Schwäbisches Tagblatt

R E G I O N A L E K U L TU R
Freitag, 24. April 2015
Er war da, sie waren da
Das LautLesenLiveFestival im spärlich besuchten Löwen und vor 800 Studenten bei Comedystar Christoph Maria Herbst
I
st das ein Markstein in der Geschichte des Festsaals? Vielleicht wäre das doch zu hoch
gegriffen. Immerhin fanden hier ja
auch schon SWR-Sausen statt. Und
doch: Ein ganzer Festsaal voll, also
Herta-Müller-Verhältnisse, diesmal
allerdings nahezu ausschließlich
junge Menschen, Studenten. Und
auf der Bühne einer, der weder mit
dem akademischen Bereich, noch
mit klassischer
Musik oder Literatur etwas zu
tun hat, sondern
eine TV-Größe
ist, Darsteller einer
beliebten
Comedyserie.
Stromberg-Darsteller Christoph
Maria
Herbst
machte den Festsaal am Mittwoch zum größten denkbaren
Großraumbüro,
allerdings einem
mit der denkbar
besten Laune.
Herbst hat also nichts mit Literatur zu tun? Nun
las er aber aus Timur Vermes‘ „Er
ist wieder da“, der Widerspruch
lässt sich er klären: Das Buch ist eine schöne Satire. Von Herbst gelesen wird es sogar zu einem Riesenspaß. Literatur? Ist es nicht, eine
Unterscheidung, die wahrscheinlich nur das deutsche Feuilleton
trifft, mit weitreichenden Folgen.
Aus dem Munde Christoph Maria
Herbsts klingt sie so: „Ich habe das
Privileg, ein Buch einzulesen, das
sich seit Monaten unter den Top
Ten der Bücherliste aufhält und
trotzdem vom deutschen Feuilleton
totgeschwiegen oder schlecht gemacht wird, nämlich (lange Pause):
„Shades of Grey“.
Einer der ersten Lacher. Lustig
wird es auch, als
Herbst auf den
im Oktober in
die Kinos kommenden
Film
hinweist und dafür – einen kleinen Versprecher
des ankündigenden Bernd Kohlhepp
aufgreifend – erst einen
Christoph Mario
(sic!) Herbst als
Schauspieler der
Hauptrolle erfindet, dann sich
korrigierend Till
Schweiger
als
Hitler-Darsteller
herspintisiert, nur um kurz mal gegen ihn zu mobben. Kleine Späße,
die das Betriebsklima steigern, wie
er sich ja auch freut, hier in – längeres, sehr langes Zögern, Nachdenken, ah, jetzt fällt es ihm wider ein –
in Tübingen! lesen zu dürfen. Die
Lesungsdauer veranschlagt er auf
viereinhalb bis fünf Stunden.
Christoph Maria Herbst, kein Platz blieb unbesetzt, ließ im Festsaal Adolf Hitler in „Er ist wieder da“ im heutigen Berlin erwachen.
Christoph Maria Herbst ist ein
Entertainer und nach dann doch
nicht viereinhalb sondern eineinhalb Stunden wird er als Zugabe
seine Lieblingsstelle aus dem Buch
lesen, und zwar so, dass nach dem
Dank-garnierten Zuklappen des
Buchdeckels dem Publikum ein
vielhundertfach jubilierender Aufschrei entfährt, der vom „Jaaaaaa!“
der Zuhörer nach Goebbels‘ Sportpalastfrage „Wollt ihr den totalen
Krieg?“ nicht so weit entfernt ist.
Eine Entgleisung des guten Geschmacks, dieser Vergleich, sicher.
Aber wahr, und angesichts eines im
Buch wieder auferstehenden Hitlers: naheliegend.
✳
W
„Nicht alles blau“ von Michel op den Platz wurde im Löwen mit Helm und Rücken zum Publikum gelesen, aber mit Film. Also völlig gewöhnlich.
Bild:Metz
er nur an Christoph Maria Herbst interessiert ist,
kann nun alles bis zum
nächsten Sternchen überspringen.
Man muss von solchen Lesern ausgehen, denn das LautLesenLiveFestival besteht aus zwei nachmittäglichen Lesungen studentischer Autoren im Löwen und eben der
Herbst-Lesung im Festsaal. Vom
Zuhörerverhältnis her bedeutete
das am Mittwoch: 800 Zuhörern im
Festsaal standen gut 60 im Löwen
gegenüber, also etwa 13:1.
Zum
Mittwochs-Löwen:
Da
machte erst der Schauspieler Alexander Vaassen Tobias Maurers
Mensch gegen Maschine-Text „Terminator“ zum Einpersonen-Theaterstück. Dann flog Michel op den
Platz in „Nicht alles blau“, unterstützt durch ein experimentelles
Kunstfilmchen des Figurentheaters
psychedelisch-realistisch – ja wohin
eigentlich? Ganz unterschiedliche
Autoren: Tobias Maurer studiert
Wirtschaftswissenschaften in Tübingen und hatte bisher mit Literatur nicht viel am Hut. Op den Platz
dagegen gewann schon den 2. Platz
des Literaturpreis Nordost, hat
schon Romane und Drehbücher geschrieben.
Oder Alice Bernard, noch eine
Tübinger Studentin, mit ihrem sehr
verstörenden Text „Pandora“ über
junge Menschen und Beziehungskonflikte im Drogenmilieu. Der Text
wurde danach, ein Höhepunkt an
diesem Nachmittag, von den Theatersportlern Chrysi Taoussanis und
Samuel Zehender improvisierend
weitergesponnen. Zu alledem gab
es wiederum Atmo-Intermezzi von
Alexandra Hagemann (Piano) und
Rinoa E—Saleh (Violine).
Schließlich machten einen Pia
Fruth und ihr Medienwissenschaftler-Kurs zum Zuhörer eines Drei-
Fragezeichen-live-Hörspiels mit Geräuschemachern und StiftskirchenHalleffekten, da könnte man glatt einen eigenen Artikel drüber schreiben. Kurzum: Im Löwen wurde –
und gestern dann noch einmal – so
viel an Literatur, medienwissenschaftlicher Kompetenz und der
Kreuzung verschiedener Kunstgattungen geboten, wie es dieser Ort
noch nicht gesehen hat. Dazu die
beiden Organisatorinnen Frauke
Kreis und Vanessa Zimmerer als professionelles Moderatorenpaar – man
darf sie in ein paar Jahren sicher als
Kolleginnen irgendwo im großen
Kulturstall begrüßen.
✳
U
nd damit wieder zurück in
den Festsaal, wo Christoph
Maria Herbst beziehungsweise Timur Vermes Adolf Hitler –
unerklärlich, unerklärlich – im heuti-
Wer macht und was ist das LautLesenLiveFestival?
Vanessa-Cher Zimmerer,
26, (links) und Vanessa
Kreis, 29, beide im dritten
Semester des Master-Studiengangs „Literatur und
Kulturtheorie“, überlegten
sich, für das in diesem Studiengang vorgesehene Projekt-Modul ein Festival auf
die Beine zu stellen, das Literatur anders, spannender
präsentiert, eingebettet in
Live-Musik, Performances,
Video und Film. Und für einen guten Zweck – der Erlös geht an die Whale and
Dolphin Conservation
(WDC). Sie fanden viele
Unterstützer und Sponsoren. Und das ist nun das
Ergebnis. Unser Vorschlag:
Könnte man beiden statt
einem nicht jeweils drei
Scheine dafür geben?
Archivbilder: Metz
Bilder: Sommer
gen Berlin erwachen lassen, wo er
dann einerseits sehr komisch an der
heutigen bundesrepublikanischen
Wirklichkeit scheitert, andererseits
als vermeintlicher Hitlerdarsteller
(es glaubt ihm ja niemand, dass er
wirklich Hitler ist) auf Youtube zum
Star wird. Christoph Maria Herbst
intoniert einen perfekten Führer,
verleiht auch allen anderen Figuren
mit Balina Schnauze, schönen
Stimmvariationen und kleinen Ticks
eine Super-Hörspielqualität. Ob das
stimmlich nicht anstrengend sei,
wird er später aus dem Publikum gefragt. „Wie Sau“ antwortet er, einen
ganzen Monat abendliche Lesungen
würde er da nicht machen wollen.
Andererseits sei das Stimmband ein
Muskel, den man trainieren könne
wie andere auch.
Es kommen auch seltsame Fragen: Ob er, wenn er Hitler spreche,
auch wie Hitler denke. Herbst kann
beruhigen: Das ist Handwerk, es sei
noch alles in Ordnung mit ihm. Eine
Neuauflage von Stromberg, ja, danach wird er immer gefragt, nein,
wird es aber nicht mehr geben.
Und Timur Vermes‘ Buch? Es
denkt auf der Grundlage auffallender Sach- und Milieukenntnis über
Hitler und den Nationalsozialismus
diesen Menschen einfach mal absurd ins Hier und Heute weiter, ist
manchmal etwas platt, hat aber
auch urkomische Stellen. Braucht
man das? Was braucht man schon!
Wie erwähnt: In Herbsts Performance funkelt es, wird es zur spritzigen Satire, zum großen Spaß. Und
bringt der Whale&Dolphin-Organisation viel Geld in die Kassen. Mit
Hitler gegen den Walfang! „Der war
ja auch Vegetarier“, fiel Bernd Kohlhepp dazu ein. Genau. PETER ERTLE
Vom „Spiegel“ falsch verstanden Mit schwäbischen Mutanfällen
Thomas Hettche verteidigt in Reutlingen seinen Roman „Pfaueninsel“
Das Frühsommerprogramm im Tübinger Vorstadttheater
Reutlingen. Für viele war der Roman voriges Jahr Favorit für den
Deutschen Buchpreis – doch die
„Pfaueninsel“ von Thomas Hettche
gelangte nur auf die Shortlist. Am
Mittwoch war Hettche bei „Literatur
im Gespräch“ in der Stadtbibliothek
Reutlingen. Im Gespräch mit SWRRedakteur Wolfgang Niess sagte
Hettche vor 50 Zuhörern, das Buch
habe dennoch seinen Weg gemacht,
es verkaufe sich gut.
Es geht um die Pfaueninsel in der
Havel, wo die preußischen Könige
im 19. Jahrhundert ein künstliches
Paradies schufen. Mit Kängurus, einem Löwen, einem Südseeinsulaner. Hettche beschreibt im Interview
wortreich Zeitkolorit und erzählt,
wie er den verfallenen Ort als Student auf Berlin-Trip entdeckte: „Ein
magischer Ort.“ Riesen und Zwerge
bevölkerten damals die Insel. Hettches Heldin ist die kleinwüchsige
Maria Dorothea Strakon, genannt
Marie – das Schlossfräulein. „Mich
hat diese Figur fasziniert, von der
man nichts weiß“, sagt der Autor.
„Die Sex-Zwergin des preußischen
Königs“, titelte „Spiegel-Online“
über das Buch. „Unsinn“, sagt Hettche. „Mich hat nicht ihre Rolle am
Hof interessiert. Sondern wie ein
Mensch mit Behinderung auf einer
Insel gelebt hat, die der Schönheit
gewidmet war.“ Sprachmächtig beschreibt er, wie Hofgärtner Ferdinand Fintelmann und sein Neffe
Die Kleinkunstbühne Tübinger
Vorstadttheater bietet mal wieder ein volles Programm: Konzerte, auch literarisch, Kabarett,
die Ostermayer−Montage, eine
Melange und ein Puppenspiel.
Gustav, Maries große Liebe, mit Peter Joseph Lenné daraus einen Rückzugsort schufen. Lenné kommt übrigens nicht gut weg im Roman, das
belegt eine Vorlese-Szene.
Hettche sagt: „Historische Romane stellen oft moderne Probleme mit
Kostümen dar.“ Er wolle hingegen
Modelle für glückliches Leben von
vor 200 Jahren mit der damaligen
Psychologie zeigen. „Dafür suche ich
Bilder, die nicht unsere sind.“ Marie
richte sich ein mit dem Angeschautwerden, „sonst wäre sie zerbrochen“. Sie habe eine eigene Form
von Erotik entwickelt. „Das hat der
‚Spiegel‘ falsch verstanden.“
Marie entwickle sich im Rahmen
ihrer Möglichkeiten weiter. Sie hat
als Jugendliche eine sexuelle Beziehung zu ihrem Bruder Christian.
„Kein vollzogener Inzest“, sagt der
Autor dazu. „Das verliert sich mit der
Pubertät. Mir schien das einleuchtend; ich fand es nicht skandalös.“
„Monster“, sagt die jung verstorbene Königin Luise am Anfang des
Romans zu Zwergenbruder Christian – für Niess ein Einbruch der Moderne mit ihrer wissenschaftsgläubigen Kategorisierwut. Die Wurzeln
des Wortes reichten in die Antike,
zunächst als Ausdruck der Vielfalt
der Welt. Der negative Beiklang entstand erst im 19. Jahrhundert; 1813
erfand Mary Shelley Frankenstein,
das Monster aus Menschenhand. Im
Buch geht es auch um Alchimist Jo-
Konzerte
Thomas Hettche
Bild: Andenmatten
hannes Kunckel, der sich auf die Insel zurückzog, um Gold herzustellen, und dort das Rubinglas erfand.
Hettche wechselt häufig die Perspektive: „Aktuell montieren viele Erzähler eine kleine Kamera auf der
Schulter der Hauptfigur. Das war mir
zu langweilig.“ Der Roman ist auch
Zeitpanorama der Industrialisierung
so stand die erste Dampfmaschine
auf der Insel und bewässerte Blumen. Einmal verlässt Marie die Pfaueninsel und lernt die wachsende
Großstadt Berlin kennen. Wie hätte
er sonst 40 Lebensjahre beschreiben
sollen, in denen nichts passierte,
fragt Hettche: „Sie konnte ja kein
Studium an der Fernuni Hagen beginnen.“
MATTHIAS REICHERT
Am 15. Mai Auftakt der Konzerte
mit einem „Gestiefelter Abend“, an
dem Petra Anna Schmidt Schuhgeschichten erzählt zur Fotoausstellung „Verlorene Schuhe“ des Stuttgarter Fotografen Steffen Hammer
im Schuhhaus Gahn, als Vernissageersatz an anderem Ort, begleitet von
Maurizio Brighina am Saxofon.
Am 12. Juni präsentiert Reiner Hiby von den Nazis verbrannte Texte in
eigener Vertonung (Dein Haar hat
Lieder die ich liebe) an seinem blauen Klavier, unterstützt von Bernd
Reite, Bass, und Georg Schmidt,
Schlagzeug.
Am 4. Juli serviert Fabienne
Schwarz-Loy ein Gemischtes Einzel
eigener und anderer Lieder zu Streuselkuchen, Zigaretten, der großen
Liebe und was das Leben sonst noch
so bringt.
Zu einem karibischen Abend lädt
am 4. Juli die Percussion-Grupo
Martillo, zu der immer noch die
Gründer Gabriele Mews und Werner
Schlegel gehören
Am 9. Juli geht es dann Jazz-klas-
sisch weiter mit Bluesandboogie
(Netzer & Scheytt).
Und am 11. Juli kommt nochmal
Reiner Hiby, diesmal zusammen mit
dem
früheren
ZimmertheaterSchauspieler Gerhard Polacek zu einem echten Wiener Liederabend.
Kabarett
Die Kabarettveranstaltungen beginnen schon am 9. Mai angemessen erst mal mit Putzen auf gut
schwäbisch
durch
Martha
Schwämmle (Barbara Carl-Mast) –
Vorsicht, sau-glatt!
Am 13. Mai kommt Philipp Weber, inzwischen bundesweit bekannt, mal wieder zurück zu seinen
Vorstadttheater-Wurzeln mit „Durst
– Warten auf Merlot.“
Und am 23. Mai versucht Regisseurin Nora (Inka Meyer) Shakes-peares Widerspenstige zu zähmen.
Aber wie soll das nach 40 Jahren
jüngster Frauenbewegung noch gehen? (Kill me Kate).
Schließlich erwarten einen am
18. Juli noch die bayrisch-schwäbisch-musikalischen
Mutanfälle
von Ingrid Kolbe und Jochen Lenius.
Ostermayer-Montag
Drei Ostermayer-Erzählmontage
sind in der Programmzeit, am 4.
Mai: „Schwarz der Rumpf, rot die
Segel“ über einen Balinger, der mit
dem Fliegenden Holländer zu tun
kriegte. Christian Schomers unterstützt am Klavier;.
Am 1. Juni gibt es Steingeschichten mit Petra Anna Schmidt zu
Skulpturen des Bildhauers Friedhelm Welge (Bad Camberg), die er
genauso mitbringt wie eigene Texte.
Am 6. Juli dann Keltische Märchen und Celtic Folk aus Irland und
Wales, musikalisch begleitet vom
Folktrio Unknown Friends (Michael
Schwarz, Geige, Petra Kruse, Harfe,
Alex Resch, Bodhran).
Mittwochsmelange
Nur eine Melange am Mittwoch
diesmal, der Künstlermix aus nah
und fern mit Günter Sopper, selbstverständlich auch mit einer neuen
Folge des Knöllchen-Kabaretts am
24. Juni.
Puppentheater
Und dem Puppenspielursprung
des Kleinkunsttheters gemäß doch
wenigstens einmal Kasperltheater.
diesmal als Gastspiel von Jürgen
Froeschlin von der Hohenzollerischen Puppenbühne, der einlädt
zum Zauberer Homunculus – am
10. Mai.
Info Programm ausführlich auf
www.vorstadttheater.de
ST