschenwürde, näher entfaltet. Die gesamte Ordnung der Republik ist um Menschlichkeit bemüht, also
humanitär. Was die Humanität gebietet, ist offen, wenn nicht formal und damit material unbestimmt.
Sie wird durch die Rechtsordnung insgesamt materialisiert. Inhumane Vorschriften gehören nicht in
eine freiheitliche und demgemäß demokratische Rechtsordnung. Für eine freiheitliche und demokratische Ordnung fundamental sind die Menschenwürde als Leitprinzip und die Menschrechte, aber auch
die Strukturprinzipien, die Art. 20 GG ausweist, nämlich das demokratische, das soziale und insbesondere das Rechtsstaatsprinzip.
Zum letzteren gehört die rechtliche Gesetzlichkeit. Sie besagt, dass die Ausübung der Staatsgewalt,
das wesentliche Handeln des Staates, außer der Gesetzgebung und Rechtsprechung der rechtmäßige
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Vollzug von Gesetzen ist (Art. 20 Abs. 2 S. GG). Rechtmäßig können aber nur Gesetze vollzogen
werden, die hinreichend bestimmt sind. Allzu offene oder gar unbestimmte Gesetze ermöglichen der
Verwaltung Willkür, jedenfalls machen sie die Verwaltung vom Gesetzgeber unabhängig und lösen
die Verwaltung von der demokratischen Legalität, weil der Vollzug des Willens des Volkes, der in
den Gesetzen beschlossen liegt, nicht gesichert ist. Außerdem lassen allzu offene und unbestimmte
Gesetze keine Bindung der Richter an die Gesetze zu und delegalisieren dadurch die Rechtsprechung.
Das Bestimmtheitsprinzip ist ein Kardinalprinzip des Rechtsstaates.
Ein Tatbestandsmerkmal wie das der „humanitären Gründe“ delegiert die Rechtsetzung an die Verwaltung. Das lässt der demokratische Rechtsstaat nicht zu. Selbst als Ermächtigung, Rechtsverordnungen
zu erlassen, wäre diese Formel bedenklich, weil deren Inhalt, Zweck und Ausmaß schwerlich zu bestimmen wären. § 60 a Abs. 1 AufenthaltsG ist aber, wie gesagt, keine Verordnungsermächtigung. Die
Vorschrift ermächtigt vielmehr die Verwaltung, genauer die oberste Landesbehörde, zur Anordnung,
den gesetzesgemäßen Vollzug des Abschiebungsrechts auszusetzen. Das widerspricht dem Rechtsstaatsprinzip. Auch das Asylrecht und das Aufenthaltsrecht sind Teil der humanen Rechtsordnung
Deutschlands, also humanitär. Sie lassen keine Verwaltungsakte zu, welche die Humanität missachten.
Ganz im Gegenteil, das Asylrecht wie das Aufenthaltsrecht von Ausländern gilt ausgesprochen als Teil
des humanitären Rechts unter den Völkern.
In einem engeren Sinne ist es „humanitär“, die elementaren Prinzipien des menschlichen Lebens zu
achten und zu schützen. Das sind die Menschenwürde und die Menschenrechte. Sie gehören ausweislich Art. 2 EUV zu den „Werten“ der Europäischen Union und sind, wie gesagt, Fundamentalprinzipien
des Grundgesetzes. Es gibt demgemäß keine Ablehnung von Asylanträgen und keine Abschiebeverfügungen, welche gegen die Menschenwürde oder die Menschenrechte verstoßen. Das Asylrecht definiert die politische Verfolgung, die Ausländern ein Asylrecht gibt, geradezu durch die Gefahr für die
Menschenwürde und die durch die Menschenrechte geschützten Güter des Menschen, zumal Leben
und körperliche Unversehrtheit. Die Gefahr muss politisch sein, also entweder von Staaten oder von
politischen Akteuren ausgehen. Die wirtschaftliche Not im Heimatstaat begründet kein Asylrecht.
§ 60 AufenthaltsG formuliert in den Absätzen 1, 5 und 7 Abschiebeverbote, wenn Menschenwürde
oder Menschenrechte (nach der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950) in Gefahr kommen könnten. Die Abschiebeaussetzungsermächti-
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gung des § 60 a Abs. 1 AufenthaltsG erlaubt somit dem Innenministerium, den Vollzug einer Entscheidung mit Gründen aussetzen zu lassen, die nach der Abschiebeverfügung rechtens nicht bestehen können. Das ist mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar.
Diese Fragwürdigkeit wird nicht dadurch behoben, dass die Aussetzungsanordnung nicht Einzelfälle
betrifft, sondern Gruppen von Ausländern, die abgeschoben werden sollen, im Falle der Anordnung
des Innenministeriums von Thüringen der Gruppen, die in bestimmte Staaten abgeschoben werden
sollen. Das verschärft den Rechtsstaatsverstoß der Ermächtigung und der auf diese gestützte Aussetzungsanordnung.
II
Restriktive Auslegung des Begriffs „humanitäre Gründe“ in § 60 a Abs. 1 Aufenthaltsgesetz als
Typusbegriff
Eine sehr restriktive, also enge, Auslegung des Begriffs der „humanitären Gründe“ im Sinne eines
Typusbegriffs mag tragfähig sein. Ein Typusbegriff ist nicht auf subsumtive Anwendung ausgerichtet,
sondern auf analoge Anwendung auf Fälle, die dem typischen Fall vergleichbar sind und darum dieselbe Handhabung rechtfertigen. Der Typusbegriff muss eine gängige Vorstellung des erfassten Sachverhalts bezeichnen, muss somit einen prägnanten Anwendungsbereich haben. Nur in engem Verständnis kann der Begriff „humanitäre Gründe“ ein derartiger Typusbegriff sein. Man spricht von humanitären Katastrophen. Das bestimmende Wort dieses Begriffes ist die Katastrophe. Es erscheint vertretbar, den Begriff der „humanitären Gründe“ in einem derart engen Sinne zu verstehen. Das würde rechtfertigen, dass die oberste Landesbehörde anordnen kann, in Fällen, in denen Katastrophen eine Abschiebung in das Katastrophengebiet unzumutbar machen, die Abschiebungen in den betroffenen Staat
allgemein für bis zu sechs Monate auszusetzen. Derartige katastrophale Verhältnisse in einem Land
können verschiedene Ursachen haben, Naturkatastrophen, Kriege, Bürgerkriege. Allgemeine wirtschaftliche Not im Lande gehört nach allgemeiner Ansicht nicht zum Typus „humanitäre Gründe“.
Keinesfalls kann Winterkälte dazu gerechnet werden. Wenn etwa Schneeeinbrüche die Einreise unmöglich machen, ist die Abschiebung ohnehin aus tatsächlichen Gründen unmöglich und durch § 60 a
Abs. 2 AufenthaltsG verboten.
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Winterliche Kälte gefährdet in keiner Weise elementare Prinzipien des Lebens, weder die „Sicherheit“
noch gar die „Würde“ eines Menschen. Alle Menschen in dem Heimatstaat des rückkehrenden Ausländers müssen den Winter ertragen und jeder Staat hat hinreichende Möglichkeiten, die vergleichsweise wenigen Menschen, seine Staatsangehörigen, die zurückkehren, aufzunehmen und unterzubringen. Im Zweifel werden die abgeschobenen Ausländer zu ihren Familien, jedenfalls in ihre Städte oder
Dörfer zurückkehren. Ganz davon abgesehen ist keinesfalls ausgemacht, dass in all den betroffenen
Staaten winterliche Kälte herrscht und gar eine Eiseskälte, die lebensbedrohlich oder gesundheitsgefährdend wäre. Es ist bezeichnend, dass das Ministerium die Gründe für die Abschiebeaussetzung mit
den Worten „Sicherheit“ und „Würde“ mehr als unspezifisch benennt. Es hat schlicht keine Gründe
angeführt, die eine Abschiebung in die jeweiligen Staaten im Sinne „humanitärer Gründe“ unzumutbar
macht. Andere denkbare „humanitäre Gründe“ (als die insoweit ungeeignete winterliche Kälte), wie
sie in Staaten, die einem Krieg oder Bürgerkrieg ausgesetzt sind, bestehen können, hat das Ministerium
nicht zur Grundlage seiner Anordnung gemacht.
Neben „humanitären Gründen“ in den Heimatstaaten der abzuschiebenden Ausländer kann es „humanitäre Gründe“ in Deutschland geben, die zu einer Aussetzungsanordnung von Abschiebungen veranlasst. Es gibt Beispiele der Praxis zu § 23 Abs. 1 AufenthaltsG und zu dem Vorläufer dieser Vorschrift,
§ 32 AusländerG. Als hinreichende Gründe nach diesen Vorschriften wurden besondere geschichtliche
Verpflichtungen Deutschlands gegenüber Ausländern jüdischen Glaubens, Zusammenhalt ausländischer Familien und auch langdauernde Beschäftigung von Ausländern in Deutschland behandelt. Davon abgesehen, dass das Innenministerium die Anordnung auf derartige Gründe nicht gestützt hat,
wurde und wird mit diesen Gründen, über deren humanitäres Gewicht man wegen der auch für diese
Vorschriften gebotenen restriktiven Auslegung des Begriffs der „humanitären Gründe“ streiten kann,
die Aufenthaltserlaubnis von Ausländern gerechtfertigt, nicht die Aussetzung von Abschiebeverfügungen. Trotz rechtsstaatlicher Bedenken gegen die Form der Anordnungen, nämlich als Verwaltungsvorschriften, nicht als Rechtsverordnungen, entfällt der rechtsstaatlich unüberwindliche Vorwurf gegen
die Duldungen, die Relativierung des Legalitätsprinzips nämlich. Die in den genannten Anordnungen
angesprochenen innerstaatlichen Interessen sind nicht geeignet, durch Analogie den Begriff der „humanitären Gründe“ zu materialisieren, schon gar nicht als solche, die im Heimatstaat der betroffenen
Ausländer begründet sind. Erst recht ebnen sie nicht den Weg, „winterliche klimatische Verhältnisse“
als „humanitäre Gründe“ zu etablieren.
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III
§ 60 a Abs. 1 Aufenthaltsgesetz als Kompromiss zwischen Asyl/Flüchtlings- und Einwanderungspolitik
Das Zuwanderungsgesetz vom 30. Juli 2004, das in Art. 1 das neue Aufenthaltsgesetz enthält, ist kompromisshaft. Es fördert Bleibemöglichkeiten von Ausländern, ohne als ein Einwanderungsgesetz strukturiert zu sein. Ausdruck der Kompromisshaftigkeit ist § 60 a Abs. 1 AufenthaltsG. Die Formel von
den (u. a.) „humanitären Gründen“ ist nicht neu. Sie stand, wie gesagt, auch schon im alten Ausländergesetz und vermochte eine Aufenthaltserlaubnis zu rechtfertigen.
Jetzt ermöglicht diese Vorschrift einem Land die zeitlich begrenzte Duldung von Ausländern trotz
deren illegalem Aufenthalt in Deutschland. Die Duldung illegalen Aufenthalts wird zwar schon lange
und in vielen Fällen praktiziert, ist aber dennoch nach wie vor mit Prinzipien des Rechtsstaates unvereinbar. Eine rechtsstaatliche Regelung hat der Gesetzgeber nicht einzuführen vermocht. Das ist auch
gegen das Gesetzlichkeitsprinzip nicht möglich. Erst der Vermittlungsausschuss hat zur Vorschrift des
§ 60 a Abs. 1 AufenthaltsG geführt.
Mit Zustimmung des Bundesministeriums des Innern kann die oberste Landesbehörde auf Grund der
§ 60 a Abs. 1 S. 2 und § 23 AufenthaltsG sogar Aufenthaltserlaubnisse für unbegrenzte Zeit zu erteilen
anordnen. Sie kann diese Aufenthaltserlaubnis von einer Verpflichtungserklärung gemäß § 68 AufenthaltsG zur Übernahme der Kosten für den Lebensunterhalt (etwa durch Kirchen oder Private) abhängig
machen. Das ermöglicht ungeordnete Einwanderungen, weil weder die Länder noch der Bund nach
diesen Vorschriften Einzelfälle etwa nach dem Bedarf Deutschlands entscheiden, vielmehr nur nach
Heimatstaaten oder besonderen Gruppen unterscheiden dürfen. Die (durchaus brüchige) Politik dieser
gesetzlichen Vorschriften ist von der Maxime getragen, dass Deutschland ein „Einwanderungsland“
sei. Deutschland ist faktisch ein Einwanderungsland, aber nicht dem Verfassungsgesetz und den Gesetzen nach. Seit gut zwei Jahrzehnten wird von einigen politischen Akteuren propagiert, Deutschland
sei ein Einwanderungsland, während zuvor jahrzehntelang das Gegenteil die allgemeine Auffassung
war. Es gibt kein Gesetz, das Deutschland zum Einwanderungsland erklärt, und es gibt erst recht keine
dahingehende Verfassungsbestimmung. Im Gegenteil ist nach dem Grundgesetz das „Deutsche Volk“
oder das „deutsche Volk“ (Präambel, Art. 1 Abs. 2 bzw. Art. 146, auch argumentum aus Art. 20 Abs.
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4) zu dem Staat Bundesrepublik Deutschland verfasst. Solange nicht eine neue Verfassung des Deutschen Volkes Deutschland zum Einwanderungsland erklärt, ist der nationale Charakter der Bundesrepublik Deutschland nicht beendet. Weder der verfassungsändernde Gesetzgeber noch gar der einfache
Gesetzgeber kann diese Entscheidung treffen, weil Art. 1 und Art. 20 GG nicht zur Disposition der
Staatsorgane stehen, sondern nur zu der des Volkes, das durch Referendum entscheiden müsste.
Eine Einwanderungspolitik, die sich hinter dem Begriff „humanitäre Gründe“ verbirgt, ist somit mit
dem Grundgesetz unvereinbar.
IV
Rechtsklärung
1. Gerichtliche Klärung der Rechtswidrigkeit und Unwirksamkeit der Anordnung des Innenministeriums ist für die Thüringer Landtagsfraktion der Alternative für Deutschland schwierig, aber möglich.
Sie ist selbst durch die Anordnung der Aussetzung der Abschiebungen nicht in ihren Rechten betroffen.
a) Art. 80 Abs. 1 Nr. 4 Verf. Thüringen, § 11 Nr. 4 VerfassungsgerichtshofG
In Frage kommt die abstrakte Normenkontrolle nach Art. 80 Abs. 1 Nr. 4 der Verfassung des Freistaats
Thüringen, § 11 Nr. 4 des Verfassungsgerichtshofgesetzes Thüringens, die näher in §§ 42 ff. des Verfassungsgerichtshofgesetzes geregelt ist. Einen solchen Normenkontrollantrag kann auch eine Landtagsfraktion stellen. Der Verfassungsgerichtshof hat darüber zu entscheiden, ob „Landesrecht“ Thüringens die Verfassung des Freistaates Thüringen verletzt. Zur Verfassung Thüringens gehören das
Rechtsstaatsprinzip und das Willkürverbot. Diese werden durch die Anordnung der Winterabschiebeaussetzung verletzt.
Die Anordnung ist ein Teil des Landesrechts Thüringens. Der Begriff des „Landesrechts“ ist nicht
eindeutig. Dazu gehören fraglos neben der Verfassung des Landes dessen Gesetze und dessen Rechtsverordnungen. Das ergibt sich explizit aus § 44 des Verfassungsgerichtshofgesetzes. Die Anordnungen
der obersten Landesbehörde der Art wie die vom 9. Dezember 2014 über die Aussetzung von Abschiebungen gemäß § 60 a Abs. 1 Aufenthaltsgesetz werden vom Bundesverwaltungsgericht als Verwaltungsvorschriften und „innerdienstliche Richtlinien“ eingestuft, denen das Gericht die unmittelbare
Außenwirkung und damit die Anfechtbarkeit, aber auch die Qualität als Anspruchsgrundlage abspricht
(BVerwGE 112, 63 (68), zu § 32 AuslG; vgl. auch BVerwG C 21/10 vom 15. 11. 2011, Rdn. 12 ff., zu
§ 23 Abs. 2 AufenthaltsG) . Die Erkenntnisse sind freilich zu Vorschriften ergangen, die zwar ähnlich
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sind, aber ein anderes Verhältnis zu den aufenthaltsrechtlichen Regelungen haben. Diese Anordnungen
haben nicht die Verbindlichkeit der Abschiebeverfügungen relativiert, sondern den unteren Behörden
Weisungen für ihre Abschiebemaßnahmen erteilt. Die Rechtsakte mit Außenwirkung sind von den
Behörden unter Berücksichtigung der ministeriellen Anordnungen ergangen. Die Anordnungen haben
das Handeln der Behörden, das deren Ermessen unterlag, gesteuert. Die Anordnung auf Grund des §
60 a Abs. 1 AufenthaltsG hat eine weitergehende Rechtswirkung. Sie verändert die Rechtslage. Der
Aufenthalt des Ausländers, dessen Abschiebung verfügt ist, bleibt zwar illegal, aber wird geduldet.
Zumindest macht der Ausländer sich nicht dadurch strafbar, dass er nicht ausreist. Damit hat die streitige Anordnung die Wirkung eines Rechtssatzes, den eigentlich nur ein Gesetz oder eine Rechtsverordnung erzielen kann. Die Duldung ist eine Maßnahme im Rahmen der Rechtsordnung. Sie ist allgemein, also eine rechtliche Regelung. Sie kann angesichts dessen, dass sie erhebliche Wirkungen für
den Ausländer entfaltet, schlechterdings nicht als bloß innerdienstlicher Vorgang angesehen werden.
Die Ausländerbehörden sind auch kraft § 60 a Abs. 1 AufenthaltsG verpflichtet, die Anordnung zu
befolgen, nicht nur wegen der Weisungsbefugnis der obersten Landesbehörde. Die Anordnung bindet
die Ausländerbehörden auch wegen des Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG. Wenn ein Ausländer
der benannten Gruppe trotz seines illegalen Aufenthalts im Lande geduldet wird, können zudem auch
die anderen Ausländer derselben Gruppe die Duldung beanspruchen. Diese Selbstbindung macht die
Anordnung zum Verwaltungsrechtssatz. Sie tritt nicht erst mit einem Fall der Duldungspraxis ein (i. d.
S. BVerwG C 21/10 vom 15. 11. 2011, Rdn.15 f.), sondern bereits mit Erlass der Anordnung, weil
nach der Anordnung keine Ausländerbehörde des Landes mehr abschieben darf.
Die Anordnung gehört somit zum „Landesrecht“. Die Form der Anordnung ist verfehlt. Die materielle
und auch formelle Rechtsstaatswidrigkeit der Anordnung wird dadurch in keiner Weise gemindert. Es
geht nur um die richtige rechtsschutzrechtliche Einordnung. Über die Verfassungsmäßigkeit von
Rechtssätzen soll das Verfassungsgericht entscheiden. Die Anordnung ist zwar nicht formal, aber materiell ein Rechtssatz. Er verändert für bestimmte tatbestandlich genannte Gruppen von Ausländern
und nicht für Einzelfälle die Rechtslage. Die gewisse Konkretheit macht die Anordnung nicht zu einer
Allgemeinverfügung im Sinne des § 35 S. 2 VerwVerfG, schon weil sie nicht die „Eigenschaft einer
Sache oder ihre Benutzung durch die Allgemeinheit betrifft“. Das Grundgesetz lässt prinzipiell keine
Rechtsklärungslücken zu. Landesrecht (wie Bundesrecht) muss durch Verfassungsgerichte oder gegebenenfalls nach § 47 VwGO durch die Oberverwaltungsgerichte geklärt werden können, wenn die antragsbefugten Verfassungsorgane Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Vorschriften haben. Zu diesen
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Organen gehören für die abstrakte Normenkontrolle im Freistaat Thüringen explizit auch die Landtagsfraktionen.
Verfristet wäre ein dahingehender Klärungsantrag nicht.
Allerdings ist die Anordnung bis zum 31. März 2015 befristet.
Die Thüringer Landtagsfraktion der Alternative für Deutschland ist befugt, beim Verfassungsgericht
des Freistaates Thüringen den Antrag zu stellen, die Rechtsmäßigkeit der Anordnung des Innenministeriums über die Aussetzung der Abschiebungen vom 9. Dezember 2014 zu prüfen.
b) § 47 VwGO
Die Anordnung des Innenministeriums über die Aussetzung der Abschiebungen vom 9. Dezember
2014 gehört auch zum untergesetzlichen Landesrecht im Sinne des § 47 VwGO.
Für einen Antrag nach § 47 VwGO auf Normenkontrolle zur Entscheidung der Gültigkeit von „Rechtsvorschriften“, die „im Rang unter dem Landesgesetz stehen“, fehlt der Thüringer Landtagsfraktion der
Alternative für Deutschland aber die Antragsbefugnis. Sie ist keine Behörde. Die Fraktion eines Landtages nimmt nicht „Aufgaben der öffentlichen Verwaltung“ im Sinne des § 1 Abs. 4 VerwVerfG, der
den Begriff der Behörde definiert, wahr.
Die Mitglieder der Fraktion oder andere Bürger können nicht „geltend machen, durch die Rechtsvorschrift“ nämlich die streitige Anordnung, „in ihren Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit
verletzt zu werden. Zwar betrifft jeden Bürger des Landes das Unrecht des Staates, schon weil sie die
Kosten des geduldeten Aufenthalts zu tragen haben. Aber es gibt kein subjektives Recht auf Recht im
Lande. § 47 VwGO eröffnet den Bürgern keine allgemeine Bürgerklage auf Einhaltung der Prinzipien
des Rechtsstaates durch die Verwaltung. Ein solches Bürgerklageverfahren wäre zwar zu begrüßen, ist
aber weder durch § 47 VwGO noch durch andere Vorschriften eröffnet.
§ 47 VwGO gibt der Thüringer Landtagsfraktion der Alternative für Deutschland keine Möglichkeit,
die rechtliche Klärung der Anordnung des Innenministeriums über die Aussetzung der Abschiebungen
vom 9. Dezember 2014 herbeizuführen.
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c) Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6 BVerfGG
Es bestehen Zweifel an der Vereinbarkeit von Landesrecht, nämlich der Anordnung des Innenministeriums über die Aussetzung der Abschiebungen vom 9. Dezember 2014, mit dem Grundgesetz, spezifischer dem Rechtsstaatsprinzip. Der Begriff des Landesrechts in diesen Vorschriften ist auch dahin
auszulegen, dass Verwaltungsrechtssätze wie die streitige Anordnung wegen ihrer die Rechtlage ändernden Wirkung Gegenstand der abstrakten Normenkontrolle des Bundesverfassungsgerichts sein
können.
Ein Antragsrecht haben aber außer der Bundesregierung und einem Viertel der Mitglieder des Bundestages nur die Landesregierungen.
Die Thüringer Landtagsfraktion der Alternative für Deutschland kann eine Normenkontrolle der Anordnung des Innenministeriums über die Aussetzung der Abschiebungen vom 9. Dezember 2014 nach
Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6 BVerfGG nicht beantragen.
2. Die Verfassungswidrigkeit des § 60 a Abs. 1 AufenthaltsG kann nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13
Nr. 6 BVerfGG die Landesregierung des Freistaats Thüringen im abstrakten Normenkontrollverfahren
geltend machen, weil diese Vorschrift des Bundesrechts mit dem Grundgesetz unvereinbar ist. Eine
Frist besteht nicht.
Berlin, den 22. Februar 2015
o. Prof. em. Dr. iur. Karl Albrecht Schachtschneider
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