susanne aernecke - tochter des drachenbaums

SUSANNE AERNECKE - TOCHTER DES DRACHENBAUMS - LESEPROBE
1. Nebelschwaden zogen wie weiße Schleier über den gigantischen Vulkankrater, der von Höhlen durchzogen war. Ihre Eingänge sahen aus wie offene Münder von Toten, die man vergessen hatte zu schließen. In der größten Höhle waren die Anführer aller zwölf Stämme der kleinen Insel Benahoare zusammengekommen. Iriomé, für die es der siebzehnte Winter war, ließ den Blick über die bärtige Schar schweifen, die sich auf den Seegrasmatten niedergelassen hatte. Die Männer hatten sich fein gemacht für diesen Anlass und die langen Haare zu Zöpfen geflochten. Die Bärte, sonst wild und zerzaust, hingen wohlgeordnet bis auf die braun gebrannte Brust herab. Manche trugen sandfarbene, mit bunten Samenkapseln bestickte Ledergewänder, andere hatten zusammengenähte Ziegenfelle um ihre Lenden gebunden. Es war der kürzeste Tag des Jahres, jener Tag, an dem Tichiname, die Oberste Medizinfrau, die Grenzen der Zeit überschreiten würde, um zu erfahren, was die Götter ihrem Volk vorherbestimmt hatten. Sie saß reglos mit geschlossenen Augen inmitten der Höhle vor einem mächtigen Feuer. Ihr von Wind und Wetter zerfurchtes Gesicht, umrahmt von krausem weißem Haar, war mit blauen Spiralen bemalt, dem Zeichen der Unendlichkeit und der ewigen Wiederkehr des Seins. Um ihren faltigen Hals trug sie eine Schnur mit getrockneten Eidechsen, und in der Hand hielt sie einen grob geschnitzten Stab, an dessen Spitze ein Ziegenschädel mit zwei spitzen Hörnern steckte. Die Stammesführer hofften von ihr zu erfahren, was das nächste Jahr ihnen bringen würde. Ob sich ihre Ziegenherden vermehrten, ob die Frauen genug Wurzeln, Früchte und essbare Blätter finden würden, um Vorräte für entbehrungsreiche Zeiten anzulegen. Ob genug Kinder geboren würden. Und ob der Guayote, der Höllenhund, der im tiefsten Inneren des feuerspeienden Vulkans saß, friedlich bleiben und keinen von ihnen begehren würde. Ohne Ankündigung ließ die Weise Frau einen schrillen Pfiff los, der an den steinernen Wänden der Höhle verhallte. Iriomé atmete tief durch. Es war so weit! Zum ersten Mal durfte sie dabei sein, wenn Tichiname den heiligen Trank Amakuna zu sich nahm. Sie hatte das Gebräu auf Anweisung der Medizinfrau so lange gekocht, bis der Schatten des Zeitstabes von einem Stein bis zum nächsten gewandert war. Und auch wenn sie noch nicht ganz verstand, was der Trank tatsächlich bewirken sollte, hoffte sie inständig, irgendwann einmal selbst damit eine Reise in jene geheimnisvollen Welten zu unternehmen, von denen Tichiname ihr immer wieder erzählt hatte. Doch bisher war sie nur die jüngste von sieben Schülerinnen, aus denen die Medizinfrau irgendwann ihre Nachfolgerin wählen würde. Ein leises Summen erfüllte die Luft. Die sieben jungen Frauen standen Schulter an Schulter an den Wänden der Höhle und hoben die Arme. Ihre langen, aus gebleichten Pflanzenfasern gefertigten Umhänge breiteten sich aus wie die Flügel von Möwen. Ihre Lippen waren blau bemalt, und jede von ihnen trug um den Hals einen kleinen Lederbeutel mit getrockneten Kräutern. Iriomé schloss die Augen, während das Summen anschwoll und schließlich zu einer Art Gesang wurde, in dem sie und die anderen sechs ein einziges Wort im immergleichen Rhythmus wiederholten: „Amakuna, Amakuna, Amakuna ...“ Trotz der kaum mehr erträglichen Lautstärke nahm Iriomé den Klang der kleinen Tonglöckchen wahr, die an Tichinames ledernem Gewand hingen. Offenbar hatte die Medizinfrau sich erhoben. Das dreimalige Klopfen ihres schweren Holzstocks auf dem Felsboden der Höhle ließ den Gesang verstummen. Iriomé öffnete die Augen, strich sich das lange rotblonde Haar aus dem Gesicht und trat nach vorn, um die ihr zugewiesene Aufgabe zu erfüllen. Stolz und aufrecht schritt sie zu der Felsnische, in der die Schale mit dem geheimnisvollen Gebräu stand. Ihr blieb dabei nicht verborgen, dass die dunklen Augen einer der Schülerinnen sie mit einem Blick verfolgten, der nichts Gutes verhieß. Sie wusste, dass der Neid Guayafanta fast zerfraß, denn sie glaubte, Anspruch auf Iriomés bevorzugte Stellung zu haben. Zwei Talgfackeln beleuchteten die Felswand, in die Dreiecke, Quadrate und konzentrische Kreise geritzt waren: Zeichen, durch die sich die Eingeweihten mit den Geistern verbinden konnten. Iriomé nahm den Deckel von der Schale und verrührte mit einem Holzlöffel die öligen, gelben Schlieren auf der Oberfläche. Dann nahm sie das Gefäß in beide Hände, kniete vor der Obersten Medizinfrau nieder und reichte es ihr. Gespannt beobachtete sie, wie ihre Lehrerin die Schale an die aufgesprungenen Lippen führte. Iriomé glaubte den leicht fauligen, erdigen Geschmack des Saftes wahrzunehmen, als rinne er durch ihre eigene Kehle. Nach einigen Atemzügen schoben sich Tichinames Pupillen nach oben. Nur mehr das Weiß ihrer Augen war zu sehen. Sie schien angekommen in der anderen Welt. Plötzlich ertönte ein dumpfer Knall. Die Schale war zu Boden gefallen und in mehrere Teile zerbrochen. Iriomé zuckte zusammen und sah voller Schrecken, wie Tichinames Körper zu zittern begann, sich aufbäumte und wand, als wäre ein Dämon in ihn eingedrungen. Ihr Gesicht hatte sich zu einer hässlichen Fratze verformt. Schaum trat aus ihrem Mund. Sie keuchte, als kämpfe sie mit jemandem. Dann stürzte sie rücklings zu Boden. Iriomé sprang auf, um sie aufzufangen. Doch der von Krämpfen geschüttelte Körper entglitt ihr und prallte auf eine Felskante. Aus der Wunde am Kopf sickerte Blut, das Tichinames weißes Haar rot färbte. Sie heulte auf und rollte sich über den Boden hinaus aus der Höhle. Dort drückte sie sich hilfesuchend an den knorrigen Stamm eines gewaltigen Baumes, der mit seiner wuchtigen Krone wie ein Riese in das fahle Mondlicht aufragte. Aus den erschrockenen Blicken der Anführer schloss Iriomé, dass dies nicht der normale Ablauf der Zeremonie sein konnte. Die Mädchen hatten sich entsetzt abgewandt, nur Guayafantas breites Gesicht mit den dunklen, undurchdringlichen Augen zeigte keine Regung. Iriomé vermochte sich nicht vorzustellen, was die Medizinfrau in der anderen Welt gesehen hatte, das einen solchen Ausbruch hervorrufen konnte. Keiner wagte es, sich ihr zu nähern. Schließlich hielt Iriomé es nicht länger aus. Sie lief zu Tichiname, schmiegte sich an den noch immer stark zitternden Körper und versuchte, die Arme, die wie starke Taue um den Stamm geschlungen waren, zu lösen, doch ohne Erfolg. Erst nach einer ganzen Weile ließ die alte Frau los. Ihr Mund befand sich dicht an Iriomés Ohr, und so konnte sie hören, was ihre Lehrerin mit letzter Kraft flüsterte: „Es werden Männer mit Schiffen kommen, Männer, für die nur Macht und Reichtum zählen. Diese Männer kennen keine Liebe. Sie werden alles, was uns heilig ist, vernichten. Doch eines darf niemals in ihre Hände gelangen: das heimliche Herz der Insel, das in der Höhle des höchsten Berges schlägt! Erst wenn die Menschen frei von Gier nach Macht und Reichtum sind, darf sein Geheimnis offenbart werden.“ Ihre Stimme wurde schwächer. „Es ist deine Aufgabe, als meine Nachfolgerin Amakuna so lange zu bewahren, bis jene Zeit gekommen ist.“ Erschöpft von der Anstrengung des Sprechens fiel ihr Kopf nach hinten, sodass Iriomé ihn stützen musste. „Tichiname!“, schrie sie angsterfüllt. „Schwöre es“, stieß die Sterbende mit letzter Kraft hervor. 2. Die ersten zwei Kalksteinschuppen waren nicht größer als Streichholzbriefchen. Sie spreizte ihre Finger wie Greifhaken und belastete die Vorsprünge, während sie den Oberkörper anspannte. Dann stellte sie die Schuhspitze auf eine leichte Wölbung im Fels, zog an und drückte sich nach oben. Als Nächstes griff sie mit der anderen Hand über sich und legte die Finger in eine taubengroße Delle in der Wand, presste die Fingerspitzen in die Einbuchtung und stieg höher. Diesen Ablauf wiederholte sie Tritt für Tritt, Griff für Griff. Dennoch war keine Bewegung wie die andere. Als sie ungefähr acht Meter über dem Waldboden war, kreischte ein Schwarm Bergdohlen über ihr und holte sie aus ihrem Flow. Der eisige Wind zerrte an ihrer Jacke. Romy spürte plötzlich ihren Herzschlag und warf einen Blick nach unten. Ein schon lange nicht mehr erlebtes Gefühl überschwemmte ihren Körper wie eine Welle. Und eine schon lange nicht mehr gehörte innere Stimme flüsterte ihr zu: Jetzt passiert etwas! Ihr wurde heiß und kalt zugleich. Ihr Kopf begann zu dröhnen. Eine unsichtbare Schlinge zog sich immer fester um ihren Hals. Ihr Atem ging nur noch stoßweise, und jeder einzelne Muskel ihres Körpers verkrampfte sich. Auch wenn ihre Hände fest um zwei sichere Griffe lagen, stand sie in exponiertem Gelände, und der Wind fauchte ihr in die Ohren. Sie liebte diesen Spitzentanz über dem Abgrund. Er war ihre ganz persönliche Droge. Ihre Medizin gegen die Panikattacken, die sie in ihrer Jugend gequält hatten. Der perfekte Ausgleich zu ihrem Leben als Ärztin, die im nie endenden Laborbetrieb stets funktionieren musste. Doch plötzlich änderte sich etwas, und die längst verschwunden geglaubte Panik kehrte zurück, so sehr sie sich auch dagegen wehrte. Gedanken hämmerten wie ein Schlagbohrer rhythmisch auf sie ein: Jetzt fällst du runter! Jetzt erwischt es dich! Jetzt hast du das Rädchen überdreht! Ihre Finger wurden steif, sie konnte sich kaum mehr halten. Gleich würde sie loslassen müssen. Alles loslassen. Sie schloss die Augen, drückte ihr Gesicht gegen den kalten Fels und zwang sich, gleichmäßig zu atmen. Eigentlich liebte sie es, das raue Gestein an ihrer Wange zu spüren. Doch jetzt trieb diese Berührung sie noch tiefer in die Panik. Warum nur hatte sie sich auf dieses Wagnis eingelassen? War sie etwa lebensmüde? War in ihr etwas, das nicht mehr weitermachen wollte? Lag es daran, dass Thea seit Wochen im Krankenhaus lag und vielleicht an Krebs sterben würde? Dass sie sich ein Leben ohne ihre Freundin nicht vorstellen konnte? Die Angst ballte sich in ihrem Magen zusammen wie ein klebriger Teerklumpen. Romy zitterte am ganzen Körper, war nicht mehr in der Lage, Arme und Beine zu kontrollieren. Wie der dunkle Schlund eines Raubtiers wartete unter ihr die Tiefe auf ihr Opfer, um es zu verschlingen. Sie presste den Bauch gegen den Fels, um Halt zu finden, und versuchte, ja keine ruckartige Bewegung zu provozieren, die sie aus ihrem labilen Gleichgewicht hätte bringen können. Doch ihre Finger rutschten über den rauen Fels, und ihre Füße verloren den Halt. Sie hörte ihren eigenen gellenden Schrei an den Felswänden widerhallen und ruderte verzweifelt mit den Armen, während sie in die Tiefe stürzte. Ihr letzter Gedanke war: Nicht auf den dicken Stein fallen! 3. „Gewalt ist der kleine Bruder des Todes“, erinnerte Iriomé an die Worte ihrer gemeinsamen Lehrerin. Guayafanta schenkte ihr nur einen abfälligen Blick und lief dann an ihr vorbei zu einer Felsspitze, von der aus man hinunter auf einen Teil des Stammesgebiets von Tazo blicken konnte. Ein langer, schwarzer Kieselstrand, der einen der wenigen Anlegeplätze der Insel bot, die sonst fast nur von Steilküste umgeben war. Als sie den Blick hob, stieß sie einen leisen Schrei aus. Im ruhigen Wasser der Bucht dümpelten drei Schiffe, wie schwarze Ungeheuer, die auf ihre Beute lauerten. Iriomé war ihr gefolgt, und die beiden Mädchen sahen sich erschrocken an. Die Schiffe waren aus dunklem Holz gefertigt und um ein Vielfaches größer als die Drachenbaumboote der Inselbewohner, mit denen sie hinaus zum Fischen fuhren. Von jedem der Schiffe ragten drei Baumstämme in den Himmel, und am höchsten wehte ein buntes Tuch. Einige Männer waren bereits mit kleinen Ruderbooten an den Strand gekommen und hatten dort ein Lager errichtet. Wortfetzen einer fremden Sprache und der Geruch von gebratenem Fisch drangen bis hinauf zu den Mädchen. Iriomé griff nach Guayafantas Hand. Tichinames Prophezeiung war Wirklichkeit geworden. Eine Wirklichkeit, die man in dieser Welt sehen, hören und riechen konnte. Irgendetwas musste den Guayote, den Höllenhund, erzürnt haben, der im tiefsten Schlund des Feuer speienden Berges saß und auf diejenigen wartete, die in ihrem Leben Böses getan hatten. Sie verloren keine Zeit und kletterten so schnell sie konnten von ihrem Aussichtspunkt zurück auf den Pfad, der zur heiligen Quelle führte. Schon bald vernahmen sie das vertraute Plätschern, das auf Iriomé jedoch in keiner Weise beruhigend wirkte. Im Gegenteil. Sie spürte Angst in sich aufsteigen. Es war die Angst vor dem Versagen. Als angehende Harimaguada hatte sie gelernt, die Geister der Ahnen um Hilfe zu bitten und sich ihrer Kräfte zu bedienen, jedoch bisher immer nur im Beisein ihrer Lehrerin. Noch nie war sie allein auf sich gestellt gewesen. Sie sah zu Guayafanta hinüber, deren Augen sich vor Anspannung zu schmalen Schlitzen verengt hatten. Von ihr war keine Hilfe zu erwarten. All ihre Sinne waren auf Kampf und Verteidigung ausgerichtet. Erst als ein leichter Windhauch Iriomé sanft über die Wange strich, verflüchtigte sich ihre Angst, und sie wusste wieder: Der Geist von Tichiname würde ihr stets beistehen und nicht nur das. Erde, Wasser, Pflanzen, die Tiere und sogar der Wind waren mit ihr verbunden und würden ihre Weisheit mit ihr teilen. Konzentriert wandte sie sich der Quelle zu, die aus einer Felsspalte in einen kleinen Teich sprudelte. Rundherum waren Spiralen in verschiedener Größe in den Stein geritzt. Iriomé berührte mit ihren Fingern die Felswand und folgte vorsichtig den kreisförmigen Linien vom Zentrum der größten Spirale bis nach außen. Das Symbol der Unendlichkeit, dafür, dass diese Quelle für immer sprudeln möge, aber auch der ewigen Wandlung und Wiederkehr. Iriomé ging immer als ein anderer Mensch von der Quelle, als sie gekommen war. Sie erfuhr stets etwas mehr über sich selbst und die Geheimnisse des Lebens. Es gab so viel zwischen Himmel und Erde, das sie noch nicht verstand. So viele Zusammenhänge, die sie begreifen wollte. Angefangen vom Lauf der Sterne über den Wechsel von Ebbe und Flut bis hin zu den unterschiedlichen Jahreszeiten. Alles hing irgendwie zusammen, auch wenn sie nicht wusste, wie und warum. Das Wunder des Lebens, des Heilens, des Sterbens und der Geburt, das alles wollte sie ergründen, enträtseln. Aber wahrscheinlich reichte ein einziges Leben dafür gar nicht aus. Iriomé kniete nieder, verbeugte sich und berührte sanft mit ihrer Stirn den Boden. Langsam schloss sie die Augen und genoss die Kühle der Erde. „Tara, Mutter der Erde“, murmelte sie, „die Bewohner von Benahoare danken dir für alles, was du ihnen schenkst. Für die Früchte, mit denen du sie nährst, für die Blumen, mit denen du sie erfreust, und für die Kräuter, mit denen du sie heilst. Wir danken dir für das Wasser, das alles wachsen lässt, und für deine Liebe, die alles möglich macht.“ Guayafanta folgte ihrem Beispiel. Eine Weile verharrten die Mädchen in dieser Stellung. Eine Gruppe Sperlinge kam so nah, dass Iriomé in ihre kleinen, dunklen Augen sehen konnte. Sie kannten keine Furcht. Als die Mädchen sich erhoben, flogen sie ein paar Meter davon, um sich dann auf einer der mächtigen Pinien niederzulassen, die die Lichtung säumten. Guayafanta hatte indessen den Korb ausgepackt und goss Ziegenmilch aus einem Tongefäß in einen kleinen Kanal, der in den Stein gehauen war und sich schnell füllte. In eine Felsnische daneben legte sie Ziegenbutter, und ganz oben auf die Spitze des Heiligtums stellte sie eine Holzschale mit den Eingeweiden einer Ziege. Die Mädchen entfernten sich und warteten in gebührendem Abstand auf das Eintreffen der Vögel. Wenn sie kamen, um sich die Opfergaben zu holen, waren sie keine Falken, Adler oder Krähen mehr, sondern Boten aus dem Jenseits, die die Kunde der Ahnen überbrachten. Iriomé schloss die Augen. Tichiname hatte sie ebenfalls gelehrt, zuzuhören, was der Wind ihr zuflüsterte. Der vom Norden wusste stets andere Geschichten zu erzählen als der vom Süden, Westen oder Osten. Auch aus der Erde und vom Himmel konnte man eine Botschaft erbitten. Sie legte sich auf den Boden, krümmte sich zusammen wie ein Ungeborenes im Mutterleib, schloss die Augen und wartete. Doch nichts geschah. Der Schleier zwischen den Zeiten lüftete sich nicht. Iriomé stand wie vor einer dichten Nebelwand. Keine Stimme, kein Wort drang von der anderen Seite in ihre Gedankenwelt ein. Der Wind schwieg. Ebenso die Erde. Der Himmel. Die Ahnen schwiegen. So, wie nun auch Tichiname schwieg. Irgendetwas musste sich verändert haben, war nicht mehr im Einklang. Iriomé fühlte sich wie eine Spinne, deren Netz zerstört worden war und die nun aufgeregt nach den fehlenden Fäden suchte, die sie mit ihrer Umgebung verbunden hatten. Der Schrei eines Falken ließ sie die Augen öffnen. Er hatte sich ein Stück Leber geholt und war damit davongeflogen. Iriomé sah Guayafanta fragend an. Doch sie schüttelte nur den Kopf. Auch sie war nicht in der Lage gewesen, die Wand zu durchdringen. „Es sind die Fremden unten am Strand“, sagte sie mit rauer Stimme. „Solange sie hier auf der Insel sind, werden die Ahnen schweigen.“ 4. In diesem Moment fiel ein Schuss. Sie zuckte zusammen. Einige Tauben flatterten erschrocken in die Höhe. Ein männlicher Körper, bekleidet mit einer grünen Militärjacke, flog von der Feuerleiter auf den Betonboden des Innenhofs. Ihm hinterher sprang einer der Bodyguards mit gezückter Waffe. Romy fühlte sich wie gelähmt. Doch dann setzte, ohne dass sie nur eine Sekunde darüber nachdenken musste, ihr Fluchtinstinkt ein. Sie riss die Tür des Umkleideraums auf, stürmte durch den Laden, vorbei an der verdutzten Verkäuferin und an Jennifer, die versuchte, sie am Arm festzuhalten. Romy riss sich mit aller Kraft los und rannte hinaus auf die Straße. Sie landete in den Armen des zweiten Bodyguards. So kräftig sie nur konnte, trat sie ihm in die Weichteile, nutzte das schmerzhafte Überraschungsmoment und befreite sich aus seinem Griff. Sie hetzte die breite Fußgängerzone entlang, riss beinahe einen Kinderwagen um, lief rechts in eine schmale Gasse hinein und bog dann die nächste Querstraße wieder links ab. Wie ein Hase auf der Flucht vor dem Fuchs schlug sie ihre Haken durch die Altstadt. Sie wagte es nicht, sich umzudrehen, und wusste dennoch, dass mindestens einer der beiden Männer ihr auf den Fersen war. Und sie waren bestimmt gute Läufer. Romy rannte um ihr Leben. Als sie an einen Platz kam mit einem kleinen Brunnen in der Mitte und ein paar Bäumen, unter denen blau gekachelte Bänke standen, blieb sie kurz stehen, um durchzuatmen. Aus der Gasse hinter sich hörte sie schnelle Schritte. Panisch sah sie sich um und entdeckte einen offenen Hauseingang. Sie stürzte hinein, schloss schnell die Tür und ließ sich schwer atmend auf dem kühlen Treppenabsatz nieder. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Jemand rüttelte an der Tür. Romy raste die Treppen nach oben, um vielleicht über das Dach eine Fluchtmöglichkeit zu finden. Sie überlegte kurz, ob auf dem Platz jemand gewesen war, der sie beobachtet haben könnte, als sie das Haus betrat. Doch sie konnte sich nicht erinnern, jemanden gesehen zu haben. Schließlich war Siesta, und die verbrachten die meisten Spanier hinter geschlossenen Fensterläden. Die Haustür ließ sich scheinbar von außen nicht öffnen. Nur langsam beruhigte sie sich. Sie stieg noch eine Etage höher und fand ein kleines Fenster, von dem aus sie hinunter auf den Platz blicken konnte. Er war menschenleer. Ihre Verfolger suchten wohl schon woanders nach ihr. Trotzdem wagte sie nicht, das sichere Haus zu verlassen. Sie würde hier im Treppenhaus ausharren und später im Schutz der Dunkelheit ... ja was? Wo sollte sie hin? Tanausú war getroffen worden. Ganz sicher war er verletzt, wenn nicht gar tot. Er konnte ihr nicht mehr helfen. Das Bild, wie er vom Dach fiel, hatte sich ihr tief eingeprägt. Mit aller Macht schob sie es beiseite und versuchte, so gut es ging, einen klaren Gedanken zu fassen. Schließlich war sie hier in Marbella einmal zur Schule gegangen. Als Erstes fiel ihr Señor Méndez ein, ihr alter Geschichtslehrer. Er war mit ihrer Großmutter befreundet gewesen, und sie waren oft bei ihm zu Besuch gewesen. Seine Frau hatte immer besonders süße Torten gebacken, die mit viel rosafarbener Buttercreme verziert waren. Dazu gab es einen dünnen Kaffee mit zähflüssiger süßer Kondensmilch. Romy erinnerte sich, dass er ganz in der Nähe der Deutschen Schule wohnte, die sich unweit des Jachthafens befand. Dort musste sie allerdings erst einmal hinkommen. Leider konnte sie nicht einfach ein Taxi rufen, denn ihre Tasche, Geld, Pass, Handy und Kreditkarten befanden sich im Umkleideraum der Boutique, ebenso wie ihre Schuhe. Nach Sonnenuntergang steckte sie zum ersten Mal ihre Nase nach draußen. Laden‐ und Cafébesitzer hatten die Gitter vor ihren Schaufenstern heruntergelassen und spritzten die Gehsteige mit Wasser ab. Es war kühl geworden. Romy fror in ihrem dünnen Partykleidchen. Sie ignorierte die verwunderten Blicke der Passanten, vor allem auf ihre nackten Füße, und schlug sich in Richtung ihrer einstigen Schule durch. Schließlich erbarmte sich ein junger Mann und brachte sie auf seinem Moped direkt dorthin. Der Anblick des weiß gekalkten viereckigen Gebäudes mit Flachdach und Basketballkörben davor weckte längst vergessene Kindheitserinnerungen. Sie dachte an ihre Großmutter, die sie oft von hier abgeholt und ihr jenes wunderbare Gefühl von Geborgenheit vermittelt hatte. Niemals würde sie ihr Lächeln vergessen, als sie dort auf sie wartete und ihre Arme ausbreitete, sodass Romy sich hineinstürzen konnte. Wie gut wäre es jetzt, jemanden zu haben, in dessen Armen sie sich geborgen fühlen könnte. Sie dachte daran, wie Nic sie von der Klause zum Kloster getragen hatte. Bestimmt war er schon über ihr Verschwinden informiert worden und setzte alles in Bewegung, um sie zu finden. Nach einigem Suchen entdeckte sie die kleine Nebenstraße, in der Señor Méndez gewohnt hatte und hoffentlich noch immer wohnte. Ihr Herz machte einen kleinen Freudensprung, als sie auf dem Klingelschild des fünfstöckigen Apartmenthauses seinen Namen entdeckte. Sie läutete Sturm. Kurz darauf hörte sie durch die Gegensprechanlage seine Stimme. „Señor Méndez, ich bin es! Ihre ehemalige Schülerin Romy Conrad“, rief sie aufgeregt. „No me diga. Que Sorpresa!” Der Summton ertönte, und Romy drückte die Tür auf. Bevor sie hineinging, sah sie sich noch einmal um, ob ihr nicht doch jemand gefolgt war. Doch außer einer alten Dame, die ihren Mops an einen Laternenpfahl pinkeln ließ, war die kleine Straße menschenleer. Sie nahm den Aufzug in den vierten Stock. Ihr alter Geschichtslehrer stand in seiner Wohnungstür und sah sie ungläubig an. Er trug wie zu ihrer Schulzeit Weste und Fliege und war nur ein wenig fülliger geworden. Doch seine wachen Augen funkelten wie eh und je. „Romy, wie schön, dich zu sehen! Ich kann es kaum glauben. Du bist ja noch hübscher als früher. Doch warum hast du nicht vorher angerufen?“ Sein Blick fiel auf ihre nackten Füße und das dünne Kleid. „Ist irgendetwas passiert?“ Romy nickte. „Kann ich reinkommen?“ „Aber natürlich. Entschuldigung, ich bin ganz durcheinander.“ Die Wohnung sah noch genau so aus wie vor 20 Jahren. Eine Tatsache, die Romy irgendwie beruhigte. „Wo ist Ihre Frau?“ „Sie ist leider vor zwei Jahren gestorben.“ Also keine Torten mehr mit rosafarbener Buttercreme, schoss es ihr völlig unnötigerweise durch den Kopf. Sie drückte seine Hand. „Ich brauche Ihre Hilfe, Señor Méndez.“ „Als Erstes gebe ich dir mal etwas Wärmeres zum Anziehen, ich habe noch Sachen von meiner Frau. Bestimmt nicht dein Stil, aber von der Größe müssten sie dir passen.“ Er ging ins Schlafzimmer und sie hörte, wie er den Schrank öffnete. „Wie komme ich am schnellsten von hier nach La Palma?“, rief sie ihm hinterher. „Die kanarische Insel La Palma?“, tönte es von nebenan. „Ja!“ „Von Cádiz aus. Das ist der nächste große Hafen“, sagte er und betrat mit einem Kleiderbündel über dem Arm wieder das Zimmer. „Von dort gibt es meines Wissens eine Fähre. Ich kann dich morgen früh hinfahren, wenn du willst.“ In diesem Moment läutete es. Romy erschrak. „Erwarten Sie noch Besuch?“ Er schüttelte den Kopf. „Bitte nicht aufmachen“, flüsterte sie mit zitternder Stimme. Sie ging zur Wohnungstür, um sie von innen zu verriegeln. Dabei hörte sie bereits aus dem Treppenhaus die Stimmen der beiden Bodyguards und noch eine zusätzliche, die sie sofort erkannte. „Machen Sie auf, Señor Méndez. Wir wissen, dass Romy Conrad bei Ihnen ist“, bellte Antonio Borges in hartem Befehlston durch die Tür. Méndez sah Romy erschrocken an. „Wer ist das?“ Sie erinnerte sich daran, dass sie Nic von ihrem Geschichtslehrer erzählt hatte. Er und Borges konnten offensichtlich eins und eins zusammenzählen. „Komme ich hier irgendwie raus?“, flüsterte sie. „Vielleicht über den Balkon in der Küche“, gab der alte Mann ebenso leise zurück. Romy spurtete in die Küche und öffnete die Tür zum Balkon, der auf einen kleinen Luftschacht hinausging. Während sie sich über das Geländer schwang, hörte sie, wie die Wohnungstür gewaltsam aufgebrochen wurde. „Wo ist sie?“, tönte Borges. Seine Stimme ging ihr durch Mark und Bein. Ihre Finger umklammerten die Gitterstäbe des Balkons, während ihre Füße versuchten, auf einem kleinen Mauervorsprung Halt zu finden. Wieder eine Sequenz aus dem Iriomé‐Stück: De Lugo verwüstet das Haus des Médico, schoss es Romy durch den Kopf. Die Angst fuhr ihre Krallen aus und näherte sich gefährlich ihrem Hals, um ihr die Luft abzuschnüren. Unwillkürlich sah sie nach unten auf den Boden des Schachts. Das kleine Viereck aus Beton schien sie magisch anzuziehen. Ihre Zehen klammerten sich fest an den rauen Mauerputz. Nein, sie würde nicht fallen. Diesmal nicht. Sie schloss für einen Moment die Augen, um sich ganz auf sich zu konzentrieren. Und plötzlich spürte sie Iriomés Kraft. Eine Kraft, die ihr vertraut war und die sie immer dann empfand, wenn sie in einer Felswand hing und ganz allein auf sich gestellt war. Die sie als seelischen Turbolader bezeichnete, der von einem explosiven Gemisch aus Adrenalin und Endorphinen angetrieben wurde. Eine Kraft, die sie mit Mut, Selbstliebe und unendlichem Vertrauen durchflutete. Wie eine Katze sprang sie seitwärts zu einem weiteren Mauervorsprung und stieß sich dabei das Knie blutig, was sie jedoch kaum bemerkte. Von dort hangelte sie sich an einem Fensterbrett entlang zum Regenrohr, das seitlich davon verlief. Für einige Sekunden hing sie nur am Fensterbrett. Zehn Meter unter ihr harter Beton. Würden ihre Finger jetzt versagen, bedeutete das den sicheren Tod.