30 Sport Telefon (089) 53 06-483 [email protected] Telefax: (089) 53 06-86 58 Münchner Merkur Nr. 95 | Wochenende, 25./26. April 2015 REPORTAGE . . . AM WOCHENENDE Der neu eingeführte Ehrenpreis im Rahmen unserer traditionsreichen Sportlerwahl geht an einen Verein, der sich in beispielhafter Weise für die Integration von Flüchtlingen einsetzt. Motto des 1903 gegründeten FC Wacker München ist: „In der Welt geboren – bei Wacker zuhause!“ Ein Slogan, der mit Leben gefüllt wird, wie sich bei unserem Recherchebesuch zeigte. Oase für gepeinigte Seelen GESCHICHTE DES FC WACKER 1903: Gründung als FC Isaria im Laimer Lokal „Huiras“. 1905: Der FC Wacker München hat sich neu erfunden – als Hort für Flüchtlinge und unterschiedlichste Kulturen Der FC Wacker verliert ein „Gesellschaftsspiel“ gegen den FC Bayern 5:6 – und das erste Punktspiel 2:3. 1910: Sieg bei der Münchner Meisterschaft. VON ULI KELLNER München – Sie kommen aus allen Teilen Afrikas, aus dem Bürgerkrieg und aus bitterer Armut; hinter ihnen liegen Fluchtdramen, MittelmeerÜberfahrten auf windigen Kähnen, Hunger, Schmerz, Todesangst, Verlust. Abenteuer sind in ihren Köpfen gespeichert, die kein Mensch erleben möchte – und plötzlich stehen sie da: auf einer sonnigen Restaurantterrasse im Herzen Sendlings. Ein Dienstagabend im Frühling, Bezirkssportanlage an der Demleitnerstraße, kurz vor 18 Uhr. Links schwingt ein Papa mit seinem Sohnemann den Tennisschläger, kichernde Mädchen stürmen den Hockeyplatz, Rentner trinken Bier und spielen Schafkopf. Scheinbar unvereinbare Welten prallen aufeinander, doch dafür ist der FC Wacker inzwischen über die Grenzen des Freistaats bekannt: Armin Homp von der Jugendhilfe Oberbayern biegt um die Ecke und stellt seine Begleiter in aller Kürze vor: „Laurence aus Nigeria, Adam aus Algerien, Joro und Mbengue aus dem Senegal, Osman aus Benin, Ankamah aus Ghana, Samuel aus Sierra Leone.“ Sie sind zu siebt und neu in dieser fremden Welt. Ihre Schicksale sind so unterschiedlich wie die Länder, aus denen sie geflüchtet sind. Gemein ist ihnen die Hoffnung auf ein neues Leben. Und an diesem Abend speziell: die Lust auf Fußball. Marcus Steer, Vorstand des FC Wacker und Gründer dieses Sammelbeckens für gepeinigte Seelen, hält sich nicht lange mit Nebensächlichkeiten auf: Kurze Begrüßung, ein Händedruck für jeden, dann die Bestandaufnahme: „You have shoes, you not . . .“ Die meisten der Neuankömmlinge besitzen gerade mal das, was sie am Leib tragen. Steer geht rein ins Klubheim, kommt wieder raus und sagt: „Ein Paar 42er hab ich gefunden.“ Die anderen fehlenden Fußballschuhe wird er auch noch auftreiben. Die meisten Dinge regelt er spontan, unbürokratisch. So wie er überhaupt zu diesem Job gekommen ist, den er seit zehn Jahren mit Hingabe und hohem Zeitaufwand ausübt. Als Bambini-Trainer fing er 2005 an – inzwischen ist er Kopf, Hirn und Herz eines Traditionsklubs, der sich als Inbegriff des gelebten Multikulti neu erfunden hat. Integrationspreise hagelt es von allen Seiten. Sein Telefon steht selten still. „Dabei hab ich mit Fußball nie was am Hut gehabt“, sagt Steer und lächelt. Eigentlich ist der 42-Jährige IT-Berater, doch im Grunde seines Herzens ist er ein Sozialarbeiter. Bedingt durch seine eigene Lebengeschichte. Seine Heimat ist der Ammersee, dort wuchs er in prägenden Verhältnissen auf. Die Eltern „Hippies“, wie er sagt, eng verbandelt mit einem anderen Pärchen, sie Deutsche, er Äthiopier, drei dunkelhäutige Kinder. Die Kinder, mit denen Steer aufwuchs wie mit Geschwistern. „Sie müssen sich vorstellen: Das Ganze fand in einem kleinen, bayerischen Dorf statt. Negerfreund hieß es da in der Schule: ,Neben dir sitz’ ich nicht!’. Solche und andere Sprüche“ Keine schöne Erfahrung für einen Heranwachsenenden. Sein Pflegekind Nabil, Enkel seiner Zweiteltern, soll es mal besser haben. Genau wie die anderen dunkelhäutigen Ju- 1921/22: Als Süddeutscher Meister nimmt Wacker an der Endrunde um die Deutsche Meisterschaft teil. 1926: FC Wacker gewinnt gegen Borussia Dortmund 11:1. 1940: Hennes Weisweiler, der Militärdienst im Freistaat leistet, wechselt vom Kölner BC 01 zu Wacker. 1947: Aufstieg in die Oberliga. 1962: Wacker gewinnt im DFBPokal 1:0 gegen den FC Bayern – der letzte Sieg gegen den Stadtrivalen. 1968: Der FC Wacker steht im Finale um die deutsche Amateurmeisterschaft. 1976: Bunt kickt gut: Laurence aus Nigeria (r.) zog Anfang April als Flüchtling in der Bayern-Kaserne ein und findet beim FC Wacker das, wonach er gesucht hat: Ablenkung, aufgeschlossene Menschen und zwanglosen Fußballspaß. Geschaffen hat dieses Sammelbecken ein Mann, der mit Fußball anfangs nichts am Hut hatte: Marcus Steer, (42), eigentlich IT-Berater von Beruf. Dank seines Einsatz hagelt es für den Traditionsklub Integrationspreise. FOTOS: BODMER gendlichen, die sich beim FC Wacker tummeln. Menschen verschiedenster Kulturen, junge Fußballer aus mehr als 50 Ländern, haben beim Sendlinger Traditionsklub ein sportliches Zuhause gefunden. Warum das so ist, wird beim Empfang der sieben Neuankömmlinge deutlich. Das Aufnahmeverfahren ist in weniger als einer halben Stunde abgewickelt. Laurence bekommt das Paar 42er, worüber er sich sichtlich freut. Viele ehrenamtliche Helfer schwärmen aus, um den Rest zu organisieren. Bis alle versorgt sind, bis das erste gemeinsame Training beginnen kann, gibt es erstmal eine Runde Orangensaft. Während die Jungs auf der Terrasse Platz nehmen, spricht Laurence in passablem Englisch über seine große Leidenschaft, den Fußball. „Fußball ist alles für mich“, sagt er. „Cristiano Ronaldo ist mein großes Vorbild.“ Er selber sei auch ein guter Stürmer und habe in Nigeria für die „Young Stars“ gespielt, einen Zweitligaklub. Über was er nicht so gerne spricht, ist die qualvolle Odyssee, die ihn über Libyen, Lampedusa und Rom bis zur Bayern-Kaserne in Münchens Heidemannstraße 50 geführt hat. Zwei Wochen ist Laurence jetzt hier, aufgebrochen in der Heimat war er zwei Jahre zuvor, und genauso lange habe er keinen Kontakt zu seiner Familie gehabt. „Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“ ist der sperrige deutsche Rechtsbegriff, der für Asylsuchende wie ihn geschaffen wurde. „Ich mag gar nicht viel über die Vergangenheit reden, ich muss nach vorne schauen“, würgt Laurence das Abfragen seiner Lebensgeschichte ab. Man ahnt, dass seine Seele viele Erlebnisse unter Verschluss hält, an denen Menschen ohne seinen Lebensmut zerbrechen könnten. Deswegen will er jetzt Fußball spielen. Genau wie seine Leidensgenossen, die eine Stunde nach ihrer Ankunft den Kunstrasen betreten, der 2012 von UEFA-Präsident Michel Platini persönlich übergeben wurde – als Belohnung für beispiellosen Einsatz im Dienste der Integration. Einst klopfte der FC Wacker an das Tor zur zweite Liga, wurde in einem Atemzug mit dem FC Bayern genannt; 1926 schlug man Borussia Dortmund mal mit 11:1. Jetzt haben sich die Blausterne eher einem gesellschaftlichen Auftrag verschrieben. Dortmund ist auch an diesem Tag präsent. Adam kommt mit einem Trikot des BVB aus der Kabine, Joro trägt eines von Newcastle United. Alle erdenklichen Farben sind vertreten, als das von rhythmischem Klatschen begleitete Aufwärmtraining beginnt. Die länger dabei sind, tragen blaue Trainingsanzüge. Blau wie der Stern im Logo des FC Wacker. Die inoffizielle Vereinsfarbe ist je- doch: bunt. Burim, der an diesem Dienstag alle drei Herrenmannschaften gleichzeitig trainiert, sagt: „Normal sind wir um die 30 Mann, heute 45. Viele Nationalitäten, aber kein Problem, denn der Fußball hat nur eine Sprache, und das ist der Ball.“ Christian Saba, der Burim assistiert, hat 17 Jahre für den FC Bayern gespielt (v.a. Amateure), auch für das Olympiateam Ghanas. Er sagt: „Man merkt, dass die Jungs länger keinen Ball mehr am Fuß hatten.“ Was man aber vor allem merkt, ist: Für alle sieben Neuankömmlinge, von Laurence bis zu Joro, dürfte das einer der glücklichsten Momente sein, die sie in der jüngeren Vergangenheit erlebt haben. Der Mann, der das alles in die Wege geleitet hat, ist längst zurück im Klubheim. Von einer Besprechung geht es heute in die nächste. Zwischendurch gibt es einen weiteren Teilerfolg zu verzeichnen, wie Steer beiläufig er- Endlich mal ein materieller Preis Marcus Steer, Vorstand des FC Wacker, hat schon viele Preise eingeheimst: „Immer ideelle – nie war ein materieller dabei.“ Jetzt darf sich sein sozial engagierter Verein über einen Audi A3 Etron Sportback freuen. Dass der Ehrenpreis der Sportlerwahl in richtige Hände gerät, wurde klar, als Verlagsleiter Andreas Heinkel und Audi-Vertreter Alexander Schumacher die Jahresleihgabe übergaben. Steer brachte Stürmer Armend mit, einen Kosovaren, dem die Abschiebung droht. Steer: „Ich kämpfe dafür, damit er hierbleiben darf.“ Bei seiner Familie. Und in der Wacker-Familie. ulk Wacker qualifiziert sich für die 2. Liga, verzichtet aber aus finanziellen Gründen unter dem Vorsitz von Alfred Fackler. Mr. Wacker: Alfred Fackler. 1987 bis 1994: zählt: Ein Junge aus Burkina Faso, 15 Jahre alt, findet gerade aus dem „Betreuungsvakuum“, in das man angesichts vieler ungeklärter Asylfragen leicht mal geraten kann. Seine Mutter hat er nach zwölf Jahren wiedergetroffen, bei der Suche nach einer Bleibe und einem Ausbildungsplatz hilft Steer, wie er das schon hundertfach getan hat. „Wir kümmern uns um alles“, sagt er: „Vom Asylantrag bis zu den Fußballschuhen.“ Nur bei einem Thema steigt er immer aus – dem Beantragen von Fördergeldern. „Mir widerstrebt es, wegen 250 Euro ein zehnseitiges Formular auszufüllen. Bis ich da fertig bin, hab ich den Jungs ’ne Wohnung besorgt, Arbeit – und 15 Kinder trainiert.“ Das Motto „In der Welt geboren – bei Wacker zuhause“ wird unter Steer gelebt. Dabei war es ein Zufall, der ihn 2005 zum FC Wacker geführt hatte. Steer, dem sein ehrgeiziger Vater früh den Spaß am Kicken genommen hatte, war damals auf der Suche nach einer Fußballgruppe für den kleinen Nabil – zwei Wochen später war er Co-Trainer der Bambini, dann Trainer, Koordinator, dritter Vorstand – „und plötzlich hatte ich einen ganzen Verein an der Backe“. Seine Frau schimpfte, er habe sich „austricksen“ lassen, als er die Mitgliederversammlung mit einem offiziellen Vereinsamt verließ. Inzwischen kann sie mehr als stolz sein auf ihren engagierten Gatten. Homp von der Jugendhilfe, Mentor der siebenköpfigen Gruppe um Laurence, weiß, dass ehrenamtliche Kümmerer wie Marcus Steer Gold wert sind. Gerade zieht dem Wacker-Chef wieder einer am Ärmel, der Moment ist günstig, also ruft ihm Homp zu: „Nächste Woche komme ich noch mal mit so vielen.“ Finanzieller und sportlicher Niedergang, gipfelnd in der Abmeldung vom Spielbetrieb. 1995: Wiederaufnahme Spielbetriebs. des 2002: Ein „Wackerianer“ wird Vizeweltmeister: Dietmar „Didi“ Hamann, der zwischen 1973 und ’99 sämtliche Jugendmannschaften des FC Wacker durchlief. 2008: Marcus Steer wird in den Vorstand berufen. 2010: „Neustart“ als Verein zur Förderung der Vielfalt und sozialen Integration. Hoher Besuch: UEFA-Chef Platini beim FC Wacker. 2012: Besuch von UEFA-Chef Michel Platini; feierliche Einweihung des „Maxi Pitch“, eines modernen Kunstrasens mit Bande. 2013: Triple für den FC Wacker: Allen drei Herrenteams gelingt der Aufstieg in die nächsthöhere Liga. 2014: Ein weiterer Integrationspreis für den FC Wacker, diesmal von der SPDStadtratsfraktion. Zuvor gab es Preise vom DFB (2010) und der Regierung Oberbayerns (2011).
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