71 Übersichtsarbeit Kompressionstherapie bei adipösen Patienten S. Reich-Schupke Artemed Fachklinik Prof. Dr. Dr. Salfeld GmbH & Co KG, Bad Oeynhausen Schlüsselwörter Kompressionstherapie, Adipositas, komplexe Entstauungstherapie, Dependency-Syndrom, Ödem Zusammenfassung Getriggert durch eine Adipositas können venöse (Adipositas-assoziiertes DependencySyndrom) und lymphatische Abflussstörungen (Adipositas-assoziiertes Lymphödem) entstehen, die per se eine Kompressionstherapie erforderlich machen, oder weitere Komorbiditäten mit Indikation zur Kompressionstherapie bestehen. Bei adipösen Patienten sind für die Kompression einige Besonderheiten zu beachten: - Eine initiale suffiziente Entstauungsphase mit Polster- und Bandagematerialien, - eine Strumpfversorgung mit hoher Stiffness (Materialien mit hoher Festigkeit, ggf. Flachstrick) und optimale Passform (sorgfältige Anpassung), Korrespondenzadresse Priv.-Doz. Dr. Stefanie Reich-Schupke, Artemed Fachklinik Prof. Dr. Dr. Salfeld GmbH & Co KG Portastraße 33–35, 32545 Bad Oeynhausen Tel. +49–5731–182–0, Fax +49–5731–182–100 E-Mail: [email protected] - alltagstaugliche Versorgungsformen, ggf. geteilte Versorgungen, -Notwendigkeit von Hilfsmitteln oder Hilfspersonen zur Sicherung der Anwendung, -begleitende konsequente, intensiv rückfettende Hautpflege und optimierte Hygiene zur Reduktion von Komplikationen und Nebenwirkungen und - eine regelmäßige ärztliche Passkontrolle der Kompression am Bein. Manchmal sind – insbesondere bei der Erstversorgung und bei komplizierten Körperformen – mehrfache Nachbesserungen der Strumpfversorgung erforderlich, bis ein optimaler Sitz erreicht wird. Keywords Compression therapy, obesity, complete decongestive therapy, dependency syndrome, oedema Zitierweise des Beitrags/Cite as: Compression therapy in obese patients Phlebologie 2015; 44: 71–76 DOI: http://dx.doi.org/10.12687/phleb2261-2-2015 Eingereicht: 15. Februar 2015 Angenommen: 24. März 2015 Summary Triggered by obesity, venous (obesity-associated dependency syndrome) and lymphatic drainage disorders (obesity-associated lymphoedema) can develop, which in themselves require compression therapy, or other comorbidities with indication for compression therapy may exist. In obese patients, some specific features have to be observed in compression therapy: -An adequate initial decongestive phase with padding and bandage materials, - Compression hosiery with a high degree of stiffness (high-strength materials, where appropriate, flat-knitted) and optimal fit (meticulous fitting), - Garment types that are suitable for daily use, if necessary, multi-part garment, - Need for aids or auxiliary persons to ensure correct use, - Concomitant consistent, intensive, lipid-replenishing skin care and optimised hygiene to reduce complications and side effects -Regular medical check-ups to ensure correct fit of the leg compression garment. Sometimes, especially in the first compression treatment and with a complex body shape, multiple improvements are necessary until a perfect fit can be realized. English version available at: www.phlebologieonline.de Entsprechend den Einschätzungen der WHO entwickelt sich die Adipositas zu einer weltweiten Epidemie (13). Mittlerweile sind ca. 2/3 der Bevölkerung der USA übergewichtig, überraschenderweise sind auch ca. 70 % der Bevölkerung von Mikronesien, Tonga und den Cookinseln adipös. In Deutschland sind nach den Zahlen des Bundesinstitutes für Bevölkerung und Entwicklung immerhin 60 % der Frauen und © Schattauer 2015 40 % der Männer übergewichtig – Tendenz steigend (3, 13). Diese Entwicklung hat nach aktuellen Hochrechnungen und Schätzungen einerseits erhebliche sozioökonomische Bedeutung für das Gesundheitswesen (36). Außerdem stellt sie auch für den klinischpraktischen Alltag eine besondere Herausforderung dar: Krankentransporte, Klinikbetten, Untersuchungsliegen sind für schwergewichtige Patienten oftmals nicht zugelassen und Kapazitäten von medizinischen Geräten wie Sonographie und Magnetresonanz stoßen an ihre Grenzen. Darüber hinaus sind bei der Anwendung an sich etablierter und bewährter Therapiemaßnahmen, wie z.B. der Kompressionstherapie besondere Aspekte zu beachten. Die Kompressionstherapie stellt in der phlebologischen und lymphologischen Praxis unbestritten die Basistherapie dar, die allein oder in Kombination mit interPhlebologie 2/2015 72 S. Reich-Schupke: Besonderheiten der Kompressionstherapie bei adipösen Patienten ventionellen oder operativen Verfahren je nach Indikation kurz- oder langfristig eingesetzt werden kann (23). Bei adipösen Patienten kommt ihr darüber hinaus noch eine besondere Rolle zu angesichts der mit der Grunderkrankung assoziierten venösen und lymphatischen Abflussstörungen. Da kommt einiges zusammen … Wir sehen tagtäglich in unseren phlebologischen und lymphologischen Sprechstunden Beine, die sicher nicht mit einer normalen Serienbestrumpfung zu versorgen sind, bei denen aber auch eine individuelle Maßanfertigung ihre Tücken bietet. Dabei ist meist weniger die Fertigung als vielmehr die korrekte Materialauswahl und alltägliche Anwendung ein Problem (27). Viele adipöse Patienten sind multimorbide – vielfach auch unabhängig von ihrem Alter. Es finden sich neben der Adipositas selbst assoziierte Erkrankungen wie z.B. ein Diabetes mellitus mit Infektanfälligkeiten und Wundheilungsstörungen, arterielle Hypertonie und Herzerkrankungen, Fettstoffwechselstörungen und Atherosklerose, ein erhöhtes Risiko für Thromboembolien und das postthrombotische Syndrom, eine chronische venöse Insuffizienz (CVI) mit und ohne Varikose, Immobilitäten bzw. reduzierte Mobilitäten, progrediente arthrotische Veränderungen, ggf. mit konsekutiven arthrogenen Stauungen, sekundären Adipositas-assoziierten Lymphödemen, re- zidivierenden Erysipelen und nicht zuletzt auch Hautkomplikationen wie Intertrigo, Follikulitiden und Abszesse (1, 2, 6, 12, 30, 33). All diese Komorbiditäten und Komplikationsfaktoren sind bei der Auswahl der geeigneten Kompressionstherapie zu beachten. Der einfache Verzicht auf eine Kompressionstherapie bei dieser wachsenden Klientel von Patienten („Das passt ohnehin nicht“) kann keine Alternative sein. Denn gerade adipöse Patienten sind bereits allein durch die gewichtsassoziierten Veränderungen an Venen- und Lymphsystem auf eine suffiziente Kompressionstherapie angewiesen, um Komplikationen und Folgeschäden zu vermeiden. Das Adipositas-assoziierte Dependency-Syndrom Es besteht eine signifikante Assoziation zwischen dem BMI und der Schwere einer chronischen venösen Insuffizienz (CVI), bei Frauen mehr als bei Männern (4, 20, 34). Dabei ließ sich in Studien jedoch keine Korrelation zwischen der klinischen Schwere des Krankheitsbildes und einem Refluxnachweis erbringen, so dass anzunehmen ist, dass es bei adipösen Patienten neben einer Varikose andere Faktoren gibt, die Symptome einer fortgeschrittenen CVI begünstigen bzw. entstehen lassen (4, 20). In der Phlebologie nennt man das zugrunde liegende Phänomen ein „Adipositas-assoziiertes Dependency-Syndrom“ (9). Ursprünglich meinte der Begriff des Dependency-Syndroms eine Ödembildung im Bereich der Füße und Unterschenkel durch langes Sitzen bei Inaktivität der Wadenmuskulatur, wie wir es z.B. bei Rollstuhlfahrern finden können. Garzon et al. zeigten aber, dass es auch bedingt durch eine Adipositas zu ähnlichen Phänomenen kommen kann. Druckwerte in der Leistenhautfalte und im Venensystem steigen mit zunehmendem BMI. Dabei korreliert der Druckanstieg im peripheren Venensystem mit den inguinalen Druckwerten. Bereits ab einem Druck von 20 mmHg in der Leistenhautfalte, welcher bereits bei einem BMI von 25 kg/m2 erreicht wird, finden sich Auswirkungen auf die Druckverhältnisse im Beinvenensystem. Letztlich kommt es zu einer Obstruktion der Beinvenen in der Leistenregion durch die aufliegende Fettschürze vor allem beim sitzenden (oder im Extremfall auch stehenden) Patienten. Hinzu tritt die relative Ruhigstellung der Wadenmuskulatur durch das auflastende Gewicht (9). Neuere Untersuchungen anderer Arbeitsgruppen konnten diese Ergebnisse bestätigen und sahen darüber hinaus eine Zunahme des venösen Durchmessers der V. femoralis in Relation zu Gewicht und Position des Patienten sowie eine kontinuierliche abdominelle Druckerhöhung mit Übertragung auf das periphere Venensystem (21). Als Folge dieser Phänomene kommt es zur Ausbildung klinischer Zeichen einer fortgeschrittenen CVI – auch ohne das Abb. 1 Typische Lokalisationen eines Adipositasassoziierten Lymphödems im Bereich der Bauchfettschürze und eines akut entzündlichen Lymphsacks im Bereich des Oberschenkels. Phlebologie 2/2015 © Schattauer 2015 S. Reich-Schupke: Besonderheiten der Kompressionstherapie bei adipösen Patienten Vorhandensein von Varizen. Die Veränderungen reichen über Ödeme, Hyperpigmentierungen, Dermatolipofasziosklerose bis hin zum hydrostatischen Ulcus cruris und können sich ohne entsprechende Therapie (Kompression, Bewegung, Gewichtsreduktion) als äußerst therapieresistent oder sogar progredient erweisen (10). Außerdem bleiben die Veränderungen des venösen Systems auch am Lymphsystem bei entsprechender Schwere und Dauer meist nicht ohne Folgen. Sekundäre Lymphödeme bei Adipositas permagna Ab einem BMI von ≥40 kg/m2 finden sich gehäuft sekundäre Lymphödeme (15, 19, 31). Meist handelt es sich um lokale, chronische Ödeme der Beine, der Genitalregion oder der Bauchschürze. Bei entsprechender Bestehensdauer und Progredienz kommt es v.a. im Bereich der Fettschürze am Bauch und den Fettlappen an den Oberschenkeln zu lymphostatischen Gewebeveränderungen, teils auch mit riesigen Lymphsäcken (11, 31) (▶ Abb. 1). Außerdem finden sich bei diesen Patienten verruköse, lokalisierte Lymphödeme der Genitalregion (24). Im Gegensatz dazu auffällig ist die oftmals nur schwach ausgebildete Proteinfibrose an den Unterschenkeln und Füßen sowie das vielfach nur andeutungsweise vorhandene Stemmer-Zeichen (11). Als wesentliche Ursache wird eine mechanische Abflussbehinderung der Lymphgefäße im Bauch- und Beckenraum durch den Druck der Fettmassen vermutet (11). Gleichzeitig besteht bei der Adipositas – im Tiermodell – eine gesteigerte entzündliche Aktivität, die die lymphatische Funktion beeinträchtigt (32). Letztlich ist die Pathogenese bisher nicht abschließend geklärt. Es findet sich ein fließender Übergang zum Adipositas-Ödem (zur Generalisierung neigendes Ödem i.d.R. ohne Proteinfibrose) (11). Diagnostik & Therapiekonzept Vor einer Therapieeinleitung sollte eine sorgfältige Diagnostik erfolgen. Dazu ge© Schattauer 2015 Abb. 2 Beispiele für Komplikationen und Nebenwirkungen (von links oben nach rechts unten) Erosionen, Einschnürungen, Cutis papillomatosa, Stauungsdermatitis, Austrocknungsekzeme und Risse der Fußsohle. hören neben Anamnese (▶ Kasten), Inspektion und Palpation besonders eine sorgfältige duplexsonographische Untersuchung des Venen- und Lymphsystems zum Ausschluss einer begleitenden Varikose, einer Thrombose sowie eines postthrombotischen Syndroms. In der hochauflösenden Sonographie findet man häufig verbreitert Lymphspalten, die jedoch allein nicht beweisend für ein Lymphödem sind (5). Mittels Dopplerscreening sollte außerdem eine periphere arterielle Verschlusskrankheit ausgeschlossen werden. Daneben sind – abhängig von bekannten vorliegenden Untersuchungen – weitere internistische Untersuchungen ratsam bzgl. möglicher Adipositas-assoziierter Begleiterkrankungen. Hier kann die Kooperation mit einem interdisziplinären Adipositas-Zentrum hilfreich sein. Auch die Ausrichtung und Zielsetzung der Therapie ist interdisziplinär. Kurzfristig ist eine Kompressionstherapie kombiniert mit intensiver Hautpflege, leitliniengerechter Wundtherapie und Entstauungstherapie sinnvoll und hilfreich. Langfristig werden aber erst Gewichtsreduktion, Steigerung der Mobilität, Behandlung der Begleiterkrankungen und ggf. eine begleitende Psychotherapie zum Erfolg führen und Rezidive verhindern. Durchführung der Kompressionstherapie a. Entstauungsphase Oft besteht bei adipösen Patienten initial ein erhebliches Ödem im Bereich der Füße und Unterschenkel. Es macht keinen Sinn, solche Beine direkt mit einer Kompressionsstrumpfversorgung – gleich welcher Art und Länge – versorgen zu wollen. In der Initialphase ist eine konsequente (lymphologische) Entstauung mit Polster- und Bandagematerialien über 2–4 Wochen inPhlebologie 2/2015 73 74 S. Reich-Schupke: Besonderheiten der Kompressionstherapie bei adipösen Patienten diziert (5). Optimal zur Ödemreduktion beim Lymphödem sind Anpressdruckwerte von maximal 50–60 mmHg in Bereich der Beine (22). Die Entstauungsphase sollte, wenn möglich, ambulant durchgeführt werden (25). Bewährt haben sich dafür Mehrkomponenten-Kompressionssysteme aus Unterpolsterung und adhäsiven Kurzzugbinden (7, 16, 17). Diese Kompressionsbandagierungen sollten in Analogie zur komplexen physikalischen Entstauung (KPE) in der Lymphödemtherapie über je 24 h getragen werden und mit einer rückfettenden Hautpflege, Bewegung in der Kompression und manueller Lymphdrainage kombiniert werden (5). Es kann hilfreich und für die Compliance förderlich sein, mit der Kompressionsbandagierung zunächst nur an den Unterschenkeln zu beginnen, ggf. auch mit reduzierten Druckwerten (sog. Lite-Verände) und sich dann im Verlauf sukzessive in Druck und Ausdehnung zu steigern. Auch reduzierte Druckwerte von 20 mmHg haben sich bei hoher Stiffness als effektiv erwiesen (18). In der Einleitungsphase der Kompression sollte besondere Rücksicht genommen werden auf etwaige Begleiterkrankungen, die eine Kompressionstherapie erschweren bzw. ihr entgegenstehen (z.B. fortgeschrittene Herzinsuffizienz). b. Erhaltungsphase Ist die Entstauung suffizient abgeschlossen, kann die Erhaltungsphase einsetzen (25, 26). Sie ist idealerweise so lange fortzuführen wie die Adipositas besteht. In der Erhaltungsphase erfolgt der Wechsel von Kompressionsverbänden auf eine Strumpfversorgung (5). Diese sollte angesichts der oftmals schwierig zu versorgenden Körpermaße in einem erfahrenen Sanitätshaus angepasst werden. Zu bevorzugen sind Kompressionsmaterialien mit hoher Materialfestigkeit (Stiffness), um einen entsprechend hohen Arbeitsdruck zu erreichen und das Risiko von Schnürfurchen zu reduzieren. Meist kommen Flachstrickwaren, bei geringen Befunden Rundstrick mit hoher Stiffness (hohe Materialfestigkeit, Kurzzugeigenschaften) zum Einsatz. Es sollte bei kräftigen Beinen zudem ein hoher Anpressdruck (Klasse II oder III) gewählt werden. Alternativ können zwei Strumpfversorgungen einer niedrigeren Klasse übereinander gezogen werden, um einerseits die Handhabung einfach zu gestalten, andererseits aber an den Stellen, die einen besonders hohen Druck erfordern auch relevante Drucke erreichen zu können (z.B. Strumpfhose Klasse I + Kniestrümpfe Klasse I). In den meisten Fällen ist für die Wichtige Fragen zur Anamnese vor Einleitung einer Kompressionstherapie bei adipösen Patienten • • • • • • • • Aktuelle Beschwerden Medikation Größe, Gewicht Bisheriger Gewichtsverlauf, v.a. in den letzten Monaten Mobilität, Bewegung in der Kompressionstherapie möglich? Bekannte Begleiterkrankungen: Herzinsuffizienz, Erysipele, Atherosklerose etc. ggf. weitere Diagnostik in Kooperation mit internistischen Kollegen Ursache/ Triggerfaktoren der Adipositas ggf. weitere Diagnostik mit Psychiatrie, Endokrinologie Motivation zur konsequenten Durchführung einer Kompressionstherapie Phlebologie 2/2015 • • • Vorlieben/ Wünsche des Patienten bezüglich einer Kompressionsversorgung (Knie-/ Oberschenkelstrumpf, Strumpfhose, geteilte Versorgung) Absehbare körperliche Einschränkungen bzgl. der Kompressionstherapie (erreicht der Patient seine Füße? Ist er in der Lage eine Kompressionsversorgung allein mit/ ohne Hilfsmittel anzuziehen?) Mobilität und Logistik hinsichtlich der Durchführung einer ambulanten Entstauungs- und Erhaltungstherapie am Wohnort des Patienten? Versorgung bei Adipositas eine Maßanfertigung erforderlich. Eine Strumpfhose ist für viele adipöse Patienten ein echtes Problem im Alltag. Entsprechend sind kürzere (Kniestrumpf, Oberschenkelstrumpf) oder geteilte Versorgungen (Radlerhose + Oberschenkelstrumpf, Caprihose + Unterschenkelstrumpf) zu bevorzugen. Diese geteilten Versorgungen sind für den Patienten einfacher anzuziehen und ermöglichen abhängig von Wetterlage und geplanten Vorhaben des Patienten eine Variation der Kompressionsversorgung. So lässt sich die Compliance erhöhen (29). Problemfelder der Kompressionstherapie Wie jede Therapie hat auch die Kompressionstherapie ihre Nebenwirkungen. Diese können bei Adipösen Patienten häufiger auftreten als bei schlankeren Patienten mit „einfacheren“ Beinformen (▶ Tab. 1). Vielfach scheitert eine suffiziente Anwendung der Kompressionstherapie auch daran, dass die Patienten gar nicht in der Lage sind, ihre Kompressionstherapie alleine anzuziehen (27). Der BMI scheint neben dem Alter eine wesentliche Einflussgröße für die Notwendigkeit einer dritten Person zum Anziehen der Kompressionstherapie zu sein (27). Auch hier bergen geteilte Versorgungen einen Vorteil. Hinzu kommt die Verwendung und Verordnung von Anziehhilfen. Manchmal bleibt nur die Verordnung eines Pflegedienstes, wenn Angehörige nicht zur Verfügung stehen. Hautkomplikationen wie Einschnürungen, Stase, Blasen, Erosionen und Ulzerationen durch verrutschende oder schlecht sitzende Kompressionsmittel sind ein erhebliches Problem im klinischen Alltag (28) (▶ Abb. 2). Entsprechend wichtig ist eine ärztliche Kontrolle der verordneten Kompressionsware am Patientenbein, gerade bei schwierig zu versorgenden Patienten. Letztlich bleibt der verordnende Arzt – bei aller Erfahrung und Expertise des Sanitätshauses – verantwortlich für die Kompressionsversorgung. Eine besondere Herausforderung können chronische und/ oder rezidivierende Erysipele im Bereich der Ödeme sein. In © Schattauer 2015 S. Reich-Schupke: Besonderheiten der Kompressionstherapie bei adipösen Patienten diesen Fällen stellt sich immer wieder die Frage, ob eine Entstauungs-/ Erhaltungstherapie mit konsequenter Kompressionstherapie durchgeführt werden kann oder gar kontraindiziert ist. Studien gibt es dazu letztlich nicht, wohl aber Alltagserfahrungen, die zeigen, dass die Patienten profitieren, wenn lediglich eine kurze Pause (meist 2–4 Tage) in der Entstauungs- oder Erhaltungstherapie bei einem akuten Erysipel vorgenommen wird bis die systemische antibiotische Therapie greift. Diese sollte eine hoher Bioverfügbarkeit und – v.a. bei chronisch rezidivierenden Erysipelen – ein breites Spektrum aufweisen. Zeigen sich die klinischen Zeichen (Rötung, Schwellung, Überwärmung, Fieber) und entzündlichen Laborparameter rückläufig, kann die Kompressionstherapie und ggf. auch die MLD wieder aufgenommen werden. Aufklärung und Motivation des Patienten Essenziell für eine erfolgreiche Therapie ist die Mitarbeit des Patienten. Dafür muss er verstehen, was hinter seinen Beschwerden steckt und wie er selbst zu einer Besserung seines Zustandes beitragen kann. Für die Kompressionstherapie bei adipösen Patienten heißt das konkret, dass er erfährt, dass die Beschwerden der Beine mit der Adipositas zusammen hängen, dass die Kompressionstherapie quasi eine „Lebensversicherung“ für die Beine darstellt, konsequent und täglich anzuwenden ist. Gleichzeitig sollte aber auch über die zu erwartenden Nebenwirkungen der Therapie sowie der Umgang damit gesprochen werden (28). a. Hautpflege Bei der Kompression sind insbesondere bei langfristiger und regelmäßiger Anwendung unweigerlich Hautnebenwirkungen zu erwarten (28). Entsprechend wichtig ist eine tägliche, konsequente Hautpflege mit rückfettenden und allergenarmen Externa (z.B. Lipolotionen). Dabei ist grundsätzlich jede Art der Hautpflege möglich, die der Patient verträgt und als angenehm empfindet. Zu vermeiden sind alkoholische Zusätze, da sie langfristig einen austrocknenden Effekt haben. Die Hautpflegeprodukte sollten – © Schattauer 2015 Tab. 1 Begleiterscheinungen und Folgen der Erkrankung und der Therapie. Folgen des Lymphödems/der CVI selbst Folgen der Kompressionstherapie Folgen der Adipositas besonders bei einer bestehenden venösen oder lymphatischen Abflussstörung – allergenarm sein. Patienten mit einer CVI haben ein erhöhtes Risiko für eine Sensibilisierung und Kontaktallergie (8). Entsprechend sollte auf Zusätze wie Duftstoffe, Konservierungsmittel und Wollwachse verzichtet werden. Empfehlenswert sind Inhaltsstoffe wie Harnstoff, Glycerin und hochwertige Öle (Mandel-, Oliven-, Jojobaöl). Bei hartnäckigem Juckreiz kann Polidocanol zugesetzt werden. Menthol hat einen angenehm kühlenden Effekt. „Natürliche“ Produkte wie Kamille, Propolis, Arnika, Calendula werden gerne von vielen Fazit für die Praxis Eine Kompressionstherapie ist bei adipösen Patienten allein durch die im Rahmen der Grunderkrankung assoziierten venösen und lymphatischen Abflussstörungen indiziert und sollte planvoll und konsequent durchgeführt werden. Bei der Auswahl der korrekten Strumpfversorgung ist zu achten auf: • Eine initiale suffiziente Entstauungsphase mit Polster- und Bandagematerialien, • eine Strumpfversorgung mit hoher Stiffness (Materialien mit hoher Festigkeit, ggf. Flachstrick) und optimale Passform (sorgfältige Anpassung), • alltagstaugliche Versorgungsformen, ggf. geteilte Versorgungen, • Verordnung notwendiger Hilfsmittel oder Hilfspersonen zur Sicherstellung der tatsächlichen Anwendung (Anziehhilfen, Pflegedienst), • Vertiefte Hautfalten • Lokal reduzierte Immunitätslage • Stasephänomene – Entzündungsmediatoren • Proteinfibrose • Zysten • Okklusionseffekte, Schwitzen • Massageeffekte, Exsikkation • Rutschen • Einschnürungen • Schwitzen • Erschwerte Hygiene • Scheuer-/Reibeeffekte • Depressive Verstimmungen • Vernachlässigung Patienten genommen, da sie so „gesund“ klingen. Langfristig bergen aber auch sie ein hohes Sensibilisierungspotenzial und sollten lediglich über einen kurzen Zeitraum angewendet werden. Insbesondere die Haut der Fußsohlen braucht eine intensive, stark rückfettende Pflege zur Vermeidung von Rissen und Hyperkeratosen. Hier sind Salben, ggf. sogar Fettsalben zu bevorzugen. b. Hygiene Außerdem ist eine sorgfältige Hygiene ratsam, um Komplikationen wie eine Tinea, • • begleitende konsequente, intensiv rückfettende Hautpflege und optimierte Hygiene zur Reduktion von Komplikationen und Nebenwirkungen sowie eine regelmäßige ärztliche Passkontrolle der Kompression am Bein. Letztlich bietet der Markt heute derartig viele Möglichkeiten für eine individuelle Versorgung, dass es kaum Patienten gibt, die gar nicht zu versorgen sind. Es bedarf allerdings vielfach einiger Erfahrung und Geduld – sowohl des verordnenden Arztes als auch des anpassenden Sanitätshauses und des Patienten – bis eine optimale Versorgung gefunden ist. Insbesondere bei einer Erstversorgung, komplizierten Beinformen und erheblicher Adipositas kann es passieren, dass mehrere Nachbesserungen erforderlich sind, bis alle zufrieden sind. Phlebologie 2/2015 75 76 S. Reich-Schupke: Besonderheiten der Kompressionstherapie bei adipösen Patienten ein Erythrasma oder Erysipele (getriggert durch Hautrisse) zu vermeiden. Besonders zur Prophylaxe einer bakteriellen oder mykotischen Infektion der Leistenregionen, submammär oder im Bereich tiefer Hautfalten kann die Anwendung von antiseptischen Waschlotionen sinnvoll sein. Tiefe Hautfalten sollten trocken gehalten und durch Einlage von Mullkompressen vor Mazerationen geschützt werden. Ist es dem Patienten unmöglich seine Füße selbst zu erreichen, ist eine regelmäßige professionelle Fußpflege ratsam. c. Irritationen durch Kompressionskomponenten Sensibilisierungen auf das Material der Kompressionsstrümpfe sind extrem selten (35). Besonders dunkle Farben und Komponenten der Haftränder können tatsächlich Kontaktallergien auslösen (35). Meist handelt es sich bei den vermeintlichen „Unverträglichkeiten“ vielmehr um Irritationen, durch einen falschen Sitz, mangelhafte Hautpflege oder ein Scheuern und Verrutschen der Kompression. Besteht tatsächlich der Verdacht auf eine Kontaktsensibilisierung sollte die Kompression nicht einfach ersatzlos gestrichen werden, sondern eine entsprechende Diagnostik (Prick, Epikutan-Test) erfolgen und nach Alternativen gesucht werden (35). Ggf. ist ein Verzicht auf Haftbänder (Kniestrümpfe/ Strumpfhose statt Oberschenkelstrümpfe) und dunkle Farben möglich oder es können Unterstrümpfe getragen werden (29). Patienten mit vorbestehenden chronischen Hauterkrankungen wie z.B. einer Psoriasis oder einem atopischen Ekzem können auch von der Einarbeitung von Silberfäden in die Kompressionsmaterialien profitieren (14, 29). In diesen Fällen bedarf es jedoch einer gesonderten Begründung auf der Verordnung und sollte eine Vorabanfrage an die Krankenkasse bzgl. der Kostenübernahme gestellt werden. Interessenkonflikt Die Autorin hat im Rahmen diverser Studien mit Firmen aus der Kompressionsindustrie (u.a. Bauerfeind AG, Medi Deutsch- Phlebologie 2/2015 land GmbH) kooperiert. Weiterhin hat sie Honorare für Referententätigkeiten erhalten. Diese Tätigkeiten hatten jedoch keinen Einfluss auf die aktuelle Publikation. 17. Ethische Richtlinien 18. Die Übersichtsarbeit wurde in Übereinstimmung mit den nationalen Ethik-Gesetzen und der aktuellen Helsinki-Deklaration erstellt. Die Einverständiserklärung der Patienten liegt vor. 19. 20. 21. Literatur 1. Ageno W, et al. Association between the metabolic syndrome, its individual components, and unprovoked venous thromboembolism. Arterioscler Thromb Vasc Biol 2014; 34: 2478–2485. 2. Baessler A, Fischer M. Herzinsuffizienz bei Adipositas und metabolischem Syndrom. Adipositas 2014; 8: 76–80. 3. Benecke A, Vogel H. Übergewicht und Adipositas. Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Heft 16. Hrsg. Robert-Koch-Institut u. Stat. Bundesamt. 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