Nikola Hotel Flötenzeit Leseprobe ISBN 978-1-5089-3379-3 Auszug aus der 1. Aufage 2015 © Nikola Hotel, 53773 Hennef Umschlaggestaltung: © Sandra Taufer, München Umschlagmotiv: © Anna Paf, the palms, HorenkO, Morphart Creation, Ivoha, SoleilC / shutterstock www.nikolahotel.com »I have crossed oceans of time to fnd you.« Gary Oldmann, Bram Stoker’s Dracula »Te past is never dead. It’s not even past.« William Faulkner, Requiem for a Nun Prolog April 1895 Clemens spitzte die Lippen und pustete. Es war kein Laut zu hören, außer dem seines angestrengten Atems. Er befeuchtete die Lippen, rollte die Zunge zu einem Rohr und blies die Blüte an, die er in den Händen hielt. »Hör auf damit!« Seine Schwester Auguste versuchte, ihm die Blume zu entreißen. Er zuckte mit den Schultern und warf sie ihr freiwillig zu. »Es ist ohnehin nicht die Richtige«, sagte er, schob den rechten Hemdsärmel hoch und kratzte sich dort, wo ihn die Nesseln bei seiner Suche verbrannt hatten. »Großmutter hat sie mir genau beschrieben. Sie muss fünf Blätter haben.« Auguste drehte die Blüte in den Händen und zählte die einzelnen Blätter ab. Es waren sechs. Enttäuscht und gleichzeitig ein wenig erleichtert warf sie die Pfanze in die Schneespiere, die an der Gartenmauer wuchs und sie mit ihrem weißen Blütenmeer sofort verschluckte. »Was willst du denn auch damit? Du hast doch sowieso keine Flöte, um sie damit zu verzaubern.« Mit einem Lächeln dachte Clemens an seine Großmutter, die in diesem Moment im Salon auf der Querföte spielte. Wenn er die Ohren spitzte, konnte er die zarten Töne, die sie dem Instrument entlockte, bis hier draußen hören. »Großmutter schenkt mir ihre, wenn ich Geburtstag habe. Sie hat es versprochen.« 5 Seine Schwester nickte und zog einen Kniestrumpf hoch, der heruntergerutscht war. »Das dauert aber noch ewig.« »Das macht nichts. Solange kann ich pfeifen üben.« Erneut spitzte er die Lippen, produzierte aber nur ein faches »Phhhh«. »Hör auf!« Auguste presste ihm die Hand auf den Mund. »Großmutter hat gesagt, dass man damit den Teufel anlocken kann.« Clemens seufzte. Großmutter Apollonia erzählte ihnen ständig Märchen und Geschichten. Manchmal fragte er sich, was davon wahr und was erfunden war. »Ich krieg es doch nicht hin«, sagte er, weil seine Zunge ihm einfach nicht gehorchen wollte. Seit vielen Wochen übte er das Pfeifen, hatte bisher jedoch keinen brauchbaren Ton zustande gebracht. Dann erhellte sich plötzlich sein Blick. »Fritzi ist in der Waschküche.« »Ja und?« Er wunderte sich, dass seine Schwester nicht sofort wusste, was er im Sinn hatte. Der Geruch waberte seit Stunden durchs Haus und ließ ihn an kaum etwas anderes denken. »Die Mamsell wollte heute einen Besuch machen. Wenn wir Glück haben, stehen die Wafeln noch zum Abkühlen auf dem Tisch.« »Das dürfen wir nicht.« Auguste blies ihre Backen auf. Doch Clemens wollte sich nicht abhalten lassen. »Und wenn schon. Du wartest hier und passt auf, dass niemand kommt. Ich bringe dir eine Wafel mit.« Unschlüssig zupfe sie an den Falten ihres Matrosenkleides, was ihr Bruder als Einverständnis nahm und über den schmalen Kiesweg lief. Er hüpfe am 6 Fenster des Wintergartens entlang und verschwand im Inneren des Hauses. Aus dem Waschkeller drang der Geruch nach Seifenlauge. Er hörte, wie das Mädchen mit einem Quietschen den Feuerraum der Waschmaschine öfnete und die Kohlen auf dem Feuer zischten. Aus der angrenzenden Küche war kein Laut zu hören. Vorsichtig drückte Clemens die Tür einen Spalt weit auf und schob sich hinein. Auf dem Herd stand die Eisenform mit dem Blumenmuster. Darauf buk die Mamsell hauchdünne Wafeln, die sie noch warm mit einer geübten Handbewegung zu kleinen Röllchen formte. Suchend blickte er sich um und entdeckte auf dem Tisch neben der Spüle einen großen Teller voll von diesen Köstlichkeiten. Sie sahen herrlich knusprig aus. Unwillkürlich nahm sein Mund dieselbe Form an und er stieß einen leisen Pff aus. Überrascht lauschte er auf den Ton, den er selbst erzeugt hatte. Das allererste Mal. Ein freches Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Erneut spitzte er die Lippen und pff, diesmal länger und in verschiedenen Tonhöhen. Vorsichtig zog er eines der Wafelröllchen vom Teller. Der buttrige Geruch ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen und die Wafel zerging ihm süß auf der Zunge. Plötzlich hörte er ein Geräusch an der Tür und ließ erschrocken seine Beute fallen. »Du kannst aber schön pfeifen.« Er wagte nicht einmal, zu kauen. Mit pochendem Herzen drehte er sich um, doch es war nicht die Mamsell, die dort im Türrahmen stand und auch nicht Fritzi, das Küchenmädchen. Ob er mit dem Pff tatsächlich den Teufel angelockt hatte? Dabei war er so sicher gewesen, dass Großmutter 7 ihn und Auguste damit nur hatte necken wollen. Schließlich hatte sie selbst mit ihm das Pfeifen geübt. Ängstlich starrte er die Gestalt an, deren Beine in engen blauen Hosen steckten. Darüber ein Hemd, das so weich aussah wie das Seidenkleid, das Mutter sonntags zum Kirchgang trug. Ob der Teufel so schön aussehen konnte? Es musste ein Mann sein, sonst trüge er wohl nicht solch enge Hosen. Doch ganz sicher war Clemens sich nicht, da das Gesicht von langen Haaren eingerahmt wurde. Nervös nahm er das Kratzen am Arm wieder auf. »Wie heißt du denn, Kleiner?« Clemens, wollte er ausrufen, aber die Angst schnürte ihm die Kehle zu. Was, wenn der Teufel nur seinen Namen wissen wollte, um ihn zu sich zu rufen? Er bewegte sich einen Schritt rückwärts. Und noch einen, bis er mit dem Rücken gegen die Tischkante prallte. »Willst du mir deinen Namen nicht verraten? Ist er ein Geheimnis?« Clemens schluckte schwer. Dann hörte er mit einem Mal Augustes Stimme auf der Kellertreppe. Als wäre ein Bann gebrochen, stieß er sich vom Tisch ab und stürzte an dem Fremden vorbei durch die Tür. Er rechnete jeden Augenblick damit, von hinten gepackt und in die Hölle geworfen zu werden, und foh die Treppenstufen hinauf ins Freie. Oben fasste Auguste ihn am Ärmel. »Wo bleibst du denn so lange?« Clemens zerrte sie den Kiesweg entlang, vorbei am Pferdestall und zur rückwärtigen Ausfahrt. Erst als sie das Tor hinter sich gelassen hatten und auf der Straße standen, hielt er keuchend inne. 8 »Auguste!« Er rang nach Atem. »Ich habe … den Teufel herbeigepffen!« Seine Schwester knif die Augen zusammen und schürzte die Lippen. »Wo ist die Wafel?« »Ich habe keine«, gestand er. »Gerade als ich sie nehmen wollte, erschien mir der Teufel und fragte nach meinem Namen.« Auguste sah ihn prüfend an. »Du hast ihn doch hoffentlich nicht verraten?« »Natürlich nicht!«, erwiderte Clemens brüsk. Wie konnte sie nur glauben, dass er so dumm wäre? »Dann ist es gut.« Sie zupfe an ihrem Rock und überlegte. »Und weshalb hast du dann Krümel am Mund?« Darauf wusste Clemens nichts zu antworten. Aber er sah seiner Schwester an, dass sie ihm nicht glaubte und dass sie davon überzeugt war, er hätte sich den Teufel nur ausgedacht. 9 1 April 2014 Mit dem Haus in der Poppelsdorfer Allee stimmte etwas nicht. Als ich es das erste Mal sah, war ich davon überzeugt, mich in der Straße geirrt zu haben. Das konnte doch unmöglich mein Haus sein. Und doch stimmte die Adresse mit der im Brief überein, den ich in der Hand hielt, auch wenn in dem fahlen Licht der Straßenlaterne das Papier blass und die Tinte farblos wirkte. Mit einem fauen Gefühl schob ich das Eisentor auf. Es erschien mir nicht richtig, allein hierher zu kommen, ohne Freddy. Der Zuweg war nur schwach beleuchtet, die buschigen Heckenpfanzen zu beiden Seiten erahnte ich mehr, als ich sie sah, und die Haustür war in völlige Dunkelheit getaucht. Ich zog mein Handy aus der Tasche und strahlte mit dem Licht des Displays die beiden Klingelschilder an: Klara Oltmanns stand auf dem oberen und darunter: Nauenberg. Der Anblick meines eigenen Nachnamens erschien mir falsch, als hätte jemand ihn unberechtigterweise hier angebracht. War das der Grund dafür, dass meine Hände zitterten und ich mich so unwohl fühlte? Freddy hätte darüber gelacht und mir mit dem Ellbogen in die Seite geboxt. Ich war spät dran: Schon halb zehn, dabei hatte ich der alten Dame, die oben wohnte, am Telefon versprochen, ich käme gegen sieben Uhr abends an. Ob Frau Oltmanns überhaupt noch mit mir rechnete? 10 Im Hausfur brannte kein Licht und ich drückte nur zögerlich auf die Klingel. Während ich auf herannahende Schritte lauschte, betrachtete ich die Tür, in deren Flügel Ornamentglas eingelassen war. Mein Spiegelbild glich einem Geist. Eine verzerrte Silhouette mit einem Gesicht, das sich in einem schwarzen Loch verlor. Ich strich mit den Fingerspitzen über die Konturen der Holzvertäfelung. Kurz dachte ich an meinen Vater, dessen Elternhaus nun mir gehören sollte. Hier war sein Zuhause gewesen, bevor er es mit Anfang zwanzig verlassen hatte. Vielleicht hatte er diese Tür zugeknallt, wenn er wütend war, oder war auf das schmale Geländer geklettert. Vielleicht hatte er auf diesen Stufen gesessen, wenn er von einer seiner Studentenpartys heimgekehrt war. Ich wusste es nicht und es war mir auch egal. Dass ich überhaupt hierher gefogen war – ohne Freddy –, war allein Kathis Überredungskunst zu verdanken, die behauptet hatte, ich würde es bereuen, wenn ich mir das Haus nicht einmal ansähe. Ein Klicken ließ mich auforchen. Im Hausfur brannte ein dumpfes Licht auf und schlurfend näherte sich ein Schatten, der immer kleiner wurde. Eine Frau mit schlohweißem Haar öfnete mir die Tür. Sie reichte mir gerade bis zum Kinn. Ihr Gesicht glich einem zerknüllten Stück Papier, das man vergeblich versucht hatte glattzustreichen. Eine vergilbte Seite, die von Altersfecken übersät war. »Entschuldigen Sie, dass ich so spät zu störe. Julia Nauenberg, wir haben letzte Woche telefoniert. Heinrich Nauenberg war mein Opa.« Ihre knochigen Finger fühlten sich kalt an. Es war schwer, ihr Alter zu schätzen, weil sie meine Hand kräfig umfasste und ihre Augen mich wach ansahen. 11 Doch vom Notar wusste ich, dass sie bereits als junges Mädchen in diesem Haus gearbeitet hatte und seither hier wohnte. Beinahe ihr gesamtes Leben. »Ich habe mir schon Sorgen gemacht«, sagte sie. Beim Sprechen verrutschte ihr Gebiss. Es schmatzte, wenn sie den Mund auf- und zumachte. »Bei den jungen Leuten weiß man nie. Und dann auch noch mit dem Flugzeug.« Sie schüttelte den Kopf. »Kein Auge konnte ich zumachen.« »Das tut mir leid«, sagte ich und schloss hinter mir die Haustür. Mit den Pantofeln rutschte die alte Dame über das schwarz-weiße Fliesenmuster und blieb vor einer Kommode stehen. Beim Blick in den Spiegel darüber zupfe sie an ihrem Haar, das wie elektrisiert in alle Richtungen abstand, dann fschte sie aus der obersten Schublade einen Schlüsselbund. »Hier sind die Schlüssel zum Haus und zu den Kellerräumen. Den für die Garage habe ich nicht gefunden.« »Das macht überhaupt nichts, ich habe ja kein Auto.« Frau Oltmanns erschien mir weich und knochig zugleich. Ihr Gesichtsausdruck verschwamm zwischen einem sanfen und einem strengen Blick und sie musterte mich verstohlen. Die Schlüssel lagen mir überraschend schwer in der Hand. Gut fühlte ich mich nicht dabei, als ich sie annahm. Sie gehörten mir doch gar nicht. »Wie lange werden Sie bleiben?« »Nur einige Tage. Ich würde gerne die Sachen meines Opas durchsehen, vielleicht fnde ich ein paar Erinnerungen an meinen Vater. Ich hofe, ich störe Sie damit nicht.« Das war keine Floskel von mir. Ich war es 12 gewohnt, mich im Hintergrund zu halten und nicht aufzufallen. In meinem Beruf hatte ich diese Unsichtbarkeit perfektioniert und mittlerweile war mir unbehaglich zumute, sobald die Aufmerksamkeit sich auch nur kurz auf mich richtete. »Da haben Sie aber einiges durchzusehen. Hat nie was weggeworfen, der Herr Nauenberg.« Während sie das sagte, schleppte sie sich zum Treppenaufgang. »Können Sie mir noch zeigen, wo ich schlafen kann?« Sie blieb auf halber Strecke stehen und knif die Augen zusammen. »Ich benutze nur zwei Zimmer im zweiten Stock. Ich bin jetzt müde, da müssen Sie schon selber sehen«, sagte sie und rafe den Morgenrock. Bei jedem ihrer Schritte ächzten die Stufen der alten Treppe. Etwas verloren blieb ich im Flur zurück. Wie unangenehm, hier herumzuschleichen. Viel lieber wäre es mir gewesen, wenn Frau Oltmanns mich durchs Haus geführt hätte, aber sie war bereits oben angelangt. Ich hörte, wie sie die Tür hinter sich zuzog. Nicht laut, aber energisch. Zaghaf öfnete ich die Flügeltür und spähte in den düsteren Raum dahinter. Nur ein schmaler Lichtstreifen der Straßenlaterne drang durch einen Spalt des Fensterladens. An der Wand ertastete ich einen runden Knauf und drehte ihn um, doch es blieb dunkel. Frau Oltmanns hatte ofenbar hier unten die Sicherung abgedreht. Mit ausgestreckten Händen bewegte ich mich bis zum Fenster und drückte die Klappläden nach außen. Die Kastanienbäume der Allee verschluckten einen Teil der Laternenbeleuchtung, aber nun erkannte ich wenigstens die Umrisse der Möbel. 13 Gruselig war es dennoch, so allein in dieser Wohnung. Auf der Suche nach einem Schlafzimmer tastete ich mich durchs Erdgeschoss und landete schließlich im Esszimmer. Ein riesiger Tisch nahm den ganzen Raum ein. An der Rückwand des Zimmers lugte ein Knauf hervor. Ein Wandschrank? Meine Hand glitt über das weiß lackierte Holz und mit einem leichten Widerstand gab die Tür nach. Ein kalter Lufstrom zog herein. Einen kurzen Moment hatte ich den unsinnigen Gedanken, dass das Haus atmete. Doch dann begrif ich, was es war: Ein Lastenaufzug, wie er früher in großen Häusern üblich war, um Speisen und Geschirr von der Küche nach oben zu transportieren. Als ich den Boden des Aufzugs abtastete, stieß ich gegen einen Gegenstand und meine Finger schlossen sich um eine Art Rohr. Vor Überraschung hätte ich beinahe aufgelacht. Es war eine schlanke, altmodische Flöte mit einem seitlichen Anblasloch. Eine Querföte. Die vielen Hände, die sie im Lauf der Jahre angefasst haben mussten, hatten das Holz abgewetzt. Ich wusste nicht, was mich dazu bewog, darauf zu spielen. War es Neugier oder ein innerer Zwang? Doch wie von selbst berührten meine Lippen das Mundstück und bliesen sanf hinein. Als ich mich später in dieser ersten Nacht unruhig auf dem kleinen Sofa der altmodischen Sitzgarnitur drehte, ärgerte ich mich, dass ich mich nicht getraut hatte, Frau Oltmanns wegen des Lichts zu stören. Freddy hätte keine Sekunde gezögert. Mein einziger Trost war die Flöte, die ich in den Händen hielt und die mir seltsam vertraut erschien. 14 2 Als ich erwachte, war es bereits taghell. Ich knif die Augen zusammen und tastete auf dem Teppichboden neben dem Sofa nach meinem Smartphone, um zu schauen, wie viel Uhr es war. Hatte ich es nicht zusammen mit der Flöte dort abgelegt? Doch auch die Flöte war nicht mehr an ihrem Platz. Das Haus war wirklich riesig. Allein in das Wohnzimmer passte unsere ganze WG und ich wünschte, Kathi hätte mitkommen können, um sich das anzusehen. Nun konnte ich sie nicht einmal anrufen, um ihr davon zu erzählen. Das angrenzende Zimmer war vermutlich ein Büro gewesen. Neben einem Ungetüm der ersten Computergeneration entdeckte ich eine alte Schreibmaschine. Von den dicken Wälzern im Regal wandte ich mich ab: Gesetzestexte und sonstiger Juristenkram interessierten mich nicht. Vor dem Durchgang zum Büro stand ein Klavier in dunklem Nussbraun, das mir sehr gefel. Freddy hatte früher Keyboard gespielt und hätte sicher Spaß daran gehabt, ein wenig darauf zu klimpern. Ich klappte den Kofer auf, den ich neben dem Sofa abgestellt hatte, und hängte meine Lieblingsbluse an das Bücherregal. Die ganze Nacht hatte ich in den engen Jeans verbracht und sehnte mich nach einer heißen Badewanne, die meine Anspannung vertreiben würde. Den Toilettenbeutel und ein Handtuch unter den Arm geklemmt, trat ich auf den Flur. Es roch muf- 15 fg und feucht, was mir bei der Ankunf gar nicht aufgefallen war. Aus der zweiten Etage hörte ich gedämpfe Fernsehgeräusche. Frau Oltmanns reagierte nicht auf mein Klopfen. Sie saß, mit einem Morgenrock aus Frottee bekleidet, in einem faschengrünen Sessel. Ein Kopförer baumelte ungenutzt unter ihrem Kinn, die Lautstärke des Fernsehers war ohrenbetäubend. Sie hatte die Augen weit aufgerissen, die Lippen zusammengepresst. Ihre knochigen Finger krallten sich im Plüschbezug fest. Als ich sie ansprach, zuckte sie zusammen und fasste sich an die Brust. »Verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich habe angeklopf«, fügte ich hinzu. Sie keuchte angestrengt. »Es gibt ja so schlechte Menschen!« Mit dem Kinn deutete sie auf den Fernsehbildschirm. Es lief die Wiederholung einer Daily-Talkshow. Unten am Bildschirmrand prangte der Titel der Sendung: Sexunfall – Das ist nicht mein Kind! Frau Oltmanns versuchte, mir die Zusammenhänge zu erklären und begann zu gestikulieren. »Die Frau im rosa Pullover ist mit diesem Mann verheiratet.« Sie zeigte auf den Bildschirm. »Und dann hat sie sich mit dem anderen eingelassen und von ihm ein Kind bekommen.« Sie betonte das Kind, als wäre es eine furchtbare Viruserkrankung. »Es gibt so schlechte Menschen«, wiederholte sie. »Das sind doch bloß Schauspieler«, versuchte ich sie zu beruhigen. Sie schüttelte den Kopf, wobei der Kopförer an ihrer Kehle wackelte. »Eben haben sie Fotos von dem Kind gezeigt und Hochzeitsbilder.« Nun stellte sie den Ton noch lauter. Als die Talkgäste anfngen, sich wüst zu beschimpfen, räusperte ich mich. 16 »Eigentlich wollte ich Sie nur fragen, wo ich den Sicherungskasten fnde.« »Wie bitte?« »Den Sicherungskasten! Wo fnde ich den? Ich habe unten keinen Strom.« Frau Oltmanns Blick löste sich keine Sekunde vom Bildschirm. »Im Rauchzimmer.« »In welchem Rauchzimmer?« »Vor dem Wintergarten.« Ihre Augen weiteten sich. Der eine Mann hatte den anderen als Schmarotzer beschimpf und war dunkelrot angelaufen. Ich murmelte ein hastiges Dankeschön, was sie nicht einmal bemerkte. Als ich die Tür zuzog, ließ ich die Geräuschkulisse erleichtert hinter mir. Auf meinem Weg nach unten fand ich im ersten Stock ein Bad, in dem ich mich notdürfig waschen konnte. Leider gab es keine Badewanne, sondern nur eine Dusche, deren Boden eingerissen und unbenutzbar war. Die Fliesen an der Wand hatten eine Farbe wie Ochsenblut und waren Ende der Siebziger vermutlich der letzte Schrei gewesen – jetzt wirkten sie schäbig. Das Rauchzimmer verband das Esszimmer mit dem Wintergarten. Bei Tageslicht betrachtet, war sein Zweck unübersehbar. Die Wände waren vergilbt und die Spinnweben an der Decke mit Staub gepudert. Einige Stellen der Tapete leuchteten in kräfigem Rot, als wartete die Wand darauf, dass jemand, einem Puzzle gleich, die fehlenden Bilderrahmen wieder aufhängte. In dem milchigen Licht, das durch die verschmutzten Fenster auf die Fliesen fel, untersuchte ich den Sicherungskasten. Ich schob alle Schalter nach oben und riss anschließend das Fenster auf. Obwohl die alte Dame hier wohnte und jeder Raum mit Antiquitä- 17 ten möbliert war, empfand ich das ganze Haus wie abgestorben. Ein blutleeres Gebäude voller unbekannter Erinnerungen, die mir vorkamen wie die Stücke, die ich am Set dekorierte; die erst zu Leben erwachen würden, wenn Schauspieler sich darin bewegten. Aber vielleicht lag es nur daran, dass ich meinen Großvater gar nicht gekannt hatte und mir seine Familiengeschichte fremd war. Tief atmete ich die hereinströmende Aprilluf ein, als ich mit einem Mal einen leisen Pfeifon hörte. Es klang schief und kraflos, mehr wie ein Prusten. Der Fernseher von Frau Oltmanns war verstummt. Kein Laut war aus der oberen Etage zu hören. Kein Schimpfen, kein Fluchen, keine nervigen Werbejingle. Nur das Ticken der Standuhr aus dem Wohnzimmer. Es verschmolz mit dem Pochen in meinem Kopf, bis mein Herzschlag sich beschleunigte, anschwoll und schließlich alles übertönte. Mich fröstelte. Mit einem mulmigen Gefühl schloss ich die Fenster wieder. Da ertönte das Pfeifen erneut, noch deutlicher als zuvor. So nah, als bliese mir jemand den Ton direkt ins Ohr. Erschrocken fuhr ich herum und schüttelte dann über meine eigene Anspannung den Kopf. Es konnte jedoch nicht schaden, zu kontrollieren, woher dieses seltsame Geräusch kam. Vielleicht war es die Heizung im Keller? Als ich die wenigen Stufen hinunterstieg, strömte Kälte von draußen herein. Die Kellertür stand sperrangelweit ofen und ein Duf nach Seifenlauge stieg mir in die Nase. Ein lebendiger Geruch, der mir endlich bewusst machte, dass diese Umgebung echt und bewohnt war. Wahrscheinlich hatte Frau Oltmanns ihre Wäsche draußen aufgehängt. 18 Ich wollte die Tür schließen, da ließ mich ein langer Pff zusammenfahren. Er hallte durch den Keller und wiederholte sich in verschiedenen Tonhöhen. Das war kein Heizungsgeräusch – irgendjemand war hier. In meinem Nacken setzte ein seltsames Prickeln ein. Es zog sich über die ganze Kopfaut. Ich folgte dem Nachhall die schmale Treppe nach unten. Als ich den kleinen Jungen in einem der Kellerräume entdeckte, stieß ich vor Erleichterung die Luf aus. Er trug ein altmodisches dunkelblaues Hemd mit Matrosenkragen und kurze graue Hosen. Die Kniestrümpfe waren ihm hinuntergerutscht und entblößten Kratzer an den Beinen. Er schien ebenso erschrocken zu sein wie ich. »Du kannst aber schön pfeifen«, sagte ich freundlich, um ihm keine Angst einzujagen. Seine dunkelblonden Haare waren zerzaust. Als er mich ansah, wechselte seine Überraschung in Misstrauen. Er schien unschlüssig und wippte mit den Fersen auf und ab, dabei kratzte er sich am Arm. Ich lächelte ihm aufmunternd zu. »Wie heißt du, Kleiner?« Bei meinen Worten bewegte er sich rückwärts und stieß gegen die Tischkante. »Willst du mir deinen Namen nicht verraten? Ist er ein Geheimnis?« Der Junge schluckte, sagte aber keinen Ton. Dann hob er auf einmal den Kopf, als lauschte er auf etwas, das nur er hören konnte. Mit einem Ruck stieß er sich vom Tisch ab und stürzte an mir vorbei die Kellertreppe hinauf. Enttäuscht sah ich ihm nach und schloss die Tür hinter ihm. Ich hatte mich gefreut, ein Kind hier zu sehen, und jetzt schien es mir, als hätte der kleine Kerl alles Leben mit sich gerissen. Der Waschmittelgeruch 19 war fortgeblasen. Weder draußen noch in einem der angrenzenden Kellerräume war Wäsche aufgehängt worden und später war ich mir sicher, mir den frischen Duf nur eingebildet zu haben. An diesem Abend fand ich mein Handy in dem hölzernen Lastenaufzug wieder, der bei Tageslicht betrachtet nur noch halb so interessant aussah. Ich konnte mich gar nicht erinnern, es dort hineingelegt zu haben. Einschalten ließ es sich nicht, und als ich es in der Hand drehte, lief ein Rinnsal trüben Wassers heraus. 20 3 August 1907 Mit der Flöte in der Hand schlenderte Clemens über die Brücke des Poppelsdorfer Weihers. Er drängte seinen schlanken Körper durch die Absperrung und rutschte über das Laub. Sein Freund Leo saß zwischen zwei Bäumen. Clemens setzte sich neben ihn ans Ufer und ließ die Flöte in der Hand pendeln. »Lass das ja bleiben«, sagte Leo. »Damit vergraulst du jede Forelle.« Umständlich steckte Clemens die Flöte in seinen Hosenbund. »Würmer?«, fragte er. Leo schüttelte den Kopf. »Bienenmaden.« »Wie schafst du es, dass sie oben schwimmen?« Sein Freund zuckte mit den Schultern. »Du musst sie auflasen.« »Die Maden?« Leo nickte. Mehrere Minuten saßen sie schweigend nebeneinander. Dann drückte Leo die Rute in den lehmigen Boden. »Bist du Herrn Rouvier weggelaufen?« Clemens spielte mit einem Grashalm und schwieg. Dann riss er wütend ein Büschel Halme aus. »Herr Rouvier würde ganz bestimmt oben schwimmen, so aufgeblasen, wie er ist.« Leo starrte ihn überrascht an, dann prusteten beide los und ließen sich lachend nach hinten fallen. Das Sonnenlicht, das durch das Blätterdach drang, zeich- 21 nete abstrakte Muster auf Leos Hals. Clemens lachte noch lauter. »Psst! Die Forellen!« Sein Gelächter nur mühsam unterdrückend, stieß er Leo in die Seite. »Und du? Wovor bist du weggelaufen?« »Ich wollte nur in Ruhe lesen.« Er klopfe auf ein Bündel neben seinen Beinen. »Und Forellen fangen.« »Nur zur Tarnung. Wenn ich damit nach Hause komme, habe ich eine gute Ausrede für meinen Vater. Er mag Forellen, aber er mag es nicht, wenn ich nur rumsitze und nichts tue.« »Lesen ist ja nicht Nichtstun.« »Für ihn schon. Ich könnte stattdessen Tische wischen, Gläser spülen oder Bierfässer herumrollen.« »Herr Rouvier wäre von dir begeistert.« »Wir können ja tauschen«, bot sein Freund seufzend an. »Mir geht der Lärm auf die Nerven. Das ganze Haus voller Männer, das laute Gelächter und dann die Streitereien abends. Ich kann bei diesem Gegröle nicht einschlafen.« »Dafür muss ich um halb neun das Licht löschen und starre vor Langeweile Löcher in die Decke. Glaub mir, es ist nicht besser, wenn sich deine Eltern in den Kopf gesetzt haben, aus dir einen Juristen zu züchten.« »Besser ein Jurist als ein Gastwirt. Ich kann froh sein, dass ich überhaupt noch aufs Realgymnasium gehen darf.« Clemens zuckte mit den Schultern. »Das eine ist so schlimm wie das andere.« »Was würdest du denn gerne tun?« Verlegen rieb Clemens mit dem Zeigefnger über 22 seine Nasenwurzel. Er überlegte, ob er Leo seinen Wunsch anvertrauen sollte. Den Wunsch, der so neu und fremd für ihn war, dass er ihm selbst kaum Glauben schenkte. »Seit Mai arbeitet ein Mann in unserem Garten«, begann er zögerlich. »Er hat ein paar Büsche am Haus ausgegraben und sie verbrannt. An derselben Stelle hat er frische Erde gemischt und Blauregen gesetzt«, sagte er verträumt. »Er ist noch nicht sehr groß, aber der Gärtner hat gesagt, er würde am Wintergarten hochwachsen wie eine Kletterrose. Die Blätter laufen ganz spitz zu, und wenn du sie gegen die Sonne hältst, dann leuchten sie gelblich.« Er seufzte. »Ich wünschte, ich wüsste, wie der blaue Regen einmal aussehen wird.« »Du willst Gärtner werden?« Leo bekam runde Augen. Clemens nickte ernst. »Aber doch nicht nur wegen der Geschichte mit der blauen Blume?« »Nein, natürlich nicht, das wäre doch verrückt«, winkte Clemens ab, aber seine Stimme klang unsicher. Seit damals, als seine Großmutter ihm das alte Märchen vorgelesen hatte, war er beinahe besessen von dieser blauen Blume. Er wusste, dass es unsinnig war, aber irgendwann, so hatte er sich geschworen, würde er sie fnden – müsste er auch die ganze Welt danach absuchen. Nur konnte er das Leo gegenüber unmöglich zugeben. Er richtete sich auf. »Erinnerst du dich noch an unseren ersten Schultag?« »Kein bisschen«, sagte Leo kopfschüttelnd. »Wie kommst du denn jetzt darauf?« »Wirklich nicht?« »Clemens, das ist zehn Jahre her.« 23 »Ich weiß, ich kann rechnen.« »Weiß Herr Rouvier auch davon?« Leo grinste frech, aber Clemens war so in Gedanken, dass er diese Neckerei überhörte. »Ich habe dir damals etwas erzählt.« »Ach, du meinst deine Gruselgeschichte.« Er schlug sich an die Stirn. »Jetzt fällt es mir wieder ein. Du hast mir wirklich Angst eingejagt mit deinem Teufel. Bis heute kann ich nicht pfeifen«, scherzte er. »Ich meine es ernst. Erinnerst du dich, dass ich dir beschrieben habe, wie der Teufel ausgesehen hat?« »Das muss ich verdrängt haben.« Clemens sprang auf, er rang mit sich. Dann platzte es aus ihm heraus. »Ich habe ihn wieder gesehen.« »Wen?« »Den Teufel verfucht nochmal!« Leo rappelte sich auf. »Das ist doch Blödsinn!« »Es ist wahr.« Clemens hatte die Finger ineinander verschränkt, dann kramte er in seiner Hosentasche und hielt etwas verdeckt in den Händen. »Gestern Abend waren meine Eltern bei einem Konzert in der Beethovenhalle. Ich war im Rauchzimmer und habe heimlich eine von Vaters Zigaretten geraucht.« »Haben sie dich erwischt?« Clemens winkte ab. »Ich habe plötzlich Musik gehört. Im ersten Moment dachte ich, Hans hätte meine Flöte genommen, und wollte ihm schon eine verpassen, aber er schlief tief und fest. Und als ich im Salon nachsah, war alles still. Dabei hätte ich schwören können, dass dort drinnen gespielt worden ist.« »Aber du hast deine Flöte doch.« Leo deutete auf Clemens’ Hosenbund. »Sie lag vor dem Sofa auf dem Teppichboden.« 24 »Und was hat das Ganze nun mit deinem Teufel zu tun?«, fragte Leo verwirrt. Clemens hob den Kopf. »Ich habe noch etwas anderes gefunden«, sagte er. »Das hier.« Sein Freund starrte auf das glänzend-schwarze Kästchen, das er in den Händen hielt. »Was ist das?« Clemens’ Lächeln wirkte verkrampf. Ganz sacht berührte er die Oberfäche und sofort erhellte sich alles unter seinem Finger. Leo wich zurück. »Ich habe es die ganze Nacht in der Hand gehalten und es ist nur ein wenig warm geworden.« Er zuckte mit den Schultern. »Immer wenn ich diese Stelle hier berühre, dann sehe ich verschiedene Bilder.« Er tippte weiter darauf herum. »Und das hier«, er hielt Leo den Apparat vor die Nase, »ist das Wesen, das ich damals in unserer Küche gesehen habe.« »Wie kannst du dir da so sicher sein?« Skeptisch nahm er das Gerät in die Hand und sog dann die Luf ein. »Das ist eine Frau.« »Eben.« »Wie funktioniert es?« Leo war fasziniert. »Ich habe keine Ahnung.« Leo hob das Kästchen hoch und tippte mit dem Finger auf die blankpolierte Fläche. Es schnipste und ein plötzliches Licht blitzte direkt in Clemens’ Gesicht. Leo ließ das Ding vor Schreck auf den Boden fallen. »Was habe ich getan?« Clemens bückte sich und stellte erleichtert fest, dass die Oberfäche immer noch leuchtete. Dann keuchte er auf, denn er sah sich selbst darin – mit weit aufgerissenen Augen und in aller Farbe. Leo riss ihm das Kästchen aus der Hand. 25 »Oh Clemens, verdammt!«, rief er aus. Und einer plötzlichen Eingebung folgend holte er aus und warf das Ding weit hinaus in den Poppelsdorfer Weiher. 26 4 Clemens überlegte keine Sekunde. Er zerrte sich die Schuhe von den Füßen und sprang. Kopfüber tauchte er ein, doch der aufwirbelnde Schlamm machte es unmöglich, sich zu orientieren. Schwerelose Algenfetzen umgaben ihn. Dumpf hörte er Leos Stimme. »Komm wieder raus! Lass das Ding doch drin!« Wieder an der Oberfäche versuchte Clemens abzuschätzen, wo genau das Gerät ins Wasser geplumpst war, und schwamm mehrere Züge in Richtung des anderen Ufers, bevor er erneut untertauchte. Langsam schwebte er zu Boden, hielt ganz still, damit das Wasser sich beruhigen und seine Sicht klären konnte. Doch je weniger er sich bewegte, umso schneller trieb sein Körper hoch. Er ruderte kurz, gab dann aber frustriert dem Aufrieb nach. »Hilf mir gefälligst!«, prustete er, nachdem er sich das feuchte Haar aus dem Gesicht geschüttelt hatte. »Du glaubst doch wohl nicht, dass ich dir hinterherspringe.« »Und ob!« »Aber doch nicht wegen dieses verdammten Kastens!«, brüllte Leo und stieß einen Fluch aus, weil einige Fußgänger beim Überqueren der Brücke auf sie aufmerksam geworden waren. Kopfschüttelnd waren sie stehengeblieben, eine Frau deutete mit ausgestrecktem Arm auf Clemens, von dem nur der nasse Haarschopf aus dem Wasser ragte. 27 »Beeil dich«, rief Clemens ihm zu. Leo stöhnte, bevor er schließlich nachgab und unter Verwünschungen Schuhe und Hemd auszog. Knapp neben Clemens tauchte er auf und warf ihm einen grimmigen Blick zu. »Ich krieg Riesenärger zu Hause.« »Glaubst du, ich nicht? Tauch!«, befahl er. Leo verschwand und eine Sekunde später wurde Clemens an den Beinen nach unten gezogen. Er stieß einen Schrei aus, ruderte wild mit den Armen und versank. Wieder oben husteten und spuckten beide Wasser. Dann lachten sie. Ein Ruf ließ sie innehalten. Aus dem Wärterhäuschen lief ein Mann auf die Brücke zu und fuchtelte energisch mit den Armen. »Driss!«, fuchte Leo und schwamm in großen Zügen zum Ufer des Botanischen Gartens. Aber Clemens wollte sich nicht so schnell geschlagen geben und tauchte unter. Der Wächter stand genau über ihm auf der Brücke, kratzte sich am Kinn und wanderte dann auf der Suche nach ihnen die Promenade ab. Als Clemens aufauchte, trafen sich die Blicke der beiden Freunde. Clemens grinste, dann schwamm er unter der Brücke durch. Wenige Minuten später huschte er durch das Tor zum Innenhof seines Elternhauses. Die Füße nackt und schmutzig, Hemd und Hose klebten ihm am Körper und sein Gewissen drückte ihn, weil Leo zu Hause vermutlich ein Donnerwetter erleben würde. Der Kies bohrte sich in seine Fußsohlen und er war froh, als er die kühlen Stufen der Kellertreppe erreicht hatte. Die Erleichterung hielt aber nur so lange an, bis er die Stimme der Mamsell vernahm. »Sie sind triefend nass, Herr Leonhard!«, stellte sie fest. 28 Leo war bereits hier? Clemens konnte die Antwort seines Freundes nicht verstehen, aber ofenbar befriedigte sie die Mamsell nicht, denn sie schnaubte vernehmlich. Er tappte durch den Flur bis in den Vorraum, in dem Geschirr und Tischwäsche aufewahrt wurden. »Ein Missgeschick, liebste Mamsell«, sagte Clemens. Überrascht wandte sich die Köchin um. Ihre Augen verengten sich. Hinter ihr kicherte das Küchenmädchen. Leo atmete erleichtert aus. »Bitte besorg mir was zum Anziehen, sonst überlebe ich diesen Tag nicht«, fehte er ihn an. Clemens grinste. »Fritzi, sag meiner Schwester Bescheid, sie möge ohne viel Aufsehens einige Kleidungsstücke herunterschicken.« Die Mamsell rümpfe die Nase. »Ich möchte doch bitten, dass die Herren sich einen anderen Ort zum Umziehen suchen«, sagte sie. »Nichts lieber als das.« Die Köchin wich zurück, als Clemens einen Schritt auf sie zu machte. Lachend drückte er die hagere Frau, die mit einem empörten Laut versuchte, sich aus seiner nassen Umarmung zu befreien. »Gnädiger Herr, Sie riechen fürchterlich.« »Das sind die Grünalgen. Können Sie mir sagen, wie ich so am Bureau meines Vaters vorbeischleichen soll? Ich bin zu alt, um in den Aufzug zu klettern.« »Was Sie nicht davon abgehalten hat, es letzte Woche noch einmal zu versuchen.« »Aber ich bin gescheitert«, sagte Clemens betrübt. Nach wenigen Minuten klapperten Absätze auf der Kellertreppe. Clemens’ Schwester kam die Stufen herunter und bekam große Augen beim Anblick der bei- 29 den jungen Männer. Leo versuchte erfolglos, seinen nackten Oberkörper hinter der Köchin zu verbergen. Auguste klang völlig unbeteiligt. »Guten Tag, Leo.« Sie ging an den Dreien vorbei zum Lastenaufzug, öfnete ihn und zog ein Kleiderbündel und zwei Paar Schuhe heraus. Wortlos übergab sie ihrem Bruder das Bündel, wobei es in ihrem Mundwinkel verräterisch zuckte. »Ich erwarte euch im Salon«, sagte sie, bevor sie sich auf dem Absatz umdrehte. Sobald ihre Schritte verstummt waren, stürzte sich Leo auf Clemens und riss ihm die Kleider aus den Händen. »Also gut«, sagte die Mamsell. »Aber danach möchte ich Sie beide hier nicht mehr sehen.« Clemens sah der Köchin nach, bis sie hinter der Küchentür verschwunden war. »War doch halb so wild.« »Halb so wild?« Aufgebracht riss Leo sich die nasse Hose herunter. »Nicht nur, dass ich mich vor deiner Schwester völlig blamiert habe, ich habe auch noch meine Schuhe am Weiher liegen lassen.« »Meine Flöte konnte ich auch nicht mitnehmen.« »Deine Flöte ist mir völlig wurscht! Weißt du, was neue Schuhe kosten?« Leo fuhr sich hektisch durch die dunklen Haare. »Ich hab nur das eine Paar.« »Mach dir keine Sorgen, ich hole sie.« »Wenn sie inzwischen nicht jemand mitgenommen hat.« »So schön waren sie auch wieder nicht«, sagte Clemens und wurde mit einem geradezu mörderischen Blick bedacht. Völlig unbeeindruckt zog er triumphierend etwas aus seiner Hosentasche. »Aber ich habe das 30 hier wiedergefunden!« Er zeigte Leo das kleine, schwarze Kästchen, das feucht glänzte. »Na großartig.« Clemens tippte darauf herum, aber die Seite blieb schwarz. In böser Ahnung nahm er sein Hemd und rieb es damit trocken. Vorsichtig glitt sein Zeigefnger über das Glas und zeichnete einen Kreis darauf. Doch er sah nur sein eigenes Spiegelbild. »Nun mach schon!«, drängte Leo. »Deine Schwester wartet.« Missmutig legte Clemens den Fund auf dem Regalboden des Aufzugs ab. Er begann, seine Hose aufzuknöpfen, als ein lautes Quietschen ihn im selben Moment hochfahren ließ. »Verfucht!«, rief er aus, konnte aber nur noch hilflos zusehen, wie sein Fund im Schacht nach oben gezogen wurde und im Erdgeschoss verschwand. 31 5 April 2014 Beim Durchstöbern des Büros entdeckte ich ein gelbstichiges Urlaubsfoto meines Opas, das ich auf Anfang der Siebziger datierte, weil mein Vater, der steif neben ihm stand, darauf nicht älter aussah als fünfzehn. Ich konnte mich an meinen Opa überhaupt nicht erinnern, denn als wir nach Berlin gezogen waren, war ich erst zwei gewesen. Freddy hatte immer behauptet, dass er ein verbitterter alter Knacker gewesen sei, der sich nur für seine Kanzlei interessierte. Natürlich hätte ich mir einreden können, dass er uns beide geliebt und schmerzlich vermisst hatte und dieser Gedanke war sehr verlockend. Doch ich wusste, dass ich mich damit nur selbst belog, und das verstärkte nur mein Gefühl, dass es falsch war, in diesem Haus zu wohnen. Heute Morgen hatte ich meinen Erbschein der Bank vorgelegt, es aber nicht gewagt, Geld vom Konto meines Opas abzuheben. Ich hätte mich wie ein Dieb gefühlt, weil eigentlich mein Vater das alles geerbt hätte, wäre er nicht schon vor Jahren gestorben. Und ganz bestimmt würde ich mir kein neues Handy von diesem Geld kaufen. Ich betrachtete die Einzelteile meines Smartphones auf dem Tisch: Über Nacht hatte ich den Akku ausgebaut und zum Trocknen auf ein Handtuch gelegt. Große Hofnungen machte ich mir nicht und noch immer war es mir ein Rätsel, wie es nur nass geworden war. 32 Ich konnte mich ja nicht einmal erinnern, es im Aufzugschacht abgelegt zu haben. Noch gönnte ich dem Handy ein paar Stunden zum Trocknen – ich würde es zusammenzusetzen, nachdem ich das Haus auf Vordermann gebracht hatte. Das war meine Wiedergutmachung, weil ich hier umsonst wohnte, redete ich mir ein, damit würde ich mir diesen kleinen Urlaub verdienen. Außerdem wäre es schön, heute Nacht wieder in einem sauberen Bett zu schlafen und mich nicht auf dem Sofa im Wohnzimmer verrenken zu müssen. Im Keller fand ich mehrere Putzeimer und einen Besen, aber leider keinen Staubsauger. Es gab insgesamt acht Zimmer und ein weiteres Esszimmer, das genau über dem Speisezimmer des Erdgeschosses lag. Ein Raum ließ sich jedoch nicht öfnen. Es lag an der Straßenseite und bot ganz sicher einen herrlichen Ausblick auf die alte Allee. Ich rüttelte an der Tür, aber sie gab nicht nach. Entweder das Schloss klemmte, oder es war tatsächlich abgeschlossen. Durch das Schlüsselloch sah ich nichts als Schwärze. Enttäuscht wandte ich mich ab und inspizierte das Zimmer direkt gegenüber, dessen Fenster zum Hinterhof zeigte. Wildnis. Das war das Erste, was mir zum Blick in den Garten einfel. Die Büsche an den Mauerseiten wucherten über die Wege, überall schossen Eschen in die Höhe. Ich erkannte Schneespieren und Rotdorn und bei der Pfanze, die am Wintergarten hochrankte, musste es sich um Blauregen handeln. Die Äste waren lange nicht gestutzt worden und ragten schwer hinunter, einige Dachschindeln hatten den wuchernden Trieben Platz gemacht und sich verschoben. Die ersten 33 Blüten leuchteten bereits in Lila-Blau, obwohl keine Blätter an den Zweigen hingen. Es sah märchenhaf aus und ich wusste sofort, dass ich in diesem Zimmer schlafen wollte. Ich konnte förmlich hören, wie Freddy darüber gelästert hätte. »Bist eben doch ein Mädchen«, hatte er gesagt, als ich über die Nachricht, dass sich in seinem Körper Metastasen gebildet hatten, geheult hatte. »Ausgerechnet am Sack muss ich Krebs kriegen.« Das war der einzige Fluch gewesen, den ich je von ihm gehört hatte. Bei jedem weiteren Gespräch war er schrecklich gleichgültig gewesen. Obwohl die Heilungschancen bei Hodenkrebs gut standen, war es mir immer so vorgekommen, als hätte Freddy von Anfang an gewusst, dass das nicht auf ihn zutraf. Trotz der kargen Einrichtung fühlte ich mich in diesem Zimmer sofort wohl. Das Bett bestand aus einem einfachen Metallgestell, weder alt noch schön, und versteckte sich unter einer orange-braunen Tagesdecke. Dagegen war das Nachtschränkchen sicher hundert Jahre alt und wurde von einer schweren Marmorplatte abgedeckt. Der Schrank gegenüber stand ofen, was daran liegen musste, dass er sich auch mit Gewalt nicht schließen ließ. Er beherbergte mehrere Stapel mufger Handtücher. An der Wand lehnte ein großes Bücherregal, das sofort mein Interesse weckte. In den oberen Reihen fand ich aber nur diverse Schmöker von Konsalik und Simmel. Ganz unten waren Bücher grob gestapelt und zusammengeschoben worden. Ich zog einige davon heraus und stellte fest, dass sie alle aus der Zeit zwischen 1908 und 1927 stammten. Der Großteil war aus den 10er Jahren und von Hedwig Courths-Mahler: romantische Frauenliteratur in Frakturschrif. Zwei 34 Bände nahm ich beiseite, einmal »Die Bettelprinzeß« und ein Exemplar mit dem Titel »Was lieblich ist und wohl lautet« aus dem Jahr 1926. Ich hielt die Luf an, als ich die Tagesdecke langsam vom Bett zog, um nicht vom aufwirbelnden Staub erstickt zu werden. Jedes Stückchen Stof, von der Bettwäsche bis zu den Vorhängen warf ich auf einen Haufen in den Flur. Mit dem Besen fegte ich Decke und Wände ab, weil ich keine Lust hatte, meinen Schlafplatz mit einer Spinnenfamilie zu teilen, wusch Schränkeund Regalböden aus und zerrte den alten Teppich unter dem Bett hervor, um ihn draußen auszuschütteln. Beim anschließenden Bodenschrubben lief mir der Schweiß in Bächen herunter und ich pustete mir eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht. Erst am frühen Abend wurde ich fertig und hatte das Bett frisch bezogen. Die Vorhänge aus dem Wohnzimmer wehten draußen in der Dunkelheit auf der Leine. Die Gardinen im Schlafzimmer hatte ich ungebügelt wieder aufgehängt. Sie dufeten nun herrlich nach Wind, Sonne und den Blüten des Blauregens. Hofentlich war mein Smartphone noch intakt. Ich schob die SIM-Karte in den Schlitz und legte den Akku ein, bevor ich die beiden Schalen zusammensteckte. Es dauerte einen Moment, doch dann leuchtete der Bildschirm auf und ich atmete erleichtert aus. Das Hintergrundbild hatte ich erst vor einigen Wochen ausgetauscht, weil ich es nicht ertrug, beim Einschalten jedes Mal das aufmunternde Lächeln meines Bruders zu sehen – die letzte Aufnahme, bei der Freddy noch draußen durch den Park des Krankenhauses hatte spazieren können. Stattdessen hatte ich ein Foto von Kathi und mir ausgewählt. Es war nach unse- 35 rem letzten gemeinsamen Filmprojekt in Prag aufgenommen worden und wir hatten albern in die Kamera gelacht, weil uns zwei der tschechischen Schauspieler kurz zuvor mit ihren grauenvollen Masken beim Catering aufgelauert hatten. Aber das war nicht das Foto, das ich nun auf meinem Bildschirm sah. Perplex starrte ich auf mein Handy. Ich sah das unscharfe Bild eines jungen Mannes mit dunkelblonden Haaren und blauen Augen. Im Hintergrund ein paar Sträucher und einen See. Wo es aufgenommen worden war, konnte ich nicht erkennen. Wasser!, dachte ich überrascht und überlegte, ob das die Erklärung sein konnte. Hatte der Typ etwa mein Handy gestohlen? Nur wo? Auf einmal kam mir ein Gedanke: Wenn mein Handy danach wieder im Aufzug gelandet war, dann musste der Mann hier im Haus gewesen sein. Mir wurde übel bei der Vorstellung, dass ich womöglich geschlafen hatte, während er durch das Haus geschlichen war. Am liebsten hätte ich das Bild sofort gelöscht. Doch dann wurde mir klar, dass es eventuell ein Beweismittel sein könnte und die Hand schon über dem Touchscreen hielt ich inne. 36
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