Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften Institut für Psychologie Professur Klinische Psychologie Bundesministerium für Arbeit und Soziales Studie zum aktiven und passiven Wahlrecht von Menschen mit Behinderungen Sehr geehrte Damen und Herren, im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) unter Beteiligung des Bundesministeriums des Innern und des Bundesministeriums für Justiz und Verbraucherschutz führen wir derzeit eine multizentrische Studie zum aktiven und passiven Wahlrecht für Menschen mit Beeinträchtigungen durch. Das BMAS hat diesen Forschungsauftrag vor folgendem Hintergrund erteilt: Gemäß der bestehenden Rechtslage (Bundeswahlgesetz) ist u.a. die Personengruppe nach §13 Nr. 2 BWG (Personen unter dauerhafter Betreuung in allen Angelegenheiten) vom Wahlrecht ausgeschlossen. Da sich Deutschland mit der Ratifikation der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) verpflichtet hat, Menschen mit Behinderungen die politischen Rechte zu garantieren, hat die Bundesregierung im Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-BRK entschieden, den Rechtsstatus in Deutschland wissenschaftlich untersuchen zu lassen. Die genannte Studie untersucht u.a. die Frage, ob bzw. inwieweit Menschen unter dauerhafter Betreuung in allen Angelegenheiten aus klinisch-psychologischer und neurokognitiver Perspektive zu einer eigenständigen und verantwortlichen politischen Willensbildung und Wahlentscheidung fähig sind. Um im Ergebnis der Studie abschließende Empfehlungen formulieren zu können, entwickelt die Arbeitsgruppe der Professur für Klinische Psychologie der TU Chemnitz wissenschaftlich fundierte und zwischen Experten und Betroffenen maximal konsensfähige Beurteilungskriterien für die kognitiven Basisvoraussetzungen zur Ausübung des Wahlrechts. Daran anschließend soll eine Begutachtung der betroffenen Personengruppen nach §1896 BGB (seelische Behinderung, geistige Behinderung, körperliche Dienst- u. Paketanschrift: Technische Universität Chemnitz ∙ Professur für Klinische Psychologie Wilhelm-Raabe-Straße 43 ∙ 09120 Chemnitz Postanschrift: Technische Universität Chemnitz ∙ 09107 Chemnitz ∙ GERMANY Behinderung, psychisch Erkrankte) zur Feststellung der kognitiven Basisfähigkeiten zur faktischen Ausübung des Wahlrechts nach standardisierten Kriterien erfolgen. Das Ergebnis der Studie soll dazu beitragen, die medizinisch-psychologischen Voraussetzungen für die Begründung von Wahlrechtsausschlüsse individuell zu überprüfen. Um die angestrebte maximale Konsensfähigkeit zu erreichen, möchten wir Ihnen die vorbereiteten Beurteilungskriterien in einem Round Table-Meeting vorstellen und diskutieren. Angesichts der politisch wie ethisch hoch sensiblen Thematik legen wir großen Wert auf die gleichberechtigte Einbeziehung sowohl der Experten- wie der Betroffenenperspektive bei der konkreten Umsetzungsplanung dieser Studie. Daher möchten wir Sie einladen, Ihre Meinungen, Ideen und Ihre Expertise als wichtigste Interessenvertreter und Fachexperten einzubringen und so aktiv an der Konzipierung des standardisierten Verfahrens zur Beurteilung der Wahlfähigkeit bei Menschen mit Beeinträchtigungen mitzuwirken. Nur durch eine breite Teilnahme aller Beteiligten kann gewährleistet werden, dass die Interessen der betroffenen Personengruppen maximal repräsentiert sind und das Beurteilungsverfahren den aktuell bestmöglichen wissenschaftlichen Standard erfüllt. Im Rahmen des Round Table möchten wir das Beurteilungsverfahren mit Ihnen sowohl inhaltlich als auch formal kritisch diskutieren und optimieren. Zu diesem Zweck möchten wir Sie bzw. einen ausgewählten Vertreter Ihrer Institution zu einem Konsensustreffen einladen. Dieser Round Table findet am 21.05.2015 ab 11.00 Uhr im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Wilhelmstraße 49, 10117 Berlin, statt. Für Fragen und Rückmeldungen steht Ihnen gern die Arbeitsgruppe der TU Chemnitz um Prof. Dr. Stephan Mühlig zur Verfügung. Wir freuen uns auf Ihre Teilnahme und den regen Austausch mit Ihnen! Mit freundlichen Grüßen Prof. Dr. Stephan Mühlig Seite 2 von 5 S TUDIE ZUM AKTIVEN UND PASSIVEN W AHLRECHT VON M ENSCHEN MIT B EHINDERUNG A USGANGSLAGE Das Wahlrecht als vornehmstes Recht des Bürgers in der Demokratie steht grundsätzlich jedem Volljährigen zu (Art. 38 Abs. 2 GG). Nach § 13 Nr. 2 BWG ist aber derjenige vom aktiven und passiven Wahlrecht ausgeschlossen, für den dauerhaft zur Besorgung aller seiner Angelegenheiten ein Betreuer bestellt ist. § 13 Nr. 3 BWG ordnet das gleiche für straffällig gewordene Personen an, die sich auf Grund von Schuldunfähigkeit in einem psychiatrischen Krankenhaus befinden. Da diese Wahlrechtsausschlüsse von verschiedener Seite hinterfragt werden, hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales diese Studie zum aktiven und passiven Wahlrecht von Menschen mit Behinderungen in Auftrag gegeben. G LIEDERUNG DER S TUDIE F RAGESTELLUNG DES KLINISCHEN S TUDIENTEILS Im klinischen Studienteil ist zu beurteilen, inwieweit die Ausschlüsse vom aktiven und passiven Wahlrecht nach § 13 Nr. 2 und 3 BWG und § 6a Abs. 1 Nr. 2 und 3 EuWG in praktischer (medizinischpsychologischer) Hinsicht erforderlich und gerechtfertigt sind. Dazu ist zunächst zu beurteilen, inwiefern prinzipiell eine Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit zur Absprache des verfassungsrechtlich garantierten Wahlrechts begründet werden kann. Aus psychologischer Sicht setzt eine sachgemäße Teilnahme an Wahlen eine ausreichende kognitive Funktions-, Verständnis- und Entscheidungsfähigkeit in Bezug auf den Entscheidungsgegenstand und den Akt des Wählens voraus. Wenn diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind, muss eine eigenständige und eigenverantwortliche politische Willensbildung angezweifelt werden. Mit dieser Begründung werden beispielsweise auch Minderjährige vom Wahlrecht ausgeschlossen. Eine gänzliche Aufhebung der Seite 3 von 5 Wahlrechtsbeschränkungen würde aber möglicherweise das Risiko beinhalten, dass Wahlentscheidungen durch Dritte manipuliert werden könnten, dass die Wahlbeteiligung stark sinkt oder Wahlzettel rein zufällig angekreuzt werden. Für die bereits ermittelten Fallgruppen, besonders für psychisch gestörte Straftäter, kann nicht grundsätzlich von eingeschränkten Fähigkeiten in Bezug auf Wahlentscheidungen ausgegangen werden. Nach dem Kriterium der kognitiven Funktionsfähigkeit wären im Zusammenhang mit Wahlausschlussbeurteilungen andere psychiatrische Fallgruppen relevant, bei denen tatsächlich von einer massiven Beeinträchtigung der Fähigkeiten zur politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung auszugehen wäre (z.B. Patienten mit Wahnsymptomatik im Zustand der akuten Psychose oder Manie, im Rahmen organischer Psychosen, schizophrene Patenten mit ausgeprägtem Residualsyndrom, schwerst depressive Patienten). Auch bei einer Vielzahl von neurologischen und hirnorganischen Erkrankungen und Schäden (z.B. Schädel-Hirntrauma, Wachkoma, Hirnläsionen, Schlaganfall, Intoxikation, Delir, andere neurologische Hirnerkrankungen,) sowie dementiellen Erkrankungen (z.B. Morbus Alzheimer, vaskuläre Demenz) können neuropsychologische und kognitive Beeinträchtigungen ein Ausmaß erreichen, das die Fähigkeit zu bewussten Wahlentscheidungen ausschließt. Die pauschalen Wahlrechtsausschlüsse nach § 13 Nr. 2 BWG bei Personen für die dauerhaft zur Besorgung aller ihrer Angelegenheiten ein Betreuer bestellt ist, sind aus klinischer Sicht ebenfalls diskussionswürdig, da Einschränkungen der „Geschäftsfähigkeit“ einer Person und ihrer Fähigkeiten zur eigenständigen Organisierung ihres Alltages nicht zwangsläufig mit unzureichender politischen Willensbildungs- und Entscheidungsfähigkeit gleichzusetzen ist. Gerade im Bereich der sogenannten „geistigen Behinderungen“ finden sich zahlreiche Störungsbilder (angeborene Intelligenzminderung, tiefgreifende Entwicklungsstörungen wie Autismus, erworbene hirnorganische Schäden), die teilweise mit partiellen Funktionseinbußen bzw. Teil- und Inselbegabungen verbunden sind, die politische Teilhabefähigkeit hier nicht grundsätzlich ausschließen. V ORGEHEN Um die wissenschaftlich komplexe und politisch wie ethisch sensible Frage zu beantworten, sollen wissenschaftlich fundierte und ethisch belastbare Beurteilungskriterien entwickelt werden. Zu diesem Zweck soll ein Round Table-Prozess unter Einbezug der relevanten wissenschaftlichen Fachgesellschaften und Betroffenenverbände organisiert werden. Die von uns in Kooperation mit einer kleinen Expertengruppe der Gesellschaft für Neuropsychologie (GNP) erarbeiteten Beurteilungskriterien müssen einen Wahlrechtsausschluss wissenschaftlich fundiert begründen können, so dass sich der Gesetzgeber und Gerichte darauf beziehen können. Im Anschluss an den Round Table ist die empirische Datenerhebung im Feld, die sich in eine kurze Pilotphase sowie eine Erhebungsphase gliedert, geplant. Für jede der ermittelten (Fall-)Gruppen wird dabei eine Stichprobengröße von N=100 angestrebt (Maßregelvollzug, psychisch Erkrankte, seelische Beeinträchtigung, geistige Beeinträchtigung, körperliche Beeinträchtigung). Seite 4 von 5 Der gesamte Prozess gliedert sich insgesamt in drei Stufen: 1. Vorbereitung eines Fragenkataloges und Entwurf eines Beurteilungsverfahrens durch das Projektteam unter Einbezug von Expertenwissen 2. Vorstellung der Beurteilungskriterien im Rahmen eines Round Table-Meetings mit einer größeren Anzahl von Vertretern von Fachgesellschaften und Betroffenenverbänden; Diskussion und gegebenenfalls Modifikation der Kriterien 3. Durchführung der Datenerhebung im Feld; Auswertung und Formulierung der endgültigen Empfehlungen W ISSENSCHAFTLICHE B ASIS FÜR DIE INHALTLICHE B ESTIMMUNG VON B EURTEILUNGSKRITERIEN Inhaltlich sollten sich die Diskussion zu den Empfehlungen an dem International Classification of Diseases (ICD-10) sowie an der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) der WHO anlehnen. Das ICF stellt das internationale Klassifikationssystem zur Beschreibung des funktionalen Gesundheitszustandes, der Behinderung, der sozialen Beeinträchtigung sowie der relevanten Umweltfaktoren von Menschen dar. Im ICF werden Gesundheits- und Funktionsbeeinträchtigungen multidimensional erfasst und beschrieben. Seite 5 von 5
© Copyright 2024