Deutsch 321 Texte 2 Frühlingsemester, 2015

 Deutsch 321 Texte 2 Frühlingsemester, 2015 INHALT Schnitzler: Leutnant Gustl Heinrich Mann: Professor Unrat (Auszug) Erich Kästner: Emil und die Detektive 1 Lieutenant Gustl (1900) Novelle von Arthur Schnitzler Wie lange wird denn das noch dauern? Ich muß auf die Uhr schauen … schickt sich wahrscheinlich nicht in einem so ernsten Konzert. Aber wer sieht’s denn? Wenn’s einer sieht, so paßt er gerade so wenig auf, wie ich, und vor dem brauch’ ich mich nicht zu genieren … Erst viertel auf zehn? … Mir kommt vor, ich sitz’ schon drei Stunden in dem Konzert. Ich bin’s halt nicht gewohnt … Was ist es denn eigentlich? Ich muß das Programm anschauen … Ja, richtig: Oratorium! Ich hab’ gemeint: Messe. Solche Sachen gehören doch nur in die Kirche! Die Kirche hat auch das Gute, daß man jeden Augenblick fortgehen kann. – Wenn ich wenigs-­‐
tens einen Ecksitz hätt’! – Also Geduld, Geduld! Auch Oratorien nehmen ein End’! Vielleicht ist es sehr schön, und ich bin nur nicht in der Laune. Woher sollt’ mir auch die Laune kommen? Wenn ich [6] denke, daß ich hergekommen bin, um mich zu zerstreuen … Hätt’ ich die Karte lieber dem Benedek geschenkt, dem machen solche Sachen Spaß; er spielt ja selber Violine. Aber da wär’ der Kopetzky beleidigt gewesen. Es war ja sehr lieb von ihm, wenigstens gut gemeint. Ein braver Kerl, der Kopetzky! Der einzige, auf den man sich verlassen kann … Seine Schwester singt ja mit unter denen da oben. Mindestens hundert Jung-­‐
frauen, alle schwarz gekleidet; wie soll ich sie da herausfinden? Weil sie mitsingt, hat er auch das Billett gehabt, der Kopetzky … Warum ist er denn nicht selber gegangen? – Sie singen übrigens sehr schön. Es ist sehr erhebend – sicher! Bravo! Bravo! … Ja, applaudieren wir mit. Der neben mir klatscht wie verrückt. Ob’s ihm wirklich so gut gefällt? – Das Mädel drüben in der Loge ist sehr hübsch. Sieht sie mich an oder den Herrn dort mit dem blonden Vollbart? … Ah, ein Solo! Wer ist das? Alt: Fräulein Walker, Sopran: Fräu-­‐
lein Michalek … das ist wahrscheinlich Sopran … Lang’ war ich schon nicht in der Oper. In der Oper unter-­‐
halt’ ich mich immer, auch wenn’s langweilig ist. Übermorgen könnt’ ich eigentlich wieder hineingeh’n, zur „Traviata“. Ja, übermorgen bin ich vielleicht schon eine tote Leiche! Ah, Unsinn, das glaub’ ich selber nicht! Warten S’ nur, Herr Doktor, Ihnen wird’s [7] vergeh’n, solche Bemerkungen zu machen! Das Nasenspitzel hau’ ich Ihnen herunter … Wenn ich die in der Loge nur genau sehen könnt’! Ich möcht’ mir den Operngucker von dem Herrn neben mir ausleih’n, aber der frißt mich ja auf, wenig ich ihn in seiner Andacht stör’ … In welcher Gegend die Schwester vom Kopetzky steht? Ob ich sie erkennen möcht’? Ich hab’ sie ja nur zwei-­‐ oder dreimal gese-­‐
hen, das letztemal im Offizierskasino … Ob das lauter anständige Mädeln sind, alle hundert? O jeh! … „Un-­‐
ter Mitwirkung des Singvereins“! – Singverein … komisch! Ich hab’ mir darunter eigentlich immer so was Ähnliches vorgestellt, wie die Wiener Tanzsängerinnen, das heißt, ich hab’ schon gewußt, daß es was an-­‐
deres ist! … Schöne Erinnerungen! Damals beim „Grünen Tor“ … Wie hat sie nur geheißen? Und dann hat sie mir einmal eine Ansichtskarte aus Belgrad geschickt … Auch eine schöne Gegend! – Der Kopetzky hat’s gut, der sitzt jetzt längst im Wirtshaus und raucht seine Virginia! … Was guckt mich denn der Kerl dort immer an? Mir scheint, der merkt, daß ich mich langweil’ und nicht herg’hör’ … Ich möcht’ Ihnen raten, ein etwas weniger freches Gesicht zu machen, sonst stell’ ich Sie mir nachher im Foyer! – Schaut schon weg! [8] … Daß sie alle vor meinem Blick so eine Angst hab’n … „Du hast die schönsten Augen, die mir je vorgekommen sind!“ hat neulich die Steffi gesagt … O Steffi, Steffi, Steffi! – Die Steffi ist eigentlich schuld, daß ich dasitz’ und mir stundenlang vorlamentieren lassen muß. – Ah, diese ewige Abschreiberei von der Steffi geht mir wirklich schon auf die Nerven! Wie schön hätt’ der heutige Abend sein können. Ich hätt’ große Lust, das Brieferl von der Steffi zu lesen. Da hab’ ich’s ja. Aber wenn ich die Brieftasche herausnehm’, frißt mich der Kerl daneben auf! – Ich weiß ja, was drinsteht … sie kann nicht kommen, weil sie mit „ihm“ nachtmahlen gehen muß … Ah, das war komisch vor acht Tagen, wie sie mit ihm in der Gartenbaugesellschaft gewesen ist, und ich vis-­‐à-­‐vis mit’m Kopetzky; und sie hat mir immer die Zeichen gemacht mit den Augerln, die verabredeten. Er hat nichts gemerkt – unglaublich! Muß übrigens ein Jud’ sein! Freilich, in einer Bank ist er, und der schwarze Schnurrbart … Reservelieutenant soll er auch sein! Na, in mein Regiment sollt’ er nicht zur Waffenübung kommen! Überhaupt, daß sie noch immer so viel Juden zu Offizieren machen – da pfeif ich auf’n ganzen Antisemitismus! Neulich in der Gesellschaft, wo die G’schicht’ mit dem Doktor passiert ist bei den Mannheimers … [9] die Mannheimer selber sollen ja auch Juden sein, getauft natürlich … denen merkt man’s aber gar nicht an – besonders die Frau so blond, bildhübsch die Figur … War sehr amüsant im ganzen. Famoses Essen, großartige Zigarren … Naja, wer hat’s Geld? … Bravo, bravo! Jetzt wird’s doch bald aus sein? – Ja, jetzt steht die ganze G’sellschaft da droben auf … sieht 2 sehr gut aus – imposant! – Orgel auch? … Orgel hab’ ich sehr gern … So, das laß’ ich mir g’fall’n – sehr schön! Es ist wirklich wahr, man sollt’ öfter in Konzerte gehen … Wunderschön ist’s g’wesen, werd’ ich dem Kopetzky sagen … Werd’ ich ihn heut’ im Kaffeehaus treffen? – Ah, ich hab’ gar keine Lust, ins Kaffee-­‐
haus zu geh’n; hab’ mich gestern so gegiftet! Hundertsechzig Gulden auf einem Sitz verspielt – zu dumm! Und wer hat alles gewonnen? Der Ballert, grad’ der, der’s nicht notwendig hat … Der Ballert ist eigentlich schuld, daß ich in das blöde Konzert hab’ geh’n müssen … Na ja, sonst hätt’ ich heut’ wieder spielen kön-­‐
nen, vielleicht doch was zurückgewonnen. Aber es ist ganz gut, daß ich mir selber das Ehrenwort gegeben hab’, einen Monat lang keine Karte anzurühren … Die Mama wird wieder ein G’sicht machen, wenn sie meinen Brief bekommt! – Ah, sie soll zum Onkel [10] geh’n, der hat Geld wie Mist; auf die paar hundert Gulden kommt’s ihm nicht an. Wenn ich’s nur durchsetzen könnt’, daß er mir eine regelmäßige Sustenta-­‐
tion gibt … aber nein, um jeden Kreuzer muß man extra betteln. Dann heißt’s wieder: Im vorigen Jahr war die Ernte schlecht! … Ob ich heuer im Sommer wieder zum Onkel fahren soll auf vierzehn Tag’? Eigentlich langweilt man sich dort zum Sterben … Wenn ich die … wie hat sie nur geheißen? … Es ist merkwürdig, ich kann mir keinen Namen merken! … Ah, ja: Etelka! … Kein Wort deutsch hat sie verstanden, aber das war auch nicht notwendig … hab’ gar nichts zu reden brauchen! … Ja, es wird ganz gut sein, vierzehn Tage Landluft und vierzehn Nächt’ Etelka oder sonstwer … Aber acht Tag’ sollt’ ich doch auch wieder beim Papa und bei der Mama sein … Schlecht hat sie ausg’seh’n heuer zu Weihnachten … Na, jetzt wird die Kränkung schon überwunden sein. Ich an ihrer Stelle wär’ froh, daß der Papa in Pension gegangen ist. – Und die Kla-­‐
ra wird schon noch einen Mann kriegen … Der Onkel kann schon was hergeben … Achtundzwanzig Jahr, das ist doch nicht so alt … Die Steffi ist sicher nicht jünger … Aber es ist merkwürdig: die Frauenzimmer erhalten sich länger jung. Wenn man so bedenkt: die Maretti [11] neulich in der „Madame Sans-­‐Gêne“ – siebenunddreißig Jahr ist sie sicher, und sieht aus … Na, ich hätt’ nicht Nein g’sagt! – Schad’, daß sie mich nicht g’fragt hat … Heiß wird’s! Noch immer nicht aus? Ah, ich freu’ mich so auf die frische Luft! Werd’ ein bißl spazieren geh’n, übern Ring … Heut’ heißt’s: früh ins Bett, morgen nachmittag frisch sein! Komisch, wie wenig ich daran denk’, so egal ist mir das! Das erstemal hat’s mich doch ein bißl aufgeregt. Nicht, daß ich Angst g’habt hätt’; aber nervos bin ich gewesen in der Nacht vorher … Freilich, der Oberlieutenant Bisanz war ein ernster Gegner. – Und doch, nichts ist mir g’scheh’n! … Auch schon anderthalb Jahr her. Wie die Zeit vergeht! Und wenn mir der Bisanz nichts getan hat, der Doktor wird mir schon gewiß nichts tun! Obzwar, gerade diese ungeschulten Fechter sind manchmal die gefährlichsten. Der Doschintzky hat mir erzählt, daß ihn ein Kerl, der das erstemal einen Säbel in der Hand gehabt hat, auf ein Haar abgestochen hätt’; und der Doschintzky ist heut’ Fechtlehrer bei der Landwehr. Freilich – ob er damals schon so viel können hat … Das Wichtigste ist: kaltes Blut. Nicht einmal einen rechten Zorn hab’ ich mehr in mir, und es war doch eine Frechheit – unglaublich! [12] Sicher hätt’ er sich’s nicht getraut, wenn er nicht Champagner getrun-­‐
ken hätt’ vorher … So eine Frechheit! Gewiß ein Sozialist! Die Rechtsverdreher sind doch heutzutag’ alle Sozialisten! Eine Bande … am liebsten möchten sie gleich ’s ganze Militär abschaffen; aber wer ihnen dann helfen möcht’, wenn die Chinesen über sie kommen, daran denken sie nicht. Blödisten! – Man muß gele-­‐
gentlich ein Exempel statuieren. Ganz recht hab’ ich g’habt. Ich bin froh, daß ich ihn nimmer auslassen hab’ nach der Bemerkung. Wenn ich dran denk’, werd’ ich ganz wild! Aber ich hab’ mich famos benommen; der Oberst sagt auch, es war absolut korrekt. Wird mir überhaupt nützen, die Sache. Ich kenn’ manche, die den Burschen hätten durchschlüpfen lassen. Der Müller sicher, der wär’ wieder objektiv gewesen oder so was. Mit dem Objektivsein hat sich noch jeder blamiert … „Herr Lieutenant!“ … schon die Art, wie er „Herr Lieu-­‐
tenant“ gesagt hat, war unverschämt! … „Sie werden mir doch zugeben müssen“ … – Wie sind wir denn nur d’rauf gekommen? Wieso hab’ ich mich mit dem Sozialisten in ein Gespräch eingelassen? Wie hat’s denn nur angefangen? … Mir scheint, die schwarze Frau, die ich zum Büfett geführt hab’, ist auch dabei gewesen … und dann dieser junge Mensch, der die [13] Jagdbilder malt – wie heißt er denn nur? … Meiner Seel’, der ist an der ganzen Geschichte schuld gewesen! Der hat von den Manövern geredet; und dann erst ist dieser Doktor dazugekommen und hat irgendwas g’sagt, was mir nicht gepaßt hat, von Kriegsspielerei oder so was – aber wo ich noch nichts hab’ reden können … Ja, und dann ist von den Kadettenschulen ge-­‐
sprochen worden … Ja, so war’s … und ich hab’ von einem patriotischen Fest erzählt … und dann hat der Doktor gesagt – nicht gleich, aber aus dem Fest hat es sich entwickelt – „Herr Lieutenant, Sie werden mir doch zugeben, daß nicht alle Ihre Kameraden zum Militär gegangen sind, ausschließlich um das Vaterland zu verteidigen!“ So eine Frechheit! Das wagt so ein Mensch einem Offizier ins Gesicht zu sagen! Wenn ich mich nur erinnern könnt’, was ich d’rauf geantwortet hab’? … Ah ja, etwas von Leuten, die sich in Dinge 3 dreinmengen, von denen sie nichts versteh’n … Ja, richtig … und dann war einer da, der hat die Sache güt-­‐
lich beilegen wollen, ein älterer Herr mit einem Stockschnupfen … Aber ich war zu wütend! Der Doktor hat das absolut in dem Ton gesagt, als wenn er direkt mich gemeint hätt’. Er hätt’ nur noch sagen müssen, daß sie mich aus dem Gymnasium hinausg’schmissen haben, [14] und daß ich deswegen in die Kadettenschul’ gesteckt worden bin … Die Leut’ können eben unserein’n nicht versteh’n, sie sind zu dumm dazu … Wenn ich mich so erinner’, wie ich das erstemal den Rock angehabt hab’, so was erlebt eben nicht ein jeder … Im vorigen Jahr bei den Manövern – ich hätt’ was drum gegeben, wenn’s plötzlich Ernst gewesen wär’ … Und der Mirovic hat mir g’sagt, es ist ihm ebenso gegangen. Und dann, wie Seine Hoheit die Front abgeritten sind, und die Ansprache vom Obersten – da muß einer schon ein ordentlicher Lump sein, wenn ihm das Herz nicht höher schlägt … Und da kommt so ein Tintenfisch daher, der sein Lebtag nichts getan hat, als hinter den Büchern gesessen, und erlaubt sich eine freche Bemerkung! … Ah, wart’ nur, mein Lieber – bis zur Kampfunfähigkeit … jawohl, du sollst so kampfunfähig werden … Ja, was ist denn? Jetzt muß es doch bald aus sein? … „Ihr, seine Engel, lobet den Herrn“ … – Freilich, das ist der Schlußchor … Wunderschön, da kann man gar nichts sagen. Wunderschön! – Jetzt hab’ ich ganz die aus der Loge vergessen, die früher zu kokettieren angefangen hat. Wo ist sie denn? … Schon fortgegangen … Die dort scheint auch sehr nett zu sein … Zu dumm, daß ich keinen [15] Operngucker bei mir hab’! Der Brunnthaler ist ganz gescheit, der hat sein Glas immer im Kaffeehaus bei der Kassa liegen, da kann einem nichts g’scheh’n … Wenn sich die Kleine da vor mir nur ein mal umdreh’n möcht’! So brav sitzt s’ alleweil da. Das neben ihr ist sicher die Mama. – Ob ich nicht doch einmal ernstlich ans Heiraten denken soll? Der Willy war nicht älter als ich, wie er hineingesprungen ist. Hat schon was für sich, so immer gleich ein hüb-­‐
sches Weiberl zu Haus vorrätig zu haben … Zu dumm, daß die Steffi grad’ heut’ keine Zeit hat! Wenn ich wenigstens wüßte, wo sie ist, möcht’ ich mich wieder vis-­‐à-­‐vis von ihr hinsetzen. Das wär’ eine schöne G’schicht’, wenn ihr der draufkommen möcht’, da hätt’ ich sie am Hals … Wenn ich so denk’, was dem Fließ sein Verhältnis mit der Winterfeld kostet! Und dabei betrügt sie ihn hinten und vorn. Das nimmt noch einmal ein Ende mit Schrecken … Bravo, bravo! Ah, aus! … So, das tut wohl, aufsteh’n können, sich rühren … Na, vielleicht! Wie lang’ wird der da noch brauchen, um sein Glas ins Futteral zu stecken? „Pardon, pardon, wollen mich nicht hinauslassen?“ … Ist das ein Gedränge! Lassen wir die Leut’ lieber vorbeipassieren … Elegante Person … ob [16] das echte Brillanten sind? … Die da ist nett … Wie sie mich anschaut! … O ja, mein Fräulein, ich möcht’ schon! … O, die Nase! – Jüdin … Noch eine … Es ist doch fabelhaft, da sind auch die Hälfte Juden … nicht einmal ein Ora-­‐
torium kann man mehr in Ruhe genießen … So, jetzt schließen wir uns an … Warum drängt denn der Idiot hinter mir? Das werd’ ich ihm abgewöhnen … Ah, ein älterer Herr! … Wer grüßt mich denn dort von drü-­‐
ben? … Habe die Ehre, habe die Ehre! Keine Ahnung hab’ ich, wer das ist … Das Einfachste wär’, ich ging gleich zum Leidinger hinüber nachtmahlen … oder soll ich in die Gartenbaugesellschaft? Am End’ ist die Steffi auch dort? Warum hat sie mir eigentlich nicht geschrieben, wohin sie mit ihm geht? Sie wird’s selber noch nicht gewußt haben. Eigentlich schrecklich, so eine abhängige Existenz … Armes Ding! – So, da ist der Ausgang … Ah, die ist aber bildschön! Ganz allein? Wie sie mich anlacht. Das wär’ eine Idee, der geh’ ich nach! … So, jetzt die Treppen hinunter: Oh, ein Major von Fünfundneunzig … Sehr liebenswürdig hat er gedankt … Bin doch nicht der einzige Offizier hiern gewesen … Wo ist denn das hübsche Mädel? Ah, dort … am Geländer steht sie … So, jetzt heißt’s noch zur Garderobe … Daß mir die Kleine [17] nicht auskommt … Hat ihm schon! So ein elender Fratz! Laßt sich da von einem Herrn abholen, und jetzt lacht sie noch auf mich herüber! – Es ist doch keine was wert … Herrgott, ist das ein Gedränge bei der Garderobe! … Warten wir lieber noch ein bissel … So! Ob der Blödist meine Nummer nehmen möcht’? … „Sie, zweihundertvierundzwanzig! Da hängt er! Na, hab’n Sie keine Augen? Da hängt er! Na, Gott sei Dank! … Also bitte!“ … Der Dicke da verstellt einem schier die ganze Garderobe … „Bitte sehr!“ … „‚Geduld, Geduld!‘“ Was sagt der Kerl? „‚Nur ein bissel Geduld!‘“ Dem muß ich doch antworten … „Machen Sie doch Platz!“ „‚Na, Sie werden’s auch nicht versäumen!‘“ Was sagt er da? Sagt er das zu mir? Das ist doch stark! Das kann ich mir nicht gefallen lassen! „Ruhig!“ 4 „‚Was meinen Sie?‘“ Ah, so ein Ton? Da hört sich doch alles auf! „‚Stoßen Sie nicht!‘“ „Sie, halten Sie das Maul!“ Das hätt’ ich [18] nicht sagen sollen, ich war zu grob … Na, jetzt ist’s schon g’scheh’n! „‚Wie meinen?‘“ Jetzt dreht er sich um … Den kenn’ ich ja! – Donnerwetter, das ist ja der Bäckermeister, der immer ins Kaf-­‐
feehaus kommt … Was macht denn der da? Hat sicher auch eine Tochter oder so was bei der Singakademie … Ja, was ist denn das? Ja, was macht er denn? Mir scheint gar … Ja, meiner Seel’, er hat den Griff von mei-­‐
nem Säbel in der Hand … Ja, ist der Kerl verrückt? … „Sie, Herr …“ „‚Sie, Herr Lieutenant, sein S’ jetzt ganz stad.‘“ Was sagt er da? Um Gottes willen, es hat’s doch keiner gehört? Nein, er red’t ganz leise … Ja, warum laßt er denn meinen Säbel net aus? … Herrgott noch einmal … Ah, da heißt’s rabiat sein … ich bring’ seine Hand vom Griff nicht weg … nur keinen Skandal jetzt! … Ist nicht am End’ der Major hinter mir? … Bemerkt’s nur niemand, daß er den Griff von meinem Säbel hält? Er red’t ja zu mir! Was red’t er denn? „‚Herr Lieutenant, wenn Sie das geringste Aufsehen machen, so zieh’ ich den Säbel aus der Scheide, zer-­‐
brech’ ihn und schick’ die Stück’ an Ihr Regimentskommando. Versteh’n Sie mich, Sie dummer Bub?‘“ [19] Was hat er g’sagt? Mir scheint, ich träum’! Red’t er wirklich zu mir? Ich sollt’ was antworten … Aber der Kerl macht ja Ernst – der zieht wirklich den Säbel heraus. Herrgott – er tut’s! … Ich spür’s, er reißt schon dran! Was red’t er denn? … Um Gotteswillen, nur kein’ Skandal – – Was red’t er denn noch immer? „‚Aber ich will Ihnen die Karriere nicht verderben … Also, schön brav sein! … So, hab’n S’ keine Angst, ’s hat niemand was gehört … es ist schon alles gut … so! Und damit keiner glaubt, daß wir uns gestritten haben, werd’ ich jetzt sehr freundlich mit Ihnen sein! – Habe die Ehre, Herr Lieutenant, hat mich sehr gefreut – habe die Ehre!‘“ Um Gotteswillen, hab’ ich geträumt? Hat er das wirklich gesagt? … Wo ist er denn? … Da geht er … Ich müßt’ ja den Säbel ziehen und ihn zusammenhauen – – Um Gotteswillen, es hat’s doch niemand gehört? … Nein, er hat ja nur ganz leise geredet, mir ins Ohr … Warum geh’ ich denn nicht hin und hau’ ihm den Schädel auseinander? … Nein, es geht ja nicht, es geht ja nicht … gleich hätt’ ich’s tun müssen … Warum hab’ ich’s denn nicht gleich getan? … Ich hab’s ja nicht können … er hat ja den Griff nicht auslassen, und er ist zehnmal stärker als ich … Wenn ich noch ein Wort [20] gesagt hätt’, hätt’ er mir wirklich den Säbel zer-­‐
brochen … Ich muß ja noch froh sein, daß er nicht laut geredet hat! Wenn’s ein Mensch gehört hätt’, so müßt’ ich mich ja stante pede erschießen … Vielleicht ist es doch ein Traum gewesen … Warum schaut mich denn der Herr dort an der Säule so an? – Hat der am End’ was gehört? … Ich werd’ ihn fragen … Fra-­‐
gen? – Ich bin ja verrückt! – Wie schau’ ich denn aus? – Merkt man mir was an? – Ich muß ganz blaß sein. – Wo ist der Hund? … Ich muß ihn umbringen! … Fort ist er … Überhaupt schon ganz leer … Wo ist denn mein Mantel? … Ich hab’ ihn ja schon angezogen … Ich hab’s gar nicht gemerkt … Wer hat mir denn gehol-­‐
fen? Ah, der da … dem muß ich ein Sechserl geben … So! … Aber was ist denn das? Ist es denn wirklich ge-­‐
scheh’n? Hat wirklich einer so zu mir geredet? Hat mir wirklich einer „dummer Bub“ gesagt? Und ich hab’ ihn nicht auf der Stelle zusammengehauen? … Aber ich hab’ ja nicht können … er hat ja eine Faust gehabt wie Eisen … ich bin ja dagestanden wie angenagelt … Nein, ich muß den Verstand verloren gehabt haben, sonst hätt’ ich mit der anderen Hand … Aber da hätt’ er ja meinen Säbel herausgezogen und zerbrochen, und aus wär’s gewesen – Alles wär’ aus [21] gewesen! Und nachher, wie er fortgegangen ist, war’s zu spät … ich hab’ ihm doch nicht den Säbel von hinten in den Leib rennen können … Was, ich bin schon auf der Straße? Wie bin ich denn da herausgekommen? – So kühl ist es … ah, der Wind, der ist gut … Wer ist denn das da drüben? Warum schau’n denn die zu mir herüber? Am Ende haben die was gehört … Nein, es kann niemand was gehört haben … ich weiß ja, ich hab’ mich gleich nachher umge-­‐
schaut! Keiner hat sich um mich gekümmert, niemand hat was gehört … Aber gesagt hat er’s, wenn’s auch niemand gehört hat; gesagt hat er’s doch. Und ich bin dagestanden und hab’ mir’s gefallen lassen, wie wenn mich einer vor den Kopf geschlagen hätt’! … Aber ich hab’ ja nichts sagen können, nichts tun können; es war ja noch das einzige, was mir übrig geblieben ist: stad sein, stad sein! … ’s ist fürchterlich, es ist nicht zum Aushalten; ich muß ihn totschlagen, wo ich ihn treff’! … Mir sagt das einer! Mir sagt das so ein Kerl, so 5 ein Hund! Und er kennt mich … Herrgott noch einmal, er kennt mich, er weiß, wer ich bin! … Er kann je-­‐
dem Menschen erzählen, daß er mir das g’sagt hat! … Nein, nein, das wird er ja nicht tun, sonst hätt’ er auch nicht so leise geredet … er hat auch nur wollen, [22] daß ich es allein hör’! … Aber wer garantiert mir, daß er’s nicht doch erzählt, heut’ oder morgen, seiner Frau, seiner Tochter, seinen Bekannten im Kaffee-­‐
haus. – – Um Gotteswillen, morgen seh’ ich ihn ja wieder! Wenn ich morgen ins Kaffeehaus komm’, sitzt er wieder dort wie alle Tag’ und spielt seinen Tapper mit dem Herrn Schlesinger und mit dem Kunstblumen-­‐
händler … Nein, nein, das geht ja nicht, das geht ja nicht … Wenn ich ihn seh’, so hau’ ich ihn zusammen … Nein, das darf ich ja nicht … gleich hätt’ ich’s tun müssen, gleich! … Wenn’s nur gegangen wär’! Ich werd’ zum Obersten geh’n und ihm die Sache melden … ja, zum Obersten … Der Oberst ist immer sehr freundlich – und ich werd’ ihm sagen: Herr Oberst, ich melde gehorsamst, er hat den Griff gehalten, er hat ihn nicht aus’lassen; es war genau so, als wenn ich ohne Waffe gewesen wäre … – Was wird der Oberst sagen? – Was er sagen wird? – Aber da gibt’s ja nur eins: quittieren mit Schimpf und Schand’ – quittieren! … Sind das Freiwillige da drüben? … Ekelhaft, bei der Nacht schau’n sie aus, wie Offiziere … sie salutieren! – Wenn die wüßten – wenn die wüßten! … – – Da ist das Café Hochleitner … Sind jetzt gewiß ein paar Kameraden drin … vielleicht auch einer [23] oder der andere, den ich kenn’ … Wenn ich’s dem ersten Besten erzählen möcht’, aber so, als wär’s einem andern passiert? … – Ich bin ja schon ganz irrsinnig … Wo lauf’ ich denn da herum? Was tu’ ich denn auf der Straße? – Ja, aber wo soll ich denn hin? Hab’ ich nicht zum Leidinger wol-­‐
len? Haha, unter Menschen mich niedersetzen … ich glaub’, ein jeder müßt’ mir’s anseh’n … Ja, aber ir-­‐
gendwas muß doch gescheh’n … Was soll denn gescheh’n? … Nichts, nichts – es hat ja niemand was gehört … es weiß ja niemand was … in dem Moment weiß niemand was … Wenn ich jetzt zu ihm in die Wohnung ginge und ihn beschwören möchte, daß er’s niemandem erzählt? … – Ah, lieber gleich eine Kugel vor den Kopf, als so was! … Wär’ so das Gescheiteste! … Das Gescheiteste? Das Gescheiteste? – Gibt ja überhaupt nichts anderes … gibt nichts anderes … Wenn ich den Oberst fragen möcht’, oder den Kopetzky – oder den Blany – oder den Friedmaier: – jeder möcht’ sagen: Es bleibt dir nichts anderes übrig! … Wie wär’s, wenn ich mit dem Kopetzky spräch’? … Ja, es wär’ doch das Vernünftigste … schon wegen morgen … Ja, natürlich – wegen morgen … um vier in der Reiterkasern’ … ich soll mich ja morgen um vier Uhr [24] schlagen … und ich darf’s ja nimmer, ich bin satisfaktionsunfähig … Unsinn! Unsinn! Kein Mensch weiß was, kein Mensch weiß was! – Es laufen viele herum, denen ärgere Sachen passiert sind, als mir … Was hat man nicht alles von dem Deckener erzählt, wie er sich mit dem Rederow geschossen hat … und der Ehrenrat hat entschieden, das Duell darf stattfinden … Aber wie möcht’ der Ehrenrat bei mir entscheiden? – Dum-­‐
mer Bub – dummer Bub … und ich bin dagestanden –! heiliger Himmel, es ist doch ganz egal, ob ein ande-­‐
rer was weiß! … Ich weiß es doch, und das ist die Hauptsache! Ich spür’, daß ich jetzt wer anderer bin, als vor einer Stunde – Ich weiß, daß ich satisfaktionsunfähig bin, und darum muß ich mich totschießen … Kei-­‐
ne ruhige Minute hätt’ ich mehr im Leben … immer hätt’ ich die Angst, daß es doch einer erfahren könnt’, so oder so … und daß mir’s einer einmal ins Gesicht sagt, was heut’ abend gescheh’n ist! – Was für ein glücklicher Mensch bin ich vor einer Stund’ gewesen … Muß mir der Kopetzky die Karte schenken – und die Steffi muß mir absagen, das Mensch! – Von so was hängt man ab … Nachmittag war noch alles gut und schön, und jetzt bin ich ein verlorener Mensch und muß mich totschießen … Warum renn’ ich denn so? Es lauft [25] mir ja nichts davon … Wieviel schlagt’s denn? … 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11 … elf, elf … ich sollt’ doch nachtmahlen geh’n! Irgendwo muß ich doch schließlich hingeh’n … ich könnt’ mich ja in irgendein Beisl setzen, wo mich kein Mensch kennt – schließlich, essen muß der Mensch, auch wenn er sich nachher gleich totschießt … Haha, der Tod ist ja kein Kinderspiel … wer hat das nur neulich gesagt? … Aber das ist ja ganz egal … Ich möcht’ wissen, wer sich am meisten kränken möcht’? … Die Mama, oder die Steffi? … die Steffi … Gott, die Steffi … die dürft’ sich ja nicht einmal was anmerken lassen, sonst gibt „er“ ihr den Abschied … Arme Person! – Beim Regiment – kein Mensch hätt’ eine Ahnung, warum ich’s getan hab’ … sie täten sich alle den Kopf zerbrechen … warum hat sich denn der Gustl umgebracht? – Darauf möcht’ keiner kommen, daß ich mich hab’ totschießen müssen, weil ein elender Bäckermeister, so ein niederträchtiger, der zufällig stärke-­‐
re Fäust’ hat … es ist ja zu dumm, zu dumm! – Deswegen soll ein Kerl wie ich, so ein junger, fescher Mensch … Ja, nachher möchten’s gewiß alle sagen: das hätt’ er doch nicht tun müssen, wegen so einer Dummheit; ist doch schad’! … Aber wenn ich jetzt wen immer fragen tät’, jeder möcht’ mir die gleiche [26] Antwort geben … und ich selber, wenn ich mich frag’ … das ist doch zum Teufelholen … ganz wehrlos sind wir gegen die Zivilisten … Da meinen die Leut’, wir sind besser dran, weil wir einen Säbel haben … und wenn schon einmal einer von der Waffe Gebrauch macht, geht’s über uns her, als wenn wir alle die gebo-­‐
6 renen Mörder wären … In der Zeitung möcht’s auch steh’n: … „Selbstmord eines jungen Offiziers“ … Wie schreiben sie nur immer? … „Die Motive sind in Dunkel gehüllt“ … Haha! … „An seinem Sarge trauern …“ – Aber es ist ja wahr … mir ist immer, als wenn ich mir eine Geschichte erzählen möcht’ … aber es ist wahr … ich muß mich umbringen, es bleibt mir ja nichts anderes übrig – ich kann’s ja nicht d’rauf ankommen las-­‐
sen, daß morgen früh der Kopetzky und der Blany mir ihr Mandat zurückgeben und mir sagen: wir kön-­‐
nen dir nicht sekundieren! … Ich wär’ ja ein Schuft, wenn ich’s ihnen zumuten möcht’ … So ein Kerl wie ich, der dasteht und sich einen dummen Buben heißen läßt … morgen wissen’s ja alle Leut’ … das ist zu dumm, daß ich mir einen Moment einbilde, so ein Mensch erzählt’s nicht weiter … überall wird er’s erzählen … seine Frau weiß’s jetzt schon … morgen weiß es das ganze Kaffeehaus … die Kellner werd’n’s wissen … [27] der Herr Schlesinger – die Kassierin – – Und selbst, wenn er sich vorgenommen hat, er red’t nicht davon, so sagt er’s übermorgen … und wenn er’s übermorgen nicht sagt, in einer Woche … Und wenn ihn heut’ nacht der Schlag trifft, so weiß ich’s … ich weiß es … und ich bin nicht der Mensch, der weiter den Rock trägt und den Säbel, wenn ein solcher Schimpf auf ihm sitzt! … So, ich muß es tun, und Schluß! – Was ist weiter dabei? – Morgen nachmittag könnt’ mich der Doktor mit ’m Säbel erschlagen … so was ist schon einmal dagewesen … und der Bauer, der arme Kerl, der hat eine Gehirnentzündung ’kriegt und war in drei Tagen hin … und der Brenitsch ist vom Pferd gestürzt und hat sich ’s Genick gebrochen … und schließlich und endlich: es gibt nichts anderes – für mich nicht, für mich nicht! – Es gibt ja Leut’, die’s leichter nähmen … Gott, was gibt’s für Menschen! … Dem Ringeimer hat ein Fleischselcher, wie er ihn mit seiner Frau er-­‐
wischt hat, eine Ohrfeige gegeben, und er hat quittiert und sitzt irgendwo auf’m Land und hat geheiratet … Daß es Weiber gibt, die so einen Menschen heiraten! … – Meiner Seel’, ich gäb’ ihm nicht die Hand, wenn er wieder nach Wien käm’ … Also, hast’s gehört, Gustl: – aus, aus, abgeschlossen mit dem Leben! [28] Punk-­‐
tum und Streusand d’rauf! … So, jetzt weiß ich’s, die Geschichte ist ganz einfach … So! Ich bin eigentlich ganz ruhig … Das hab’ ich übrigens immer gewußt: wenn’s einmal dazu kommt, werd’ ich ruhig sein, ganz ruhig … aber daß es so dazu kommt, das hab’ ich doch nicht gedacht … daß ich mich umbringen muß, weil so ein … Vielleicht hab’ ich ihn doch nicht recht verstanden … am End’ hat er ganz was anderes gesagt … Ich war ja ganz blöd von der Singerei und der Hitz’ … vielleicht bin ich verrückt gewesen, und es ist alles gar nicht wahr? … Nicht wahr, haha, nicht wahr! – Ich hör’s ja noch … es klingt mir noch immer im Ohr … und ich spür’s in den Fingern, wie ich seine Hand vom Säbelgriff hab’ wegbringen wollen … Ein Kraft-­‐
mensch ist er, ein Jagendorfer … Ich bin doch auch kein Schwächling … der Franziski ist der einzige im Regiment, der stärker ist als ich … Die Aspernbrücke … Wie weit renn’ ich denn noch? – Wenn ich so weiterrenn’, bin ich um Mitternacht in Kagran … Haha! – Herrgott, froh sind wir gewesen, wie wir im vorigen September dort eingerückt sind. Noch zwei Stunden, und Wien … todmüd’ war ich, wie wir angekommen sind … den ganzen Nachmittag hab’ ich geschlafen wie ein Stock, und am Abend waren wir schon beim Ronacher [29] … der Kopetzky, der Ladinser und … wer war denn nur noch mit uns? – Ja, richtig, der Freiwillige, der uns auf dem Marsch die jüdischen Anekdoten erzählt hat … Manchmal sind’s ganz nette Burschen, die Einjährigen … aber sie sollten alle nur Stellvertreter werden – denn was hat das für einen Sinn? Wir müssen uns jahrelang plagen, und so ein Kerl dient ein Jahr und hat genau dieselbe Distinktion wie wir … es ist eine Ungerechtigkeit! – Aber was geht mich denn das alles an? – Was scher’ ich mich denn um solche Sachen? – Ein Gemeiner von der Verpflegsbranche ist ja jetzt mehr als ich: ich bin ja überhaupt nicht mehr auf der Welt … es ist ja aus mit mir … Ehre verloren, alles verloren! … Ich hab’ ja nichts anderes zu tun, als meinen Revolver zu laden und … Gustl, Gustl, mir scheint, du glaubst noch immer nicht recht dran? Komm’ nur zur Besinnung … es gibt nichts anderes … wenn du auch dein Gehirn zermarterst, es gibt nichts anderes! – Jetzt heißt’s nur mehr, im letzten Moment sich anständig benehmen, ein Mann sein, ein Offizier sein, so daß der Oberst sagt: Er ist ein braver Kerl gewesen, wir werden ihm ein treues Angedenken bewahren! … Wieviel Kom-­‐
pagnien rücken denn aus beim Leichenbegängnis von einem Lieutenant? … Das müßt’ [30] ich eigentlich wissen … Haha! Wenn das ganze Bataillon ausrückt, oder die ganze Garnison, und sie feuern zwanzig Sal-­‐
ven ab, davon wach’ ich doch nimmer auf! – Vor dem Kaffeehaus, da bin ich im vorigen Sommer einmal mit dem Herrn von Engel gesessen, nach der Armee-­‐Steeple-­‐Chase … Komisch, den Menschen hab’ ich seitdem nie wieder geseh’n … Warum hat er denn das linke Aug’ verbunden gehabt? Ich hab’ ihn immer d’rum fra-­‐
gen wollen, aber es hätt’ sich nicht gehört … Da geh’n zwei Artilleristen … die denken gewiß, ich steig’ der Person nach … Muß sie mir übrigens anseh’n … O schrecklich! – Ich möcht’ nur wissen, wie sich so eine ihr Brot verdient … da möcht’ ich doch eher … Obzwar, in der Not frißt der Teufel Fliegen … in Przemysl – mir hat’s nachher so gegraust, daß ich gemeint hab’, nie wieder rühr’ ich ein Frauenzimmer an … Das war eine 7 gräßliche Zeit da oben in Galizien … eigentlich ein Mordsglück, daß wir nach Wien gekommen sind. Der Bokorny sitzt noch immer in Sambor und kann noch zehn Jahr dort sitzen und alt und grau werden … Aber wenn ich dort geblieben wär’, wär’ mir das nicht passiert, was mir heut’ passiert ist … und ich möcht’ lie-­‐
ber in Galizien alt und grau werden, als daß … als was? als was? – Ja, was ist denn? was ist [31] denn? – Bin ich denn wahnsinnig, daß ich das immer vergeß’? – Ja, meiner Seel’, vergessen tu’ ich’s jeden Moment … ist das schon je erhört worden, daß sich einer in ein paar Stunden eine Kugel durch’n Kopf jagen muß, und er denkt an alle möglichen Sachen, die ihn gar nichts mehr angeh’n? Meiner Seel’, mir ist geradeso, als wenn ich einen Rausch hätt’! Haha! Ein schöner Rausch! Ein Mordsrausch! Ein Selbstmordsrausch! – Ha! Witze mach’ ich, das ist sehr gut! – Ja, ganz gut aufgelegt bin ich – so was muß doch angeboren sein … Wahrhaftig, wenn ich’s einem erzählen möcht’, er würd’ es nicht glauben. – Mir scheint, wenn ich das Ding bei mir hätt’ … Jetzt würd’ ich abdrücken – in einer Sekunde ist alles vorbei … Nicht jeder hat’s so gut – andere müssen sich monatelang plagen … meine arme Cousin’, zwei Jahr ist sie gelegen, hat sich nicht rühren können, hat die gräßlichsten Schmerzen g’habt – so ein Jammer! … Ist es nicht besser, wenn man das selber besorgt? Nur Obacht geben heißt’s, gut zielen, daß einem nicht am End’ das Malheur passiert, wie dem Kadett-­‐
Stellvertreter im vorigen Jahr … Der arme Teufel, gestorben ist er nicht, aber blind ist er geworden … Was mit dem nur geschehen ist? Wo er jetzt lebt? – [32] Schrecklich, so herumlaufen, wie der – das heißt: her-­‐
umlaufen kann er nicht, g’führt muß er werden – so ein junger Mensch, kann heut’ noch keine Zwanzig sein … seine Geliebte hat er besser getroffen … gleich war sie tot … Unglaublich, weswegen sich die Leut’ totschießen! Wie kann man überhaupt nur eifersüchtig sein? … Mein Lebtag hab’ ich so was nicht gekannt … Die Steffi ist jetzt gemütlich in der Gartenbaugesellschaft; dann geht sie mit „ihm“ nach Haus … Nichts liegt mir dran, gar nichts! Hübsche Einrichtung hat sie – das kleine Badezimmer mit der roten Latern’. – Wie sie neulich in dem grünseidenen Schlafrock hereingekommen ist … den grünen Schlafrock werd’ ich auch nimmer seh’n – und die ganze Steffi auch nicht … und die schöne, breite Treppe in der Gußhausstra-­‐
ße werd’ ich auch nimmer hinaufgeh’n … Das Fräulein Steffi wird sich weiter amüsieren, als wenn gar nichts gescheh’n wär’ … nicht einmal erzählen darf sie’s wem, daß ihr lieber Gustl sich umgebracht hat … Aber weinen wird s’ schon – ah ja, weinen wird s’ … Überhaupt, weinen werden gar viele Leut’ … Um Got-­‐
tes willen, die Mama! – Nein, nein, daran darf ich nicht denken. – Ah, nein, daran darf absolut nicht gedacht werden … An Zuhaus wird nicht gedacht, [33] Gustl, verstanden? – nicht mit dem allerleisesten Gedanken … Das ist nicht schlecht, jetzt bin ich gar im Prater … mitten in der Nacht … das hätt’ ich mir auch nicht ge-­‐
dacht in der Früh, daß ich heut’ nacht im Prater spazieren geh’n werd’ … Was sich der Sicherheitswach-­‐
mann dort denkt? … Na, geh’n wir nur weiter … es ist ganz schön … Mit’m Nachtmahlen ist’s eh’ nichts, mit dem Kaffeehaus auch nichts; die Luft ist angenehm, und ruhig ist es … sehr … Zwar, ruhig werd’ ich’s jetzt bald haben, so ruhig, als ich’s mir nur wünschen kann. Haha! – aber ich bin ja ganz außer Atem … ich bin ja gerannt wie nicht g’scheit … langsamer, langsamer, Gustl, versäumst nichts, hast gar nichts mehr zu tun – gar nichts, aber absolut nichts mehr! – Mir scheint gar, ich fröstel’? – Es wird halt doch die Aufregung sein … dann hab’ ich ja nichts gegessen … Was riecht denn da so eigentümlich? … es kann doch noch nichts blü-­‐
hen? … Was haben wir denn heut’? – den vierten April … freilich, es hat viel geregnet in den letzten Tagen … aber die Bäume sind beinah’ noch ganz kahl und dunkel ist es, hu! Man könnt’ schier Angst kriegen … Das ist eigentlich das einzige Mal in meinem Leben, daß ich Furcht gehabt hab’, als kleiner Bub, damals im [34] Wald … aber ich war ja gar nicht so klein … vierzehn oder fünfzehn … Wie lang ist das jetzt her? – neun Jahr’ … freilich – mit achtzehn war ich Stellvertreter, mit zwanzig Lieutenant … und im nächsten Jahr werd’ ich … Was werd’ ich im nächsten Jahr? Was heißt das überhaupt: nächstes Jahr? Was heißt das: in der nächsten Woche? Was heißt das: übermorgen? … Wie? Zähneklappern? Oho! – Na lassen wir’s nur ein biss’l klappern … Herr Lieutenant, Sie sind jetzt allein, brauchen niemandem einen Pflanz vorzumachen … es ist bitter, es ist bitter … Ich will mich auf die Bank setzen … Ah! – wie weit bin ich denn da? – So eine Dunkelheit! Das da hinter mir, das muß das zweite Kaffeehaus sein … bin ich im vorigen Sommer auch einmal gewesen, wie unsere Ka-­‐
pelle konzertiert hat … mit’m Kopetzky und mit’m Rüttner – noch ein paar waren dabei.. – Ich bin aber müd’ … nein, ich bin müd’, als wenn ich einen Marsch von zehn Stunden gemacht hätt’ … Ja, das wär’ sowas, da einschlafen. – Ha! Ein obdachloser Lieutenant … Ja, ich sollt’ doch eigentlich nach Haus … was tu’ ich denn zu Haus? aber was tu’ ich denn im Prater? – Ah, mir wär’ am liebsten, ich müßt’ gar nicht aufsteh’n – da einschlafen und nimmer aufwachen [35] … ja, das wär’ halt bequem! – Nein, so bequem wird’s Ihnen nicht gemacht, Herr Lieutenant … Aber wie und wann? – Jetzt könnt’ ich mir doch endlich einmal die Ge-­‐
8 schichte ordentlich überlegen … überlegt muß ja alles werden … so ist es schon einmal im Leben … Also überlegen wir … Was denn? … – Nein, ist die Luft gut … man sollt’ öfters bei der Nacht in’ Prater geh’n … Ja, das hätt’ mir eben früher einfallen müssen, jetzt ist’s aus mit’m Prater, mit der Luft und mit’m Spazieren-­‐
geh’n … Ja, also was ist denn? – Ah, fort mit dem Kappl; mir scheint, das drückt mir aufs Gehirn … ich kann ja gar nicht ordentlich denken … Ah … so! … also jetzt Verstand zusammennehmen Gustl … letzte Verfü-­‐
gungen treffen! Also morgen früh wird Schluß gemacht … morgen früh um sieben Uhr … sieben Uhr ist eine schöne Stund’. Haha – also um acht, wenn die Schul’ anfangt, ist alles vorbei … der Kopetzky wird aber keine Schul’ halten können, weil er zu sehr erschüttert sein wird … Aber vielleicht weiß er’s noch gar nicht … man braucht ja nichts zu hören … Den Max Lippay haben sie auch erst am Nachmittag gefunden, und in der Früh hat er sich erschossen, und kein Mensch hat was davon gehört … Aber was geht mich das an, ob der Kopetzky Schul’ halten wird oder nicht? [36] … Ha! – also um sieben Uhr! – Ja … na, was denn noch? … Weiter ist ja nichts zu überlegen. Im Zimmer schieß’ ich mich tot, und dann is basta! Montag ist die Leich’ … Einen kenn’ ich, der wird eine Freud’ haben: das ist der Doktor … Duell kann nicht stattfinden wegen Selbstmord des einen Kombattanten … Was sie bei Mannheimers sagen werden? – Na, er wird sich nicht viel d’raus machen … aber die Frau, die hübsche, blonde … mit der war was zu machen … O ja, mir scheint, bei der hätt’ ich Chance gehabt, wenn ich mich nur ein bissl zusammengenommen hätt’ … ja, das wär’ doch was anders gewesen, als die Steffi, dieses Mensch … Aber faul darf man halt nicht sein … da heißt’s: Kour machen, Blumen schicken, vernünftig reden … das geht nicht so, daß man sagt: Komm’ mor-­‐
gen nachmittag zu mir in die Kasern’! … Ja, so eine anständige Frau, das wär’ halt was g’wesen … Die Frau von meinem Hauptmann in Przemysl, das war ja doch keine anständige Frau … ich könnt’ schwören: der Libitzky und der Wermutek und der schäbige Stellvertreter, der hat sie auch g’habt … Aber die Frau Mannheimer … ja, das wär’ was anders, das wär’ doch auch ein Umgang gewesen, das hätt’ einen beinah’ zu einem andern Menschen gemacht – da hätt’ man [37] doch noch einen andern Schliff gekriegt – da hätt’ man einen Respekt vor sich selber haben dürfen. – – Aber ewig diese Menscher … und so jung hab’ ich ang’fangen – ein Bub war ich ja noch, wie ich damals den ersten Urlaub gehabt hab’ und in Graz bei den Eltern zu Haus war … der Riedl war auch dabei – eine Böhmin ist es gewesen … die muß doppelt so alt gewesen sein wie ich – in der Früh bin ich erst nach Haus gekommen … Wie mich der Vater ang’schaut hat … und die Klara … Vor der Klara hab’ ich mich am meisten g’schämt … Damals war sie verlobt … warum ist denn nichts draus geworden? Ich hab’ mich eigentlich nicht viel drum gekümmert … Armes Hascherl, hat auch nie Glück gehabt – und jetzt verliert sie noch den einzigen Bruder … Ja, wirst mich nimmer seh’n, Kla-­‐
ra – aus! Was, das hast du dir nicht gedacht, Schwesterl, wie du mich am Neujahrstag zur Bahn begleitet hast, daß du mich nie wieder seh’n wirst? – und die Mama … Herrgott, die Mama … nein, ich darf daran nicht denken … wenn ich daran denk’, bin ich imstand, eine Gemeinheit zu begehen … Ah … wenn ich zu-­‐
erst noch nach Haus fahren möcht’ … sagen, es ist ein Urlaub auf einen Tag … noch einmal den Papa, die Mama, die Klara seh’n, bevor ich einen [38] Schluß mach’ … Ja, mit dem ersten Zug um sieben kann ich nach Graz fahren, um eins bin ich dort … Grüß’ dich Gott, Mama … Servus, Klara! Na, wie geht’s euch denn? … Nein, das ist eine Überraschung! … Aber sie möchten was merken … wenn niemand anders … die Klara … die Klara gewiß … Die Klara ist ein so gescheites Mädel … Wie lieb sie mir neulich geschrieben hat, und ich bin ihr noch immer die Antwort schuldig – und die guten Ratschläge, die sie mir immer gibt … ein so seelengutes Geschöpf … Ob nicht alles ganz anders geworden wär’, wenn ich zu Haus geblieben wär’? Ich hätt’ Ökonomie studiert, wär’ zum Onkel gegangen … sie haben’s ja alle wollen, wie ich noch ein Bub war … Jetzt wär’ ich am End’ schon verheiratet, ein liebes, gutes Mädel … vielleicht die Anna, die hat mich so gern gehabt … auch jetzt hab’ ich’s noch gemerkt, wie ich das letztemal zu Haus war, obzwar sie schon ei-­‐
nen Mann hat und zwei Kinder … ich hab’s g’sehn’, wie sie mich ang’schaut hat … Und noch immer sagt sie mir „Gustl“ wie früher … Der wird’s ordentlich in die Glieder fahren, wenn sie erfährt, was es mit mir für ein End’ genommen hat – aber ihr Mann wird sagen: Das hab’ ich vorausgesehen – so ein Lump! – Alle werden meinen, es ist, weil ich Schulden gehabt [39] hab’ … und es ist doch gar nicht wahr, es ist doch alles gezahlt … nur die letzten hundertsechzig Gulden – na, und die sind morgen da … Ja, dafür muß ich auch noch sorgen, daß der Ballert die hundertsechzig Gulden kriegt … das muß ich niederschreiben, bevor ich mich erschieß’ … Es ist schrecklich, es ist schrecklich! … Wenn ich lieber auf und davon fahren möcht’ – nach Amerika, wo mich niemand kennt … In Amerika weiß kein Mensch davon, was hier heut’ abend ge-­‐
scheh’n ist … da kümmert sich kein Mensch d’rum … Neulich ist in der Zeitung gestanden von einem Gra-­‐
fen Runge, der hat fortmüssen wegen einer schmutzigen Geschichte, und jetzt hat er drüben ein Hotel und pfeift auf den ganzen Schwindel … Und in ein paar Jahren könnt’ man ja wieder zurück … nicht nach Wien natürlich … auch nicht nach Graz … aber aufs Gut könnt’ ich … und der Mama und dem Papa und der Klara 9 möcht’s doch tausendmal lieber sein, wenn ich nur lebendig blieb’ … Und was geh’n mich denn die andern Leut’ an? Wer meint’s denn sonst gut mit mir? – Außerm Kopetzky könnt’ ich allen gestohlen werden … der Kopetzky ist doch der einzige … Und grad’ der hat mir heut das Billett geben müssen … und das Billett ist an allem schuld … ohne das Billett wär’ [40] ich nicht ins Konzert gegangen, und alles das wär’ nicht passiert … Was ist denn nur passiert? … Es ist grad’, als wenn hundert Jahr’ seitdem vergangen wären, und es kann noch keine zwei Stunden sein … Vor zwei Stunden hat mir einer „dummer Bub“ gesagt und hat meinen Säbel zerbrechen wollen … Herrgott, ich fang’ noch zu schreien an mitten in der Nacht! Warum ist denn das alles gescheh’n? Hätt’ ich nicht länger warten können, bis ganz leer wird in der Garderobe? Und warum hab’ ich ihm denn nur gesagt: „Halten Sie’s Maul!“? Wie ist mir denn das nur ausgerutscht? Ich bin doch sonst ein höflicher Mensch … nicht einmal mit meinem Burschen bin ich sonst so grob … aber natür-­‐
lich, nervos bin ich gewesen – alle die Sachen, die da zusammengekommen sind … das Pech im Spiel und die ewige Absagerei von der Steffi – und das Duell morgen nachmittag – und zu wenig schlafen tu’ ich in der letzten Zeit – und die Rackerei in der Kasern’ – das halt’ man auf die Dauer nicht aus! … Ja, über kurz oder lang wär’ ich krank geworden – hätt’ um einen Urlaub einkommen müssen … Jetzt ist es nicht mehr notwendig – jetzt kommt ein langer Urlaub – mit Karenz der Gebühren – haha! … Wie lang werd’ ich denn da noch sitzen bleiben? [41] Es muß Mitternacht vorbei sein … hab’ ich’s nicht früher schlagen hören? – Was ist denn das … ein Wagen fährt da? Um die Zeit? Gummiradler – kann mir schon denken … Die haben’s besser wie ich – vielleicht ist es der Ballert mit der Bertha … Warum soll’s grad’ der Ballert sein? – Fahr’ nur zu! – Ein hübsches Zeug’l hat Seine Hoheit in Pzremysl gehabt … mit dem ist er immer in die Stadt hinunterg’fahren zu der Rosenberg … Sehr leutselig war Seine Hoheit – ein echter Kamerad, mit allen auf du und du … War doch eine schöne Zeit … obzwar … die Gegend war trostlos und im Sommer zum verschmachten … an einem Nachmittag sind einmal drei vom Sonnenstich getroffen worden … auch der Korporal von meinem Zug – ein so verwendbarer Mensch … Nachmittag haben wir uns nackt aufs Bett hingelegt. – Einmal ist plötzlich der Wiesner zu mir hereingekommen; ich muß grad ge-­‐
träumt haben und steh’ auf und zieh’ den Säbel, der neben mir liegt … muß gut ausg’schaut haben … der Wiesner hat sich halb tot gelacht – der ist jetzt schon Rittmeister … – Schad’, daß ich nicht zur Kavallerie gegangen bin … aber das hat der Alte nicht wollen – wär’ ein zu teurer Spaß gewesen – jetzt ist es ja doch alles eins … [42] Warum denn? – Ja, ich weiß schon: sterben muß ich, darum ist es alles eins – sterben muß ich … Also wie? – Schau, Gustl, du bist doch extra da herunter in den Prater gegangen, mitten in der Nacht, wo dich keine Menschenseele stört – jetzt kannst du dir alles ruhig überlegen … Das ist ja lauter Unsinn mit Amerika und quittieren, und du bist ja viel zu dumm, um was anderes anzufangen – und wenn du hundert Jahr’ alt wirst, und du denkst dran, daß dir einer hat den Säbel zerbrechen wollen und dich einen dummen Buben g’heißen, und du bist dag’standen und hast nichts tun können – nein, zu überlegen ist da gar nichts – gescheh’n ist gescheh’n – auch das mit der Mama und mit der Klara ist ein Unsinn – die werden’s schon verschmerzen – man verschmerzt alles … Wie hat die Mama gejammert, wie ihr Bruder gestorben ist – und nach vier Wochen hat sie kaum mehr dran gedacht … auf den Friedhof ist sie hinausge-­‐
fahren … zuerst alle Wochen, dann alle Monat – und jetzt nur mehr am Todestag. – – Morgen ist mein To-­‐
destag – fünfter April. – – Ob sie mich nach Graz überführen? Haha! da werden die Würmer in Graz eine Freud’ haben! – Aber das geht mich nichts an – darüber sollen sich die andern den Kopf zerbrechen … Also, was geht mich denn [43] eigentlich an? … Ja, die hundertsechzig Gulden für den Ballert – das ist alles – weiter brauch’ ich keine Verfügungen zu treffen. – Briefe schreiben? Wozu denn? An wen denn? … Ab-­‐
schied nehmen? – Ja, zum Teufel hinein, das ist doch deutlich genug, wenn man sich totschießt! – Dann merken’s die andern schon, daß man Abschied genommen hat … Wenn die Leut’ wüßten, wie egal mir die ganze Geschichte ist, möchten sie mich gar nicht bedauern – ist eh’ nicht schad’ um mich … Und was hab’ ich denn vom ganzen Leben gehabt? – Etwas hätt’ ich gern noch mitgemacht: einen Krieg – aber da hätt’ ich lang’ warten können … Und alles übrige kenn’ ich … Ob so ein Mensch Steffi oder Kunigunde heißt, bleibt sich gleich. – – Und die schönsten Operetten kenn’ ich auch – und im Lohengrin bin ich zwölfmal drin gewesen – und heut’ abend war ich sogar bei einem Oratorium – und ein Bäckermeister hat mich ei-­‐
nen dummen Buben geheißen – meiner Seel’, es ist grad’ genug! – Und ich bin gar nimmer neugierig … – Also geh’n wir nach Haus, langsam, ganz langsam … Eile hab’ ich ja wirklich keine. – Noch ein paar Minu-­‐
ten ausruhen da im Prater, auf einer Bank – obdachlos. – Ins Bett leg’ ich mich ja doch nimmer – hab’ ja genug Zeit zum [44] Ausschlafen. – – Ah, die Luft! – Die wird mir abgeh’n … Was ist denn? – He, Johann, bringen S’ mir ein Glas frisches Wasser … Was ist? … Wo … Ja, träum’ ich denn? 10 … Mein Schädel … o, Donnerwetter … Fischamend … Ich bring’ die Augen nicht auf! – Ich bin ja angezogen! – Wo sitz’ ich denn? – Heiliger Himmel, eingeschlafen bin ich! Wie hab’ ich denn nur schlafen können; es dämmert ja schon! – Wie lang’ hab’ ich denn geschlafen? – Muß auf die Uhr schau’n … Ich seh’ nichts? … Wo sind denn meine Zündhölzeln? … Na, brennt eins an? … Drei … und ich soll mich um vier duellieren – nein, nicht duellieren – totschießen soll ich mich! – Es ist gar nichts mit dem Duell; ich muß mich totschie-­‐
ßen, weil ein Bäckermeister mich einen dummen Buben genannt hat … Ja, ist es denn wirklich g’scheh’n? – Mir ist im Kopf so merkwürdig … wie in einem Schraubstock ist mein Hals – ich kann mich gar nicht rüh-­‐
ren – das rechte Bein ist eingeschlafen. – Aufstehn! Aufstehn! … Ah, so ist es besser! – Es wird schon lichter … Und die Luft … ganz wie damals in der Früh, wie ich auf Vorposten war und [45] im Wald kampiert hab’ … Das war ein anderes Aufwachen – da war ein anderer Tag vor mir … Mir scheint, ich glaub’s noch nicht recht – Da liegt die Straße, grau, leer – ich bin jetzt sicher der einzige Mensch im Prater. – Um vier Uhr früh war ich schon einmal herunten, mit’m Pausinger – geritten sind wir – ich auf dem Pferd vom Hauptmann Mirovic und der Pausinger auf seinem eigenen Krampen – das war im Mai, im vorigen Jahr – da hat schon alles geblüht – alles war grün. Jetzt ist’s noch kahl – aber der Frühling kommt bald – in ein paar Tagen ist er schon da. – Maiglöckerln, Veigerln – schad’, daß ich nichts mehr davon haben werd’ – jeder Schubiak hat was davon, und ich muß sterben! Es ist ein Elend! Und die andern werden im Weingartl sitzen beim Nachtmahl, als wenn gar nichts g’wesen wär’ – so wie wir alle im Weingartl g’sessen sind, noch am Abend nach dem Tag, wo sie den Lippay hinausgetragen haben … Und der Lippay war so beliebt … sie haben ihn lieber g’habt, als mich, beim Regiment – warum sollen sie denn nicht im Weingartl sitzen, wenn ich ab-­‐
kratz’? – Ganz warm ist es – viel wärmer als gestern – und so ein Duft – es muß doch schon blühen … Ob die Steffi mir Blumen bringen wird? – Aber fallt ihr ja gar nicht [46] ein! Die wird grad’ hinausfahren … Ja, wenn’s noch die Adel’ wär’.. Nein, die Adel’! Mir scheint, seit zwei Jahren hab’ ich an die nicht mehr ge-­‐
dacht … Was die für G’schichten gemacht hat, wie’s aus war … mein Lebtag hab’ ich kein Frauenzimmer so weinen geseh’n … Das war doch eigentlich das Hübscheste, was ich erlebt hab’ … So bescheiden, so an-­‐
spruchslos, wie die war – die hat mich gern gehabt, da könnt’ ich d’rauf schwören. – War doch was ganz anderes, als die Steffi … Ich möcht’ nur wissen, warum ich die aufgegeben hab’ … so eine Eselei! Zu fad ist es mir geworden, ja, das war das Ganze … So jeden Abend mit ein und derselben ausgeh’n … Dann hab’ ich eine Angst g’habt, daß ich überhaupt nimmer loskomm’ – eine solche Raunzen – – Na, Gustl, hätt’st schon noch warten können – war doch die einzige, die dich gern gehabt hat … Was sie jetzt macht? Na, was wird ’s machen? – Jetzt wird ’s halt einen andern haben … Freilich, das mit der Steffi ist bequemer – wenn man nur gelegentlich engagiert ist und ein anderer hat die ganzen Unannehmlichkeiten, und ich hab’ nur das Vergnügen … Ja, da kann man auch nicht verlangen, daß sie auf den Friedhof hinauskommt … Wer ging denn überhaupt mit, wenn er nicht müßt’! – Vielleicht der Kopetzky, und dann [47] wär’ Rest! – Ist doch traurig, so gar niemanden zu haben … Aber so ein Unsinn! der Papa und die Mama und die Klara … Ja, ich bin halt der Sohn, der Bruder … aber was ist denn weiter zwischen uns? gern haben sie mich ja – aber was wissen sie denn von mir? – Daß ich meinen Dienst mach’, daß ich Karten spiel’ und daß ich mit Menschern herumlauf’ … aber sonst? – Daß mich manchmal selber vor mir graust, das hab’ ich ihnen ja doch nicht geschrieben – na, mir scheint, ich hab’s auch selber gar nicht recht gewußt – Ah was, kommst du jetzt mit solchen Sachen, Gustl? Fehlt nur noch, daß du zum Weinen anfangst … pfui Teufel! – Ordentlich Schritt … so! Ob man zu einem Rendezvous geht oder auf Posten oder in die Schlacht … wer hat das nur gesagt? … ah ja, der Major Lederer, in der Kan-­‐
tin’, wie man von dem Wingleder erzählt hat, der so blaß geworden ist vor seinem ersten Duell – und ge-­‐
spieben hat … Ja: ob man zu einem Rendezvous geht oder in den sichern Tod, am Gang und am G’sicht laßt sich das der richtige Offizier nicht anerkennen! – Also, Gustl – der Major Lederer hat’s g’sagt! ha! – Immer lichter … man könnt’ schon lesen … Was pfeift denn da? … Ah, drüben ist der Nordbahnhof [48] … Die Tegetthoffsäule … so lang hat sie noch nie ausg’schaut … Da drüben stehen Wagen. … Aber nichts als Straßenkehrer auf der Straße … meine letzten Straßenkehrer – ha! ich muß immer lachen, wenn ich dran denk’ … das versteh’ ich gar nicht … Ob das bei allen Leuten so ist, wenn sie’s einmal ganz sicher wissen? Halb vier auf der Nordbahnuhr … jetzt ist nur die Frage, ob ich mich um sieben nach Bahnzeit oder nach Wiener Zeit erschieß’? … Sieben … ja, warum grad’ sieben? … Als wenn’s gar nicht anders sein könnt’ … Hunger hab’ ich – meiner Seel’, ich hab’ Hunger – kein Wunder … seit wann hab’ ich denn nichts gegessen? … Seit – seit gestern sechs Uhr abends im Kaffeehaus … ja! Wie mir der Kopetzky das Billett gegeben hat – eine Melange und zwei Kipfel. – Was der Bäckermeister sagen wird, wenn er’s erfahrt? … der verfluchte Hund! – Ah, der wird wissen, warum – dem wird der Knopf aufgeh’n – der wird draufkommen, was es 11 heißt: Offizier! – So ein Kerl kann sich auf offener Straße prügeln lassen, und es hat keine Folgen, und un-­‐
sereiner wird unter vier Augen insultiert und ist ein toter Mann … Wenn sich so ein Fallot wenigstens schlagen möcht’ – aber nein, da wär’ er ja vorsichtiger, da möcht’ er sowas nicht riskieren … [49] Und der Kerl lebt weiter, ruhig weiter, während ich – krepieren muß! – Der hat mich doch umgebracht … Ja, Gustl, merkst d’ was? – der ist es, der dich umbringt! Aber so glatt soll’s ihm doch nicht ausgeh’n! – Nein, nein, nein! Ich werd’ dem Kopetzky einen Brief schreiben, wo alles drinsteht, die ganze G’schicht’ schreib’ ich auf … oder noch besser: ich schreib’s dem Obersten, ich mach’ eine Meldung ans Regimentskommando … ganz wie eine dienstliche Meldung … Ja, wart’, du glaubst, daß sowas geheim bleiben kann? – Du irrst dich – aufgeschrieben wird’s zum ewigen Gedächtnis, und dann möcht’ ich sehen, ob du dich noch ins Kaffee-­‐
haus traust! – Ha! – „das möcht’ ich sehen“, ist gut! … Ich möcht’ noch manches gern seh’n, wird nur leider nicht möglich sein – aus is! – Jetzt kommt der Johann in mein Zimmer, jetzt merkt er, daß der Herr Lieutenant nicht zu Haus geschlafen hat. – Na, alles mögliche wird er sich denken; aber daß der Herr Lieutenant im Prater übernachtet hat, das, meiner Seel’, das nicht … Ah, die Vierundvierziger! zur Schießstätte marschieren s’ – lassen wir sie vo-­‐
rübergeh’n … so, stellen wir uns daher … – Da oben wird ein Fenster aufgemacht – hübsche Person – na, ich möcht’ mir [50] wenigstens ein Tüchel umnehmen, wenn ich zum Fenster geh’ … Vorigen Sonntag war’s zum letztenmal … Daß grad die Steffi die letzte sein wird, hab’ ich mir nicht träumen lassen. – Ach Gott, das ist doch das einzige reelle Vergnügen … Na ja, der Herr Oberst wird in zwei Stunden nobel nach-­‐
reiten … die Herren haben’s gut – ja, ja, rechts g’schaut! – Ist schon gut … Wenn ihr wüßtet, wie ich auf euch pfeif’! – Ah, das ist nicht schlecht: der Katzer … seit wann ist denn der zu den Vierundvierzigern übersetzt? – Servus, servus! – Was der für ein G’sicht macht? … Warum deut’ er denn auf seinen Kopf? – Mein Lieber, dein Schädel interessiert mich sehr wenig … Ah, so! Nein, mein Lieber, du irrst dich: im Prater hab’ ich übernachtet … wirst schon heut’ im Abendblatt lesen. – „Nicht möglich!“ wird er sagen, „heut’ früh, wie wir zur Schießstätte ausgerückt sind, hab’ ich ihn noch auf der Praterstraße getroffen!“ – Wer wird denn meinen Zug kriegen? – Ob sie ihn dem Walterer geben werden? – Na, da wird was Schönes heraus-­‐
kommen – ein Kerl ohne Schneid, der hätt’ auch lieber Schuster werden sollen … Was, geht schon die Son-­‐
ne auf? – Das wird heut ein schöner Tag – so ein rechter Frühlingstag … Ist doch eigentlich zum Teufelho-­‐
len! – der Komfortabelkutscher [51] wird noch um achte in der Früh auf der Welt sein, und ich … na, was ist denn das? He, das wär’ sowas – noch im letzten Moment die Kontenance verlieren wegen einem Kom-­‐
fortabelkutscher … Was ist denn das, daß ich auf einmal so ein blödes Herzklopfen krieg’? – Das wird doch nicht deswegen sein … Nein, o nein … es ist, weil ich so lang’ nichts gegessen hab’. – – Aber Gustl, sei doch aufrichtig mit dir selber: – Angst hast du – Angst, weil du’s noch nie probiert hast … Aber das hilft dir ja nichts, die Angst hat noch keinem was geholfen, jeder muß es einmal durchmachen, der eine früher, der andere später, und du kommst halt früher dran … Viel wert bist du ja nie gewesen, so benimm dich we-­‐
nigstens anständig zu guter Letzt, das verlang’ ich von dir! – So, jetzt heißt’s nur überlegen – aber was denn? … Immer will ich mir was überlegen … ist doch ganz einfach: – im Nachtkastelladel liegt er, geladen ist er auch, heißt’s nur: losdrucken – das wird doch keine Kunst sein! – – Die geht schon ins G’schäft … die armen Mädeln! – die Adel’ war auch in einem G’schäft – ein paar Mal hab’ ich sie am Abend abg’holt … Wenn sie in einem G’schäft sind, werd’n sie doch keine solchen Menscher … Wenn die Steffi mir allein [52] g’hören möcht’, ich ließ sie Modistin werden oder sowas … Wie wird sie’s denn erfahren? – Aus der Zeitung! … Sie wird sich ärgern, daß ich ihr’s nicht geschrieben hab’ … Mir scheint, ich schnapp’ doch noch über … Was geht denn das mich an, ob sie sich ärgert … Wie lang’ hat denn die ganze G’schicht’ gedauert? … Seit’m Jänner? … Ah nein, es muß doch schon vor Weihnachten gewesen sein … ich hab’ ihr ja aus Graz Zuckerln mitgebracht, und zu Neujahr hat sie mir ein Brieferl g’schickt … Richtig, die Briefe, die ich zu Haus hab’, – sind keine da, die ich verbrennen sollt’? … Hm, der vom Fallstei-­‐
ner – wenn man den Brief findet … der Bursch könnt’ Unannehmlichkeiten haben … Was mir das schon aufliegt! – Na, es ist ja keine große Anstrengung … aber hervorsuchen kann ich den Wisch nicht … Das bes-­‐
te ist, ich verbrenn’ alles zusammen … wer braucht’s denn? Ist lauter Makulatur. – – Und meine paar Bü-­‐
cher könnt’ ich dem Blany vermachen. – „Durch Nacht und Eis“ … schad’, daß ich’s nimmer auslesen kann … bin wenig zum Lesen gekommen in der letzten Zeit … Orgel – ah, aus der Kirche … Frühmesse – bin schon lang’ bei keiner gewesen … das letztemal im Feber, wie mein Zug dazu kommandiert war … Aber das gilt nichts – ich hab’ [53] auf meine Leut’ aufgepaßt, ob sie andächtig sind und sich ordentlich beneh-­‐
men … – Möcht’ in die Kirche hineingeh’n … am End’ ist doch was dran … – Na, heut nach Tisch werd’ ich’s schon genau wissen … Ah, „nach Tisch“ ist sehr gut! … Also, was ist, soll ich hineingeh’n? – Ich glaub’, der 12 Mama wär’s ein Trost, wenn sie das wüßt’! … Die Klara gibt weniger drauf … Na, geh’n wir hinein – scha-­‐
den kann’s ja nicht! Orgel – Gesang – hm! – was ist denn das? – Mir ist ganz schwindlig … O Gott, o Gott, o Gott! ich möcht’ ei-­‐
nen Menschen haben, mit dem ich ein Wort reden könnt’ vorher! – Das wär’ so was – zur Beicht’ geh’n! Der möcht’ Augen machen, der Pfaff’, wenn ich zum Schluß sagen möcht’: Habe die Ehre, Hochwürden; jetzt geh’ ich mich umbringen! … – Am liebsten läg’ ich da auf dem Steinboden und tät’ heulen … Ah nein, das darf man nicht tun! Aber weinen tut manchmal so gut … Setzen wir uns einen Moment – aber nicht wieder einschlafen wie im Prater! … – Die Leut’, die eine Religion haben, sind doch besser dran … Na, jetzt fangen mir gar die Händ’ zu zittern an! … Wenn’s so weitergeht, werd’ ich mir selber auf die Letzt’ so ekelhaft, daß ich mich vor lauter Schand’ umbring’! – Das alte Weib da [54] – um was betet denn die noch? … Wär’ eine Idee, wenn ich ihr sagen möcht’: Sie, schließen Sie mich auch ein … ich hab’ das nicht ordentlich gelernt, wie man das macht … Ha! mir scheint, das Sterben macht blöd’! – Aufsteh’n! – Woran erinnert mich denn nur die Melodie? – Heiliger Himmel! gestern abend! – Fort, fort! das halt’ ich gar nicht aus! … Pst! keinen solchen Lärm, nicht mit dem Säbel scheppern – die Leut’ nicht in der Andacht stören – so! – doch besser im Freien … Licht … Ah, es kommt immer näher – wenn es lieber schon vorbei wär’! – Ich hätt’s gleich tun sollen – im Prater … man sollt’ nie ohne Revolver ausgehn … Hätt’ ich gestern abend einen gehabt … Herr-­‐
gott noch einmal! – In das Kaffeehaus könnt’ ich geh’n frühstücken … Hunger hab’ ich … Früher ist’s mir immer sonderbar vorgekommen, daß die Leut’, die verurteilt sind, in der Früh noch ihren Kaffee trinken und ihr Zigarrl rauchen … Donnerwetter, geraucht hab’ ich gar nicht! gar keine Lust zum Rauchen! – Es ist komisch: ich hätt’ Lust, in mein Kaffeehaus zu geh’n … Ja, aufgesperrt ist schon, und von uns ist jetzt doch keiner dort – und wenn schon … ist höchstens ein Zeichen von Kaltblütigkeit. „Um sechs hat er noch im Kaffeehaus gefrühstückt, und [55] um sieben hat er sich erschossen“ … – Ganz ruhig bin ich wieder … das Gehen ist so angenehm – und das Schönste ist, daß mich keiner zwingt. – Wenn ich wollt’ könnt’ ich noch immer den ganzen Krempel hinschmeißen … Amerika … Was ist das: „Krempel“? Was ist ein „Krempel“? Mir scheint, ich hab’ den Sonnenstich! … Oho, bin ich vielleicht deshalb so ruhig, weil ich mir noch immer einbild’, ich muß nicht? … Ich muß! Ich muß! Nein, ich will! – Kannst du dir denn überhaupt vorstellen, Gustl, daß du dir die Uniform ausziehst und durchgehst? Und der verfluchte Hund lacht sich den Buckel voll – und der Kopetzky selbst möcht’ dir nicht mehr die Hand geben … Mir kommt vor, ich bin jetzt ganz rot geworden. – – Der Wachmann salutiert mir … ich muß danken … „Servus!“ – Jetzt hab’ ich gar „Ser-­‐
vus“ gesagt! … Das freut so einen armen Teufel immer … Na, über mich hat sich keiner zu beklagen gehabt – außer Dienst war ich immer gemütlich. – Wie wir auf Manöver waren, hab’ ich den Chargen von der Kompagnie Britannikas geschenkt; – einmal hab’ ich gehört, wie ein Mann hinter mir bei den Gewehrgrif-­‐
fen was von „verfluchter Rackerei“ g’sagt hat, und ich hab’ ihn nicht zum Rapport geschickt – ich hab’ ihm nur gesagt: „Sie, passen S’ auf, das könnt’ [56] einmal wer anderer hören – da ging’s Ihnen schlecht!“ … Der Burghof … Wer ist denn heut auf der Wach’? – Die Bosniaken – schau’n gut aus – der Oberstlieutenant hat neulich g’sagt: Wie wir im 78er Jahr unten waren, hätt’ keiner geglaubt, daß uns die einmal so parieren werden! … Herrgott, bei so was hätt’ ich dabei sein mögen – Da steh’n sie alle auf von der Bank. – Servus, servus! – Das ist halt zuwider, daß unsereiner nicht dazu kommt. – Wär’ doch schöner gewesen, auf dem Feld der Ehre, fürs Vaterland, als so … Ja, Herr Doktor, Sie kommen eigentlich gut weg! … Ob das nicht ei-­‐
ner für mich übernehmen könnt’? – Meiner Seel’, das sollt’ ich hinterlassen, daß sich der Kopetzky oder der Wymetal an meiner Statt mit dem Kerl schlagen … Ah, so leicht sollt’ der doch nicht davonkommen! – Ah, was! Ist das nicht egal, was nachher geschieht? Ich erfahr’s ja doch nimmer! – Da schlagen die Bäume aus … Im Volksgarten hab’ ich einmal eine angesprochen – ein rotes Kleid hat sie angehabt – in der Stroz-­‐
zigasse hat sie gewohnt – nachher hat sie der Rochlitz übernommen … Mir scheint, er hat sie noch immer, aber er red’t nichts mehr davon – er schämt sich vielleicht … Jetzt schlaft die Steffi noch … so lieb sieht sie aus, wenn sie schlaft … [57] als wenn sie nicht bis fünf zählen könnt’! – Na, wenn sie schlafen, schau’n sie alle so aus! – Ich sollt’ ihr doch noch ein Wort schreiben … warum denn nicht? Es tut’s ja doch ein jeder, daß er vorher noch Briefe schreibt. – Auch der Klara sollt’ ich schreiben, daß sie den Papa und die Mama tröstet – und was man halt so schreibt! – und dem Kopetzky doch auch … Meiner Seel’, mir kommt vor, es wär’ viel leichter, wenn man ein paar Leuten Adieu gesagt hätt’ … Und die Anzeige an das Regimentskom-­‐
mando – und die hundertsechzig Gulden für den Ballert … eigentlich noch viel zu tun … Na, es hat’s mir ja keiner g’schafft, daß ich’s um sieben tu’ … von acht an ist noch immer Zeit genug zum Totsein! … Totsein, ja – so heißt’s – da kann man nichts machen … Ringstraße – jetzt bin ich ja bald in meinem Kaffeehaus … Mir scheint gar, ich freu’ mich aufs Frühstück … 13 es ist nicht zum glauben. – – Ja, nach dem Frühstück zünd’ ich mir eine Zigarr’ an, und dann geh’ ich nach Haus und schreib’ … Ja, vor allem mach’ ich die Anzeige ans Kommando; dann kommt der Brief an die Kla-­‐
ra – dann an den Kopetzky – dann an die Steffi … Was soll ich denn dem Luder schreiben? … „Mein liebes Kind, du hast wohl nicht gedacht“ … Ah, was, [58] Unsinn! – „Mein liebes Kind, ich danke dir sehr“ … – „Mein liebes Kind, bevor ich von hinnen gehe, will ich es nicht verabsäumen“ … – Na, Briefschreiben war auch nie meine starke Seite … „Mein liebes Kind, ein letztes Lebewohl von deinem Gustl“ … – Die Augen, die sie machen wird! Ist doch ein Glück, daß ich nicht in sie verliebt war … das muß traurig sein, wenn man eine gern hat und so … Na, Gustl, sei gut: so ist es auch traurig genug … Nach der Steffi wär’ ja noch manche andere gekommen, und am End’ auch eine, die was wert ist – junges Mädel aus guter Familie mit Kaution – es wär’ ganz schön gewesen … – Der Klara muß ich ausführlich schreiben, daß ich nicht hab’ anders können … „Du mußt mir verzeihen, liebste Schwester, und bitte, tröste auch die lieben Eltern. Ich weiß, daß ich euch allen manche Sorge gemacht habe und manchen Schmerz bereitet; aber glaube mir, ich habe euch alle immer sehr lieb gehabt, und ich hoffe, du wirst noch einmal glücklich werden, meine liebe Klara, und deinen unglücklichen Bruder nicht ganz vergessen“ … Ah, ich schreib’ ihr lieber gar nicht! … Nein, da wird mir zum Weinen … es beißt mich ja schon in den Augen, wenn ich dran denk’ … Höchstens dem Kopetzky schreib’ ich [59] – ein kameradschaftliches Lebewohl, und er soll’s den andern ausrichten … – Ist’s schon sechs? – Ah, nein: halb – dreiviertel. – Ist das ein liebes G’sichtel! … der kleine Fratz mit den schwarzen Augen, den ich so oft in der Florianigasse treff’! – was die sagen wird? – Aber die weiß ja gar nicht, wer ich bin – die wird sich nur wundern, daß sie mich nimmer sieht … Vorgestern hab’ ich mir vor-­‐
genommen, das nächste Mal sprech’ ich sie an. – Kokettiert hat sie genug … so jung war die – am End’ war die gar noch eine Unschuld! … Ja, Gustl! Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen! … Der da hat sicher auch die ganze Nacht nicht geschlafen. – Na, jetzt wird er schön nach Haus geh’n und sich niederlegen – ich auch – Haha! Jetzt wird’s ernst, Gustl, ja! … Na, wenn nicht einmal das biss’l Grausen wär’, so wär’ ja schon gar nichts dran – und im ganzen, ich muß’s schon selber sagen, halt’ ich mich brav … Ah, wohin denn noch? Da ist ja schon mein Kaffeehaus … auskehren tun sie noch … Na, geh’n wir hinein … Da hinten ist der Tisch, wo die immer Tarok spielen … Merkwürdig, ich kann mir’s gar nicht vorstellen, daß der Kerl, der immer da hinten sitzt an der Wand, derselbe sein soll, der mich … – [60] Kein Mensch ist noch da … Wo ist denn der Kellner? … He! Da kommt er aus der Küche … er schlieft schnell in den Frack hinein … Ist wirklich nimmer notwendig! … ah, für ihn schon … er muß heut’ noch andere Leut’ bedienen! – „Habe die Ehre, Herr Lieutenant!“ „Guten Morgen.“ „So früh heute, Herr Lieutenant?“ „Ah, lassen S’ nur – ich hab’ nicht viel Zeit, ich kann mit’m Mantel dasitzen.“ „Was befehlen Herr Lieutenant?“ „Eine Melange mit Haut.“ „Bitte gleich, Herr Lieutenant!“ Ah, da liegen ja Zeitungen … schon heutige Zeitungen? … Ob schon was drinsteht? … Was denn? – Mir scheint, ich will nachseh’n, ob drinsteht, daß ich mich umgebracht hab’! Haha! – Warum steh’ ich denn noch immer? … Setzen wir uns da zum Fenster … Er hat mir ja schon die Melange hingestellt … So, den Vorhang zieh’ ich zu; es ist mir zuwider, wenn die Leut’ hereingucken … Es geht zwar noch keiner vorüber … Ah, gut schmeckt der Kaffee – doch kein leerer Wahn, das Frühstücken! … Ah, ein ganz anderer Mensch wird man – der ganze Blödsinn ist, daß ich nicht genachtmahlt hab’… Was steht denn der Kerl schon [61] wieder da? – Ah, die Semmeln hat er mir gebracht … „‚Haben Herr Lieutenant schon gehört?‘“ … „Was denn?“ Ja, um Gotteswillen, weiß der schon was? … Aber, Unsinn, es ist ja nicht möglich! „‘Den Herrn Habetswallner …‘“ Was? So heißt ja der Bäckermeister … was wird der jetzt sagen? … Ist der am End’ schon dagewesen? Ist er am End’ gestern schon dagewesen und hat’s erzählt? … Warum red’t er denn nicht weiter? … Aber er red’t ja … 14 „‚ … hat heut’ nacht um zwölf der Schlag getroffen.‘“ „Was?“ … Ich darf nicht so schreien … nein, ich darf mir nichts anmerken lassen … aber vielleicht träum’ ich … ich muß ihn noch einmal fragen … „Wen hat der Schlag getroffen?“ – Famos, famos! – ganz harmlos hab’ ich das g’sagt! – „‚Den Bäckermeister, Herr Lieutenant! … Herr Lieutenant werd’n ihn ja kennen … na, den Dicken, der je-­‐
den Nachmittag neben die Herren Offiziere seine Tarokpartie hat … mit’n Herrn Schlesinger und ’n Herrn Wasner von der Kunstblumenhandlung vis-­‐à-­‐vis‘“ Ich bin ganz wach – stimmt alles – und doch [62] kann ich’s noch nicht recht glauben – ich muß ihn noch einmal fragen … aber ganz harmlos … „Der Schlag hat ihn getroffen? … Ja, wieso denn? Woher wissen S’ denn das?“ „‚Aber Herr Lieutenant, wer soll’s denn früher wissen, als unsereiner – die Semmel, die der Herr Lieu-­‐
tenant da essen, ist ja auch vom Herrn Habetswallner. Der Bub, der uns das Gebäck um halber fünfe in der Früh bringt, hat’s uns erzahlt.‘“ Um Himmelswillen, ich darf mich nicht verraten … ich möcht’ ja schreien … ich möch’ ja lachen … ich möcht’ ja dem Rudolf ein Bussel geben … Aber ich muß ihn noch was fragen … Vom Schlag getroffen wer-­‐
den, heißt noch nicht: tot sein … ich muß fragen, ob er tot ist … aber ganz ruhig, denn was geht mich der Bäckermeister an – ich muß in die Zeitung schau’n, während ich den Kellner frag’ … „Ist er tot?“ „‚Na, freilich, Herr Lieutenant; auf’m Fleck ist er tot geblieben.‘“ O, herrlich, herrlich! – Am End’ ist das alles, weil ich in der Kirchen g’wesen bin … „‚Er ist am Abend im Theater g’wesen; auf der Stiegen ist er umg’fallen – der Hausmeister hat den Krach g’hört … na, und dann haben s’ ihn [63] in die Wohnung getragen, und wie der Doktor gekommen ist, war’s schon lang’ aus.‘“ „Ist aber traurig. Er war doch noch in den besten Jahren.“ – Das hab’ ich jetzt famos gesagt – kein Mensch könnt’ mir was anmerken … und ich muß mich wirklich zurückhalten, daß ich nicht schrei’ oder aufs Bil-­‐
lard spring’ … „‚Ja, Herr Lieutenant, sehr traurig; war ein so lieber Herr, und zwanzig Jahr’ ist er schon zu uns kommen – war ein guter Freund von unserm Herrn. Und die arme Frau …“ Ich glaub’, so froh bin ich in meinem ganzen Leben nicht gewesen … Tot ist er – tot ist er! Keiner weiß was, und nichts ist g’scheh’n! – Und das Mordsglück, daß ich in das Kaffeehaus gegangen bin … sonst hätt’ ich mich ja ganz umsonst erschossen – es ist doch wie eine Fügung des Schicksals … Wo ist denn der Rudolf? – Ah, mit dem Feuerburschen red’t er … – Also, tot ist er – tot ist er – ich kann’s noch gar nicht glauben Am liebsten möcht’ ich hingeh’n, um’s zu seh’n. – – Am End’ hat ihn der Schlag getroffen aus Wut, aus verhal-­‐
tenem Zorn … Ah, warum, ist mir ganz egal! Die Hauptsach’ ist: er ist tot, und ich darf leben, und alles g’hört wieder mein! … Komisch, wie ich mir da immerfort die Semmel einbrock’, die mir der [64] Herr Ha-­‐
betswallner gebacken hat! Schmeckt mir ganz gut, Herr von Habetswallner! Famos! – So, jetzt möcht’ ich noch ein Zigarrl rauchen … „Rudolf! Sie, Rudolf! Sie, lassen S’ mir den Feuerburschen dort in Ruh’!“ „‚Bitte, Herr Lieutenant!‘“ „Trabucco“ … – Ich bin so froh, so froh! … Was mach’ ich denn nur? … Was mach ich denn nur? … Es muß ja was gescheh’n, sonst trifft mich auch noch der Schlag vor lauter Freud’! … In einer Viertelstund’ geh’ ich hinüber in die Kasern’ und laß mich vom Johann kalt abreiben … um halb acht sind die Gewehrgriff’, und um halb zehn ist Exerzieren. – Und der Steffi schreib’ ich, sie muß sich für heut’ abend frei machen, und wenn’s Graz gilt! Und nachmittag um vier … na wart’, mein Lieber, wart’, mein Lieber! Ich bin grad’ gut aufgelegt … Dich hau’ ich zu Krenfleisch! Reichenau, 13.-­‐17. Juli 1900. Herrosé & Ziemsen, G.m.b.H., Wittenberg. 15 Professor Unrat (1904) Heinrich Mann I Da er Raat hieß, nannte die ganze Schule ihn Unrat. Nichts konnte einfacher und natürlicher sein. Der und jener Professor wechselten zuweilen ihr Pseudonym. Ein neuer Schub Schüler gelangte in die Klasse, legte mordgierig eine vom vorigen Jahrgang noch nicht genug gewürdigte Komik an dem Lehrer bloß und nann-­‐
te sie schonungslos bei Namen. Unrat aber trug den seinigen seit vielen Generationen, der ganzen Stadt war er geläufig, seine Kollegen benutzten ihn außerhalb des Gymnasiums und auch drinnen, sobald er den Rücken drehte. Die Herren, die in ihrem Hause Schüler verpflegten und sie zur Arbeit anhielten, sprachen vor ihren Pensionären vom Professor Unrat. Der aufgeweckte Kopf, der den Ordinarius der Untersekunda hätte neu beobachten und nochmals abstempeln wollen, wäre nie durchgedrungen; schon darum nicht, weil der gewohnte Ruf auf den alten Lehrer noch so gut seine Wirkung übte wie vor sechsundzwanzig Jah-­‐
ren. Man brauchte nur auf dem Schulhof, sobald er vorbeikam, einander zuzuschreien: »Riecht es hier nicht nach Unrat?« Oder: »Oho! Ich wittere Unrat!« Und sofort zuckte der Alte heftig mit der Schulter, immer mit der rechten, zu hohen, und sandte schief aus seinen Brillengläsern einen grünen Blick, den die Schüler falsch nannten, und der scheu und rachsüchtig war: der Blick eines Tyrannen mit schlechtem Gewissen, der in den Falten der Mäntel nach Dolchen späht. Sein hölzernes Kinn mit dem dünnen, graugelben Bärtchen daran klappte herunter und hinauf. Er konnte dem Schüler, der geschrien hatte, »nichts beweisen« und mußte weiterschleichen auf seinen magern, ein-­‐
geknickten Beinen und unter seinem fettigen Maurerhut. Zu seiner Jubelfeier im Vorjahr hatte das Gymnasium ihm einen Fackelzug gebracht. Er war auf seinen Balkon getreten und hatte geredet. Während alle Köpfe, in den Nacken gelegt, zu ihm hinaufsahen, war plötzlich eine unschöne Quetschstimme losgegangen: »Da ist Unrat in der Luft!« Andere hatten wiederholt: »Unrat in der Luft! Unrat in der Luft!« Der Professor dort oben fing an zu stottern, obwohl er den Zwischenfall vorausgesehn hatte, und sah da-­‐
bei jedem der Schreier in den geöffneten Mund. Die andern Herren standen in der Nähe; er fühlte, daß er wieder einmal »nichts beweisen« könne; aber er merkte sich alle Namen. Schon tags darauf gab der mit der gequetschten Stimme dadurch, daß er das Heimatsdorf der Jungfrau von Orleans nicht kannte, dem Professor Gelegenheit zu der Versicherung, er werde ihm im Leben noch oftmals hinderlich sein. Richtig war dieser Kieselack zu Ostern nicht versetzt worden. Mit ihm blieben die meisten in der Klasse zurück von denen, die am Jubiläumsabend geschrien hatten, so auch von Ertzum. Lohmann hatte nicht geschrien und blieb dennoch sitzen. Dieser erleichterte die Absicht Unrats durch seine Trägheit und jener durch sei-­‐
ne Unbegabtheit. Nächsten Spätherbst nun, an einem Vormittag um elf, in der Pause vor dem Klassenauf-­‐
satz über die Jungfrau von Orleans, geschah es, daß von Ertzum, der der Jungfrau immer noch nicht nä-­‐
hergetreten war und eine Katastrophe voraussah, in einem Anfall schwerfälliger Verzweiflung das Fenster aufriß und aufs Geratewohl, mit wüster Stimme in den Nebel hinausbrüllte: »Unrat!« Es war ihm unbekannt, ob der Professor in der Nähe sei, und es war ihm gleichgültig. Der arme, breite Landjunker war nur von dem Bedürfnis fortgerissen worden, noch einen kurzen Augenblick seinen Orga-­‐
nen freies Spiel zu gewähren, bevor er sich für zwei Stunden hinhocken mußte vor ein weißes Blatt, das leer war, und es mit Worten bedecken aus seinem Kopf heraus, der auch leer war. Tatsächlich aber ging Unrat grade über den Hof. Als der Ruf aus dem Fenster ihn traf, machte er einen eckigen Sprung. Im Nebel droben unterschied er von Ertzums knorrigen Umriß. Kein Schüler hielt sich drunten auf, keinem konnte von Ertzum das Wort zugerufen haben. »Dieses Mal«, dachte Unrat frohlockend, »hat er mich gemeint. Diesmal kann ich es ihm beweisen!« 16 Er nahm die Treppe in fünf Sätzen, riß die Klassentür auf, hastete zwischen den Bänken hindurch, schwang sich, in das Katheder gekrallt, auf die Stufe. Da blieb er bebend stehn und mußte Atem schöpfen. Die Sekundaner hatten sich zu seiner Begrüßung erhoben, und äußerster Lärm war jäh in ein Schweigen versunken, das förmlich betäubte. Sie sahen ihrem Ordinarius zu, wie einem gemeingefährlichen Vieh, das man leider nicht totschlagen durfte, und das augenblicklich sogar einen peinlichen Vorteil über sie ge-­‐
wonnen hatte. Unrats Brust arbeitete heftig; schließlich sagte er mit seiner begrabenen Stimme: »Es ist mir da vorhin immer mal wieder ein Wort zugerufen worden, eine Bezeichnung -­‐-­‐ ein Name denn also: ich bin nicht gewillt, ihn mir bieten zu lassen. Ich werde diese Schmähung durch solche Menschen, als welche ich Sie kennen zu lernen leider Gelegenheit hatte, nie dulden, merken Sie sich das! Ich werde Sie fassen, wo immer ich es vermag. Ihre Verworfenheit, von Ertzum, nicht genug damit, daß sie mir Abscheu einflößt, soll sie an der Festigkeit eines Entschlusses wie Glas zerbrechen, den ich Ihnen hiermit verkünde. Noch heute werde ich von Ihrer Tat dem Herrn Direktor Anzeige erstatten, und was in meiner Macht steht, soll -­‐-­‐ traun fürwahr -­‐-­‐ geschehen, damit die Anstalt wenigstens von dem schlimmsten Abschaum der menschlichen Gesellschaft befreit werde!« Darauf riß er sich den Mantel von den Schultern und zischte: »Setzen!« Die Klasse setzte sich, nur von Ertzum blieb stehn. Sein dicker, gelb punktierter Kopf war jetzt so feuerrot wie die Borsten oben darauf. Er wollte etwas sagen, setzte mehrmals an, gab es wieder auf. Schließlich stieß er heraus: »Ich bin es nicht gewesen, Herr Professor!« Mehrere Stimmen unterstützten ihn, opferfreudig und solidarisch: »Er ist es nicht gewesen!« Unrat stampfte auf: »Stille!... Und Sie, von Ertzum, merken Sie sich, daß Sie nicht der erste Ihres Namens sind, den ich in seiner Laufbahn -­‐-­‐ gewiß nun freilich -­‐-­‐ beträchtlich aufgehalten habe, und daß ich Ihnen auch ferner Ihr Fort-­‐
kommen, wenn nicht gar unmöglich machen, so doch, wie seinerzeit Ihrem Onkel, wesentlich erschweren werde. Sie wollen Offizier werden, nicht wahr, von Ertzum? Das wollte Ihr Onkel auch. Weil er jedoch das Ziel der Klasse nie erreichte und das Reifezeugnis für den Einjährig-­‐Freiwilligen-­‐Dienst -­‐-­‐ aufgemerkt nun also -­‐-­‐ ihm dauernd versagt werden mußte, kam er auf eine sogenannte Presse, wo er jedoch ebenfalls gescheitert sein mag, so daß er endlich nur infolge eines besonderen Gnadenaktes seines Landesherrn -­‐-­‐ doch nun immerhin -­‐-­‐ den Zutritt zur Offizierskarriere erlangte, die er dann aber, scheint es, bald wieder unterbrechen mußte. Wohlan! Das Schicksal Ihres Onkels, von Ertzum, dürfte auch das Ihre werden oder doch dem jenes sich ähnlich gestalten. Ich wünsche Ihnen Glück dazu, von Ertzum. Mein Urteil über Ihre Familie, von Ertzum, steht seit fünfzehn Jahren fest ... Und nun -­‐-­‐« Hierbei schwoll Unrats Stimme unterirdisch an. »Sie sind nicht würdig, an der erhabenen Jungfrauengestalt, zu der wir jetzt übergehen, Ihre geistlose Fe-­‐
der zu wetzen. Fort mit Ihnen ins Kabuff!« Von Ertzum, langsam von Verständnis, lauschte noch immer. Vor angestrengter Aufmerksamkeit ahmte er unbewußt mit den Kiefern die Bewegungen nach, die der Professor mit den seinigen vollführte. Unrats Kinn, in dessen oberem Rand mehrere gelbe Gräten staken, rollte, während er sprach, zwischen den höl-­‐
zernen Mundfalten wie auf Geleisen, und sein Speichel spritzte bis auf die vorderste Bank. Er schrie auf: »Sie haben die Kühnheit, Bursche!... Fort, sage ich, ins Kabuff!« Aufgescheucht drängte von Ertzum sich aus der Bank hervor. Kieselack raunte ihm zu: »Mensch, wehr dich doch!« Lohmann, dahinter, verhieß unterdrückt: »Laß nur, den kriegen wir noch wieder kirre.« Der Verurteilte trollte sich am Katheder vorbei, in das Gelaß, das der Klasse als Garderobe diente, und wo-­‐
rin es stockfinster war. Unrat stöhnte vor Erleichterung, als hinter dem breiten Menschen sich die Tür ge-­‐
schlossen hatte. »Nun wollen wir die Zeit nachholen,« sagte er, »die uns dieser Bursche gestohlen hat. Angst, hier haben Sie 17 das Thema, schreiben Sie es an die Tafel.« Der Primus nahm den Zettel vor seine kurzsichtigen Augen und machte sich langsam ans Schreiben. Alle sahen mit Spannung unter der Kreide die Buchstaben entstehn, von denen so viel abhing. Wenn es nun eine Szene betraf, die man zufällig nie »präpariert« hatte, dann hatte man »keinen Dunst« und »saß drin«. Aus Aberglaube sagte man, noch bevor die Silben an der Tafel einen Sinn annahmen: »O Gott, ich fall' rein.« Schließlich stand dort oben zu lesen: »Johanna: Es waren drei Gebete, die du tatst; Gib wohl acht, Dauphin, ob ich sie dir nenne!« (Jungfrau von Orleans, erster Aufzug, zehnter Auftritt.) »Thema: Das dritte Gebet des Dauphins.« Als sie dies gelesen hatten, sahen alle einander an. Denn alle »saßen drin«. Unrat hatte sie »hineingelegt«. Er ließ sich mit einem schiefen Lächeln im Lehnstuhl auf dem Katheder nieder und blätterte in seinem Notizbuch. »Nun?« fragte er, ohne aufzusehn, als sei alles klar, »wollen Sie noch was wissen?... Also los!« Die meisten knickten über ihrem Heft zusammen und taten, als schrieben sie schon. Einige starrten ent-­‐
geistert vor sich hin. »Sie haben noch fünfviertel Stunden,« bemerkte Unrat gleichmütig, während er innerlich jubelte. Dieses Aufsatzthema hatte noch keiner gefunden von den unbegreiflich gewissenlosen Schulmännern, die durch gedruckte Leitfäden es der Bande ermöglichten, mühelos und auf Eselsbrücken die Analyse jeder beliebi-­‐
gen Dramenszene herzustellen. Emil und die Detektive (1929) Eric Kästner Erstens: Emil persönlich Da ist, erstens einmal, Emil selber. In seinem dunkelblauen Sonntagsanzug. Er zieht ihn gar nicht gern an und nur, wenn er muß. Blaue Anzüge bekommen sehr leicht Flecken. Und dann macht Emils Mutter die Kleiderbürste naß, putzt und bürstet und fragt stets: „Junge, Junge! Du weißt doch, daß ich dir keinen andern kaufen kann.“ Und dann denkt er immer erst, wenn es zu spät ist, daran, daß sie den gan-­‐
zen Tag arbeitet, damit sie zu essen haben, und damit er in die Oberrealschule gehen kann. Zweitens: Frau Friseuse Tischbein, Emils Mutter Als Emil fünf Jahre alt war, starb sein Vater, der Herr Klempnermeister Tischbein. Und seitdem fri-­‐
siert Emils Mutter. Und wäscht Ladenfräulein und Frauen aus der Nachbarschaft die Köpfe. Außerdem muß sie kochen, die Wohnung in Ordnung halten, und auch die große Wäsche besorgt sie ganz allein. Sie hat den Emil sehr lieb und ist froh, daß sie arbeiten kann und Geld verdienen. Manchmal singt sie lustige Lieder Manchmal ist sie krank, und Emil brät für sie und sich Spiegeleier. Das kann er gut. Drittens: Der Herr im steifen Hut Niemand kennt ihn. Nun soll man von jedem Menschen, ehe er das Gegenteil beweisen hat, das Bes-­‐
te annehmen. Aber ich möchte euch doch recht herzlich bitten, in dieser Beziehung etwas vorsichtig zu sein. 18 Viertens: Der Junge mit der Hupe Gustav heißt er. Und im Turnen hat er immer die beste Note. Was hat er sonst noch? Ein gutes Herz und eine Hupe. Alle Kinder im Viertel kennen ihn und behandeln ihn, als wäre er ihr Präsident. Wenn er durch die Höfe rennt und auf die Hupe drückt, lassen die Jungen alles stehen und liegen, stürzen die Treppe herunter und fragen, was los ist. Fünftens: Pony Hütchen, Emils Kusine Das kleine Kind auf dem kleinen Fahrrad ist Emils Kusine aus Berlin. Pony Hütchen ist ein reizen-­‐
des Mädchen und heißt eigentlich ganz anders. Ihre Mutter und Frau Tischbein sind Schwestern. Sechstens: Emils Großmutter Sie ist die lustigste aller Großmütter, die ich kenne. Dabei hat sie ihre ganzes Leben lang nichts als Sorgen gehabt. Früher wohnte Emils Großmutter bei seinen Eltern. Erst als der Klempnermeister Tisch-­‐
bein gestorben war, zog sie zu ihrer anderen Tochter nach Berlin. Denn Emils Mutter verdiente zu wenig, als daß drei Leute davon hätten leben können. Nun wohnt die alte Frau in Berlin. Und in jedem Brief, den sie schreibt, steht zum Schluß: „Mir geht’s gut, was ich von euch auch hoffe.“ Erstes Kapitel: Emil hilft Köpfe waschen „So“, sagte die Witwe Tischbein zu ihrem Sohn Emil, „nun bringe den Krug mit dem warmen Wasser!“ Sie selber nahm einen anderen Krug und den kleinen blauen Topf mit der flüssigen Seife und ging aus der Kü-­‐
che in die Stube. Emil nahm seinen Krug und lief der Mutter nach. In der Stube saß eine Frau und hielt den Kopf über das weiße Waschbecken gebückt. Ihre Haare waren offen und hingen wie drei Pfund Wolle nach unten. Emils Mutter goß die Seife in das blonde Haar und be-­‐
gann, den fremden Kopf zu waschen. „Ist es nicht zu heiß?“ fragte sie. „Nein, nein,“ antwortete der Kopf. „Ach, das ist Frau Bäckermeister Wirth! Guten Tag!“, sagte Emil und schob seinen Krug unter den Wasch-­‐
tisch. „Du hast’s gut, Emil. Du fährst nach Berlin, wie ich höre“, meinte der Kopf. „Erst hatte er zwar keine Lust“, sagte die Mutter. „Aber wozu soll der Junge die Ferien hier totschlagen? Er kennt Berlin überhaupt noch nicht. Und meine Schwester Martha hat uns schon immer einladen wollen. Ihr Mann verdient ganz gut. Er ist bei der Post. Ich kann freilich nicht mitfahren. Vor den Feiertagen gibt’s viel zu tun. Na, er ist ja groß genug und muß unterwegs gut aufpassen. Außerdem holt ihn meine Mutter am Bahnhof Freidrichstraße ab. Sie treffen sich am Blumenstand.“ „Berlin wird ihm sicher gefallen. Das ist etwas für kinder. Da gibt es wirklich Straßen, die nachts genau so hell sind wie am Tage. Und die Autos!“ sagte Frau Wirth aus der Tiefe des Waschbeckens. „Sehr viele ausländische Wagen?“ fragte Emil. „Woher soll ich denn das wissen?“ sagte Frau Wirth und mußte niesen. Ihr war Seifenschaum in die Nase gekommen. „Nun schnell, daß du fertig wirst“, drängte die Mutter. „Deinen guten dunkelblauen Anzug habe ich im Schlafzimmer zurechtgelegt. Zieh ihn an, damit wir dann sofort essen können, wenn ich Frau Wirth fri-­‐
siert habe.“ „Was für ein Hemd?“ fragte Emil. „Es liegt alles auf dem Bett. Und zieh die Strümpfe vorsichtig an. Und wasch dich erst gründlich. Schnell, schnell!“ „Puh!“ bemerkte Emil. Als Frau Wirth, schön frisiert und mit ihrem Spiegelbild zufrieden, gegangen war, trat die Mutter ins Schlafzimmer und sah, wie Emil unglücklich herumlief. „Kannst du mir nicht sagen, wer die guten Anzüge erfunden hat?“ „Nein, es tut mir leid. Aber warum willst du’s wissen?“ „Gib mir die Adresse, und ich erschieße den Kerl. Ich ziehe den guten Anzug nur an, wenn ich muß. Blaue 19 Anzüge bekommen so leicht Flecken“ „Ach, hast du’s schwer! Andere Kinder sind traurig, weil sie keinen guten Anzug haben. So had jeder seine Sorgen . . . Ehe ich’s vergesse: heute abend bittest du Tante Martha um einen Kleiderbügel und hängst den Anzug ordentlich auf. Vorher wird er aber ausgebürstet. Vergiß es nicht! Sonst noch was? Der Koffer ist gepackt. Die Blumen für die Tante sind eingewickelt. Das Geld für Großmutter gebe ich dir nachher. Und nun wollen wir essen!“ Frau Tischbein legte den Arm um seine Schulter und sie gingen in die Küche. Es gab Makkaroni mit Schin-­‐
ken und geriebenem Käse. Emil aß wie ein Schwerarbeiter. Nur manchmal blickte er zur Mutter hinüber, als fürchte er, sie könne ihm, so kurz vor dem Abscheid, seinen Appetit übelnehmen. „Und schreib sofort eine Karte. Ich habe sie dir zurechtigelegt. Im Koffer, gleich obenauf.“ „Gewiß,“ sagte Emil und nahm, möglichst unauffällig, einen Makkaroni vom Knie. Die Mutter merkte glücklicherweise nichts. „Grüße sie all von mir. Und paß gut auf. In Berlin geht es anders zu als bei uns in Neustadt. Und am Sonntag gehst du mit Onkel Robert in Kaiser-­‐Friedrich-­‐Museum. Und benimm dich anständig, damit es nicht heißt, wir hier wüßten nicht, was sich gehört.“ „Ich gebe mein großes Ehrenwort“, sagte Emil. Emil hatte keinen Vater mehr. Er starb, als der Knabe fünf Jahre alt war. Doch seine Mutter hatte zu tun, frisierte in ihrer Stube, wusch blonde Köpfe und braune Köpfe und arbeitete unermüdlich, damit sie zu essen hatten und die Gasrechnung, die Kohlen, die Miete, die Kleidung, die Bücher und das Schulgeld be-­‐
zahlen konnten. Nach dem Essen gingen beide in die Stube. Die Mutter holte einen Kasten aus dem Schrank und zählte Geld. Dann schüttelte sie den Kopf und zählte noch einmal. Dann fragte sie: „Wer war gestern nachmittag da, hm?“ „Fräulein Thomas“, sagte er, „und Frau Homburg.“ „Ja. Aber es stimmt noch nicht.“ Sie dachte nach, suchte den Zettel, auf dem sie die Geschäftseinnahmen notierte, rechnete und meinte schließlich: „Es fehlen acht Mark.“ „Der Gasmann war heute früh hier.“ „Richtig! Nun stimmt es leider.“ Die Mutter nahm drei Scheine aus dem Kasten. „So, Emil! Hier sind hun-­‐
dertvierzig Mark. Ein Huindertmarkschein und zwei Zwanzigmarkscheine. Hundertzwanzig Mark gibst du der Großmutter und sagst ihr, sie solle nicht böse sein, daß ich letztes Mal nichts geschickt hätte. Aber ich hatte selbst nicht genug. Und jetzt bringst du mehr als sonst. Und gib ihr einen Kuß. Verstanden? Die zwanzig Mark, die übrigbleiben, behältst du. Davon kaufst du dir die Fahrkarte, wenn du wieder heim-­‐
fährst. Das macht ungefähr zehn mark. Genau weiß ich’s nicht. Und von dem Rest bezahlst du, wenn ihr ausgeht, was du ißt und trinkst. Außerdem ist es immer gut, wenn man ein paar Mark in der Tasche hat, die man nicht braucht und für alle Fälle bereit hält. Ja. Und hier ist der Umschlag von Tante Marthas Brief. Da stecke ich das Geld hinein. Paß gut auf, daß du es nicht verlierst! Wo willst du es hintun?“ Sie legte die drei Scheine in den Briefumschlag, und gab ihn Emil. Der besann sich erst eine Weile. Dann steckte er ihn in die rechte innere Tasche, tief hinunter, klopfte sich, zur Beruhigung, noch einmal von außen auf die blaue Jacke und sagte überzeugt: „So, da fällt es nicht her-­‐
aus.“ „Und erzähle keinem Menschen in der Eisenbahn, daß du so viel Geld bei dir hast!“ „Aber Mutter!“ Emil war geradezu beleidigt. Ihm so eine Dummheit zuzutrauen! Frau Tischbein tat noch etwas Geld in ihren Geldbeutel. Dann trug sie den Kasten wieder zum Schrank und las rasch noch einmal den Brief, den sie von ihrer Schwester aus Berlin erhalten hatte und in dem die genauen Abfahrtszeiten und Ankunftszeiten des Zuges standen, mit dem Emil fahren sollte. „Schnell,“ rief die Mutter, ‚wir müssen zum Bahnhof. Es ist schon viertel nach eins. Und der Zug geht kurz vor zwei Uhr.“ Zweites Kapitel: Wachtmeister Jeschke bleibt stumm Zum Bahnhof fuhren Mutter und Emil in der Straßenbahn. Auf dem Bahnhofsplatze stiegen sie aus. 20 Während Emil den Koffer von dem Wagen nahm, brummte eine tiefe Stimme hinter ihnen: „Na, Sie fahren wohl in die Schweiz?“ Das war der Polizeiwachmeister Jeschke. Die Mutter antwortete: „Nein, mein Junge fährt für eine Woche nach Berlin zu Verwandten.“ Und Emil wurde es dunkelblau, beinahe schwarz vor Augen. Denn er hatte ein sehr schlechtes Gewissen. Neulich hatte ein Dutzend Oberrealschüler, nach der Turnstunde auf den Flußwiesen, dem Denkmal des Großherzogs, der Karl mit der schiefen Backe hieß, heimlich einen alten Filzhut aufs stolze Haupt gedrückt. Und dann war Emil, weil er gut zeichnen konnte, von den andern hochgehoben worden, und er hatte dem Großherzog mit Buntstiften eine rote Nase und einen pech-­‐
schwarzen Schnurrbart ins Gesicht malen müssen. Und während er noch malte, zeigte sich Wachtmeister Jeschte in der Entfernung. Sie waren blitzartig davongerannt. Doch es war zu befürchten, daß er sie erkannt hatte. Aber er sagte nichts, sondern wünschte dem Emil glückliche Reise und erkundigte sich bei der Frau Mut-­‐
ter, wie es ihr ginge. Emil war trotz alledem nicht wohl zumute. Und als er seinen Koffer über den freien Platz zum Bahnhof trug, war ihm schwach in den Knien. Und jeden Augenblick dachte er, Jeschke werde plötzlich hinter ihm rufen: „Emil Tischbein, du bist verhaftet! Hände hoch!“ Doch es geschah gar nichts. Vielleicht wartete der Wachmeister nur, bis Emil wiederkam? Dann kaufte die Mutter am Schalter den Fahrschein (Holzklasse natürlich) und eine Bahnsteigkarte. Und dann gingen sie auf den Bahnsteig 1 — , Neustadt had vier Bahnsteige — und warteten auf den Zug nach Berlin. Es fehlten nur noch ein paar Minuten. „Laß nichts liegen, meine Junge! Und setz dich nicht auf den Blumenstrauß! Und vergiß nicht, auszustei-­‐
gen. Du kommst 18.17 Uhr in Berlin an. Am Bahnhof Friedrichstraße. Steige ja nicht vorher aus, etwa am Bahnhof Zoo oder auf einer anderen Station!“ „Nur keine Angst, liebe Mutter!“ „Und sei vor allem höflich zu den anderen Leuten. Und wirf das Papier nicht auf den Fußboden, wenn du deine Wurstbrötchen ißt. Und—verliere das Geld nicht!“ Emil faßte sich entsetzt an die Jacke und in die rechte Tasche. Dann atmete er erleichtert auf und meinte: „Alles in Ordnung.“ „Und überarbeite dich nicht, Mutter! Und werde ja nicht krank! Du hättest ja niemanden, der dich pflegen könnte. Ich nähme auf der Stelle ein Flugzeug und käme nach Hause. Und schreib’ mir auch einmal. Und ich bleibe höchstens eine Woche.“ Er drückte die Mutter fest an sich. Und sie gab ihm einen Kuß auf die Nase. Dann kam der Personenzug nach Berlin, mit Heulen und Zischen, und hielt. Emil küßte die Mutter noch ein bißchen. Dann kletterte er mit seinem Koffer in ein Abteil. Die Mutter reichte ihm die Blumen und die Brötchen und fragt, ob er Platz hätte. Er nickte. „Also, Friedrichstraße aussteigen!“ Er nickte. „Und die Großmutter wartet am Blumenstand.“ Er nickte. „Und benimm dich gut, Junge!“ Er nickte. „Und sei nett zu Pony Hütchen. Ihr werdet euch gar nicht mehr kennen.“ Er nickte. „Und schreib mir.“ „Du mir auch.“ So wäre es wahrscheinlich noch stundenlang fortgegangen, wenn es nicht den Eisenbahnfahrplan gegeben hätte. Der Zugführer mit dem roten Ledertäschchen rief: „Alles einsteigen! Alles einsteigen!“ Die Wagen-­‐
türen wurden zugemacht. Die Lokomotive zog an. Und fort ging’s. Die Mutter winkte noch lange mit dem Taschentuch. Dann drehte sie sich langsam um und ging nach Hau-­‐
21 se. Und weil sie das Taschentuch schon in der Hand hielt, weinte sie gleich ein bißchen. Aber nicht lange. Denn zu Hause wartete schon Frau Fleischermeister Augustin und wollte gründlich den Kopf gewaschen haben. Drittes Kapitel: Die Reise nach Berlin kann anfangen Emil nahm seine Schülermütze ab und sagte: „Guten Tag, meine Herrschaften. Ist vielleicht noch ein Plätzchen frei?“ Natürlich war noch ein Platz frei. Und eine dicke Dame, die sich den linken Schuh ausgezogen hatte, weil er drückte, sagte zu ihrem Nachbarn, einem Mann, der beim Atmen schrecklich schnaufte: „Solch höfliche Kinder sind heutzutage selten. Wenn ich an meine Jugend zurückdenke, da herrschte ein anderer Geist.“ Emil setzte sich und tastete die rechte Taschentasche ab und war erst zufrieden, als er den Briefumschlag knistern hörte. Die Mitreisenden sahen ganz vertrauenerweckend und nicht gerade wie Räuber und Mör-­‐
der aus. Neben dem schrecklich schnaufenden Mann saß eine Frau, die an einem Schal häkelte. Und am Fenster, neben Emil, las ein Herr im steifen Hut die Zeitung. Plötzlich legte er das Blatt beiseite, holte aus seiner Tasche ein Stück Schokolade, hielt es dem Knaben hin und sagte: „Na, junger Mann, wie wär’s?“ „Danke sehr“, antwortete Emil und nahm die Schokolade. Dann zog er, hinterher erst, hastig seine Mütze, verbeugte sich und sagte: „Emil Tischbein ist mein Name.“ Die Reisegefährten lächelten. Der Herr nahm seinerseits ernst den steifen Hut ab und sagte: „Sehr ange-­‐
nehm, ich heiße Grundeis.“ Dann fragte die dicke Dame, die den linken Schuh ausgezogen hatte: „Lebt denn in Neustadt der Kauf-­‐
mann Kurzhals noch?“ „Ja freilich lebt Herr Kurzhals noch“, berichtete Emil, „kennen Sie ihn?“ „Gewiß, sehr gut! Grüß ihn schön von Frau Jakob aus Groß-­‐Grünau.“ „Ich fahre doch aber nach Berlin.“ „Das hat ja auch Zeit, bis du zurückkommst“, sagte Frau Jakob und lachte. „So, so, nach Berlin fährst du?“ fragte Herr Grundeis. „Jawohl, und meine Großmutter wartet am Bahnhof Friedrichstraße am Blumenstand“, antwortete Emil und faßte sich wieder an die Jacke. Und der Umschlag knisterte, Gott sei Dank, noch immer. „Kennst du Berlin schon?“ „Nein.“ „Na, da wirst du aber staunen! In Berlin gibt es neuerdings Häuser, die sind hundert Stockwerke hoch, und die Dächer hat man am Himmel festbinden müssen, damit sie nicht fortwehen!“ Emil lachte gezwungen und packte seine Wurstbrötchen aus, obwohl er eben erst zu Mittag gegessen hatte. Als er in die dritte Stulle biß, hielt der Zug auf einem großen Bahnhof. Emil sah kein Stationsschild, und er verstand auch nicht, was der Schaffner vor dem Fenster rief. Fast alle Fahrgäste stiegen aus; der schnau-­‐
fende Mann, die häkelnde Dame und auch Frau Jakob. Sie wäre beinah zu spät gekommen, weil sie ihren Schuh nicht wieder zumachen konnte. „Also grüße Herrn Kurzhals schön“, sagte sie noch. Emil nickte. Und dann waren er und der Herr mit dem stiefen Hut allein. Das gefiel Emil nicht sehr. Ein Mann, der Schokolade verteilt und dumme Geschichten erzält, ist nichts Gutes und Emil fürchtete sich ein wenig. Er wollte, zur Abwechslung, wieder einmal nach dem Kuvert fassen. Er wagte es aber nicht, sondern ging, als der Zug weiterfuhr, auf die Toilette, holte dort das Kuvert aus der Tasche, zählte das Geld—es stimmte immer noch—und war ratlos, was er machen sollte. Endlich kam ihm eine Gedanke. Er nahm eine Nadel, die er im Jackenkragen fand, steckte sie erst durch die drei Scheine, dann durch das Kuvert und schließlich durch das Anzugfutter durch. So, dachte er, nun kann nichts mehr passieren. Und dann ging er wieder ins Abteil. Herr Grundeis hatte es sich in einer Ecke bequem gemacht und schlief. Emil war froh, daß er sich nicht zu unterhalten brauchte, und blickte durchs Fenster. Bäume, Windmühlen, Felder, Fabriken, Kuhherden, 22 winkende Bauern zogen draußen vorbei. Und es war sehr hübsch anzusehen, wie sich alles vorüberdrehte, fast wie auf einer Grammophonplatte. Aber schließlich kann man nicht stundenlang durchs Fenster star-­‐
ren. Herr Grundeis schlief immer weiter und schnarchte ein bißchen. Emil wäre gern auf und ab marchiert, aber dann hätte er den andern geweckt, und das wollte er ganz und gar nicht. Er lehnte sich also in die entgegengesetzte Ecke des Abteils und betrachtete den Schläfer. Warum der Mann nur immer den Hut aufbehielt? Und ein längliches Gesicht hatte er, einen ganz schmalen schwarzen Schnurrbart und hundert Falten um den Mund, und die Ohren waren sehr dünn und standen weit ab. Wupp! Emil zuckte zusammen und erschrak. Beinah wäre er eingeschlafen! Das durfte er unter keinen Umständen. Wenn doch wenigstens noch irgend jemand eingestiegen wäre! Der Zug hielt ein paar Mal, aber es kam kein Mensch. Dabei war es erst vier Uhr, und Emil hatte noch über zwei Stunden zu fahren. Er kniff sich in die Beine. In der Schule half das immer, wenn Herr Bremser Geschichtsunterricht gab. Eine Weile ging’s. Und Emil überlegte sich, wie Pony Hütchen jetzt aussähe. Aber er konnte sich gar nicht mehr auf ihr Gesicht besinnen. Er wußte nur, daß sie während des letzten Besuchs—als sie und die Großmutter und Tante Martha in Neustadt gewesen waren—mit ihm hatte boxen wollen. Er hatte natür-­‐
lich abgelehnt, weil sie Papiergewicht war und er mindestens Halbschwergewicht. Das wäre unfair, hatte er damals gesagt. Schwupp! Er fiel fast von der Bank. Schon wieder eingeschlafen? Er kniff und kniff sich in die Beine. Si-­‐
cher hatte er schon überall blaue und grüne Flecken. Und trotzdem half es nichts. Er versuchte es mit Zählen. Er zählte seine Knöpfe von oben nach unten und dann noch einmal von unten nach oben. Von oben nach unten waren es dreiundzwanzig Knöpfe. Und von unten nach oben vierund-­‐
zwanzig. Emil lehnte sich zurück und überlegte, woran das liegen könnte. Und dabei schlief er ein. Viertes Kapitel: Emil steigt an der falschen Station aus Als Emil aufwachte, setzte sich die Bahn eben wieder in Bewegung. Er war, während er schlief, von der Bank gefallen, lag jetzt am Boden und war sehr erschrocken. Er wußte nur noch nicht recht, weswegen. Sein Herz pochte. Da saß er nun in der Eisenbahn und hatte fast vergessen, wo er war. Dann fiel es ihm langsam wieder ein. Richtig, er fuhr nach Berlin. Und war eingeschlafen. Genau wie der Herr im steifen Hut . . . Emil setzte sich mit einem Ruck gerade und flüsterte: „Er ist fort!“ Die Knie zitterten ihm. Ganz langsam stand er auf und klopfte sich mechanisch den Anzug sauber. Jetzt war die nächste Frage: Ist das Geld noch da? Und vor dieser Frage hatte er eine unbeschreibliche Angst. Lange Zeit stand er an die Tür gelehnt und wagte nicht, sich zu rühren. Dort drüben hatte der Mann, der Grundeis hieß, gesessen und geschlafen und geschnarcht. Und nun war er fort. Natürlich konnte alles in Ordnung sein. Denn eigentlich war es albern, gleich ans Schlimmste zu denken. Es mußten ja nun nicht gleich alle Menschen nach Berlin-­‐Friedrichstraße fahren, nur wiel er hinfuhr. Und das Geld war gewiß noch an Ort und Stelle. Erstens steckte es in der Tasche. Zweitens steckte es im Briefumschlag. Und drit-­‐
tens war es mit einer Nadel am futter befestigt. Also, er griff sich langsam in die rechte innere Tasche. Die Tasche war leer! Das Geld war fort! Emil durchwühlte die Jacke mit der linken Hand. Er befühlte und preßte die Jacke von außen mit der rech-­‐
ten. Es blieb dabei: die Tasche war leer, und das Geld war weg. „Au!“ Emil zog die Hand aus der Tasche. Und nicht bloß die Hand, sondern die Nadel dazu, mit der er das Geld vorhin durchbohrt hatte. Nichts als die Stecknadel war übriggeblieben. Und sie saß in linken Ziege-­‐
finger, daß er blutete. Er wickelte das Taschentuch um den Finger und weinte. Natürlich nicht wegen das lächerlichen bißchen Bluts. Vor vierzehn Tagen war er gegen den Laternenpfahl gerannt, daß der bald umgeknickt wäre, und Emil hatte noch jetzt eine Beule auf der Stern. Aber geheult hatte er keine Sekunde. Er weinte wegen des Geldes. Und er weinte wegen seiner Mutter. Wer das nicht versteht, dem ist nicht zu helfen. Emil wußte, wie seine Mutter monatelang gearbeitet hatte, um die hundertvierzig Mark für die Großmutter zu sparen und um ihn nach Berlin schicken zu können. Und kaum saß der Herr Sohn im Zug, 23 so lehnte er sich auch schon in eine Ecke, schlief ein und ließ sich von einem Dieb das Geld stehlen. Und da sollte er nicht weinen? Was sollte er nun anfangen? In Berlin aussteigen und zur Großmutter sagen: „Da bin ich. Aber Geld kriegst du keins, daß du es weißt. Gib mir lieber rasch das Reisegeld, damit ich wieder nach Neustadt fahren kann. Sonst muß ich laufen!“ Prachtvoll war das! Die Mutter hatte umsonst gespart. Die Großmutter bekam keinen Pfennig. In Berlin konnte er nicht bleiben. Nach Hause durfte er nicht fahren. Und alles das wegen eines Kerls, der den Kin-­‐
dern Schokolade schenkte und tat, als ob er schliefe. Und zuguterletzt raubte er sie aus. Pfui, war das eine feine Welt! Emil schluckte die Tränen, die noch ins Freie wollten, hinunter und sah sich um. Wenn er die Notleine zöge, würde der Zug sofort stehen bleiben. Und dann käme ein Schaffner. Und noch einer. Und immer noch einer. Und alle würden fragen: „Was ist los?“ „Mein Geld ist gestohlen worden,“ spräche er. „Ein andres Mal paßt du besser auf,“ würden sie antworten, „steige gefälligst wieder ein! Wie heißt du? Wo wohnst du? Einmal Notleine ziehen kostet hundert Mark. Die Rechnung wird geschickt.“ In Schnellzügen konnte man wenigstens durch die Wagen laufen, von einem Ende des Zuges zum andern, bis ins Dienstabteil, und Diebstähle melden. Aber hier! In so einem Bummmelzug! Da mußte man bis zur nächsten Station warten, und inzwischen war der Mensch im steifen Hut über alle Berge. Nicht einmal die Station, wo der Kerl ausgestiegen war, wußte Emil. Wie spät mochte es sein? Wann kam Berlin? An den Fenstern des Zuges wanderten große Häuser vorbei und Villen mit bunten Gärten und dann wieder hohe schmutzigrote Schornsteine. Wahrscheinlich war das schon Berlin. An der nächsten Station mußte er den Schaffner rufen und dem alles erzählen. Und der würde es schleunigst der Polizei melden! Auch das noch. Jetzt kriegte er es auch noch mit der Polizei zu tun. Nun konnte Wachtmeister Jeschke natürlich nicht mehr schweigen, sondern mußte dienstlich melden: „Ich weiß nicht, aber der Oberreal-­‐
schüler Emil Tischbein aus Neustadt gefällt mir nicht. Erst bemalt er ehrwürdige Denkmäler. Und dann läßt er sich hundertvierzig Mark stehlen. Vielleicht sind sie ihm gar nicht gestohlen worden? Wer Denk-­‐
mäler verdirbt, der lügt auch. Da habe ich meine Erfahrungen. Wahrscheinlich hat er das Geld im Walde vergraben order verschluckt und will damit nach Amerika. Den Dieb zu verfolgen hat nicht den mindesten Sinn. Der Oberrealschüler Tischbein ist selber der Dieb. Bitt, Herr Polizeipräsident, verhaften Sie ihn.“ Schrecklich. Nicht einmal der Polizei konnte er sich anvertrauen! Er holte den Koffer aus dem Gepäcknetz, setzte die Mütze auf, steckte die Nadel wieder in den Jackenkra-­‐
gen und machte sich fertig. Er hatte zwar keine Ahnung, was er beginnen sollte. Aber hier, in diesem Ab-­‐
teil, hielt er es keinie fünf Minuten länger aus. Das stand fest. Inzwischen verlangsamte der Zug seine Geschwindigkeit. Emil sah draußen viele Gleise glänzen. Dann fuhr man an Bahnstiegen vorbei. Ein paar Gepäckträger liefen, weil sie etwas verdienen wollen, neben den Wagen her. Der Zug hielt! Emil schaute durchs Fenster und erblickte hoch über den Schienen ein Schild. Darauf stand: „Zoolog. Gar-­‐
ten“. Die Türen gingen auf. Leute stiegen uas den Abteilen. Andere warteten schon und bereiteten froh die Arme aus. Emil beugte sich weit aus dem Fenster und suchte den Zugführer. Da erblickte er, in einiger Entfernung und zwischen vielen Menschen, einen steifen schwarzen Hut. Wenn das der Deib war? Vielleicht war er, nachdem er Emil bestohlen hatte, gar nicht ausgestiegen, sondern nur in einen anderen Wagen gegangen? Im nächsten Augenblick stand Emil auf dem Bahnsteig, setzte den Koffer hin, stieg noch einmal ein, weil er die Blumen, die im Gepäcknetz lagen, vergessen hatte, stieg wieder aus, nahm den Koffer und rannte, so sehr er konnte, dem Ausgang zu. Wo war der steife Hut? Der Junge stolperte den Leuten vor den Beinen herum, stieß jemand mit dem Kof-­‐
fer, rannte weiter. Die Menschenmenge wurde immer dichter und undurchdringlicher. Da! Dort war der steife Hut! Himmel, da drüben war noch einer! Emil konnte den Koffer kaum noch schleppen. Am liebsten hätte er ihn einfach hingestellt und stehen lassen. Doch dann wäre ihm auch der noch gestohlen worden! Endlich hatte er sich bis dicht an die steifen Hüte herangedrängt. 24 Der konnte es sein! War er’s? Nein. Dort war der nächste. Nein. Der Mann war zu klein. Emil schlängelte sich wie ein Indianer durch die Menschenmassen. Dort, dort! Das war der Kerl. Gott sei Dank! Das war der Grundeis. Eben ging er durch die Sperre und schien es eilig zu haben. „Warte nur, du Hund“, knurrte Emil, „dich kriegen wir!“ Dann gab er seine Fahrkarte ab, nahm den Koffer in die andre Hand, den Bliumenstrauß unter den rechten Arm und lief hinter dem Mann die Treppe hinun-­‐
ter. Jetzt kam’s drauf an. Fünftes Kapitel: Straßenbahnlinie 177 Am liebsten wäre er auf den Kerl losgerannt, hätte sich vor ihn hingestellt und gerufen: ‚Her mit dem Geld!‛ doch der sah nicht so aus, als würde er dann antworten: ‚Aber gern, mein gutes Kind. Hier hast du’s. Ich will es bestimmt nicht wieder tun.‛ Ganz so einfach war die Sache nicht. Zunächst war es das Wich-­‐
tigste, den Mann nicht aus den Augen zu verlieren. Emil versteckte sich hinter einer großen, breiten Dame, die vor him ging, und guckte manchmal links und manchmal rechts an ihr vorbei, ob der andere noch zu stehen war und nicht plötzlich im Dauerlauf davon-­‐
rannte. Der Mann war jetzt am Bahnhofsportal angelangt, blieb stehen, blickte sich um und musterte die Leute, die hinter ihm her drängten, als suche er jemanden. Emil preßte sich ganz dicht an die große Dame und kam dem Andern immer näher. Was sollte jetzt werden? Gleich würde er an ihm vorbei müssen, und dann war es aus mit den Heimlichkeiten. Ob ihm die Dame helfen würde? Aber sie würde ihm sicher nicht glauben. Und der Dieb würde sagen: ‚Erlauben Sie, gnädige Frau, was fällt Ihnen eigentlich ein? Ha-­‐
be ich es etwa nötig, kleine Kinder auszurauben?‛ Und dann würden alle den Jungen ansehen und schrei-­‐
en: ‚Das ist doch unglaublich! Verleumdet erwachsene Menschen! Nein, die Jugend von heute ist doch zu frech!‛ Emil klapperte schon mit den Zähnen. Da drehte der Mann seinen Kopf glücklicherweise wieder weg und trat ins Freie. Der Junge sprang blitz-­‐
rasch hinter die Tür, stellte seinen Koffer nieder und blickte durch die vergitterte Scheibe. Alle Wetter, tat ihm der Arm weh! Der Dieb ging langsam über die Straße, sah noch einmal rückwarts und ging ziemlich beruhigt weiter. Dann kam eine Straßenbahn, mit der Nummer 177, von links gefahren und hielt. Der Mann überlegte ei-­‐
nen Augenblick, stieg auf den Vorderwagen und setzte sich an einen Fensterplatz. Emil nahm wieder seinen Koffer, lief geduckt an der Tür vorbei, die Halle entlang, fand einen andere Tür, rannte auf die Straße und erreichte, von hinten her, den Anhängewagen gerade, als die Bahn abfuhr. Er warf den Koffer hinauf, kletterte nach, schob ihn in eine Ecke, stellte sich davor and atmete auf. So, das war überstanden! Doch was sollte nun werden? Wenn der Andere während der Fahrt absprang, war das Geld endgültig weg. Denn mit dem Koffer abspringen, das ging nicht. Das war zu gefährlich. Diese Autos! Sie drängten sich haftig an der Straßenbahn vorbei; hupten, quiekten, streckten rote Zieger links und rechts heraus, bogen um die Ecke; andere Autos schoben sich nach. Solch ein Lärm! Und die vielen Menschen auf den Fußsteigen! Und von allen Seiten Straßenbahnen, Fuhrwerke, zweistöckige Au-­‐
tobusse! Zeitungsverkäufer an allen Ecken. Wunderbare Schaufenster mit Blumen, Früchten, Büchern, goldenen Uhren, Kleidern und seidener Wäsche. Und hohe, hohe Häuser. Das war also Berlin! Emil hätte sich gern alles in größter Ruhe betrachtet. Aber er hatte keine Zeit dazu. Im vorderen Wagen saß ein Mann, der hatte Emils Geld, konnte jeden Augenblick aussteigen und im Gedränge verschwinden. Dann war es aus. Denn dort hinten, zwischen den Autos und menschen und Autobussen, da fand man niemanden wieder. Emil steckte den Kopf hinaus. Wenn nun der Kerl schon weg war? Dann fuhr er hier 25 ganz allein weiter, mußte nicht wohin, mußte nicht warum, und die Großmutter wartete unterdessen am Bahnhof Freidrichstraße, am Blumenstand, und hatte keine Ahnung, daß ihr Enkel inzwischen auf der Li-­‐
nie 177 quer durch Berlin fuhr und großen Kummer hatte. Da hielt die Straßenbahn zum ersten Mal. Emil ließ den Wagen nicht aus den Augen. Doch es stieg nie-­‐
mand aus. Es drängten nur viele neue Fahrgäste in die Bahn. Auch an Emil vorbei. Ein Herr schimpfte, weil der Junge den Kopf herausstreckte und im Wege war. „Siehst du nicht, daß leute einsteigen wollen?“ brummte er ärgerlich. Der Schaffner, der im Inneren des Wagens Fahrscheine verkaufte, zog an einer Schnur. Es klingelte. Und die Straßenbahn fuhr weiter. Emil stellte sich wieder in seine Ecke, wurde gedrückt und auf die Füße ge-­‐
tretten und dachte erschrocken: „Ich habe kein Geld! Wenn der Schaffner herauskommt, muß ich einen Fahrschein lösen. Und wenn ich es nicht kann, werft er mich hinaus. Und dann kann ich mich gleich be-­‐
graben lassen.“ Er sah sich die Leute an, die neben ihm standen. Konnte er einen von ihnen am Mantel zupfen und sagen: „Borgen Sie mir doch, bitte, das Fahrgeld!“ Ach, die menschen hatten so ernste Gesichter! Der eine las Zeitung. Zwei andere unterhielten sich über einen großen Bankeinbruch. Der Schaffner kam der Tür immer näher. Jetzt stand er schon im Wagen und fragte laut: „Wer hat noch keinen Fahrschein?“ Er riß große weiße Zettel ab und machte mit einer Zange eine Reihe Löcher hinein. Die Leute gaben ihm Geld und bekamen dafür Fahrscheine. „Na, und du?“ fragte er den Jungen. „Ich habe mein Geld verloren, Herr Schaffner“, antwortete Emil. Denn den Diebstahl hätte ihm keiner ge-­‐
glaubt. „Geld verloren? Das kenne ich. Und wo willst du hin?“ „Das . . . das weiß ich noch nicht“, stotterte Emil. „So. Na, da steige an der nächsten Station wieder ab und überlege dir erst, wo du hinwillst.“ „Nein, das geht nicht. Ich muß hier oben bleiben, Herr Schaffner. Bitte schön.“ „Wenn ich dir sage, du sollst absteigen, steigst du ab. Verstanden?“ „Geben Sie dem Jungen einen Fahrschein!“ sagte da der Herr, der Zeitung gelesen hatte. Er gab dem Schaffner Geld. Und der Schaffner gab Emil einen Fahrschein und erzählte dem Herrn: „Was glauben Sie, wieviele Jungen da täglich kommen und einem sagen, sie hätten das Geld vergessen? Hinterher lachen sie uns aus.“ „Der hier lacht uns nicht aus“, antwortete der Herr. Der Schaffner ging weiter. „Haben Sie vielen, vielen Dank, mein Herr!“ sagte Emil. „Bitte schön, nichts zu danken,“ meinte der Herr und schaute wieder in seine Zeitung. Dann hielt die Straßenbahn von neuem. Emil beugte sich hinaus, ob der Mann im steifen Hut ausstiege. Doch es war nichts zu sehen. „Darf ich vielleicht um Ihre Adresse bitten?“ fragte Emil den Herrn. „Wozu denn?“ „Damit ich Ihnen das Geld zurückgeben kann, sobald ich welches habe. Ich bleibe vielleicht eine Woche in Berlin, und da komme ich bei Ihnen vorbei. Tischbein ist mein Name. Emil Tischbein aus Neustadt.“ „Nein“, sagte der Herr, „den Fahrschein habe ich dir selbstverständlich geschenkt. Soll ich dir noch etwas geben?“ „Unter keinen Umständen“, erklärte Emil fest, „das nähme ich nicht an!“ „Wie du willst“, meinte der Herr und sah wieder in die Zeitung. Und die Straßenbahn fuhr. Und sie hielt. Und sie fuhr weiter. Emil las den Namen der schönen breiten Straße. Kaiserallee hieß sie. Er fuhr und wußte nicht, wohin. Im andern Wagen saß ein Dieb. Und viel-­‐
leicht saßen und standen noch andere Diebe in der Bahn. Niemand kümmerte sich um ihn. Ein fremder 26 Herr hatte ihm zwar einen Fahrschein geschenkt. Doch nun las er schon wieder in der Zeitung. Die Stadt war so groß. Und Emil war so klein. Und kein Mensch wollte wissen, warum er kein Geld hatte und warum er nicht wußte, wo er aussteigen sollte. Vier Millionen Menschen lebten in Berlin, und keiner interessierte sich für Emil Tischbein. Niemand will von den Sorgen des anderen etwas wissen. Jeder hat mit seinen eignen Sorgen und Freuden genug zu tun. Und wenn man sagt: „Das tu mir aber wirklich leid“, so meint man meistens gar nichts weiter als: ‚Mensch, laß mich in Ruhe!’ Was würde werden? Emil schluckte schwer. Und er fühlte sich sehr, sehr allein. Sechstes Kapitel: Große Aufregung in der Schumannstraße Während Emil auf der Straßenbahn 177 stand, durch die Kaiserallee fuhr und nicht wußte, wo er landen würde, warteten die Großmutter und Pony Hütchen, seine Kusine, im Bahnhof Friedrichstraße auf ihn. Sie hatten sich am Blumenkiosk, wie es ausgemacht war, aufgestellt und blickten dauernd nach der Uhr. Viele Leute kamen vorüber. Mit Koffern und Kisten und Schachteln und Ledertaschen und Blumensträußen. Doch Emil war nicht dabei. „Wahrscheinlich ist er sehr gewachsen, nicht wahr?“ fragte Pony Hütchen und schob ihr kleines vernickel-­‐
tes Fahrrad hin und her. Die Großmutter wurde unruhig: „Ich möchte bloß wissen, was das heißen soll. Jetzt ist es schon 18 Uhr 20. Der Zug muß doch längst da sein.“ Sie warteten noch ein paar Minuten. Dann schickte die Großmutter das kleine Mädchen fort, sich zu er-­‐
kundigen. Pony Hütchen nahm natürlich ihr Rad mit. „Können Sie mir nicht erklären, wo der Zug aus Neustadt bleibt, Herr Inspektor?“ fragte sei den Beamten, der mit einer Zange an der Sperre stand und sah, daß jeder, der an ihm vorbeiging, eine Fahrkarte mitbrachte. „Neustadt? Neustadt?“ überlegte er, „ach so, 18 Uhr 17! Der Zug ist längst hier.“ „Ach, das ist aber schade. Wir warten nämlich dort drüben am Blumenstand auf meine Vetter Emil.“ Pony Hütchen ging zum Blumenstand zurück. „Dr Zug ist längst eingefahren, Großmutter.“ „Was mag da nur geschehen sein?“ überlegte die alte Dame. „Wenn er überhaupt nich abgefahren wäre, hätte seine Mutter doch telegraphiert. Ob er verkehrt ausgestiegen ist? Aber wir haben es doch ganz ge-­‐
nau beschrieben!“ „Ich werde daraus nicht gescheit“, behauptete Pony. „Sicher ist er verkehrt ausgestiegen. Jungens sind manchmal furchtbar dumm. Ich möchte wetten! Du wirst noch sehen, daß ich recht habe.“ Und weil ihnen nichts andres übrigblieb, warteten sie von neuem. Fünf Minuten. Nochmal fünf Minuten. „Das hat nun aber wirklich keinen Zweck“, sagte Pony zur Großmutter. „Da können wir ja hier stehen bleiben bis morgen früh. Ob es noch einen anderen Blumenstand gibt?“ „Du kannst sehen. Aber bleibe nicht so lange!“ Hütchen nahm wieder ihr Rad und inspizierte den Bahnhof. Es gab keinen zweiten Blumenstand. „Also,“ erzählte sie, „Blumenstände gibt’s keine sonst. Und der nächste Zug aus Neustadt kommt hier 20 Uhr 33 an. Das ist kurz nach halb Neun. Wir gehen jetrzt hübsch nach Hause. Und Punkt Acht fahre ich mit meinem Rad wieder hierher. Wenn er dann immer noch nicht da ist, kriegt er einen wütenden Brief von mir.“ Die Großmutter machte ein besorgtes Gesicht und schüttelte den Kopf. „Die Sache gefällt mir nicht. Die Sache gefällt mir nicht“, erklärte sie. Wenn sie aufgeregt war, sagte sie nämlich alles zweimal. Sie gingen langsam nach Hause. Als sie zu Hause—Schumannstraße 15—angekommen waren, gab es bei Ponys Eltern, Heimbold heißen sie, große Aufregung. Jeder wollte wissen, wo Emil war, und keiner wußte es. Der Vater riet, an Emils Mutter zu telegraphieren. 27 „Um Gotteswillen!“ rief seine Frau, Hütchens Mutter, „sie würde zu Tode erschrecken. Wir gehen gegen acht Uhr noch einmal auf den Bahnhof. Vielleicht kommt er mit dem nächsten Zug.“ „Hoffentlich“, jammerte die Großmutter, „aber ich kann mir nicht helfen: die Sache gefällt mir nicht, die Sache gefällt mir nicht!“ „Die Sache gefällt mir nicht“, sagte Hütchen und schüttelte bedenklich ihr kleines Haupt. Siebentes Kapitel: Der Junge mit der Hupe erscheint In der Trautenaustraße, Ecke Kaiserallee, verließ der Mann im steifen Hut die Straßenbahn. Emil sah’s, nahm Koffer und Blumenstrauß, sagte zu dem Herrn, der die Zeitung las: „Haben Sie nochmals besten Dank, mein Herr!“ und stieg vom Wagen. Der Dieb ging am Vorderwagen vorbei, überquerte die Gleise und steuerte nach der anderen Seite der Straße. Dann fuhr die Bahn weiter, gab den Blick frei, und Emil bemerkte, das der Mann zunächst stehen blieb und dann die Stufen zu einer Café-­‐Terrasse hinaufschritt. Jetzt heiß es wieder einmal vorsichtig sein. Emil orientierte sich flink, entdeckte an der Ecke einen Zei-­‐
tungskiosk und lief, so rasch er konnte, dahinter. Das Versteck war ausgezeichnet. Es lag zwischen dem Kiosk und einer Litfaßsäule. Der Junge stellte sein Gepäck hin, nahm die Mütze ab und wartete. Der Mann hatte sich auf die Terrasse gesetzt, rauchte eine Zigarette und schien sehr vergnügt. Emil fand es abscheulich, daß ein Dieb überhaupt vergnügt sein kann, und daß der Bestohlene betrübt sein muß, und wußte sich keinen Rat. Was hatte es denn im Grunde für einen Sinn, daß er sich hinter einem Zeitungskiosk verbarg, als wäre er selber der Dieb und nicht der andere? Was hatte es für Zweck, daß er wußte, der Mann säße im Café Josty an der Kaiserallee, tränke helles Bier und rauchte Zigaretten? Wenn der Kerl jetzt aufstand, konnte die Rennerei weitergehen. Blieb er aber, dann konnte Emil hinter dem Kiosk stehen, bis er einen langen grau-­‐
en Bart kriegte. Es fehlte wirklich nur noch, daß ein Schupo kam und sagte: ‚Mein Sohn, du machst dich verdächtig. Folge mir unauffällig. Sonst muß ich dir leider Handschellen anlegen.’ Plötzlich hupte es dicht hinter Emil! Er sprang erschrocken zur Seite, fuhr herum und sah einen Jungen stehen, der ihn auslachte. „Na Mensch, rege dich nicht auf“, sagte der Junge. „Wer hat denn eben hinter mir gehupt?“ fragte Emil. „Na Mensch, ich natürlich. Du bist wohl nicht aus Berlin, wie? Sonst wüßtest du längst, daß ich eine Hupe in der Hosentasche habe. Ich bin hier nämlich überall bekannt.“ „Ich bin aus Neustadt. Und komme grade vom Bahnhof.“ „So, aus Neustadt? Deswegen hast du so einen merkwürdigen Anzug an.“ „Nimm das zurück! Sonst haue ich dich, daß du wie tot hinfällst.“ „Na Mensch,“ sagte der andere gutmütig, „sei nicht böse. Was machst du denn hier?“ „Ich beobachte einen Dieb“, sagte Emil. „Was? Ich verstehe forwährend: Dieb“, meinte der andre Junge, „wen hat er denn bestohlen?“ „Mich!“ sagte Emil und war direkt stolz darauf. „In der Eisenbahn. Während ich schlief. Hundertvierzig Mark. Die sollte ich meiner Großmutter hier in Berlin geben. Dann ist er in ein andres Abteil gegangen und am Bahnhof Zoo ausgestiegen. Ich natürlich hinterher, kannst du dir denken. Dann auf die Straßen-­‐
bahn. Und jetzt sitzt er drüben im Café, mit seinem steifen Hut, und ist guter Laune.“ „Na, Mensch, das ist ja großartig!“ rief der Junge, „das ist ja wie im Kino! Und was willst du nun tun?“ „Keine Ahnung. Immer hinterher. Weiter weiß ich vorderhand nichts.“ „Sag’s doch dem Schupo dort. Der nimmt ihn gleich.“ „Ich mag nicht. Ich habe bei uns in Neustadt etwas angestellt. Da sind sie nun vielleicht böse auf mich. Und wenn ich . . .“ „Verstehe, Mensch!“ „Und am Bahnhof Friedrichstraße wartet meine Großmutter.“ 28 Der Junge mit der Hupe dachte eine Weile nach. Dann sagte er: „Also, ich finde die Sache mit dem Dieb sehr interessant. Und, Mensch, wenn du nichts dagegen hast, helfe ich dir.“ „Da wäre ich dir kolossal dankbar!“ „Sei still! Das ist doch klar, daß ich hier mitmache. Ich heiße Gustav.“ „Und ich Emil.“ Sie gaben sich die Hand und gefielen einander ausgezeichnet. „Nun aber los,“ sagte Gustav, „wenn wir hier nichts weiter machen als herumstehen, entflieht uns der Schuft. Hast du noch etwas Geld?“ „Keinen Pfennig.“ Gustav hupte leise, um sein Denken anzuregen. Es half nichts. „Wie wäre denn das,“ fragte Emil, „wenn du noch ein paar Freunde herholtest?“ „Mensch, die Idee ist hervorragend!“ rief Gustav begeistert, „das mahe ich! Ich brauche bloß durch die Höfe zu laufen und zu hupen, gleich sind sie alle da.“ „Tu das!“ riet Emil, „aber komm bald wieder. Sonst läuft der Kerl da drüben weg. Und da muß ich selbst-­‐
verständlich hinterher. Und wenn du wiederkommst, bin ich über alle Berge.“ „Klar, Mensch! Ich mache schnell! Verlaß dich drauf. Übrigens ißt der Halunke im Café Josty drüben Eier im Glas uns solche Sachen. Der bleibt noch eine Weile. Also, Wiedersehen, Emil! Mensch, ich freu mich doch sehr!“ Und damit lief er fort. Emil fühlte sich wunderbar erleichtert. Denn Pech bleibt nun zwar auf alle Fälle Pech. Aber ein paar Ka-­‐
meraden zu haben, die freiwillig helfen, das ist kein kleiner Trost. Er behielt den Dieb scharf im Auge, der sich’s—wahrscheinlich noch dazu von Mutters Erspartem—gut schmecken ließ, und hatte nur eine Angst: daß der Lump dort aufstehen und fortlaufen könne. Dann wa-­‐
ren Gustav und die Hupe und alles umsonst. Aber Herr Grundeis tat ihm den Gefallen und blieb. Wenn er freilich von der Verschwörung etwas geahnt hätte, die sich über ihm zusammenzog, dann hätte er sich mindestens ein Flugzeug bestellt. Denn nun wurde die Sache langsam gefährlich. . . Zehn Minuten später hörte Emil die Hupe wieder. Er drehte sich um und sah, wie mindestens zwei Dut-­‐
zend Jungen, Gustav allen voran, die Trautenaustraße heraufmarschiet kamen. „Das Ganze halt! Na, was sagst du nun?“ fragte Gustav und strahlte übers ganze Gesicht. „Ich bin gerührt", sagte Emil und stieß Gustav vor Wonne in die Seite. „Also, meine Herrschaften! Das hier ist Emil aus Neustadt. Das andre habe ich euch schon erzählt. Dort drüben sitzt der Halunke, der ihm das Geld gestohlen hat. Der rechts, mit dem schwarzen Hut.“ „Aber Gustav, den kriegen wir doch!“ sagte ein Junge mit einer Hornbrille. „Das ist der Professor“, erklärte Gustav. Und Emil gab ihm die Hand. Dann wurde ihm, der Reihe nach, die ganze Bande vorgestellt. „So,“ sagte der Professor, „nun wollen wir auf den Akzelerator treten. Los!. Erstens, Geld her!“ Jeder gab, was er besaß. Die Münzen fielen in Emils Mütze. Gogar ein Markstück war dabei. Es kam von einem sehr kleinen Jugen, der Dienstag hieß. Er sprang vor Freude von einem Bein aufs andre und durfte das Geld zählen. „Unser Kapital beträgt“, berichtete er den gespannten Zuhörern, „fünf Mark und siebzig Pfennige. Das bes-­‐
te wird sein, wir verteilen das Geld an drei Leute. Für den Fall, daß wir uns trennen müssen.“ „Sehr gut“, sagte der Professor. Er und Emil kriegten je zwei Mark. Gustav bekam eine mark und siebzig. „Habt vielen Dank,“ sagte Emil, „wenn wir ihn haben, gebe ich euch das Geld wieder. Was machen wir nun? Um liebsten würde ich erst meinen Koffer und die Blumen irgendwo unterbringen. Denn wenn die Rennerei losgeht, sind mir die Sachen in Wege.“ „Mensch, gib her“, meinte Gustav. „Das bring ich gleich ins Café Josty, gebe es an der Kasse ab und sehe bei der Gelegenheit den Herrn Dieb an.“ „Aber mache es geschickt“, riet der Professor. „Der Halunke braucht nicht zu merken, daß ihm Detektive 29 auf der Spur sind. Denn das würde die Verfolgung erschweren.“ „Hältst du mich für so dumm?“ knurrte Gustav. . . . „Ein feines Photographiergesicht hat der Herr,“ sagte er, als er zurück kam. „Und die Sachen sind gut auf-­‐
gehoben. Die können wir holen, wenn’s uns paßt.“ „Jetzt wäre es gut,“ schlug Emil vor, „wenn wir einen Kriegsrat abhielten. Aber nicht hier. Das fällt zu sehr auf.“ „Wir gehen nach dem Nikolsburger Platz“, riet der Professor. „Zwei von uns bleiben hier am Zeitungs-­‐
stand und passen auf, daß der Kerl nicht fortläuft. Fünf oder sechs stellen wir als Stafetten auf, die sofort die Nachricht weitergeben, wenn’s soweit ist. Dann kommen wir im Dauerlauf zurück.“ „Laß mich nur machen!“ rief Gustav und begann, den Nachrichtendienst zu organisieren. „Ich bleibe mit hier bei den Vorposten,“ sagte er zu Emil, „mach dir keine Sorgen! Wir lassen ihn nicht fort. Und beeilt euch ein bißchen. Es ist schon zehn Minuten nach Sieben. So, und nun schnell!“ Er stellte die Stafetten auf. Und die andern zogen, mit Emil und dem Professor an der Spitze, zum Nikols-­‐
burger Platz. Achtes Kapitel: Die Detektive versammeln sich Sie setzten sich auf die weißen Bänke, die in den Anlagen stehen und machten ernste Gesichter. Der Junge, der Professor genannt wurde, hatte anscheinend auf diesen Tag gewartet. Er griff sich, wie sein Vater, der Justizrat, an die Hornbrille und entwickelte sein Programm. „Es besteht die Möglichkeit,“ begann er, „daß wir uns nachher aus praktischen Gründen trennen müssen. Deshalb brauchen wir eine Telefonzentrale. Wer von euch hat Telefon?“ Zwölf Jungen meldeten sich. „Und wer von denen, die ein Telefon haben, hat die vernünftigsten Eltern?“ „Vermutlich ich!“ rief der kleine Dienstag. „Eure Telefonnummer?“ „Bavaria 0579.“ „Hier sind Bleistift und Papier. Krummbiegel, mach dir zwanzig Zettel zurecht und schreibe auf jeden von ihnen Dienstags Telefonnummer. Aber gut leserlich! Und dann gibst du jedem von uns einen Zettel. Die Telefonzentrale wird immer wissen, wo sich die Detektive aufhalten und was los ist. Und wer das erfah-­‐
ren will, er ruft ganz einfach den kleinen Dienstag an und erhält von hm genauen Bescheid.“ „Ich bin doch aber nicht zu Hause“, sagte der kleine Dienstag. „Doch, du bist zu Hause“, antwortete der Professor. „Sobald wir hier mit Ratschlagen fertig sind, gehst du heim und bedienst das Telefon.“ „Ach, ich möchte aber lieber dabei sein, wenn der Verbrecher gefangen wird. Kleine Jungen kann man dabei sehr gut verwenden.“ „Du gehst nach Hause und bleibst am Telefon. Es ist ein sehr verantwortungsvoller Posten.“ „Na schön, wenn ihr wollt.“ Krummbiegel verteilte die Telefonzettel. Und jeder Junge steckte sich den seinen vorsichtig in die Tasche. Ein paar besonders Gründliche lernten gleich die Nummer auswendig. „Wir werden auch eine Art Bereitschaftsdienst einrichten müssen“, meinte Emil. „Selbstverständlich. Wer bei der Jagd nicht unbedingt gebraucht wird, bleibt hier am Nikolsburger Platz. Ihr geht abwechselnd nach Hause und erzählt dort, ihr würdet heute vielleicht sehr spät heimkommen. Ein paar können ja auch sagen, sie bleiben zur Nacht bei einem Freund. Damit wir Ersatz haben und Ver-­‐
stärkung, falls die Jagd bis morgen dauert. Gustav, Krummbiegel, Arnold Mittenzwey, sein Bruder und ich rufen von unterwegs an, daß wir wegbleiben. . . . Ja, und Traugott geht mit zu Dienstags, als Verbindungs-­‐
man, und rennt zum Nikolsburger Platz, wenn wir jemand brauchen. Da haben wir also die Detektive, den Bereitschaftsdienst, die Telefonzentrale und den Verbindungsmann. Das sind vorläufig die notigsten Ab-­‐
teilungen.“ „Etwas zum Essen werden wir brauchen“, mahnte Emil. „Vielleicht rennen ein paar von euch nach Hause 30 und holen Stullen.“ „Wer wohnt am nächsten?“ fragte der Professor. „Los! Mittenzwey, Gerold, Friedrich der Erste, Brunot, Zerlett, geht und bringt ein paar Eßpakete mit!“ Die fünf Jungen rannten auf und davon. „Ihr Holzköpfe, ihr redet dauernd von Essen, Telefon und Auswärtsschlafen. Aber wie ihr den Kerl kriegt, das besprecht ihr nicht,“ grollte Traugott. „Habt ihr denn einen Apparat für Fingerabdrücke?“ fragte Petzold. „Vielleicht hat er sogar, wenn er klug war, Gummihandschuhe getragen. Und dann kann man ihm überhaupt nichts nachweisen.“ Petzold hatte schon zweiundzwanzig Kriminalfilme gesehen. Und das war ihm, wie man merkt, nicht gut bekommen. „Sei still!“ sagte Traugott empört. „Sie werden ganz einfach die Gelegenheit abpassen und ihm das Geld, das er gestohlen hat, wieder stehlen!“ „Quatsch!“ erklärte der Professor. „Wenn wir ihm das Geld klauen, sind wir ganz genau solche Diebe, wie er selber einer ist!“ „Werde bloß nicht drollig!“ rief Traugott. „Wenn mir jemand was stiehlt, und ich stehl’s ihm wieder, bin ich doch kein Dieb!“ „Doch, dann bist du ein Dieb“, behauptete der Professor. „Sei nicht so dumm“, murrte Traugott. „Der Professor hat sicher recht“, griff Emil ein. „Wenn ich jemandem heimlich etwas wegnehme, bin ich ein Dieb. Ob es ihm gehört, oder ob er es mir erst gestohlen hat, ist einerlei.“ „Genau so ist es“, sagte der Professor. „Tut mir den Gefallen und haltet hier keine klugen Reden, die nichts nützen. Alles ist eingerichtet. Wie wir den Halunken fangen, können wir noch nicht wissen. Das werden wir schon machen. Jedenfalls steht fest, daß er es freiwillig wieder hergeben muß. Stehlen wäre idio-­‐
tisch.“ „Das versteh ich nicht“, meinte der kleine Dienstag. „Was mir gehört, kann ich doch nicht stehlen! Was mir gehört, gehört eben mir, auch wenn’s in einer fremden Tasche steckt!“ „Das sind Unterschiede, die schwer zu verstehen sind“, dozierte der Professor, „moralisch bist du meinet-­‐
wegen im Recht. Aber das Gericht verurteilt dich trotzdem. Das verstehen sogar viele Erwachsene nicht. Aber es ist so.“ „Meinetwegen“, sagte Traugott und zuckte die Achseln. „Aber einen Revolver müßtet ihr haben!“ riet Petzold. „Einen Revolver braucht ihr“, riefen zwei, drei andere. „Nein“, sagte der Professor. „Der Dieb hat sicher einen.“ Traugott hätte am liebsten gewettet.\ „Gefahr ist eben dabei“, erklärte Emil, „und wer Angst hat, geht am besten schlafen.“ „Willst du etwa damit sagen, daß ich ein Feigling bin?“ erkundigte sich Traugott und trat wie ein Ring-­‐
kämpfer in die Mitte. „Ordnung!“ rief der Professor, „zankt euch morgen! Was sind das für Zustände? Ihr benehmt euch ja wahrhaftig wie . . . wie die Kinder!“ „Wir sind doch auch welche“, sagte der kleine Dienstag. Und da mußten alle lachen. „Eigentlich sollte ich meiner alten Großmutter ein paar Zeilen schreiben. Denn meine Verwandten haben keine Ahnung, wo ich bin. Womöglich rennen sie noch zur Polizei. Kann mir jemand einen Brief besor-­‐
gen? Schumannstraße 15 wohnen sie. Es wäre sehr freundlich.“ „Das mache ich“, meldete sich ein Junge, der Bleuer hieß. „Schreib nur schnell! Damit ich hinkomme, ehe das Haus geschlossen wird. Ich fahre mit der Untergrundbahn. Wer gibt mir Geld?“ Der Professor gab ihm Fahrgeld. Vierzig Pfennige, für Hin-­‐und Rückfahrt. Emil borgte sich Bleistift und Papier. Und schrieb: Liebe Großmutter! Sicher habt Ihr Sorge, wo ich bin. Ich bin in Berlin. Kann aber leider noch nicht kommen, weil ich vorher 31 etwas Wichtiges erledigen muß. Fragt nicht, was. Und ängstigt Euch nicht. Wenn alles geordnet ist, komm ich und freu mich schon jetzt. Der Junge mit dem Brief ist ein Freund und weiß, wo ich bin. Darf es aber nicht erzählen. Denn es ist ein Amtsgeheimnis. Viele Grüße auch an Onkel, Tante und Pony Hütchen Dein truer Enkel Emil. N.B. Mutter läßt vielmals grüßen. Blumen hab ich auch mit. Die kriegst Du, sobald ich kann. Emil schrieb dann noch die Adresse auf die Rückseite, kniff das Papier zusammen und sagte: „Daß du aber niemandem von meinen Leuten erzählst, wo ich bin, und daß das Geld fort ist. Sonst geht mir’s schlecht.“ „Schon gut, Emil!“ meinte Bleuer, „gib das Telegramm her! Wenn ich zurück bin, rufe ich den kleinen Dienstag an, um zu hören, was indessen passiert ist. Und melde mich beim Bereitschaftsdienst.“ Dann rannte er fort. Inzwischen waren die fünf Jungen wiedergekommen und brachten Stullenpakete. Gerold lieferte sogar eine ganze Wurst ab. Er hätte sie von seiner Mutter gekriegt, erzählte er. Na ja. Die Fünf hatten zu Hause angedeutet, daß sie noch ein paar Stunden wegblieben. Emil verteilte die Stullen, und jeder steckte sich eine als Reserve in die Tasche. Die Wurst erhielt Emil selber zur Verwaltung. Dann rannten fünf andere Jungen heim, um zu bitten, daß sie noch einmal, für längere Zeit, wegdürften. Zwei von ihnen kamen nicht wieder. Die Eltern hatten es warscheinlich verboten. Der Professor gab die Parole aus. Damit man immer gleich wüßte, wenn jemand käme order telefonierte, ob er dazugehöre. Die Parole hieß: „Emil!“ Das war leicht zu merken. Dann ging der kleine Dienstag mit Traugott, dem mürrischen Verbindungsmann, fort. Der Professor rief ihm noch nach, er möge doch für ihn zu Hause anrufen und dem Vater sagen, er, der Professor, habe etwas Dringendes vor. „Dann ist er beruhigt und hat nichts dagegen“, fügte er hinzu. „Donnerwetter nochmal“, sagte Emil, „gibt’s in Berlin famose Eltern!“ „Bilde dir ja nicht ein, daß sie alle so gemütlich sind“, meinte Krummbiegel und kratzte sich hinter den Ohren. „Doch, doch! Der Durchschnitt ist ganz brauchbar“, widersprach der Professor. „Es ist ja auch das Ge-­‐
scheiteste. Auf diese Weise werden sie nicht belogen. Ich habe meinem alten Herrn versprochen, nichts zu tun, was unanständig oder gefährlich ist. Und so lange ich das Versprechen halte, kann ich machen, was ich will. Ist ein glänzender Kerl, mein Vater.“ „Wirklich famos!“ wiederholte Emil. „Aber höre mal, vielleicht wird’s heute doch gefährlich?“ „Na, da ist’s eben zu Ende mit der Erlaubnis“, erklärte der Professor und zuckte die Achseln. „Er hat gesagt, ich solle mir immer ausmalen, ob ich genau so handeln würde, wenn er dabei wäre. Und das täte ich heute. So, nun wollen wir aber gehen!“ Er stellte sich vor die Jungen und rief: „Die Detektive erwarten, daß ihr funktioniert. Die Telefonzentrale ist eingerichtet. Mein Geld lasse ich euch da. Es sind noch eine Mark und sechzig Pfennige. Hier, Gerold, nimm und zähle nach! Proviant ist da. Geld haben wir. Die Telefonnummer weiß jeder. Noch eins, wer nach Hause muß, kann gehen! Aber mindestens fünf Leute müssen dableiben. Gerold, du haftest uns da-­‐
für. Zeigt, daß ihr richtige Jungens seid! Wir werden inzwischen unser möglichstes tun. Wenn wir Ersatz braucfhen, schickt der kleine Dienstag den Traugott zu euch. Hat jemand noch eine Frage? Ist alles klar? Parole Emil!“ „Parole Emil!“ riefen die Jungen, daß der Nikolsburger Platz zitterte und die Vorübergehenden große Au-­‐
gen machten. Emil war direkt glücklich, daß ihm das Geld gestohlen worden war. Neuntes Kapitel: Eine Autodroschke wird verfolgt Da kamen drei Eilboten aus der Trautenaustraße gestürmt und winkten. „Los!“ sagte der Professor. Und schon rannten er, Emil, die Brüder Mittenzwey und Krummbiegel nach der Kaiserallee, als sollten sie den Weltrekord über hundert Yards brechen. Die letzten zehn Meter bis zum Zeitungskiosk machten sie vorsichtig und im Schritt, weil Gustav abwinkte. „Zu spät?“ fragte Emil außer Atem. 32 „Bist du verrückt, Mensch?“ flüsterte Gustav. „Wenn ich etwas mache, mach ich’s richtig.“ Der Dieb stand, auf der anderen Seite der Straße, vor dem Café Josty und betrachtete sich die Gegend, als wäre er in der Schweiz. Dann kaufte er einem Zeitungsverkäufer ein Abendblatt ab und begann zu lesen. „Wenn er jetzt hier herüber kommt, auf uns los, wird’s schlimm“, meinte Krummbiegel. Sie standen hinter dem Kiosk und zitterrten vor Spannung. Der Dieb nahm darauf nicht die mindeste Rücksicht, sondern blätterte in seiner Zeitung. „Der schielt sicher über den Rand weg, ob ihm jemand auflauert“, sagte Mittenzwey der Ältere. „Hat er oft zu euch hergeblickt?“ fragte der Professor. „Nie, gar nie, Mensch! Gegessen hat er, als hätte er seit drei Tagen nichts bekommen.“ „Achtung!“ rief Emil. Der Mann im steifen Hut faltete die Zeitung wieder zusammen, musterte die Vorübergehenden, winkte dann, blitrzartig, einer leeren Autodroschke, die an ihm vorbeifuhr. Das Auto hielt, der Mann stieg ein, das Auto fuhr weiter. Doch da saßen die Jungen schon in einem andren Auto, und Gustav sagte zu dem Chauffeur: „Sehen Sie die Droschke, die jetzt um die Ecke biegt? Ja? Fahren Sie hinterher, Herr Chauffeur. Aber vorsichtig, daß er es nicht merkt.“ Der Wagen zog an, überquerte die Kaiserallee und fuhr, in gemessenem Abstand, hinter der anderen Droschke her. „Was ist denn los?“ fragte der Chauffeur. „Ach, Mensch, da hat einer etwas gestohlen, und dem gehen wir nach“, erklärte Gustav. „Aber das bleibt unter uns, verstanden?“ „Wie die Herren wünschen“, antwortete der Chauffeur und fragte noch: „Habt ihr den auch Geld?“ „Wofür halten Sie uns eigentlich?“ rief der Professor vorwurfsvoll. „Na, na“, knurrte der Mann. „IA 3733 ist seine Nummer“, sagte Emil. „Sehr wichtig“, meinte der Professor und notierte sich die Ziffer. „Nicht zu nahe an den Kerl!“ warnte Krummbiegel. „Schon gut“, murmelte der Chauffeur. So ging es die Motzstraße entlang, über den Viktoria Luise-­‐Platz und die Motzstraße weiter. Ein paar Leu-­‐
te blieben auf den Fußsteigen stehen, blickten dem Auto nach und lachten über die komische Herrenge-­‐
sellschaft. „Ducken!“ flüsterte Gustav. Die Jungen warfen sich zu Boden und lagen wie Kraut und Rüben durcheinan-­‐
der. „Was gibt’s denn?“ fragte der Professor. „An der Lutherstraße ist rotes Licht, Mensch! Wir müssen gleich halten, und der andre Wagen kommt auch nicht hinüber.“ Tatsächlich hielten beide Wagen und warteten hintereinander, bis das grüne Licht wieder aufleuchtete und die Durchfahrt freigab. Aber niemand konnte merken, daß die zweite Autodroschke besetzt war. Sie schien leer. Die Jungen duckten sich geradezu vorbildlich. Der Chauffeur drehte sich um, sah die Sache und mußte lachen. Während der Weiterfahrt krochen sie vorsichtig wieder in die Höhe. „Wenn die Fahrt nur nicht zu lange dauert“, sagte der Professor und musterte die Tarameteruhr. „Der Spaß kostet schon 80 Pfennnige.“ Die Fahrt war sogar sehr schnell zu Ende. Am Nollendorfplatz hielt die erste Autodroschke, direkt vor dem Hotel Kreid. Der zweite Wagen hatte rechtzeitig gebremst und wartete, außerhalb der Gefahrenzone, was nun werden würde. Der Mann im steifen Hut stieg aus, zahlte und verschwand im Hotel. „Gustav, hinterher!“ rief der Professor nervös, „wenn das Haus zwei Ausgänge hat, ist er fort.“ Gustav ver-­‐
schwand. 33 Dann stiegen die anderen Jungen aus. Emil zahlte. Es kostete eine Mark. Der Professor führte seine Leute rasch durch das eine Tor, das einem Lichtspieltheater vorbei in einen großen Hof führt, der sich hinter dem Kino und dem Theater am Nollendorfplatz ausbreitet. Dann schickte er Krummbiegel vor, er möge Gustav abfangen. „Wenn der Kerl in dem Hotel bleibt, haben wir Glück“, urteilte Emil. „Dieser Hof hier ist ja ein wundervol-­‐
les Standquartier.“ „Mit allen Bequemlichkeiten der Neuzeit“, stimmte der Professor bei, „Untergrundbahnhof gegenüber, Anlagen zum Verstecken, Lokale zum Telefonieren. Etwas Besseres gibt es gar nicht.“ „Hoffentlich benimmt sich Gustav klug“, sagte Emil. „Auf den kann man sich verlassen“, antwortete Mittenzwey der Ältere. „Der ist gar nicht so ungeschickt, wie er aussieht.“ „Wenn er nur bald käme“, meinte der Professor und setzte sich auf einen Stuhl, der verlassen auf dem Ho-­‐
fe stand. Und dann kam Gustav wieder. „Den haben wir“, sagte er und rieb sich die Hände. „Er ist also richtig im Hotel abgestiegen. Ich sah, wie ihn der Boy im Lift hinauffuhr. Einen zweiten Ausgang gibt’s auch nicht. Ich habe mir das Haus von allen Seiten aus betrachtet. Wenn er nicht übers Dach entflieht, ist er in der Falle.“ „Krummbiegel steht Wache?“ fragte der Professor. „Natürlich, Mensch!“ Dann erhielt Mittenzwey der Ältere zehn Pfennig, rannte in ein Café und telofonierte mit dem kleinen Dienstag. „Hallo, Dienstag?“ „Jawohl, am Apparat“, rief der kleine Dienstag am anderen Ende. „Parole Emil! Hier Mittenzwey senior. Der Mann im steifen Hut wohnt im Hotel Kreid, Nollendorfplatz. Das Standquartier befindet sich im Hof der West-­‐Lichtspiele, linkes Tor.“ Der kleine Dienstag notierte sich alles gründlich, wiederholte und fragte: „Braucht ihr Verstärkung, Mit-­‐
tendurch?“ „Nein!“ „War’s schwer bis jetzt?“ „Na, es ging. Der Kerl nahm sich ein Auto, wir ein andres, verstehst du, und immer hinterher, bis er hier ausstieg. Er hat ein Zimmer genommen und ist jetzt oben.“ „Welche Zimmernummer?“ „Das wissen wir noch nicht. Aber wir werden es bald wissen.“ „Ach, ich wäre so gern mit dabei! Weißt du, wenn wir nach den Ferien den ersten freien Aufsatz haben, schreib ich drüber.“ „Haben schon andre angerufen?“ „Nein, niemand. Es ist schrecklich langweilig.“ „Na, auf Wiedersehen, kleiner Dienstag.“ „Guten Erfolg, meine Herren. Was ich noch fragen wollte . . . Parole Emil!“ „Parole Emil!“ antwortete Mittenzwey und meldete sich dann wieder im Hofe der West-­‐Lichtspiele zur Stelle. Es war schon acht Uhr. Der Professor ging, die Wache zu kontrollieren. „Heute kriegen wir ihn sicher nicht mehr“, sagte Gustav ärgerlich. „Es ist trotzdem das beste für uns, wenn er gleich schlafen geht,“ sagte Emil, „denn wenn er jetzt noch stundenlang im Auto herumfährt und in Restaurants geht oder ins Theater oder alles zusammen—da können wir ja vorher ruhig ein paar Auslandskredite aufnehmen.“ Der Professor kam zurück, schickte die beiden Mittenzwey als Verbindungsleute auf den Nollendorfplatz und war sehr wortkarg. „Wir müssen etwas überlegen, wie wir den Kerl besser beobachten können, sagte er, „denkt bitte, scharf nach." 34 So saßen sie eineige Zeit und dachten tief. Da ertönte im Hof eine Fahrradklinge, und in den Hof rollte ein kleines vernickeltes Rad. Darauf saß ein kleines Mädchen, und hinten auf dem Rad stand Kamerad Bleuer. Und beide riefen: „Hurrah!“ Emil sprang auf, half beiden vom Rad, schüttelte dem kleinen Mädchen begeistert die Hand und sagte zu den andern: „Das ist meine Kusine Pony Hütchen.“ Der Professor bot Hütchen höflich seinen Stuhl an, und sie setzte sich. „Also Emil,“ sagte sie, „komm nach Berlin und dreht gleich einen Film! Wir wollten gerade noch einmal nach dem Bahnhof Friedrichstraße zum Neustädter Zug, da kam dein Freund Bleuer mit dem Brief. Netter Kerl, übrigens. Gratuliere.“ Bleuer wurde rot. „Na ja,“ erzählte Pony, „die Eltern und Großmutter sitzen nun zu Haus und wundern sich, was mit dir ei-­‐
gentlich los ist. Wir haben ihnen natürlich nichts erzählt. Ich habe bloß Bleuer noch hierher gebracht. Aber ich muß gleich wieder nach Haus.“ „Hier sind zwanzig Pfennig für die Rückfahrt“, sagte Bleuer stolz, „die haben wir gespart.“ Und der Profes-­‐
sor steckte das Geld ein. „Waren sie böse?“ fragte Emil. „Gar nicht,“ meinte Hütchen, „Großmutter ist durchs Zimmer gerannt und had dauernd gerufen: ‚Mein Enkel Emil ist erst auf einen Augenblick bei Hindenburg‛, bis sich die Eltern beruhigten. Aber morgen faßt ihr den Dieb hoffentlich? Wer ist denn euer Stuart Webbs?“ „Hier“, sagte Emil, „das ist der Professor.“ „Sehr angenehm, Herr Professor“, erklärte Hütchen, „endlich lerne ich einmal einen richtigen Detektiv kennen.“ Der Professor lachte verlegen und stotterte ein paar unverständliche Worte. „So, und hier“, sagte Pony, „ist mein Taschengeld, fünfundfünfzig Pfennige. Kauft euch ein paar Zagarren.“ Emil nahm das Geld. Sie saß wie eine Schönheitskönigin auf dem Stuhl, und die Jungen umstanden sie wie die Preisrichter. „Und nun muß ich gehen“, sagte Pony Hütchen, „morgen früh bin ich wieder da. Wo werdet ihr schlafen? Ach, ich bleibe ja zu gern hier und würde euch Kaffee kochen. Aber was soll man machen? Ein anständi-­‐
ges Mädchen gehört in das Haus. So! Auf Wiedersehen, meine Herren! Gute Nacht, Emil!“ Sie gab Emil einen Schlag auf die Schulter, sprang auf ihr Rad, klingelte lustig und radelte davon. Zehntes Kapitel: Ein Spion schleicht ins Hotel Die Zeit verging langsam. Emil besuchte die drei Vorposten und wollte einen von ihnen ablösen. Aber Krummbiegel und die beiden Mittenzwey sagten, sie blieben. Dann wagte sich Emil, sehr vorsichtig, bis ans Hotel Kreid, informierte sich und kehrte, ziemlich aufgeregt, in den Hof zurück. „Ich habe das Gefühl“, sagte er, „es müßte etwas geschehen. Wir können doch nicht die ganze nacht das Hotel ohne Spion lassen! Krummbiegel steht zwar an der Ecke Kleiststraße. Aber er braucht nur den Kopf wegzudrehen, und schon kann Grundeis fortgehen.“ „Du hast gut reden, Mensch“, sagte Gustav. „Wir können doch nicht einfach zu dem Portier laufen und sa-­‐
gen: ‚Hören Sie, wir sind so frei und setzen uns auf die Treppe.‘ Und du selber kannst schon gar nicht in das Haus. Wenn der Halunke aus seiner Tür guckt und dich erkennt, war alle Arbeit bis jetzt umsonst. „So meine ich’s auch nicht“, antwortete Emil. „Sondern?“ fragte der Professor. „In dem Hotel gibt’s doch einen Jungen, der den Fahrstuhl bedient. Wenn man jemand von uns zu ihm ginge und erzählte, was los ist, na, der kennt doch das Hotel genau und weiß bestimmt einen guten Rat.“ „Gut,“ sagte der Professor, „sehr gut, sogar! Er hatte eine komische Angewohnheit. Es war stets, als verteile er an die andern Zeugnisse. Deshalb hieß er ja auch der Profes-­‐
35 sor. „Dieser Emil! Noch so einen Tip, und wir machen dich zum Ehrendoktor. Schlau wie ein Berliner!“ rief Gustav. „Bilde dir bloß nicht ein, nur ihr seid schlau!“ Emil wurde empfindlich. Er fühlte sich in seinem Neustädter Patriotismus verwundet. „Wir müssen überhaupt noch miteinenander boxen.“ „Warum denn?“ fragte der Professor. „Ach, er hat meinen guten Anzug schwer beleidigt.“ „Der Boxkampf findet morgen statt“, entschied der Professor, „morgen oder überhaupt nicht.“ „Er ist gar nicht so dumm, der Anzug. Ich hab mich schon dran gewöhnt, Mensch“, erklärte Gustav gutmü-­‐
tig. „Boxen können wir aber trotzdem. Ich mache dich aber darauf aufmerksam, daß ich der Champion der ganzen Schule bin. Sieh dich vor!“ „Und ich bin in der Schule der Meister fast aller Gewichtsklassen“, behauptete Emil. „Schrecklich, diese rohe Kraft!“ sagte der Professor. „Eigentlich wollte ich selber hinüber ins Hotel. Aber euch beide kann man ja keine Minute allein lassen. Sonst fangt ihr euch sofort zu hauen an.“ „Da geh eben ich!“ schlug Gustav vor. „Richtig!“ sagte der Professor, „da gehst eben du! Und sprich mit dem Boy. Sei aber vorsichtig! Vielleicht läßt sich was machen. Stelle fest, in welchem Zimmer der Kerl wohnt. In einer Stunde kommst du wieder und erstattest Bericht!“ Gustav verschwand. Der Professor und Emil traten vors Tor und erzählten sich von ihren Lehrern. Dann erklärte der Professor dem andern die verschiedenen inländischen und ausländischen Automobile, die vorbeifuhren, bis Emil ein bißchen Bescheid wußte. Und dann aßen sie eine Stulle. Es war schon dunkel geworden. Überall flammten Lichtreklamen auf. Die Hochbahn donnerte vorüber. Die Untergrundbahn dröhnte. Straßenbahnen und Autobusse, Autos und Fahrräder machten ein tolles Konzert. In einem Café wurde Tanzmusik gespielt. Die Kinos, die am Nollendorfplatz liegen, begannen mit der letzten Vorstellung. Und viele Menschen drängten hinein. „So ein großer Baum, wie der da drüben am Bahnhof“, meinte Emil, „kommt einem hier ganz komich vor. Nicht? Er sieht aus, als hätte er sich verlaufen.“ Der Junge war bezaubert und gerührt. Und er vergaß bei-­‐
nahe, wozu er hier stand und daß ihm hundertvierzig Mark fehlten. „Berlin ist natürlich großartig. Man denkt, man sitzt im Kino. Aber ich weiß nicht recht, ob ich immer hier leben möchte. In Neustadt haben wir den Obermarkt und den Niedermarkt und den Bahnhofsplatz. Und die Spielplätze am Fluß und im Amselpark. Das ist alles. Trotzdem, Professor, ich glaube, mir genügt’s. Immer solch ein Lärm, immer hunderttausend Straßen und Plätze? Da würde ich mich dauernd verlaufen. Überlege dir einmal, wenn ich euch nicht hätte und stände ganze allein hier! Da kriege ich gleich Angst.“ „Man gewöhnt sich dran“, sagte der Professor. „Ich hielte es wahrscheinlich wieder nicht in Neustadt aus, mit drei Plätzen und dem Amselpark.“ „Man gewöhnt sich dran“, sagte Emil, „aber schön ist Berlin. Keine Frage, Professor. Wunderschön.“ „Ist deine Mutter eigentlich sehr streng? „ fragte der Berliner Junge. „Meine Mutter?“ fragte Emil, „aber gar nicht. Sie erlaubrt mir alles. Aber ich tu’s nicht. Verstehst du?“ „Nein“, erklärte der Professor offen, „das versteh ich nicht.“ „So? Also paß mal auf. Hat ihr viel Geld?“ „Das weiß ich nicht. Wir sprechen zu Hause wenig drüber.“ „Ich glaube, wenn man zu Hause wenig über Geld spricht, hat man viel davon.“ Der Professor dachte einen Moment nach und sagte: „Das ist schon möglich.“ „Siehst du. Wir sprechen oft drüber, meine Mutter und ich. Wir haben eben wenig. Und sie muß dauernd verdienen, und trotzdem reicht es nie. Aber wenn wir einen Klassenausflug machen, gibt mir meine Mut-­‐
ter genau so viel Geld, wie die anderen Jungen kriegen. Manchmal sogar noch mehr.“ „Wie kann sie das denn?“ 36 „Das weiß ich nicht. Aber sie kann’s. Und da bringe ich dann eben die Hälfte wieder zurück.“ „Will sie das?“ „Unsinn! Aber ich will’s.“ „Aha!“ sagte der Professor, „so ist das bei euch.“ „“Jawohl. So ist das. Und wenn sie mir erlaubt, mit dem Jungen aus dem ersten Stock bis neun Uhr abends fort zu gehen, bin ich gegen Sieben wieder zurück. Weil ich nicht will, daß sie allein in de Küche sitzt und Abendbrot ißt. Dabei verlangt sie unbedingt, daß ich bei den andern bleiben soll. Ich hab’s ja auch ver-­‐
sucht. Aber da macht mir das Vergnügen gar kein Vergnügen mehr. Und im Grunde freut sie siech ja doch, daß ich früh heimkomme.“ „Ach,“ sagte der Professor. „Das ist bei uns allerdings anders. Wenn ich wirklich zeitig nach Hause komme, kann ich wetten, sie sind im Theater oder eingeladen. Wir haben uns ja auch ganz gern. Das muß man schon sagen. Aber wir machen wenig Gebrauch davon.“ „Es ist eben das einzige, was wir uns leisten können! Deswegen bin ich noch lange kein Muttersöhnchen. Und wer das nicht glaubt, den werfe ich an die Wand. Es ist eigentlich ganz einfach to verstehen.“ „Ich versteh es schon.“ Die zwei Knaben standen eine Zeitlang unter dem Tor ohne zu sprechen. Es wurde Nacht. Sterne glitzer-­‐
ten. Und der Mond blickte mit einem Auge über die Hochbahn weg. Der Professor räusperte sich und fragte, ohne den andern anzusehen: „Da habt ihr euch wohl sehr lieb?“ „Kolossal“, antwortete Emil. Elftes Kapitel: Ein grüner Liftboy erscheint Gegen zehn Uhr erschien eine Truppe des Bereitschaftsdienstes im Kinohofe, brachte noch einmal Stullen und erbat weitere Befehle. Der Professor war wütend und erklärte, sie hätten hier gar nichts zu suchen, sondern am Nikolsburger Platz auf Traugott, den Verbindungsmann von der Telefonzentrale, zu warten. „Sei nicht so unangenehm!“ sagte Petzold. „Wir sind ganz einfach neugierig, wie es bei euch aussieht.“ „Und außerdem dachten wir schon, euch sei was zugestoßen, weil Traugott überhaupt nicht kam“, sagte Gerold entschuldigend. „Wieviele sind noch am Nikolsburger Platz?“ fragte Emil. „Vier. Oder drei“, berichtete Friedrich der Erste. „Es können auch nur zwei sein“, meinte Gerold. „Frage sie ja nicht weiter!“ rief der Professor wütend, „sonst sagen sie noch, es wäre überhaupt niemand mehr dort!“ „Und was wird nun aus uns?“ fragte Friedrich der Erste. „Das beste wird sein, ihr wartet, bis Gustav aus dem Hotel kommt und Bericht gibtr“, schlug Emil vor. „Gut“, sagte der Professor. „Ist das dort nicht der Hotelboy?“ „Ja, das ist er“, antwortete Emil. Unter dem Tor stand—in einer grünen Uniform und mit einer genau so grünen, schräg sitzenden Kappe auf dem Kopf—ein Junge. Er winkte den andern und kam langsam näher. „Eine schneidige Uniform hat er an. Donnerwetter!“ meinte Gerold neidisch. „Bringst du von unserm Spion Gustav Nachtricht?“ rief der Professor. Der Boy war schon ganz nahe, nickte und sagte: „Jawohl.“ „Also bitt schön, was gibts?“ fragte Emil gespannt. Da erklang plötzlich eine Hupe! Und der grüne Boy sprang wie vererückt hin und her und lachte. „Emil, Mensch!“ rief er, „bist du aber dumm!“ Es war nämlich gar nicht der Boy, sondern Gustrav selber. „Du grüner Junge!“ schimpfte Emil zum Spaß. Da lachten die andern auch, bis jemand in einem der Hof-­‐
häuser ein Fenster aufriß und „Ruhe!“ schrie. 37 „Großartig!“ sagte der Professor. „Aber leiser, meine Herren. Komm her, Gustav, setz dich und erzähle.“ „Mensch, das reinste Theater. Zum Totlachen. Also, hört zu! Ich schleiche ins Hotel, sehe den Boy da ste-­‐
hen und winkte. Er kommt zu mir, na, und ich erzähle ihm unsere ganze Geschichte. Von A bis Z, so unge-­‐
fähr. Von Emil. Und von uns. Und von dem Dieb. Und daß er in dem Hotel wohnte. Und daß wir aufpas-­‐
sen müßten, damit wir ihm morgen das Geld wieder abjagen.“ ‚Sehr niedlich‘, sagt er Boy, ‚ich hab noch eine Uniform. Die ziehst du an und machst den zweiten Boy.‘ ‚Aber was wird denn der Portier dazu sagen? Er schilt siche‘, geb ich zur Antwort. ‚Der schilt nicht. Der erlaubt’s’, sagte er, denn der Portier ist mein Vater.‘ Was er seinem Vater erzählt hat, weiß ich nicht. Jedenfalls kriegte ich die Uniform hier, darf in einer Hausdienerstube, die grade leer steht, übernachten und sogar noch jemanden mitbringen. Na, was sagt ihr nun?“ „In welchem Zimmer wohnt der Dieb?“ fragte der Propfessor. „Dir kann man aber auch mit gar nichts imponieren“, knurrte Gustav gekränkt. „Ich habe natürlich nichts zu arbeiten. Nur im Wege sein soll ich nicht. Der Boy vermutete, der Dieb wohne auf Zimmer 61. Ich also hinauf in den dritten Stock. Und nun Spion gespielt. Ganz unauffällig, versteht sich. Hinter dem Treppen-­‐
geländer gelauert und so. Nach einer halben Stunde etwas geht auch richtig die Tür von 61 auf. Und wer kommt heraus? Unser Herr Dieb! Ich hatte ihn mir am Nachmittag gründlich angesehen. Er war’s! Klei-­‐
ner schwarzer Schnurrbart, Ohren, durch die der Mond scheinen kann, und ein Gesicht, das ich nicht ge-­‐
schenkt haben möchte. Wie er wieder zurückkommt, da stehe ich stramm und frage: ‚Suchen der Herr was? Haben der Herr Gast einen Wunsch?‘ ‚Nein,’ sagte er, ‚ich brauche nichts. Oder doch! Warte mal! Melde dem Portier, er soll mich morgen früh Punkt acht Uhr wecken lassen. Zimmer 61. Vergiß es aber nicht‘ ‚Nein, darauf können sich der Herr verlassen,“ sage ich, ‚das vergesse ich nicht! Punkt Acht klingelt auf Zimmer 61 das Telefon!‘ Die wecken nämlich telefonisch. Er nickt friedlich und geht in das Zimmer. „Ausgezeichnet!“ Der Professor war aufs Höchste befriedigt und die andern erst recht. „Ab acht Uhr wird er vor dem Hotel feierlich erwartet. Dann geht die Jagd weiter. Und dann wird er gepackt.“ „Der ist so gut wie erledigt“, rief Gerold. „Nun, gute Nacht“, sagte Gustav. „Ich muß gehen. Ich mßte nur für Zimmer 12 einen Brief in den Briefkas-­‐
ten werfen. Fünfzig Pfennig Trinkgeld. Ein lohnender Beruf. Der Boy hat an manchem Tag zehn Mark Trinkgelder, erzählt er. Also, halb sieben Uhr steh ich auf und kümmere mich darum, daß unser Halunke pünktlich geweckt wird. Und dann finde ich mich hier wieder ein.“ „Lieber Gustav, ich bin dir dankbar“, meinte Emil, fast feierlich. „Nun kann nichts mehr geschehen. Mor-­‐
gen wird er gepackt. Und jetzt können alle ruhig schlafen gehen, was, Professor?“ „Jawohl. Alles geht heim und schläft sich aus. Und morgen früh, Punkt acht Uhr, find alle Anwesenden wieder hier. Wer noch etwas Geld bekommen kann, bringt es. Ich rufe jetzt noch den kleinen Dienstag an. Er soll die andern, die sich morgens melden, wieder als Bereitschaftsdienst versammeln. Vielleicht brau-­‐
chen wir sie. Man kann nicht wissen.“ „Ich gehe mit Gustav ins Hotel zum Schlafen“, sagte Emil. „Los, Mensch! Es wird dir sehr gefallen!“ „Ich telefoniere erst noch“, erklärte der Professor. „Dann geh ich auch nach Hause und schicke Zerlett heim. Der sitzt sonst bis morgen früh am Nikolsburger Platz und wartet auf Befehle. Ist alles klar?“ „Jawohl, Herr Polizeipräsident“, lachte Gustav. „Morgen früh Punkt Acht hier im Hof“, sagte Gerold. „Bißchen Geld mitbringen“, erinnerte Friedrich der Erste. Man verabschiedete sich. Alle schüttelten sich, wie kleine ernste Männer, die Hände. Die einen marschier-­‐
ten heim. Gustav und Emil liefen ins Hotel. Der Professor ging quer über den Nollendorfplatz, um von einem Café den kleinen Dienstag anzurufen. Und eine Stunde später schliefen sie alle. Die meisten in ihren Betten. Zwei in einer Gesindestube, im vierten Stock des Hotel Kreid. 38 Und einer neben dem Telefon, in Vaters Lehnstuhl. Das war der kleine Dienstag. Er verließ seinen Posten nicht. Traugott war nach Hause gegangen. Der kleine Dienstag aber wich nicht vom Apparat. Er saß in dem Lehnstuhl und schlief und träumte von vier Millonen Telefongesprächen. Um Mitternacht kamen seine Eltern aus dem Theater heim. Sie wunderten sich nicht wenig, als sie ihren Sohn im Lehnstuhl erblickten. Die Mutter nahm ihn und trug ihn in sein Bett. Er zuckte zusammen und murmelte noch im Schlaf: „Paro-­‐
le Emil!“ Zwölftes Kapitel: Herr Grundeis bekommt eine Ehrengarde Die Fenster des Zimmers 61 gingen auf den Nollendorferplatz. Und als Herr Grundeis, am nächsten Mor-­‐
gen, während er sich die Haare kämmte, hinuntersah, fiel ihm auf, daß sich zahllose Kinder herumtrieben. Mindestens zwei Dutzend Jungen spielten gegenüber, vor den Anlagen, Fußball. Eine andere Abteilung stand an der Kleiststraße. Am Untergrundbahnhofeingang standen Kinder. „Wahrscheinlich Ferien“, knurrte er und band sich den Schlips um. Inzwischen hielt der Professor im Kinohofe eine Versammlung und schimpfte: „Da zerbricht man sich Tag und Nacht den Schädel, wie man den Mann erwischen kann, und ihr mobilisiert unterdessen ganz Berlin! Brauchen wir vielleicht Zuschauer? Drehen wir etwa einen Film? Wenn der Kerl entflieht, seid ihr dran schuld ihr Holzköpfe!“ Die andern standen zwar geduldig im Kreise, schienen aber keineswegs an heftigen Gewissensbissen zu leiden, und Gerold meinte: „Reg dich nicht auf, Professor. Wir kriegen den Dieb.“ „Macht, daß ihr fortkommt! Und gebt Befehl, daß sich die Bande wenigstens nicht allzu auffällig benimmt, sondern das Hotel überhaupt nicht beachtet. Verstanden? Vorwärts marsch!“ Die Jungen zogen ab. Und nur die Detektive bleiben im Hofe zurück. „Ich habe mir von dem Portier zen Mark geborgt“, berichtete Emil. „Wenn der Mann ausreißt, haben wir also Geld genug, ihn zu verfolgen.“ „Schicke doch einfach die Kinder draußen nach Hause“, schlug Krummbeiegel vor. „Glaubst du denn im Ernst, daß sie gehen? Und wenn der Nollendorplatz zerspringt, die bleiben“, sagte der Professor. „Da hilft nur eins“, meinte Emil. „Wir müssen unsern Plan ändern. Wir können den Grundeis nicht mehr mit Spionen umzingeln, sondern wir müssen ihn richtig hetzen. Daß er’s merkt. Von allen Seiten und mit allen Kindern.“ „Das hab ich mir auch schon gedacht“, erklärte der Professor. „Wir ändern am besten unsere Taktik und treiben ihn in die Enge, bis er sich ergibt.“ „Wunderbar!“ schrie Gerold. „Es wird ihm lieber sein, das Geld herzugeben, als daß stundenlang hundert Kinder hinter ihm her laufen und schreien, bis die ganze Stadt zusammenläuft und die Polizei ihn festnimmt“, urteilte Emil. Die andern nickten klug. Da klingelte es im Torbogen! Und Hütchen radelte strahlend in den Hof. „Mor-­‐
gen, ihr Helden“, rief sie, sprang aus dem Sattel, begrüßte Vetter Emil, den Professor und die Übrigen und gab ihnen dann einen kleinen Korb. „Ich bring euch nämlich Kaffee mit“, rief sie, „und ein paar Brötchen!“ Die Jungen hatten zwar alle schon gefrühstückt. Auch Emil schon, im Hotel Kreid. Aber keiner wollte dem kleinen Mädchen die gute Laune verderben. Und so tranken sie Milchkaffee und aßen Brötchen, als hätten sie vier Wochen nichts gekriegt. „Nein, schmeckt das großartig!“ rief Krummbiegel. „Und wie knusprig die Brötchen sind“, brummte der Professor kauend. „Nicht wahr?“ fragte Pony. „Ja, ja, es ist eben doch etwas andres, wenn eine Frau im Hause ist!“ „Im Hofe“, berichtigte Gerold. „Wie steht’s in der Schumannstraße?“ fragte Emil. „Es geht ihnen gut, danke.“ 39 So plauderten sie und waren guter Laune. Die Jungen benahmen sich äußerst aufmerksam. Der Professor hielt Ponys Rad. Krummbiegel ging die Thermosflasche zu waschen. Gerold prüfte, ob noch Luft im Rad-­‐
reifen wäre. Und Hütchen hüpfte im Hof umher, sang ein Lied und erzählte alles Mögliche. „Halt!“ rief sie plötzlich und blieb auf einem Beine stehen. „Ich wollte doch noch etwas fragen! Was wol-­‐
len denn die furchtbar vielen Kinder auf dem Nollendorfplatz draußen? Das sieht ja aus wie eine Ferien-­‐
kolonie!“ „Das sind Neugierige, die von unserer Verbrecherjagd gehört haben. Und nun wolle sie dabei sein“, erklär-­‐
te der Professor. Da kam Gustav durchs Tor gerannt, hupte laut und brüllte: „Los! Er kommt!“ Alle wollten davonlaufen. „Achtung! Zuhören!“ schrie der Professor. „Wir werden ihn also einkreisen. Hinter ihm Kinder, vor ihm Kinder, links Kinder, rechts Kinder! Ist das klar? Weitere Befehle geben wir unterwegs. Marsch und raus!“ Sie liefen, rannten und stolperten durchs Tor. Hütchen blieb, etwas beleidigt, allein zurück. Dann setzte sie sich auf ihr kleines vernickeltes Rad, murmelte wie ihre eigne Großmutter: „Die Sache gefällt mir nicht. Die Sache gefällt mir nicht!“ und fuhr hinter den Jungen her. Der Mann im steifen Hut trat gerade in die Hoteltür, stieg langsam die Treppe herunter und ging nach rechts, der Kleiststraße zu. Der Professor, Emil und Gustav jagten ihre Eilboten zwischen den verschiede-­‐
nen Gruppen hin und her. Und drei Minuten später war Herr Grundeis umzingelt. Er sah sich, höchst verwundert, nach allen Seiten um. Die Jungen unterhielten sich, lachten, und hielten gleichen Schritt mit him. Manche starrten den Mann an, bis er verlegen wurde und wieder geradeaus guckte. Sssst! pfiff ein Ball dicht an seinem Kopfe vorbei. Er zuckte zusammen und beschleunigte seinen Gang. Doch nun liefen die Jungen ebenfalls rascher. Er wollte schnell in eine Seitenstraße abbiegen. Doch da kam auch schon ein Kindertrupp dahergestürmt. „Mensch, der hat ein Gesicht, als wollte er dauernd niesen“, rief Gustav. „Lauf ein bißchen vor mir“, riet Emil, „mich braucht er jetzt noch nicht zu erkennen. Das erlebt er noch früh gunug.“ Gustav machte breite Schultern und stieg vor Emil her wie ein Boxkämpfer, der vor Kraft nicht laufen kann. Hütchen fuhr neben dem Zuge und klingelte vergnügt. Der Mann im steifen Hut wurde sichtlich nervös. Er ahnte dunkel, was ihm bevorstünde, und lief mit Rie-­‐
senschritten. Aber es war umsonst. Er entging seinen Feinden nicht. Plötzlich blieb er wie angenagelt stehen, dreht sich um und lief die Straße, die er gekommen war, wieder zurück. Da machten auch sämtliche Kinder kehrt; und nun ging’s in umgekehrte Marschordnung weiter. Da lief ein Junge—es war Krummbiegel—dem Mann in die Quere, daß er stolperte. „Was fällt dir ein?“ schrie er. „Ich werde gleich einen Polizisten rufen!“ „Ach ja, bitte, tun Sie das!“ rief Krummbiegel. „Darauf warten wir schon lange. Na, so rufen Sie ihn doch!“ Herr Grundeis dachte nicht daran, zu rufen, im Gegenteil. Ihm wurde die Geschichte immer unheimlicher. Er bekam förmlich Angst und wußte nicht mehr, wohin. Schon sahen Leute aus allen Fenstern. Schon rannte die Ladenfräulein mit ihren Kunden vor die Geschäfte und fragten, was los wäre. Wenn jetzt ein Polizist kam, war’s aus. Da hatte der Dieb einen Einfall. Er erblickte eine Türe Sommerz-­‐und Privatbank. Er durchbrach die Kette der Kinder, eilte auf die Tür zu und verschwand. Der Professor sprang vor die Tür und brüllte: „Gustav und ich gehen hinterher! Emil bleibt vorläufig noch hier, bis es soweit ist! Wenn Gustav hupt, kann’s losgehen! Dann kommt Emil mit zehn Jungen hinein. Euch der inzwischen die Richtigen aus, Emil. Es wird eine schwierige Sache!“ Dann verschwanden auch Gustav und der Professor hinter der Tür. Emil hatte Herzklopfen. Jetzt mußte sich’s entscheiden! Er rief Krummbiegel, Gerold, Die Brüder Mitten-­‐
zwey und noch ein paar andre azu sich und ordnete an, daß die übrigen, der große Trupp, sich zerstreuten. Die Kinder gingen ein paar Schritte von dem Bankgebäude fort, aber nicht weit. Was nun geschah, konn-­‐
ten sie sich unter keinen Umständen eingehen lassen. 40 Dreizehntes Kapitel: Stecknadeln haben auch ihr Gutes Als Gustav und der Professor die Bank betraten, stand der Mann im steifen Hut bereits an einem Schalter, an dem ein Schild mit der Aufschrift „Ein-­‐und Auszahlungen“ hing, und wartete ungeduldig, daß er an die Reihe käme. Der Bankbeamte telefonierte. Der Professor stellte sich neben den Dieb und paßte auf. Gustav blieb hinter dem Mann stehen und hielt die Hand, zum Hupen fertig, in der Hosentasche. Dann kam der Kassierer an den Schalter und fragte den Professor, was er wolle. „Bitte sehr,“ sagte der, „der Herr war vor mir da.“ „Sie wünschen?“ fragte der Kassierer nun Herrn Grundeis. „Wollen Sie mir, bitte, einen Hundertmarkschein in zwei Fünfzigmarkscheine umtauschen und für verzig Mark Silber geben!“ sragte dieser, griff sich in die Tasche und legte einen Hundertmarkschein und zwei Zwanzigmarkscheine auf den Tisch. Der Kassierer nahm die drei Scheine und ging damit zum Geldschrank. „Einen Moment!“ rief da der Professor laut, „das Geld ist gestohlen!“ „Was?“ fragte der Bankbeamte erschrocken und drehte sich um; seine Kollegen, die in den anderen Abtei-­‐
lungen saßen, hörten auf zu arbeiten und fuhren in die Höhe. „Das Geld gehört gar nicht dem Herrn. Er hat es einem Freund von mir gestohlen und will es nur umtau-­‐
schen, damit man ihm nichts nachweisen kann“, erklärte der Professor. „Eine solche Frechheit ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen“, sagte Herr Grundeis, fuhr zum Kassierer gewandt, fort: „Entschuldigen Sie!“ und gab dem Professor eine schallende Ohrfeige. „Dadurch wird die Sache auch nicht anders“, meinte der Professor und gab Grundeis einen Stoß, daß der Mann sich am Tisch festhalten mußte. Und jetzt hupte Gustav dreimal entsetzlich laut. Die Bankbeamten sprangen auf und liefen neugerig nach dem Kassenschalter. Der Herr Kassenvorsteher stürzte zornig aus seinem Zimmer. Und—durch die Tür kamen zehn Jungen gerannt, Emil allen voran, und umringten den Mann mit dem stei-­‐
fen Hut. „Was ist denn mit den Jungen los?“ schrie der Vorsteher. „Die Jungen behaupten, ich hätte einem von ihnen das Geld gestohlen, das ich eben Ihrem Kassierer zum Wechseln einzahlte“, erzählte Herr Grundeis und zitterte vor Ärger. „So ist es auch!“ rief Emil und sprang an den Schalter. „Einen Hundertmarkschein und zwei Zwanzigmark-­‐
scheine hat er mir gestohlen. Gestern nachmittag. Im Zug, der von Neustadt nach Berlin fuhr! Während ich schlief.“ „Ja, kannst du das denn auch beweisen?“ fragte der Kassierer streng. „Ich bin seit einer Woche in Berlin und war gestern von früh bis abends in der Stadt“, sagte der Dieb unde lächelte höflich. „So ein Lügner!“ schrie Emil und weinte fast vor Wut. „Kannst du denn nachweisen, daß dieser Herr hier der Mann ist, mit dem du im Zuge saßest?“ fragte der Vorsteher. „Das kann er natürlich nicht“, meinte der Dieb nachlässig. „Denn wenn du allein mit ihm in Zug warst, hast du doch keinen einzigen Zeugen“, bemerkte einer der Angestellten. Und Emils Kameraden machten betrossene Gesichter. „Doch!“ rief Emil, „doch! Ich hab doch einen Zeugen! Er heißt Frau Jakob aus Groß-­‐Grünau. Sie saß erst mit uns im Abteil. Und stieg später aus. Und sie trug mir auf, Herrn Kurzhals in Neustadt herzlich von ihr zu grüßen!“ „Es scheint, Sie werden ein Alibi erbringen müssen“, sagte der Kassenvorsteher zu dem Dieb. „Können Sie das?“ „Selbstverständlich“, erklärte der. „Ich wohne drüben im Hotel Kreid . . .“ 41 „Aber erst seit gestern abend“, rief Gustav. „Ich hab mich dort als Liftboy eingeschlichen und weiß Be-­‐
scheid!“ Die Bankbeamten lächelten ein wenig und gewannen an den Jungen Interesse. „Wir werden das Geld am besten vorläufig hier behalten, Herr . . .“ sagte der Vorsteher und riß sich von einem Block einen Zettel ab, um Namen und Adresse zu notieren. „Grundeis heißt er!“ rief Emil. Der Mann im steifen Hut lachte laut und sagte: „Da sehen Sie, daß ist sich um eine Verwechslung handeln muß. Ich heiße Müller.“ „O, wie gemein er lügt! Mir hat er im Zug erzählt, daß Grundeis heißt“, schrie Emil wütend. „Haben Sie Ausweispapiere?“ fragte der Kassierer. „Leider nicht bei mir“, sagte der Dieb. „Aber wenn Sie einen Augenblick warten wollen, so hole ich sie aus dem Hotel herüber.“ „Der Kerl lügt fortwährend! Und es ist mein Geld. Und ich muß es wieder haben“, rief Emil. „Ja, sogar wenn’s wahr wäre, mein Junge“, erklärte der Kassierer, „so einfach ist das nicht! Wie kannst du denn beweisen, daß es dein Geld ist? Steht vielleicht dein Name drauf? Oder hast du dir etwa die Num-­‐
mern gemerkt?“ „Natürlich nicht“, sagte Emil. „Denkt man denn, daß man bestohlen wird? Aber es ist trotzdem mein Geld, hören Sie? Und meine Mutter hat es mir für die Großmutter, die hier in der Schumannstraße 15 wohnt, mitgegeben.“ „War ein einem der Scheine eine Ecke abgerissen oder war sonst etwas nicht in Ordnung?“ „Nein, ich weiß nicht.“ „Also, meine Herren, ich erkläre Ihnen, auf Ehrenwort: das Geld gehört wirklich mir. Ich werde doch nicht kleine Kinder ausrauben!“ behauptete der Dieb. „Halt!“ schrie Emil plötzlich und sprang in die Luft, so leicht war ihm mit einem Male geworden. „Halt! Ich habe mir im Zug das Geld mit einer Stecknadel in die Jacke gesteckt. Und deshalb müssen Nadelstiche in den drei Scheinen zu sehen sein!“ Der Kassierer hielt das Geld gegen das Licht. Den anderen stockte der Atem. Der Dieb trat einen Schritt zurück. Der Bankbeamte trommelte nervös auf dem Tisch herum. „Der Junge hat recht“, schrie der Kassierer, blaß vor Erregung. „In den Scheinen sind tatsächlich Nadelsti-­‐
che!“ „Und hier ist auch die Nadel dazu“, sagte Emil und legte die Stecknadel stolz auf den Tisch. „Gestochen hab ich mich auch.“ Da drehte sich der Dieb blitzschnell um, stieß die Jungen links und rechts zur Seite, daß sie hinfielen, rann-­‐
te durch den Raum, riß die Tür auf und war weg. „Ihm nach!“ schrie der Bankvorsteher. Alles lief nach der Tür. Als man auf die Straße kam, war der Dieb schon von mindestens zwanzig Jungen umklammert. Sie hielten ihn an den Beinen. Sie hingen an seinen Armen. Sie zerrten an seiner Jacke. Die Jungen ließen nicht los. Und dann kam auch schon ein Schupo im Dauerlauf daher, den Hütchen mit ihrem kleinen Rade geholt hatte. Und der Bankvorsteher forderte ihn ernst auf, den Mann, der sowohl Grundeis wie auch Müller hieße, festzunehmen. Denn er sei wahrscheinlich ein Eisenbahndieb. Der Kassierer nahm sich Urlaub, holte das Geld und die Stecknadel und ging mit. Na, es war ein merkwür-­‐
diger Zug! Der Schutzmann, der Bankbeamte, der Dieb in der Mitte, und hinterher neunzig bis hundert Kinder! So zogen sie zur Wache. Pony Hütchen fuhr auf ihrem kleinen vernickelten Fahrrade nebenher, nickte dem glücklichen Vetter Emil zu und rief: „Emil, mein Junge! Ich fahre rasch nach Hause und erzähle dort die ganze Geschichte.“ Der Junge nickte zurück und sagte: „Zum Mittagessen bin ich zu Hause! Grüße schön!“ Pony Hütchen rief noch: „Wißt ihr, wie ihr auseht? Wie ein großer Schulausflug!“ Dann fuhr sie, heftig 42 klingelnd, um die Ecke. Vierzehntes Kapitel: Emil besucht das Polizeipräsidium Der Zug marschierte zur nächsten Polizeiwache. Der Schupo meldete einem Wachtmeister, was gesche-­‐
hen sei. Emil ergänzte den Bericht. Dann mußte er sagen, wann und wo er geboren wurde, wie er heiße und wo er wohne. Und der Wachtmeister schrieb alles auf. Mit Tinte. „Und wie heißen Sie?“ fragte er den Dieb. „Herbert Kießling“, sagte der Kerl. Da mußten die Jungen—Emil, Gustav und der Professor—laut lachen. Und der Bankbeamte, der dem Wachtmeister die hundertvierzig Mark übergeben hatte, schloß sich ihnen an. „Mensch, so ein Lügner!“ rief Gustav. „Erst heiß er Grundeis. Dann heiß er Müller. Jetzt heißt er Kießling! Nun bin ich gespannt, wie er in Wirklichkeit heißt!“ „Ruhe!“ knurrtre der Wachtmeister. „Das kriegen wir auch noch heraus.“ Herr Grundeis-­‐Müller-­‐Kießling nannte daraufhin seine augenblickliche Adresse, das Hotel Kreid. Dann den Geburtstag und seine Heimat. Ausweispapiere habe er keine. „Und wo waren Sie bis gestern?“ fragte der Wachtmeister. „In Groß-­‐Grünau“, erklärte der Dieb. „Das ist bestimmt schon wieder gelogen“, rief der Professor. „Ruhe!“ knurrte der Wachtmeister. „Das kriegen wir auch noch heraus.“ Der Bankbeamte erkundigte sich, ob er gehen dürfe. Dann wurden noch seine Personalien notiert. Er klopfte Emil freundlich auf die Schulter und verschwand. „Haben Sie gestern Nachmittag dem Oberrrealschüler Tischbein aus Neustadt im Berliner Zug hundert-­‐
vierzaig Mark gestohlen, Kießlijng?“ fragte der Wachtmeister. „Jawohl“, sagte der Dieb düster. „Ich weiß auch nicht, das kam ganz plötzlich. Der Junge lag in der Ecke und schlief. Und da fiel ihm der Umschlag heraus. Und da hob ich es auf und wollte nur nachsehen, was drin wäre. Und weil ich grade kein Geld hatte—“ „So ein Schwindler!“ rief Emil. „Ich hatte das Geld in der Jackentasche festgesteckt. Es konnte gar nicht herausfallen!“ „Und so nötig hat er’s bestimmt nicht gebraucht. Sonst hätte er Emils Geld nicht noch vollzählig in der Tasche gehabt. Er hat doch unterdessen Auto und Eier im Glas und Bier bezahlen müssen“, bemerkte der Professor. „Ruhe!“ knurrte der Wachtmeister. „Das kriegen wir auch noch heraus.“ Und er notierte alles, was erzählt wurde. „Könnten Sie mich vielleicht auf freien Fuß stezen, Herr Wachtmeister?“ fragte der Deib und schielte vor lauter Höflichkeit. „Ich hab ja den Diebstahl zugegeben. Und wo ich wohne, wissen Sie auch. Ich habe geschäftlich in Berlin zu tun und möchte ein paar Gänge erledigen.“ „Da muß ich lachen!“ sagte der Wachtmeister ernst und rief das Polizeipräsidium an: es solle einen Wagen schicken; in seinem Revier sei ein Eisenbahndieb gefaßt worden. „Wann bekomme ich denn mein Geld?“ fragte Emil besorgt. „Im Polizeipräsidium“, sagte der Wachtmeister. „Ihr fahrt jetzt gleich hinüber. Und dort wird sich alles finden.“ „Emil, Mensch!“ flüsterte Gustav, „nun mußt du in der Grünen Minna zum Alexanderplatz.“ „Unsinn!“ sagte der Wachtmeister. „Hast du Geld, Tischbein?“ „Jawohl!“ erklärte Emil. „Die Jungen haben gestern gesammelt. Und der Portier aus dem Hotel Kreid hat mir zehn Mark geborgt.“ „Die richtigen Detektive!“ knurrte der Wachtmeister. Doch das Knurren klang sehr gutmütig. „Also Tisch-­‐
bein, du fährst mit der Untergrundbahn zum Alexanderplatz und meldest dich bei Wachtmeister Lurje. Das Weitere wirst du denn schon sehen. Auch dein Geld kriegst du dort wieder.“ „Darf ich erst dem Portier die zehn Mark zurückbringen?“ erkundigte sich Emil. 43 „Natürlich.“ Wenige Minuten später kam das Kriminalauto. Und Herr Grundeis-­‐Müller-­‐Kießling mußte einsteigen. Der Wacahtmeister gab einem Schupo, der im Wagen saß, den schriftlichen Brericht und die hundertvierzig Mark. Die Stecknadel auch. Und dann fuhr die Grüne Minna ab. Die Kinder, die auf der Straße standen, schrien hinter dem Dieb her. Aber der rührte sich nicht. Wahrscheinlich war er zu stolz, weil er in einem Privatauto fahren durfte. Emil gab dem Wachtmeister die Hand und bedankte sich. Dann teilte der Profesor den Kindern, die vor der Wache gewartet hatten, mit, das Geld erhalte Emil am Alexanderplatz, und die Jagd wäre erledigt. Da zogen die Kinder wieder heim. Nur die engeren Bekannten brachten Emil zum Hotel und zum Bahnhof Nollendorfplatz. Und er bat sie, nachmittags den kleinen Dienstag anzurufen. Der würde dann wissen, wie alles verlaufen wäre. Und er hoffe sehr, sie noch einmal zu sehen, ehe er nach Neustadt zurückführe. Und er Danke ihnen schon jetzt von ganzem Herzen für ihre Hilfe. Und das Geld bekämen sie auch wieder. Und dann fuhren die Drei zum Alexanderplatz ins Polizeipräsidium, mußten durch viele Korridore laufen und an unzähligen Zimmern vorbei. Und schließlich standen sie den Wachtmeister Lurje. Der frühstückte gerade. Emil meldete sich. „Aha!“ sagte Herr Lurje und kaute. „Emil Stuhlbein. Jugendlicher Detektiv. Telefonisch schon gemeldet. Der Kriminalkommissar wartet. Will sich mit dir unterhalten. Komm mal mit!“ „Wir warten hier auf dich“, meinte der Professor. Und Gustav rief Emil nachy: „Mach schnell, Mensch! Wenn ich jemand kauen sehe, kriege ich immer gleich Hunger!“ Herr Lurje ging durch mehrere Gänge, links, rechts, wieder links. Dann klopfte er an eine Tür. Eine Stim-­‐
me rief: „Herein!“ Lurje öffnete die Tür ein wenig und sagte kauend: „Der kleine Detektiv ist da, Herr Kommissar. Emil Fischbein, Sie wissen schon.“ „Tischbein heiß ich“, erklärte Emil nachdrücklich. „Auch ein ganz hübscher Name“, sagte Herr Lurje und gab Emil einen freundlichen Stoß. Der Kriminalkommissar war ein netter Herr. Emil mußte sich in einen bequemen Stuhl setzen und die Diebsgeschichte von Anfang an erzählen. Zum Schluß sagte der Kommissar feierlich: „So, und nun be-­‐
kommst du auch dein Geld wieder“ „Gott sei Dank!“ Emil atmete befreit auf und steckte das Geld ein. Und zwar besonders vorsichtig. „Laß dir’s aber nicht wieder stehlen!“ „Nein! Ausgeschlossen! Ich bring’s gleich zur Großmutter!“ „Richtig! Bald hätte ich’s vergessen. Du mußt mir deine Berliner Adresse geben. Bleibst du noch ein paar Tage hier?“ „Ich möchte schon“, sagte Emil. „Ich wohne Schumannstraße 15. Bei Heimbold. So heißt mein Onkel. Die Tante übrigens auch.“ „Wunderbar habt ihr das gemacht, ihr Jungen“, meint der Kommissar und steckte sich eine dicke Zigarre an „Die Kerls haben glänzend funktioniert, wirklich wahr“ rief Emil begeistert. „Dieser Gustav mit seiner Hupe, und der Professor, und der kleine Dienstag, und Krummbiegel und die Gebrüder Mittenzwey, über-­‐
haupt alle. Es war direkt ein Vergnügen, mit ihnen zu arbeiten. Vor allem der Professor, das ist ein Prachtkerl!“ „Na ja, du bist auch nicht grade dumm!“ meinte der Herr. Dann läutete das Telefon. „Einen Augenblick, bitte,“ sagte der nette Kommissar. „Jawohl . . . interessante Sache für Sie . . . kommen Sie gleich in mein Zimmer . . .“ sprach er in den Apparat. Dann hängte er ab und sagte: „Jetzt werden gleich ein paar Herren von der Zeitung erscheinen und dich interviewen.“ „Was ist denn das?“ fragte Emil. „Interviewen heißt ausfragen.“ „Nicht möglich“ rief Emil. „Da komme ich sogar noch in die Zeitung?“ „Wahrscheinlich“, sagte der Kommissar. „Wenn ein Oberrealschüler einen Fieb fängt, wird er eben be-­‐
44 rühmt.“ Dann klopfte es. Und vier Herren traten ins Zimmer. Der Kommissar gab ihnen die Hand und erzählte kurz Emils Erlebnisse. Die vier Herren schrieben fleißig nach. „Wunderbar!“ sagte zum Schluß einer der Reporter. „Der Knabe vom Lande als Detektiv.“ „Vielleicht nehmen Sie ihn für den Außendienst?“ riet ein anderer und lachte. „Warum bist du denn nicht sofort zu einem Schupo gegangen und hast ihm alles gesagt?“ fragte ein Dritter. Emil bekam Angst. Er dachte an Wachtmeister Jeschke in Neustadt. „Na?“ ermunterte der Kommissar. Emil zuckte mit den Achseln und sagte: „Also schön! Weil ich in Neustadt dem Denkmal von Großherzog Karl eine rote Nase und einen Schnurrbart angemalt habe. Bitte, verhaften Sie mich, Herr Kommissar!“ Da lachten die fünf Männer, anstatt entsezte Gesichter zu machen. Und der Kommissar rief: „Aber Emil, wir werden doch nicht einen unsrer besten Detektive ins Gefängnis bringen!“ „Nein? Wirklich nicht? Na, da bin ich aber froh“, sagte der Junge erleichtert. Dann ging er auf einen der Reporter zu und fragte: „Kenne Sie mich denn nicht mehr?“ „Nein“, sagte der Herr. „Sie haben mir doch gestern auf der Linie 177 die Straßenbahn bezahlt, weil ich kein Geld hatte.“ „Richtig!“ rief der Herr. „Jetzt erinnere ich mich. Du wolltest noch meine Adresse wissen, um mir das Geld wiederzubringen.“ „Wollen Sie es jetzt haben?“ fragte Emil und suchte zehn Pfennig aus der Hosentasche heraus. „Aber Unsinn“, meinte der Herr. „Du stelltest dich doch sogar vor.“ „Freilich“, erklärte der Junge. „Das tue ich oft. Emil Tischbein ist mein Name.“ „Ich heiße Kästner“, sagte der Journalist, und sie gaben sich die Hand. „Großartig!“ rief der Kommissar, „alte Bekannte!“ „Hör mal, Emil,“ sagte Herr Kästner, „kommst du ein bißchen zu mir auf die Redaktion? Vorher essen wir irgendwo Kuchen mit Schlagsahne.“ „Darf ich Sie einladen?“ fragte Emil. „So ein ehrgeiziger Bengel!“ Die Herren lachten vor Vergnügen. „Nein, bezahlen mußt du mich lassen“, sagte Herr Kästner. „Sehr gern“, meinte Emil. „Aber der Professor und Gustav warten draußen auf mich.“ „Die nehmen wir selbverständlich mit“, erklärte Herr Kästner. Die andern Journalisten hatten noch allerlei zu fragen. Emil gab ihnen genaue Auskunft. Und sie machten sich wieder Notizen. „Ist der Dieb eigentlich ein Neuling?“ fragte einer von ihnen. „Ich glaube es nicht“, antwortete der Kommissar. „Vielleicht erleben wir sogar noch eine große Überra-­‐
schung. Rufen Sie mich auf alle Fälle in einer Stunde noch einmal an, meine Herren.“ Dann verabschiedet man sich. Und Emil ging mit Herrn Kästner zu Wachtmeister Lurje zurück. Der kaute noch immer und sagte: „Aha, der kleine Überbein!“ „Tischbein“, sagte Emil. Dann setzte Herr Kästner Emil, Gustav und den Professor in ein Auto und fuhr mit ihnen in eine Kondito-­‐
rei. Unterwegs hupte Gustav. Und sie freuten sich, als Herr Kästner erschrak. In der Konditorei waren die Jungen sehr fidel. Sie aßen Apfelkuchen mit viel Schlagsahne und erzählten, was ihnen gerade einfiel: von dem Kriegsrat am Nikolsburger Platz, von der Autojagd, von der Nacht im Hotel, von Gustav als Liftboy, von dem Skandal in der Bank. Und Herr Kästner sagte zum Schluß: „Ihr seid wirklich drei Prachtkerle.“ Und da wurden sie sehr stolz auf sich selber und aßen noch ein Stück Kuchen. Nachher stiegen Gustav und der Professor auf einen Autobus. Emil versprach, am Nachmittag den kleinen Dienstag anzurufen, und fuhr mit Herrn Kästner in die Redaktion. Das Zeitungsgebäude war riesengroß. Fast so groß wie das Polizeipräsidium. 45 Sie gingen in ein Zimmer, in dem ein hübsches, blondes Fräulein saß. Und Herr Kästner lief im Zimmer auf und ab und diktierte das, was Emil erzählt hatte, dem Fräulein in die Schreibmaschine. Manchmal blieb er stehen, fragte Emil: „Stimmt’s?“ Und wenn Emil genickt hatte, diktierte Herr Kästner weiter. Dann rief dieser noch einmal den Kriminalkommissar an. „Was sagen Sie?“ rief Herr Kästner. „Na, das ist großartig! . . . Ich soll’s ihm noch nicht erzählen? . . . Sooo, auch noch? . . . Das freut mich ungemein . . . Haben sie vielen Dank! . . . Das wird eine glänzende Sensati-­‐
on . . .“ Er hängte ab, betrachtete den Jungen, als ob er ihn noch gar nicht gesehen hätte, und sagte: „Emil, komm mal rasch mit! Wir müssen dich photographieren lassen!“ „Nanu“, meinte Emil erstaunt. Aber er ließ sich alles gefallen, fuhr mit Herrn Kästner drei Stockwerke hö-­‐
her, in einen hellen Saal mit vielen Fenstern. Dort kämmte er sich erst die Haare, und dann wurde er pho-­‐
tographiert. Dann ging Herr Kästner mit ihm in die Setzerei—das war ein Geklapper, wie von taufend Schreibmaschi-­‐
nen!—gab einem Mann die Seiten, die das hübsche, blonde Fräulein getippt hatte, und sagte, er käme so-­‐
fort wieder herauf, denn es wäre etwas sehr Wichtiges, und er müsse nur erst den Jungen zu seiner Groß-­‐
mutter schicken. Dann fuhren sie mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoß und traten vor das Haus. Herr Kästner winkte ein Auto heran, setzte Emil hinein, gab dem Chauffeur Geld, obwohl der Junge es nicht erlauben wollte, und sagte: „Fahren Sie meinen kleinen Freund in die Schumannstraße, Nummer 15.“ Sie schüttelten sich herzlich die Hände. Und Herr Kästner sagte: „Grüße deine Mutter, wenn du nach Hau-­‐
se kommst.“ „Und noch eins“, rief Herr Kästner, als das Auto schon fuhr, „lies heute Nachmittag die Zeitung! Du wirst dich wundern, mein Junge!“ Emil drehte sich um und winkte. Und Herr Kästner winket auch. Dann fuhr das Auto um eine Ecke. Fünfzehntes Kapitel: Der Kriminalkommissar läßt grüßen Das Automobil war schon Unter den Linden. Da klopfte Emil dreimal an die Schiebe. Der Wagen hielt. Und der Junge fragte: „Wir sind wohl schon bald da, Herr Chauffeur?“ „Ja, gleich“, sagte der Mann. „Es tut mir leid, daß ich Ihnen Mühe mache“, meinte Emil. „Aber ich muß vorher erst noch nach der Kai-­‐
serallee. Ins Café Josty. Dort liegt nämlich ein Blumenstrauß für meine Großmutter. Der Koffer auch. Würden Sie so freundlich sein?“ „Was heißt da freundlich? Hast du denn Geld, wenn das, was ich schon habe, nicht reicht?“ „Ich habe Geld, Herr Chauffeur. Und ich muß die Blumen haben.“ „Na, schön“, sagte der Mann, bog links ab, fuhr durchs Brandenburger Tor, den grünen, schattigen Tiergar-­‐
ten entlang, nach dem Nollendorfplatz. Emil fand, der sähe jetzt, weil alles gut war, viel harmloser und gemütlicher aus. Aber er griff sich doch vorsichtshalber in die Brusttasche. Das Geld war noch da. Dann fuhren sie die Motzstraße hinauf, bis zum anderen Ende, bogen rechts ein und hielten vor dem Café Josty. Emil stieg aus, ging zur Kasse, bat das Fräulein, sie möge ihm, bitte, Koffer und Bluimen geben, erhielt die Sachen, bedankte sich, stieg wieder ins Auto und sagte: „So, Herr Chauffer, und nun zur Großmutter!“ Sie kehrten um, fuhren den weiten Weg zurück, über die Spree, durch ganz alte Straßen mit grauen Häu-­‐
sern. Da bremste der Chauffeur. Das Auto hielt. Es war Schumannstraße 15. „Na, da sind wir ja“, sagte Emil und stieg aus. „Bekommen Sie noch Geld von mir?“ „Nein. Sondern du bekommst noch dreißig Pfennige heraus.“ 46 Nun stieg Emil in den dritten Stock und klingelte bei Heimbolds. Es entstand großes Geschrei hinter der Tür. Dann wurde geöffnet. Und die Großmutter stand da, packte Emil und gab ihm gleichzeitig einen Kuß auf die linke Backe und einen Klaps auf die rechte. „Schöne Sachen hört man ja von dir“, sagte Tante Martha freundlich und gab him die Hand. Und Pony Hüt-­‐
chen hielt ihm den Ellbogen hin, trug eine Schürze von ihre Mutter und quiekte: „Vorsicht! Ich habe nasse Hände. Ich wasche nämlich Geschirr. Wir armen Frauen!“ Nun gingen sie alle in die Stube. Emil mußte sich aufs Sofa setzen. Und die Großmutter und Tante Martha betrachteten ihn, al wäre er ein sehr teures Bild von Tizian. „Hast du das Geld?“ fragte Pony Hütchen. „Natürlich!“ meinte Emil, holte die drei Scheine aus der Tasche, gab hundertzwanzig Mark der Großmutter und sagte: „Hier, Großmutter, das ist das Geld. Und Mutter läßt herzlich grüßen. Und Du sollst nicht böse sein, daß sie in den letzten Monaten nichts geschickt hat. Aber das Geschäft ginge nicht besonders gut. Und dafür wäre es diesmal mehr als sonst.“ „Ich danke dir schön, mein gutes Kind“, antwortrete die alte Frau, gab ihm den Zwanzigmarkschein zurück und sagte: „Der ist für dich! Weil du so ein tüchtiger Detektiv bist.“ „Nein, das nehme ich nicht. Ich habe ja von Mutter noch zwanzig Mark in der Tasche.“ „Emil, man muß seiner Großmutter folgen. Marsch, steck es ein!“ „Nein, ich nehme es nicht.“ „Emil!“ rief Pony Hütchen. „Das ließe ich mir nicht zweimal sagen!“ “Ach nein, ich möchte nicht.“ „Entweder du nimmst es, oder ich kriege vor Wut Rheumatismus“, erklärte die Großmutter. „Schnell, steck das Geld weg!“ sagte Tante Martha und schob ihm den Schein in die Tasche. „Ja, wenn ihr durchaus wollt“, jammerte Emil. „Ich danke auch schön, Großmutter.“ „Ich habe zu danken, ich habe zu danken“, entgegnete sie und strich Emil übers Haar. „So, und nun wollen wir zu Mittag essen“, sagte die Tante. „Der Onkel kommt erst zum Abend heim. Pony, deck den Tisch!“ „Jawohl“, sagte das kleine Mädchen. „Emil, was gibt’s?“ „Keine Ahnung.“ „Was ißt du am liebsten?“ „Makkaroni mit Schinken.“ „Na also. Da weiß du ja, was es gibt!“ Nach dem Essen liefen Emil und Hütchen ein bißchen auf die Straße, weil der Junge Ponys kleines verni-­‐
ckeltes Rad versuchen wollte. Großmutter legte sich aufs Sofa. Und Tante Martha machte einen Apfelku-­‐
chen in der Küche. Ihr Apfelkuchen war in der ganzen Familie berühmt. Emil radelte durch die Schumannstraße. Und Hütchen rannte hinter ihm her, hielt den Sattel fest und be-­‐
hauptete, das sei nötig, sonst falle der Vetter hin. Da kam ein Polizist auf sie zu, der eine Mappe trug, und fragte: „Kinder, hier in Nummer 15 wohnen doch Heimholds?“ „Jawohl“, sagte Pony, „das sind wir. Einen Moment, Herr Major.“ Sie schloß ihr Rad in den Keller. „Ist es etwas Schlimmes?“ erkundigte sich Emil. Er mußte noch immer an den alten Jeschke denken. „Ganz im Gegenteil. Bist du der Schüler Emil Tischbein?“ „Jawohl.“ „Na, da kannst du aber wirklich stolz sein!“ Der Wachtmeister erzählte nichts, sondern stieg schon die Treppe hinauf. Tante Martha führte ihn in die Stube. Die Großmutter erwachte, setzte sich auf und war neugierig. Emil und Hütchen standen am Tisch und warteten gespannt. „Die Sache ist die“, sagte der Wachtmeister und schloß dabei die Mappe auf. „Der Dieb, den der Oberreal-­‐
47 schüler Emil Tischbein heute früh hat festnehmen lassen, ist mit einem seit vier Wochen gesuchten Bank-­‐
räuber aus Hannover identisch. Dieser Räuber hat eine große Menge Geld gestohlen. Er hat auch schon ein Geständnis abgelegt. Das meiste Geld had man, in seinem Anzugfutter eingenäht, wiedergefunden. Lauter Tausendmarkscheine.“ „Hurrah! Hurrah!“ rief Hütchen. „Die Bank, fuhr der Polizist fort, „hat nun vor vierzehn Tagen einen Preis ausgesetzt, den der erhalten soll, der den Kerl erwischt. Und weil du“, wandte er sich an Emil, „den Mann gefangen hast, kriegst du das Geld. Der Herr Kriminalkommissar läßt dich grüßen und freut sich, daß auf diese Weise deine Tüchtigkeit be-­‐
lohnt wird.“ Emil machte eine Verbeugung. Dann nahm der Beamte ein Bündel Geldscheine aus seiner Mappe, zählte sie auf den Tisch, und Tante Martha, die genau aufpaßte, flüsterte, als er fertig war: „Tausend Mark!“ Großmutter unterschrieb eine Quittung. Dann ging der Wachtmeister. Und Tante Martha gab ihm vorher ein großes Glas Kirschwasser aus Onkels Schrank. Emil hatte sich neben die Großmutter gesetzt und konnte kein Wort reden. Die alte Frau legte ihren Arm um ihn und sagte kopfschüttelnd: „Es ist doch kaum zu glauben. Es ist kaum zu glauben.“ Pony Hütchen stieg auf einen Stuhl, und sang: „Nun laden wir, nun laden wir die andern Jungen zum Kaf-­‐
fee ein!“ „Ja“, sagte Emil, „das auch. Aber vor allem . . . eigentlich könnte doch nun . . . . was denkt ihr . . . Mutter auch nach Berlin kommen . . .“ Sechzehntes Kapitel: Frau Tischbein ist so aufgeregt Am nächsten Morgen klingelte Frau Bäckermeister Wirth in Neustadt an der Tür von Frau Friseuse Tisch-­‐
bein. „Guten Tag, Frau Tischbein“, sagte sie dann. „Wie geht’s?“ „Guten Morgen, Frau Wirth. Ich bin so sehr in Sorge! Mein Junge hat noch nicht eine Zeile geschrieben. Immer, wenn es klingelt, denke ich, es ist der Briefträger. Soll ich Sie frisieren?“ „Nein. Ich wollte nur herkommen, und . . . weil ich Ihnen etwas ausrichten soll.“ „Bitte schön“, sagte die Friseuse. „Viele Grüße von Emil und . . .“ „Um Himmels willen! Was ist ihm passiert? Wo ist er? Was wissen Sie?“ rief Frau Tischbein. Sie war furchtbar aufgeregt und hob ängstlich beide Hände hoch. „Aber es geht ihm doch gut, meine Liebe. Sehr gut sogar. Er hat einen Dieb erwischt. Denken Sie nur! Und die Polizei hat ihm eine Belohnung von tausend Mark geschickt. Was sagen Sie nun? Hm? Und da sollen Sie mit dem Mittagszug nach Berlin kommen.“ „Aber woher wissen Sie das denn alles?“ „Ihre Schwester, Frau Heimbold, hat eben aus Berlin bei mir im Geschäft angerufen. Emil hat auch ein paar Worte gesagt. Und Sie sollten doch ja kommen! Weil Sie jetzt so viel Geld hätten, wäre das doch zu machen.“ „So, so . . . Ja freilich“, murmelte Frau Tischbein verstört. „Tausend Mark? Weil er einen Dieb erwischt hat? Wie ist er bloß auf die Idee gekommen? Nichts als Dummheiten macht er!“ „Aber es hat sich doch gelohnt! Tausend Mark sind doch eine Menge Geld!“ „Wer kann das glauben! Tausend Mark!“ „Na, na, es kann einem Schlimmeres passieren. Also, werden Sie fahren?“ „Natürlich! Ich habe kenen Aubenblick Ruhe, bis ich den Jungen gesehen habe.“ „Also, gute Reise. Und viel Vergnügen!“ „Danke schön, Frau Wirth“, sagte die Friseuse und schloß kopfschüttelnd die Tür. Als sie nachmittags im Berliner Zuge saß, erlebte sie eine noch größere Überraschung. Ihr gegenüber las 48 ein Herr die Zeituing. Frau Tischbein blickte nervös aus einer Ecke in die andere, und wäre am liebsten hinter den Zug gerannt, um zu schieben. Es ging ihr zu langsam. Währen sie so herumrutschte und den Kopf hin und her drehte, fiel ihr Blick auf die Zeitung gegenüber. „Was! Mein Emil!“ rief sie und riß dem Herrn das Blatt aus der Hand. Der Herr dachte, die Frau sei plötz-­‐
lich verrückt geworden, und bekam Angst. „Da! Da!“ stammelte sie. „Das hier . . das ist mein Junge!“ Und sie stieß mit dem Finger nach einer Photo-­‐
graphie, die auf der ersten Zeituingsseite zu sehen war. „Was Sie nicht sagen!“ meinte der Mann erfreut. „Sie sind die Mutter von Emil Tischbein? Das ist ja ein Prachtkerl. Hut ab, Frau Tischbein, Hut ab!“ „So, so“, sagte die Friseuse. „Behalten Sie den Hut ruhig auf, mein Herr!“ Und dann begann sie den Artikel zu lesen. Darüber stand in Riesenbuchstaben: Ein kleiner Junge als Detektiv! Hundert Berliner Kinder auf der Verbrecherjagd Und dann folgte ein ausführlich spannender Bericht über Emils Erlebnisse vom Bahnhof in Neustadt bis ins Berliner Polizeipräsidium. Frau Tischbein wurde ganz blaß. Der Herr konnte es kaum erwarten, daß sie den Artikel zu Ende las. Doch der war sehr lang und füllte fast die ganze erste Seite aus. Und mitten drin war Emils Bild. Endlich legte sie das Blatt beiseite, sah ihn an und sagte: „Kaum ist er allein, macht er solche Geschichten. Und ich hatte ihm doch so befohlen, auf die hundertvierzig Mark aufzupassen! Wie konnte er nur so nach-­‐
lässig sein! Als ob er nicht wüßte, daß wir kein Geld zum Stehlenlassen übrig haben!“ „Er ist eben müde geworden. Vielleicht hat ihnen der Dieb sogar hypnotisiert. Das soll vorkommen“, meinte der Herr. „Aber finden Sie es denn nicht einfach bewundernswert, wie sich die Jungen aus der Sa-­‐
che gezogen haben? Das war doch wundervoll! Das war doch einfach großartig! Einfach großartig war doch das!“ „Das schon“, sagte Frau Tischbein geschmeichelt. „Er ist schon ein kluger Junge, mein Junge. Immer der Beste in der Klasse. Und fleißig dazu. Aber bedenken Sie doch, wenn ihm etwas zugestoßen wäre! Wir stehen die Haare zu Berge, obwohl ja alles längst vorüber ist. Nein, ich kann ihn nie mehr allein fahren lassen. Ich stürbe vor Angst.“ „Sieht er genau so aus wie auf dem Bild?“ fragte der Herr. Frau Tischbein betrachtete das Bild wieder und sagte: „Ja. Genau so. Gefällt er Ihnen?“ „Großartrig!“ rief der Mann. „So ein richtiger Kerl, aus dem später etwas werden wird.“ „Nur ein bißchen ordentlicher hinsetzen hätte er sich sollen“, zankte die Mutter. „Ich habe es ihm oft ge-­‐
sagt. Aber er hört ja nicht!“ „Wenn er keine größeren Fehler hat!“ lachte der Herr. „Nein, Fehler hat er eigentlich keine, mein Emil“, sagte Frau Tischbein und putzte sich vor Rührung die Nase . . . Dann stieg der Herr aus. Sie durfte die Zeitung behalten und las Emils Erlebnisse bis Berlin-­‐
Friedrichstraße immer wieder. Im ganzen elf Mal. Als sie in Berlin ankam, stand Emil schon auf dem Bahnsteig. Er hatte der Mutter zu Ehren den guten An-­‐
zug an, fiel ihr um den Hals und rief: „Na, was sagst du nun?“ „Sei nur nicht auch noch eingebildet, mein Junge!“ „Ach, Mutter“, sagte er, „ich freue mich ja so sehr, daß du hier bist.“ Er gab ihr einen Kuß. „Und das Geld hat Onkel Heimbold eingeschlossen. Tausend Mark! Ist das nicht herrlich? Vor allen Din-­‐
gen kaufen wir dir eine elektrische Haartrockenanlage. Und einen Wintermantel, innen mit Pelz gefüttert. Und mir? Das muß ich mir erst überlegen. Vielleicht einen Fußball. Oder einen Photographenapparat.“ „Ich dachte schon, wir sollten das Geld lieber aufheben und zur Bank bringen. Später kannst du es sicher sehr gut brauchen.“ 49 „Nein, du kriegst den Trockenapparat und den warmen Mantel. Was übrig bleibt, können wir ja aufheben, wenn du willst.“ „Wir sprechen noch darüber“, sagte die Mutter und drückte seinen Arm. „Weißt du schon, daß in allen Zeitungen Photographien von mir sind? Und lange Artikel über mich?“ „Einen hab ich schon im Zug gelesen. Ich war erst sehr unruhig, Emil! Ist dir gar nichts geschehen?“ „Gar nichts. Es war wunderbar! Na, ich erzähle dir alles noch ganz genau. Erst mußt du aber meine Freunde begrüßen.“ „Wo sind sie denn?“ „In der Schumannstraße. Bei Tante Martha. Sie hat gleich gestern Apfelkuchen gebacken. Und dann ha-­‐
ben wir die ganze Gesellschaft eingeladen. Sie sitzen jetzt zu Hause und machen großen Lärm.“ Bei Heimbolds war es wirklich sehr lebhaft. Alle waren sie da: Gustav, der Professor, Krummbiegel, die Gebrüder Mittenzwey, Gerold, Friedrich der Erste, Traugott, der kleine Dienstag, und wie sie hießen. Die Stühle reichten kaum. Pony Hütchen rannte mit einer großen Kanne von einem zum andern und schenkte heiße Schokolade ein. Und Tante Marthas Apfelkuchen war ein Gedicht! Die Großmutter saß auf dem Sofa, lachte und schien zehn Jahre jünger. Als Emil mit seiner Mutter kam, gab’s eine große Begrüßung. Jeder Junge gab Frau Tischbein die Hand. Und sie bedankte sich bei allen, daß sie ihrem Emil so geholfen hatten. Dann klopfte die Großmutter mit dem Löffel an ihre goldne Tasse, stand auf und sagte: „Nun hört gut zu, ihr Jungen. Ich will nämlich eine Rede halten. Also, bildet euch bloß nichts ein! Ich lobe euch nicht. Die andern haben euch schon ganz verrückt gemacht. Da tu ich nicht mit. Nein, da tu ich nicht mit!“ Die Kinder waren ganz still geworden und wagten nicht, weiterzuessen. „Hinter einem Dieb herschleichen“, fuhr die Großmutter fort, „und ihn mit hundert Jungen einfangen—na, das ist keine große Kunst. Kränkt euch das, ihr Jungen? Aber es sitzt Einer unter euch, der wäre auch gern auf den Zehenspitzen hinter Herrn Grundeis hergeschlichen. Der hätte auch gerne als grüner Liftboy im Hotel spioniert. Aber er blieb zu Hause, weil er das einmal übernommen hatte, jawohl, weil er das einmal übernommen hatte.“ Alle blickten den kleinen Dienstag an. Der hatte einen roten Kopf und schämte sich. „Ganz recht. Den kleinen Dienstag meine ich. Ganz recht!“ sagte die Großmutter. „Er hat zwei Tage am Telefon gesessen. Er hat gewußt, was seine Pflicht war. Und er hat sie getan, obwohl sie ihm nicht gefiel. Das war großartig, verstanden? Das war großartig! Nehmt euch an ihm ein Beispiel! Und nun wollen wir alle aufstehen und rufen: Der kleine Dienstag, er lebe hoch!“ Die Jungen sprangen auf. Hütchen hielt die Hände wie eine Trompete vor den Mund. Tante Martha und Emils Mutter kamen aus der Küche. Und alle riefen: „Er lebe hoch! Hoch! Hoch! Dann setzten sie sich wieder. Und der kleine Dienstag holte tief Atem und sagte: „Danke schön. Doch das ist übertrieben. Ihr hättet das auch getan. Klar! Ein richtiger Junge tut, was er soll.“ Pony Hütchen hielt die große Kanne in die Höhe und rief: „Wer will noch was zu trinken, ihr Leute? Jetzt wollen wir einmal auf Emil anstoßen! Er lebe hoch! Hoch! Hoch!“ Das Ende! 50