my.shoes.tell. me. how. to. walk.

my.shoes.tell.
nina.glockner.2007
me.
how. to. walk.
Inhalt
1
Einleitung
2 Künstler
2.1
Der Mensch als „Träger“ 2.2
Der Mensch als „Material“ - Yael Davids
S.14 - 19
2.3
Der „ausführende“ Mensch - Erwin Wurm
S.20 - 29
2.4
Inszenierte menschliche Anwesenheit
S.5
- Rebecca Horn
2.4.1 Vanessa Beecroft
S.32 - 37
2.4.2 Tino Sehgal
S.38 - 42
3
S.7 - 13
S.31
Der Mensch, sein Raum und die ihn umgebenden Objekte S.43 - 51
4
Eigenes Werk S.52 - 61 5
Quellennachweise S.62 - 63
1
Einleitung
Jeder Mensch ist ein freies Wesen, ein Individuum, letztlich allein von seinem eigenen
Willen regiert, von seinen eigenen Entscheidungen bestimmt.
Jeder Mensch ist ein unfreies Wesen, das konventionellen Definitionen, gesellschaftlichen Zwängen und sozialen Normen von Geburt an unterworfen ist.
Dieser Widerspruch bestimmt das Leben jedes einzelnen Menschen. Dieser Widerspruch
ist universell, jeder Mensch lebt im Spannungsfeld dieses Widerspruchs,
doch kann man sich ihm entziehen?
Der Versuch, dieser Gegensätzlichkeit eine Form, einen „Körper“ zu geben, ist der Motor für meine künstlerische Arbeit. Mit dem Raum, den ich für meine Abschlussarbeit
kreiere, will ich die Begrenzungen des Individuums bewußt machen und gleichzeitig an
die Kraft einer selbstbestimmten Existenz appelieren.
Es geht mir in diesem Text darum, dem Leser mein Werk nahezubringen, indem ich es
im Kontext meines gedanklichen Standpunktes und den Arbeiten einiger Künstler
positioniere.
Fühlen sie sich frei, mit dem Lesen zu beginnen!
(Aber sind Sie es wirklich?)
2
Künstler
2.1
Rebecca Horn: Der Mensch als „Träger“
Als erstes Beispiel eines performativen erweiterten Skulpturbegriffes befasse ich
mich in diesem Kapitel mit den frühen Arbeiten Rebecca Horns.
Die Künstlerin wurde 1944 im Odenwald in Deutschland geboren. Ihr umfangreiches Werk
umfasst Performances, Filme, skulpturale Raum – Installationen, Zeichnungen und Fotoübermalungen.
In den Jahren 1968 bis 1975 entstanden ihre sogenannten „Körper – Plastiken“, in denen
das Interesse am menschlichen Körper im Zentrum steht.
Sowohl „die Einengung durch gesellschaftliche Normen“ als auch „die Notwendigkeit,
sich von diesen Zwängen zu befreien“ (Bodylandscapes, S.136) stehen im Vordergrund.
Während es bei vielen Performances dieser Zeit um die individuelle (körperliche)
Grenzerfahrung des Performers ging, ist bei Rebecca Horns Werk ein anderer Ansatz
zu erkennen. Die Künstlerin kommuniziert mit bestimmten Menschen, indem sie Objekte
kreiert, die die Personen am Körper tragen, sogenannten Körpererweiterungen. Hierbei
geht es einerseits um die individuelle Körpererfahrung des Trägers und andererseits
um das Entstehen von Skulpturen durch seine „Verschmelzung“ mit dem Objekt.
Aufgrund einer Erkrankung verbringt Rebecca Horn einen Aufenthalt in einem Sanatorium. Durch die einjährige Isolation entsteht in ihr der Wunsch, durch den Körper
Kontakt mit „der Außenwelt“ zu bekommen. Dies wird der Ausgangspunkt der Serie „Körper- Erweiterungen“.
Sie erschafft Körper – Extensionen aus weichen Materialien wie Stoff, Federn oder Balsaholz, die passgenau auf einen bestimmten Träger zugeschnitten
sind. Es finden „von Körperskulpturen definierte Performances“ statt,
bei denen oft nur wenige Zuschauer anwesend sind. Dokumentiert werden
diese Ereignisse per Fotografie und/ oder Film.
Neben den medialen „Beweisen“ der Performances sind die Objekte selbst
wichtiger Bestandteil des Werkes und nicht nur übergebliebene Attribute
einer performativen Handlung.
Interessant ist, dass Horn - aufgrund der Verletzlichkeit der Objekte
- für jedes ihrer tragbaren Körpererweiterungen ein eigenes Behältnis
so anfertigt, wie man einen speziellen Kasten für ein Musikinstrument
baut: „So waren sie geschützt und ich konnte mit ihnen reisen.“ (Bodylandscapes, S. 29)
Die Körperextensionen, die häufig an Korsetts erinnern, erfordern vom
Träger oft eine hohe Konzentration, ohne Ablenkung durch äussere Einflüsse.
Die vertraute Wahrnehmung wird grundsätzlich in Frage gestellt und eine
subjektive, neue Körpererfahrung wird ermöglicht. „Die von ihr entwickelten am Körper befestigten Skulpturen machen geradezu unbeweglich, ermöglichen zugleich aber die Korrektur der eigenen Haltung und eröffnen
die Gelegenheit, den eigenen Körper und sein Verhältnis zur Umwelt zu
erfahren.“ (Bodylandscapes, S.136 - 137)
Die Haltung des menschlichen Körpers wird durch den Gebrauch des Objektes manipuliert und die vorhandenen Körpereigenschaften werden erweitert.
So auch bei den Performances „Einhorn“ und „Schwarze Hörner“: die
vertikale Körperverlängerung macht den aufrechten Gang der Personen
Schwarze Hörner,
1969
Einhorn, 1969
Schwarze Hörner, 1969
gerader und „stolzer“. Die Frau wird durch die Körperplastik „Einhorn“ einerseits
eingeschnürt und in ihrer Bewegungsfreiheit begrenzt, anderseits wird sie durch das
Objekt zu einem anderen „Wesen“. Eine „schreitende Skulptur“ entsteht.
Bei der Arbeit „Schwarze Hörner“ tasten die Hörner auf dem Kopf wie Antennen die
Umgebung ab. Sie fungieren als „Tastorgane“, die die Wahrnehmung intensivieren und
gleichzeitig die Bewegungen einschränken.
Bei dem Werk „Kopf- Extension“ aus 1972 (Stoff, Drahtkonstruktion, Holz ) wird ebenfalls auf die Haltung eingewirkt, doch vor allem auch die Sinneswahrnehmung eingeschränkt: durch das Tragen dieses Objektes kann der Mensch nicht mehr sehen und
weniger hören, zudem ist er gezwungen die enorme Spitze – sie ist doppelt so lang wie
der Körper selbst- auf seinem Kopf zu balancieren, ansonsten kann er sowohl Arme als
Beine frei bewegen.
Die Körper-Extensionen „Fingerstäbe“(o.J.), „Fingerhandschuhe“ (1972, zu sehen als
Handschuhfinger in dem Film Performances 2, 1973 ) und „Mit beiden Händen gleichzeitig die Wände berühren (1974– 1975, „Berlin – Übungen“) sind an den Armen bzw. Händen
festgemacht. Die Finger werden enorm verlängert und ihre Funktion verändert sich durch
das „Tragen“ des Objektes: Zwar ist es nun möglich, gleichzeitig zwei gegenüberliegende, normal nicht zu erreichende Wände eines Raumes zu berühren, jedoch unmöglich die
Finger als normale „Werkzeuge“ zu gebrauchen, um etwas aufzuheben. Die verlängerten
Finger tasten wie Antennen die Umgebung ab und doch wird zu dieser ein sicherer Abstand gewahrt.
Eine mächtige statisch- skulpturale Wirkung erreicht Horn in der Arbeit „Arm –
Extension“ (1968) dadurch, dass das Material den Körper an Masse übertrifft und ihn
einschränkt und fesselt. Das Laufen wird dem Menschen unmöglich gemacht, doch durch
die säulenartigen Arm- Erweiterungen an den Seiten kriegt der Körper mehr Halt und
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Kopf- Extension, 1972
11
Fingerhandschuhe,1972
Arm- Extension,1968
Fingerstäbe,(o.J.)
Mit beiden Händen gleichzeitig die Wände berühren,1974-1975
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Bodenkontakt. Der menschliche Körper erscheint eingeengt und gefesselt, doch zugleich
wirkt das Objekt als „Prothese“, die den Träger kleidet und stützt.
Allen Körper – Extensionen
ist eine ähnliche Dualität von Einschränkung und Erweiterung zu eigen. Sie implizieren Anweisungen, wie sie vom Menschen zu tragen sind:
Vergleichbar mit einem Kleidungsstück ist auch beim Anblick dieser Objekte deutlich
erkennbar, welchen Platz sie am Körper einzunehmen haben d.h. der Mensch wird beim
Betrachten des Objektes „mitgedacht“. Auch die genaue Lage, in die der Körper während
des Tragens versetzt wird, ist so zweifellos erkennbar. Die Form der Objekte ist
eindeutig gekoppelt an die des menschlichen Körpers, während die Haltung des Körpers
wiederum durch die konkrete „Funktionalität“ der Körpererweiterungen in eine bestimmte Position gezwungen wird: „Den Akteuren wird kaum Autonomie gewährt. Für sie gibt
es nur wenig Freiraum und fast nie individuelle Ausdrucks- oder Spielmöglichkeiten.“
(Bodylandscapes, S.160)
Was macht die „Funktionalität“ der Objekte mit dem menschlichen Träger?
Der Mensch wird isoliert, seine Extremitäten werden mechanistisch vergrößert und eine
Einschränkung sinnlicher Wahrnehmung und Bewegungsfreiheit findet statt.
Doch während der vom Objekt definierten Performances entsteht auch etwas Neues;
eine temporäre Skulptur. Zeitlich begrenzt bilden Körper und Extension eine Einheit,
sind Teile derselben „Skulptur“. Der Mensch wird vor allem Träger und verliert somit
nach aussen hin weitestgehend seine Individualität;
Trotz der subjektiven Körpererfahrung wirkt der Träger anonym und als „Kunstwerk“ der
Körperplastik untergeordnet.
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2.2
Yael Davids: Der Mensch als „Material“
Yael Davids wurde 1968 im Kibbutz Tzuba in Israel geboren und studierte an der Gerrit
Rietveld Akademie in Amsterdam (NL), am Pratt Institute in New York und Tanzpädagogik
an der Akademie Remscheid (D). Ihre Arbeiten bewegen sich auf der Grenze von Skulptur,
Performance und theatraler Inszenierung.
Im folgenden konzentriere ich mich auf einige Werke, die von 1995 bis 2001 entstanden
sind. Als Quelle gebrauche ich vorwiegend das 2002 erschienene Buch “No object“.
Konzipiert von der Künstlerin selbst und der Autorin Snejanka Mihaylova dokumentiert
und kommentiert es diese Arbeiten. Die Objekte in diesem Werk machen die Abwesenheit
des Menschen sichtbar, sie zeigen eine Leere. Während der Performances füllen Schauspieler diese Plätze auf – der Mensch wird Teil der „Skulptur“. Das Objekt selbst wird
so vervollständigt.
Die performative Installation „NO BODY AT HOME” ( 1996 ) besteht aus mehreren individuellen Arbeiten, in denen der „Material – Status“ des Menschen auf unterschiedliche
Weise sichtbar wird.
Das Foto “stool“ zeigt eine Frau, die mit ihrem Körper einen Stuhl nachahmt. Ihre
Hände tragen Sportschuhe und ihre Arme eine Hose. Ihr Unterkörper ist mit einem weissen Männerhemd bekleidet. Es wirkt so, als ob der Körper auf dem Kopf sitzen würde.
An der gewohnten Stelle des Kopfes ist das Schamhaar der Frau zu sehen. Dieses Foto
erinnert an die One Minute Sculptures Erwin Wurms; Der menschliche Körper wird durch die gewählte Position und den umgekehrten Gebrauch von Kleidung zur „behavioural
sculpture“. Der Titel „stool“ und die Haltung des Körpers, die einem Sessel ähnelt,
verstärken die Objektivierung des Menschen.
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stool,foto,1996
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chair, 1996
Auch in zwei anderen performativen Objekten dieser Installation benutzt die Künstlerin den Stuhl als Ausgangspunkt. In
beiden Fällen wird ein bestehender Stuhl
verändert: Der Holzsessel in der Arbeit
“armchair“ hat eine schwarze Polsterung.
Aus dem selben Stoff ist an der Sitzfläche
und der Rückenlehne, kaum sichtbar, ein
Kleidungsstück befestigt.
Ein nur mit Schuhen und Socken bekleideter Mann sitzt in der Performance auf
dem Stuhl. Er trägt das Kleidungstück,
das Teil des Stuhles ist. Das Objekt und
der Mensch gehören unweigerlich zusammen. Wenn er aufsteht, muss er den Stuhl
auf dem Rücken mitnehmen oder sich erst
von der Kleidung befreien, die ihn bedeckt. Der Stuhl ist also gleichzeitig
beschützend und einschränkend.
Bei der Arbeit “chair“ wird ein einfacher
Holzstuhl verwendet, in dessen Sitzfläche,
die aus weissem Stoff besteht, zwei Löcher herausgeschnitten sind. Während der
Performance kniet ein nackter Mensch so
unter dem Stuhl, dass seine Pobacken die
Löcher der Sitzfläche auffüllen. So wird
der Stuhl gepolstert mit menschlichen
„Kissen“.
NO BODY AT HOME, 1996
armchair,1996
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Diese ergänzende Beziehung vom Körper zum Objekt wird in dem Werk „mirror“ ebenfalls
sichtbar. An einer Wand mitten im Raum ist an der einen Seite ein Spiegel mit einem
Loch angebracht. Das Loch ist von der anderen Seite zu sehen.Während der Performance
sieht man an der Seite des Spiegels die Oberseite eines genau mittig gescheitelten
Kopf. Wie auf den Spiegel geklebt wird das Haar zum Teil des Reliefs an der Wand. Auf
einem Stuhl steht der dazu gehörende Mensch an der anderen Seite. Die Zuschauer sehen
also das Kunstobjekt, in dem ein Unterteil des Menschen als „Material“ verwendet wird
getrennt von der „dazugehörenden“ Person, die in einer angestrengten Position dieses
„liefert“. ”The absence of the face cancels out any human references“ (No object, S. 128) Außerhalb der Performanceaktivitäten betonen die Objekte selbst
die Abwesenheit der Körper. Das „Material Mensch“ fehlt und somit sind die Gegenstände unvollständig.
Diesen Ansatz verfolgt Yael Davids erneut in ihrem Werk “table“ von 1998.
Ein Tisch ist von einer Tischdecke bedeckt, die aus weissen Männerhemden hergestellt
ist.Vier Stühle stehen um den Tisch herum. In der Mitte des Tisches jeweils oberhalb
der Hemdkragen sind vier Löcher. Während der Performance nehmen vier Schauspieler mit
kurzen schwarzen Haaren unter dem Tisch Platz. Ihre Hinterköpfe füllen die Löcher im
Tisch aus. Wie beim Werk „mirror“ vereinigt sich ein Teil des Körpers mit dem Objekt
selbst, doch in diesem Fall verdeckt das Objekt den „Rest“ der Performer. Durch die
visuelle Trennung wird der Aspekt der Verdinglichung des Menschen stärker betont.
Eine extremere Reduzierung des Körpers auf „Material“ erreicht Davids in den später
entstandenen Fotografien „bodyparts“ ( 2001 ). Aus einer Fläche von Papier, Karton und
Klebeband ist die Form eines Körperteiles ausgeschnitten. Ein Mensch füllt diese Schablone mit dem passenden Körperteil. Durch die fotografische Repräsentation entsteht
eine totale Einheit der verschiedenen Materialien.
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bodyparts, foto, 2001
table,
1998
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Verglichen mit Rebecca Horns Körpererweiterungen könnte man bei Davids eher von „menschlichen Objektergänzungen“ sprechen. Bei Horn ist der Mensch Ausgangspunkt und
Träger, um den herum ein Objekt geschaffen ist. Ursprünglich auf eine bestimmte Person
zugeschnitten berücksichtigen sie die individuelle Beschaffenheit des Menschen.
In Yael Davids Werk ist der Mensch überwiegend „Körper“. Nicht seine Individualität
wird betont, sondern seine zeitlich begrenzte physische Anwesenheit steht im Vordergrund.
So auch in dem Werk “mattress“ (1998), in dem der Mensch fast unsichtbar ist. Doch
bildet seine körperliche Präsenz den Kern der Arbeit.
“A mattress in an empty room. There is a person inside. On the upper part of the
mattress there is a hole; it is the only way for the person inside to breathe. The
person´s breathing causes the mattress to rise up and down.” (no object, S.137).
Die Atmung als Körperfunktion transformiert das Gebrauchsobjekt zur „lebendigen“
Skulptur. Der Mensch wird auch hier zu „Material“: Nicht visuell, sondern durch die
mechanischen Bewegungen, die er erzeugt.
Der Mensch in Yael Davids Werk nimmt die für ihn vorgesehene Position ein und vereint
sich so mit dem Objekt. Sie schafft auf diese Weise „Skulpturen“, für die Objekt und
Mensch gleichermaßen das „Material“ sind.
Doch was sind die Objekte, wenn der Mensch nicht anwesend ist?
“The object itself is emptied out without body and time” (no object, S. 129)
Nur der Mensch vervollständigt die Objekte und macht sie zum vollendeten Kunstwerk.
Die Gegenstände sind in der „leeren“ Form ein Attribut, das zu einem performativen
Akt gehört. Doch sie sind nicht das Resultat einer performativen Handlung, sondern
materialisieren die Leere, die der abwesende Körper für das Werk bedeutet.
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2.3
Erwin Wurm: Der „ausführende“ Mensch
Der in Wien lebende Künstler Erwin Wurm wurde 1954 in Bruck/ Mur (Österreich) geboren.
In seinen Arbeiten spielt er mit den Grenzbereichen von Skulptur, Aktion und Performance. Das Flüchtige und das Veränderliche bilden die Basis seiner Überlegungen zur
Skulptur, das er in alltäglichen Situationen und absurden Verformungen von Körpern
und Gegenständen inszeniert und mit Photos und Video dokumentiert.
Im Mittelpunkt meines Interesses stehen Erwin Wurms „One Minute Sculptures“, die seit
1988 einen wichtigen Bestandteil seines Oevres formen.
Instruktions - Zeichnungen bilden die Basis seiner „Skulpturen“. Oft schreibt er die
Objekte, die für die Handlung benötigt werden, unter die Zeichnung. Manchmal begleitet von einer schriftlichen Aufforderung wie „Put the feltmarkers on top of your
shoes, hold this for one minute and think of Rene Descartes.“(Instruction drawing,
1998)Die Zeichnungen sind schlicht, einfarbig und auf Konturen reduziert und erinnern
so an Illustrationen von Gebrauchsanweisungen.
Neben der gezeichneten Form existiert die „One Minute Sculpture“ in verschiedenen
„Zuständen“:
- Als performative „life“– Ausführung durch Schauspieler, den Künstler selbst oder das Publikum innerhalb ausgestellter Installationen (sogenannter „Re– enactments“)
- als Videodokumentation
- als inszeniertes Foto
Alles zusammen bildet ein komplettes „Archiv“ der „One Minute Sculpture“.
In seinen Photographien inszeniert Wurm Menschen in verschiedenen Umgebungen, wo sie
mit oder ohne Objekte des Alltags ungewöhnliche, absurde Positionen einnehmen:
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Ein Mann im Anzug, dem zwei Spargel in den Nasenlöchern stecken oder zwei Menschen
die langausgestreckt aufeinander auf dem Bürgersteig liegen.
Die Photos erinnern an „Snapshots“, doch gerade Komposition und Bildausschnitt spielen eine wichtige Rolle.
Das zeigt eine „One Minute Sculpture“, in der eine Frau unter einem Tisch liegt. Ein
Tischbein steht auf ihrem rechten Auge. Nur ihr Kopf ist auf dem Foto zu sehen, der
Körper ist „abgeschnitten“. Der Stuhl steht zentral im Bild, womit der Blick des
Betrachters direkt auf die Unerträglichkeit der Situation der Frau gelenkt wird. Nur
ihr Kopf ist Teil dieser „One Minute Skulptur“. So wird der Rest ihres Körpers ausgeblendet. Auf einem anderen Foto steht dieser Tisch auf den Füßen der Frau – diesmal
ist ihr Kopf nicht auf dem Foto und der belastete Körper steht im Mittelpunkt.
Neben der genau gewählten Komposition spielt auch die Umgebung, in der Wurm die Skulpturen inszeniert, eine große Rolle. In einer Outdoor - Serie, die in Taiwan entstanden
ist, verstärkt die Großstadt als Setting die Absurdität der Instruktionen.
Auf einer belebten Einkaufsstrasse ragt ein Mann halb unter einem Marktstand hervor.
Auf seinem Rücken liegen zwei grosse Melonen, seine Augen sind geschlossen. Das urbane
„Bühnenbild“ lässt den Mann als Opfer eines Verbrechens erscheinen. Assoziationen von
menschlicher Gewalt und Ignoranz werden geweckt.
Ein anderes Beispiel ist das Foto eines Mannes, der mit dem Kopf in einem Loch einer
Mauer steckt. Mit den Schultern lehnt er an der Wand und seine Arme hängen schlaff
herunter. Durch diese Position wird er Teil der Mauer, der Strasse: Körper und Umgebung verschmelzen zu einer Einheit; eine „komische“ und ebenfalls makabere Körperskulptur in einer alltäglichen Umgebung.
Wurms fotografische „One Minutes“ erinnern an die Fotomontage “Leap into the void“ des
französischen Künstlers Yves Klein ( *1928 ) aus den späten 50er Jahren.
Diese zeigt den Künstler im Sprung aus einem Fenster. Es hält einen Moment fest, nicht
die Konsequenzen dieser lebensmüden selbstmörderischen Aktion.
Auch Wurms Fotos frieren einen Augenblick ein. Selbst Positionen, die niemals lange
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gehalten werden können, wirken statisch, skulptural.
Eine Illusion von zeitlicher Dauer wird durch das Medium Fotografie geweckt.
Im Gegensatz zu der „fixierenden“ Wirkung der Fotos
betonen die Videoaufnahmen der One Minute Sculptures
das potentielle Scheitern an der Anweisung.
„Sometimes the action works, but more often than not
the person fails to get the objects to balance, or
to hold the position attempted. And even when it does
work, in the video we see what is excluded from the
photograph, the number of failed attempts it takes
and the collapse of the object or position after
a few seconds.” (Katalog Erwin Wurm).
In den Videos wird der Mensch gezeigt, wie er eine
Instruktion befolgen will, die außerhalb der normalen
„Alltagslogik“ liegt. Trotz der Schwierigkeiten und
dem kontinuierlichen Scheitern an der Aufgabe, macht
der Mensch - wie „ferngesteuert“- weiter. Er befolgt
einen „Befehl“ aus dem One Minute Sculpture – System und wirkt so scheinbar „willenlos“; er wird zur
Skulptur in Bewegung (Behavioural Sculpture).
In den Life – Situationen wird dieser Status des Menschen noch deutlicher sichtbar.
Wurm kreiert in manchen Ausstellungen einen „One
Minute Sculpture – Spielplatz“:
Auf Podesten, an Wänden oder auf dem Boden sind die
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Instruktionszeichnungen angebracht. Die dazugehörigen Objekte liegen – falls notwendig - in der Nähe und auch die Videos der jeweiligen „Skulpturen“ werden gezeigt.
Die Besucher der Ausstellung werden auf diese Weise aufgefordert, den Platz des
abwesenden Körpers innerhalb der „One Minute Sculpture“- Vorgaben zu füllen. Sie
selbst werden so für einen Moment als Performer zu „handelnden“ Skulpturen.
„The verbal instruction, the world of trivial use objects, the user, the mediums of
photography and video and the elements of traditional sculpture such as the wall,
floor, room, and pedestal combine in a new form of sculpture: the behavioral sculpture.“ (Peter Weibel, Katalog Erwin Wurm)
Dieser erweiterte Skulpturbegriff ist schon in verschiedenen Werken der 1960er Jahre
zu finden. Zum Beispiel in der Arbeit des 1931 geborenen Robert Morris, der als wichtiger Vertreter der Minimal Art und Conceptual Art gilt. In seiner Retrospektive in
der Tate Gallery 1971 konzipierte der amerikanische Künstler Skulpturen, in denen die
Teilnahme des Publikums gefragt wurde; Sperrholzkonstruktionen, auf denen die Besucher laufen konnten, Seile zum Balancieren und Holzwände zum Anlehnen.
Auch der deutsche Künstler Franz Erhard Walter, der der Fluxus - Bewegung zugeordnet
wird, hat deutlich zum erweiterten Begriff der Skulptur beigetragen.
In seiner Arbeit „Objects, to use“ (1968) präsentiert er eine ganze Reihe von Werken,
bei denen die Aktivitäten von Personen in Verbindung mit einem vorgeschriebenen Objekt zu „behavioural sculptures“ führen. Walter schreibt: „The pieces are a kind of
pedestal and the persons standing on them can be seen as sculptures. Correlates of
activity, referring to position, space and time, change. Meaning is first produced in
the handling of these.”
Bei diesen Installationen beanspruchen die Künstler die absolute Initiative des Subjekts. Der Mensch reaktiviert die Skulptur, indem er die Instruktionen befolgt. Durch
das Akzeptieren der Regel des Künstlers wird er gleichzeitig selbst zum „gesteuerten
Objekt“. Zumindest lässt er sich für einen kurzen Moment durch die Vorgabe kontrollieren.
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Die meisten One Minutes wirken absurd und witzig – doch ist die Position, in die sich
der Mensch bringt, oft unangenehm: Er ist körperlich eingeengt, eingeschränkt und
angespannt: Mit einem Apfel oder einer Zeitung im Mund wird die Person am Sprechen
gehindert, als „menschlicher Müll“ steckt er mit dem Kopf zuerst in einer Mülltonne.
Wenn Wurm eine Person als lebende Garderobe präsentiert - ein Kleiderbügel mit Hemd
hängt zwischen ihren Lippen - betont er den Objektstatus des Menschen. In einer anderen Skulptur steht der Mensch mit beiden Füßen in einem Eimer; er wird in seiner
Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Durch den zweiten Eimer auf seinem Kopf wird er zum
anonymen Körper ohne Kontakt zur Aussenwelt. Dieselbe Wirkung haben die „PRADA“Einkaufstüten, in denen der Mensch gefangen ist. Mit diesem absurd- komischen Bild
gelingt es Wurm, eine Kritik am Konsumverhalten der westlichen Welt anzudeuten, ohne
dabei moralisierend zu wirken.
Das Subjekt wird kontrolliert und eingeschränkt von den Papiertüten, die normalerweise Kaufkraft und Prestige symbolisieren. Ihrer eigentlichen Funktion beraubt bekommen sie durch Wurm´s „Bedienungsanleitungen“ eine andere zugeteilt und erlangen so
eine gewisse Macht über den Menschen: “The object, stripped of its function, is used
in his sculptures, which aim to reinvent everyday life.” (Erwin Wurm Katalog, Psycho
sculptor). Wurm behandelt die Alltagsgegenstände - unabhängig von ihrer Funktionalität - als Material und spielt so mit ihrer gewöhnlichen Bedeutung.
Durch seine Instruktionszeichnungen erhalten die Objekte eine neue Funktionalität,
die den Menschen in eine bestimmte Position zwingt. In seiner „Neuerfindung des Alltags“ zeigt der Künstler, wie (Gebrauchs-) Objekte im echten Leben dem Menschen eine
bestimmte Umgangsweise vorschreiben: Ein Stuhl, dessen Existenz darauf basiert, als
Sitzmöbel zu fungieren, „befiehlt“ dem Menschen, dass und auf welche Weise er auf ihm
Platz nehmen muss. Ein Pullover ist ein Kleidungstück, das den Oberkörper kleidet;
die kleine Öffnung ist für den Kopf, die Ärmel für die Arme.
Wurm bietet einen anderen Umgang mit den uns umgebenden Dingen. Er lässt in einer
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seiner Skulpturen den Stuhl auf dem Menschen Platz nehmen und in einer Pulloverserie
schreibt er vor, z.B. die Beine durch die Ärmel zu stecken und sitzend den Kopf darin
zu verstecken.
Auch wenn Wurm anders mit den Objekten umgeht und deren „normale“ Funktion missachtet,
schafft er neue Gesetze, konkrete Anweisungen. Er dirigiert so den menschlichen Körper. Der Mensch selbst, das Individuum, entscheidet an diesem „Spiel“ teilzunehmen.
Selbst begibt es sich in diese Position und genießt oft die Verwirklichung der slapstickartigen Skulpturen. Hiermit wird ein anderer Aspekt des individuellen Umgangs
mit vorgeschriebenen Regeln bewusst gemacht. Das Individuum kann letztendlich selbst
entscheiden, wie es sich zu den gesellschaftlichen Normen und Instruktionen verhält,
wenn es erkennt, dass sie existieren.
Auch die „One Minute Sculptures“ basieren auf genauen Gebrauchsanweisungen.
Doch durch die menschliche Beteiligung existiert der Faktor der subjektiven Interpretation: Trotz der präzisen Vorgabe ist jedes „Re – enactment“ einzigartig.
Es geht nicht um ein absolut identisches Reproduzieren, sondern um eine mehr oder
weniger unberechenbare Reanimierung der „One Minute Sculpture“. „Insidiously, in the process of re – enactment, order gives way to randomness.“ (From
moment to moment).
Wurm lässt anhand von simplen Instruktionen ein Individuum zur Skulptur, zum temporären Objekt werden und verbildlicht gleichzeitig die Möglichkeit zur subjektiven
Interpretation feststehender Normen und Regeln innerhalb bestehender Systeme.
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2.4 Vanessa Beecroft und Tino Sehgal: Inszenierte menschliche Anwesenheit
Die menschliche Anwesenheit spielt auch in der Kunst von Vanessa Beecroft und Tino
Sehgal eine zentrale Rolle.
In beiden Werken wird der Mensch in musealen Umgebungen inszeniert, doch unterscheiden sich die Darstellungen extrem voneinander. Beecroft bewirkt durch die Passivität,
visuelle Ähnlichkeit und Gruppenaufstellungen ihrer Modelle eine Wahrnehmung des Menschen als Objekt.
In Sehgals situativen Life – Momenten nimmt der ausführende Mensch, obwohl er deutlich
ein Kunstwerk repräsentiert - eine aktive Rolle ein. Zwar wird er geleitet von den
verbalen Instruktionen des Künstlers, doch wegen der subjektiven Interpretation und
dem Kontakt zum Publikum bleibt der Ausgang der Situation immer offen.
Ein weiterer bedeutender Unterschied zwischen den Künstlern ist ihr Umgang mit medialer Verarbeitung der Life – Inszenierungen.
Während Beecroft auch Foto- und Videodokumentationen der Performances als eigenständige Werke anerkennt, bricht Sehgal mit der Tradition der Perfomance - dokumentation.
Es gehört zu seinem Konzept, radikal jegliche materielle Form des „Kunstproduktes“
zu vermeiden.
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2.4.1 Vanessa Beecroft
Die 1969 in Genua (Italien) geborene Künstlerin studierte Architektur und Malerei in
ihrem Geburtsort und in Mailand Szenografie. Momentan lebt sie in New York.
Auf theatrale Weise inszeniert Beecroft in ihren Performances vor allem Gruppen weiblicher Models, die den Schönheitsnormen der Modewelt entsprechen. Hier wirken die
Frauen wie ausgestellte Objekte, wie zum Leben erweckte Modefotos. Im musealen Kontext
kreiert die Künstlerin eine Bühnendramatik, indem sie Attribute des Theaters bzw.
der Fashionindustrie gebraucht: Perücken, Schminke auf Gesicht und Körper, falsche
Fingernägel, Kopfbedeckungen und vieles mehr.Die Frauen sind überwiegend nackt oder
tragen helle Strumpfhosen und Unterwäsche, meistens hochhackige Schuhe, Stiefel oder
Turnschuhe.
Die Kostüme und Accesoires kommen, wie auch die Models, normalerweise aus der Stadt,
in der die Performances zu sehen sind. So spiegelt das Bild der „ausgestellten Frauen“
oft das anwesende Publikum wieder und lässt die Grenze zwischen inszenierter und betrachtender Gruppierung verschwimmen. Sowohl der Raum als auch das Publikum und deren
Kleidung sind Teil der Performance.
Durch die theatrale Zurschaustellung der Frauenkörper und deren statische, fast bewegungslose Haltung werden die Performer zu „Objekten“, die einer Modezeitschrift
entsprungen sein könnten. Zu Beginn stehen die Models auf bestimmte Weise angeordnet,
doch im Laufe der Zeit gehen sie dazu über, auf dem Boden zu sitzen. Oft gleicht diese
Haltung einem passiven „Rumhängen“ oder einem unbestimmten Warten. Ihre Gesichter
sind ohne besonderen Ausdruck und ihre Ausstrahlung erinnert an Models während einer
Modenshow auf dem Laufsteg. Doch im Gegensatz zu der Präsentation von Haute Couture
haben Beecrofts Frauen nicht die Aufgabe Kunst (Mode) zu präsentieren. Sie selbst
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stellen das Kunstobjekt dar.
Durch die Inszenierung einer Masse an Nacktheit und einer visuellen Einheit der Gruppe
erscheint der Mensch anonym und „gesichtslos“. Menschen streben danach eine– medial
verbreitete- Norm zu erfüllen. Mit dem Glauben, dem eigenen Willen nach zu handeln,
wird probiert, sich der Masse anzupassen. Jegliche Individualität fällt weg und es
entsteht eine Masse scheinbar gleicher Körper. Der einzelne Mensch wird zum austauschbaren anonymen Norm– Körper.
Diese „Verdinglichung“ wird visuell am deutlichsten in der Performance VB 47 (2001) in
der Peggy Guggenheim Collection Venedig: Nackt, mit rasiertem Schambereich, hochhackigen Stiefeln stehen, liegen und sitzen die Frauen in der Galerieumgebung. Eiförmige
hautfarbene Masken verdecken die Gesichter und die Haare. Die individuellen Merkmale
der Frauen werden unsichbar gemacht und ein Bild von fast identischen, künstlich wirkenden Körpern entsteht.
In anderen Arbeiten unterstreicht Beecroft die Anonymität und Gleichheit der Gruppe,
indem einzelne Frauen sich vom „Dresscode“ unterscheiden. Zum Beispiel tragen in der
Performance VB 45, die 2001 in der Kunsthalle Wien statt fand, alle nackte Frauen
schwarze kniehohe Lackstiefel. Nur eine Frau ist ohne Schuhe. Die fast magersüchtigen
Models mit blondierten Haaren wirken zu Beginn bedrohlich und wie eine starke Armee.
Die Performance endet jedoch mit einem anderen Bild: eine Gruppe fast identisch aussehender Frauen liegt auf dem Boden. Geschwächt, angreifbar und ihren Körper anbietend
sind sie nur noch devote „geklonte“ (Sex)– Objekte.
Doch Vanessa Beecroft thematisiert dadurch nicht nur den Status der performenden Frau,
sondern auch den des Betrachters: Seine Sehgewohnheiten werden hinterfragt und er
wird mit seiner Rolle als potentieller Konsument der Frau als „Kleiderständer“, als
„Ware“ konfrontiert.
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In der Performance VB 54 (2004) inszeniert Beecroft ein heftiges Tableau Vivant, in
dem die Frau fast plakativ als „Ware“ und unfreies Objekt dargestellt wird. Hier sieht
man im JFK Flughafen von New York eine Gruppe nackter, dunkelhäutiger Frauen, die mit
Eisenketten an den Fußgelenken verbunden sind. Nacktheit, Objekte, die die Frauen
aneinander ketten und die Betonung der Hautfarbe rufen Bilder von rassistischer und
sexistischer Qualität auf.
Beecrofts Position ist ambivalent: Einerseits setzt sie deutlich die Frau als Sexsymbol, als zu betrachtendes Objekt in Szene. Mit Schminke und hochhackigen Schuhen,
Unterwäsche und Perücken, bedient sie sich der Ästhetik der Modewelt. Doch die „reale“ körperliche Anwesenheit der Frauen in Museen und Galerien steht im Kontrast zu
ihrem Objektstatus: Sie bewegen sich (wenn auch nur minimal) und konfrontieren den
Zuschauer einer Performance mit ihrer - physisch wahrnehmbaren - Nacktheit. Hier wird
die Kritik an den fast unerfüllbaren Normen der Mode- und Medienrealität deutlich. In
den Life – Performances verkleinert Beecroft die gewohnte Distanz zwischen Betrachter
und Model; das anonyme Objekt ist in der Situation immer auch atmendes, schwitzendes
und reagierendes Wesen.
Im Gegensatz dazu fehlt in der medialen Reproduzierung der Performances die wirkliche
körperliche Anwesenheit von sowohl Performer als auch Zuschauer.
Vor allem die Fotos sind eine Reduzierung der Frauen auf abgebildete Körper, auf Objekte, die unendlich oft vervielfältigt werden können. So kritisiert und reproduziert
Beecroft gleichzeitig ein genormtes und von den Medien verbreitetes Frauenbild.
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Performance VB 45, 2001
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Performance VB 47 2001
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2.4.2 Tino Sehgal
Der Wahlberliner Tino Sehgal wurde 1976 in London geboren. Sein Hintergrund in Wirtschaftwissenschaft und Choreographie spielen eine fundamentale Rolle in seinem jetzigen Werk: Im Kontext der bildenden Kunst inszeniert er situative Live – Aufführungen,
bei denen jegliche Form von Dokumentation verboten ist.
Sehgal produziert „immaterielle Objekte“, die nur im Hier und Jetzt einer Ausstellung
existieren und keine materielle Spuren hinterlassen. Er konstruiert Situationen, die
auf Bewegung und dem gesprochenen Wort basieren. Eine oder mehrere Personen führen
eine Reihe von Instruktionen des Künstlers aus: “The human voice, language, movement
and interaction are the artistic materials.” (Interview: Sehgal – Hans Ulrich Obrist,
metropolis m)
Innerhalb der Tanzdomein ist er als Choreograph nicht an der Leistung des Körpers an
sich interessiert. Er sucht eher nach einem Weg, die Beziehung zwischen Mensch und
Objekt, die ihn an der visuellen Kunst reizt, auf die Bühne zu bringen.
“My idea was to make a piece that exhibited the medium dance, in order to point to
the idea of production that is inherent to this medium. I wanted to make a piece which
had no specific meaning in the sense of form and content, only exposing the medium.”
(Interview: Sehgal – Hans Ulrich Obrist, metropolis m)
In einer seiner ersten Performances setzt er diese Idee um und bringt das Museum ins
Theater: Mit dem Solo Tanzstück “The Twentieth Century Dance Piece “ zeigt er die
Ideen von berühmten Tänzern des 20. Jahrhunderts. Sehgal rekonstruiert nicht die Choreographien von z.B. Isodora Duncan, Pina Bausch oder Merce Cunningham, sondern macht
selbst ein Stück
“in the style of ”. Er beschreibt es als “temporarily material
museum”.
Später bringt Tino Sehgal den Tanz ins Museum. Das Museum ist eine „dead zone“; ein
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Ort, in dem durch die Aufbewahrung von Kunstobjekten der Tod überwunden werden soll.
Indem der Künstler dort eine life- Situation stattfinden lässt, kreiert er einen
größeren Kontrast als auf der Bühne. Ausserdem erreicht er so, dass das Medium an sich
hinterfragt wird und nicht eine spezifische Aktivität im Kontext der Tanzgeschichte.
Besucher wundern sich mehr über die menschliche Anwesenheit an sich, als dass sie die
konkrete Handlung inhaltlich und formal hinterfragen.
Das Stück “Instead of allowing some thing to rise up to your face dancing bruce and
dan and other things“ wurde auf der Manifesta 4 in Frankfurt ausgestellt.
“ (...) there are live people and it is a life piece , but on the other hand it is
also performing the historical function of the museum, since it consists of a person
slowly moving through bodily positions by Bruce Nauman and Dan Graham, but not as
them.” (Interview: Sehgal – Hans Ulrich Obrist, metropolis m )
Sehgals Abneigung gegenüber dem materiellen Objekt basiert nicht auf einer institutionellen Kritik oder dem Wunsch, mit musealen Konventionen zu brechen. Er handelt
viel mehr aus einem politischen Bewußtsein heraus: Alle ökonomischen Systeme gründen
auf der Transformation von Grundstoffen in Produkte menschlicher Arbeit. Doch die heutigen sozial– ökonomischen Umstände (wie das Wachstum fortgeschrittener Technologien
etc.) führen zur Überproduktion von Konsumgütern. Aufgrund dieser exzessiven Ausbreitung von Waren in der westlichen Kultur sucht Sehgal einen alternativen beispielhaften
Produktionsweg innerhalb des Kunstmarktes:
“(It is a) very interesting thing to rethink how economics could work.I thought that
the mode of production that is inherent to dance is an interesting model for this.
While visual art proposes that we can extract material from natural resources and then
transform it and then we have a product and that´ s it, it´ s there to stay, and thus
follows the historically prevalent mode of production; dance transforms actions to
obtain a product or art work and it produces and deproduces this product at the same
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time.” (Interview: Sehgal – Hans Ulrich Obrist, metropolis m)
Sehgal geht es also um die radikale Dematerialisierung des Objektes. Gleichzeitig
sind seine zeitlich begrenzten Situationen genau so wie andere materielle Kunstwerke
verkäuflich und können gesammelt und jederzeit ausgestellt werden. “I´ m still producing objects not in the material sense of the word but in the product sense of the
word.” (Interview: Sehgal – Hans Ulrich Obrist, metropolis m)
Tatsächlich verkaufte Sehgal das oben erwähnte Stück “ Instead of allowing some thing
to rise up to your face...” an den französischen Sammler Jérome Bel. Dieser Verkauf
wurde – unter Aufsicht eines Anwaltes - nur mit einem mündlichen Vertrag abgeschlossen. Außer dem Bargeld, womit der Sammler bezahlte, sind keinerlei Objekte involviert.
Nicht einmal eine Anwaltsrechnung dokumentiert die Existenz dieses Ankaufs.
Wenn das Stück nun ausgestellt wird, muss Bel als Besitzer der Leihgabe seine Zustimmung geben. Sein Name wird vom Performer neben Titel, Künstlername und Entstehungsdatum nach der eigentlich Aktion genannt (“verbal Label“).
Im Vergleich zu Künstlern der Conceptual art in den 50er und 60er Jahren geht Sehgal
in der Dematerialisierung des Objektes noch radikaler vor. Während bei jenen Künstlern
immer ein Beweis in Objektform (ein Blatt Papier mit Text, eine Quittung o.Ä.)
übrig geblieben ist, der das „immaterielle“ Kunstwerk dokumentiert hat, gibt es bei
Sehgal nur mündliche Überlieferung, Verkauf durch einen ungeschriebenen Vertrag und
menschliche Ausführung.
Auch Performance Künstler jener Zeit (wie z.B. Bruce Nauman) dokumentierten ihre Arbeiten anhand von Film, Video oder Foto und schufen so eine andere Form des Objektes:
„Visuele sporen van kortstondige gebeurtenissen die tegenwoordig gretig worden verzameld en tentoongesteld.“(Artikel Nancy Spectator) Sehgal sagt hierzu: “I` am trying
to really dematerialise the object, so that there is no text, no object to certify
that this `object` is an object or whatever. (...) Performance artists didn´ t want
to sell or reproduce their works, whereas I am interested in creating products but by
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rethinking the notion of a product as a transformation of actions not as a transformation of material. (...) The product is temporarily materialised in a body.”
(Interview: Sehgal – Hans Ulrich Obrist, metropolis m )
Der Mensch, der Sehgals Instruktionen ausführt und so für kurze Zeit das Produkt
verkörpert, ist austauschbar und als Individuum irrelevant. Durch die verschiedenen
Interpreten gibt es niemals nur ein Original. In dem Moment, wo ein Mensch eine verbale Instruktion befolgt, interpretiert er sie auf individuelle Weise. „Instruction
and interpretation are always there and are inseparable from the medium or from the
actors.” Trotz sorgfältiger Regie im Vorfeld nimmt jede erneute Ausführung einen unvorhersehbaren Verlauf. Gemeinsam stellen der Kontext, die Ausführenden und das Publikum stets unkalkulierbare Faktoren dar.
Der Mensch verkörpert das Produkt Sehgals für eine begrenzte Zeit. Doch im Gegensatz
zu Beecrofts ausgestellten Modellen oder Yael Davids Objekt - ergänzende Körper nimmt
bei Sehgal der Mensch eine äußerst aktive Rolle ein; Er tanzt, bewegt sich, spricht,
singt, sucht Kontakt und diskutiert mit dem Publikum. Er ist am wenigsten eine „Skulptur“, obwohl er deutlich ein Kunstwerk verkörpert: Den Objektstatus erhält er vor allem durch den musealen Kontext, die kontinuierliche Wiederholung der Ausführung und
der darauffolgenden Nennung seines eigenen „Labels“ (Bsp.: Tino Sehgal, This is good,
2001, courtesy by the artist“).
40
41
42
3.
Der Mensch, sein Raum und die ihn umgebenden Objekte
In unserer Gesellschaft geht man wie selbstverständlich davon aus, dass jeder Mensch, jedes sogenannte „freie Individuum“ auch freie Entscheidungen trifft.
Individualität, Freiheit und Autonomie; Begriffe, die uns so vertraut sind und die
so konkret in ihrer Definition erscheinen... doch was bedeuten sie wirklich für den
Einzelnen? Ist unsere Gesellschaft eine Menge von Individuuen, die nebeneinander ein
autonomes Leben führen? Und welchen Einfluss hat die Masse an Objekten, die den Raum
des Menschen in einer Konsumgesellschaft bestimmen?
Den Raum des Menschen sehe ich als kulturelle Konstruktion: Ein Szenario, in dem man
selbst scheinbar die Hauptrolle spielt, wobei jedoch das eigene Verhalten und Verlangen im „Drehbuch“ der repräsentierten Konventionen und des spezifischen Kontextes
oft bis ins kleinste Detail vorgegeben sind. “(...) In fact we construct the world
and its meaning through the systems of representation we deploy. We only make meaning
of the material- world through specific cultural contexts. This takes place in part
through the language systems (be they writing, speech, or images) that we use. Hence,
the material world only has meaning, and only can be “seen” by us, through these systems of representation.“ (“Practices of looking”, S. 12 – 13)
Vor allem politische und sozial – ökonomische Ansprüche beherrschen das repräsentative
System, innerhalb dessen das Subjekt vor allem das Bedürfnis hat, sich selbst wiederzuerkennen, also nicht von der Norm abzuweichen. Mit der Überzeugung er handle nach
dem eigenen Wunsch und Willen, ist der Mensch sich nicht bewusst, dass sein „individuelles Streben“ überwiegend ein Streben nach dem Erfüllen der „genormten Schablone“
ist. Er nimmt diese eingrenzende Situation als selbstgewählt an und verharrt in seiner letztendlich fremdbestimmten Lage. Wahrgenommen werden diese gesellschaftlichen
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Konventionen als natürliche, feststehende Fakten, deren Existenzberechtigung nicht
hinterfragt wird und die nicht als sozial und kulturell konstruierte Einschränkungen
und Vorgaben erkannt werden.
Paul Valéry schreibt hierzu: „Es gibt keine Natur. Oder besser: das was man für gegeben hält, ist immer ein mehr oder weniger altes Hergestelltes.(...) das Meer, die
Bäume, die Sonnen – und vor allem das menschliche Auge – all das ist Kunstwerk.“ (Die
Listen der Mode, S.10)
Das verbreitete Schönheitsideal, das auf Schlankheitswahn und Jugend basiert, ist
beispielsweise so ein als natürlich geltender Fakt. Nicht das Ideal an sich wird
hinterfragt, sondern das eigene Sein, der eigene - im Spiegel der repräsentierten
Welt „defizitär“ erscheinende - Körper. In diesem ständigen Vergleich mit einem medial vemittelten und manipulierten Bild strebt der Mensch den „momentanen Konzepten
von Schönheit und Schlankheit“ nach. Er akzeptiert diese grundsätzlich als natürliche
und universelle Wahrheit.
“These cultural norms of appearance constitute a myth (...), because they are historically and culturally specific, not “natural”. (“Practices of Looking”, S. 20)
Der „Glaube“ an eine universelle Wahrheit reicht in alle Lebensbereich hinein. Wenige
verschiedene „Prototypen von Lebensformen“ werden in der von den Medien repräsen-
tierten Welt angeboten. Ein Bausteinsystem mit genauer Anleitung zum erfolgreichen
und glücklichen Leben: Das Aussehen, der Partner, die Freunde, der Job, das Einkommen, das Auto, das Haus, die Hobbies... Die eigene Identität wird nach vorgegebenen
Kriterien zusammengesetzt, mit dem Ziel, sich innerhalb der repräsentierten Welt
wieder zu erkennen. Vergleichbar mit einem Zimmer in einem IKEA – Katalog: kauft
man die passenden Produkte wird das eigene Heim zum Replikat. Die in der Werbung
vermittelte Atmosphäre, harmonisch und gemütlich, aufregend und spontan soll so ins
eigene Leben treten. Obgleich diese Einrichtung in und für Massen produziert und in
jeder Kultur das gleiche Angebot vermarktet wird, scheint der Kauf dieses Produktes
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eine Entscheidung zugunsten von Individualität, Besonderheit und guten Geschmackes
zu sein. Bei der Bekleidungsindustrie ist ein ähnlicher Mechanismus zu erkennen. In
jeder Saison werden verschiedene „Gesamtpakete“ von Kleidung vermarktet. Ein „Style“
wird in Modezeitschriften und Fernsehen verbreitet und die dafür benötigten Kleidungsstücke sind durchgängig in allen Modeketten zu finden. Vom Menschen wird dann
das getragen, was angeboten wird. Erneut haftet an der Kleidung ein Image, welches
Begriffe wie Freiheit, Authentizität und Klasse transportiert. Eine von der Industrie
vorgegebene Norm wird paradoxerweise als individuelles Outfit „verkauft“. Dies führt
jedoch letztlich nur dazu, dass der Einzelne in der anonymen Masse versinkt.
Vanessa Beecroft verbildlicht diese „Pseudo- Individualität“ in ihrem Werk. In ihren
Performances sieht man eine Gruppe von Frauen, von denen jede einzelne der Schönheitsnorm der Modeindustrie entsprechen. Zusammen bilden sie eine Masse von anonymen Körpern, in der das einzelne Individuum ohne eigene Persönlichkeit erscheint. Im
musealen Kontext und durch ihre Passivität werden die Performer selbst zu Ausstellungsstücken, zu Objekten. Die Normen und Konventionen einer Gesellschaft werden neben der medialen Verbreitung
auch durch die uns umgebenden Objekte verkörpert, die potentiell einen großen Einfluss auf das menschliche Verhalten haben. Als gewohntes „Interieur“ unseres Daseins
hinterfragen wir nicht die Existenz der (Gebrauchs-) Gegenstände um uns herum, sondern
pflegen einen passiv- konsumierenden Umgang mit ihnen. Scheinbar für den Menschen
gemacht und seinen Bedürfnissen angepasst, beherrschen diese Objekte durch ihre Anwesenheit den Raum, in dem wir leben. Sie besitzen eine manipulative Kraft, da sie
einen genau vorgegebenen Umgang mit sich implizieren. Durch ihre Funktionalität sind
die Gegenstände akzeptierter Teil der kulturell konstruierten Welt.
Sie existieren, um benutzt zu werden. Ihr Dasein impliziert, dass und wie der Mensch
sie gebrauchen soll. Ein Automatismus, oft unabhängig von den damit einhergehenden
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Einschränkungen oder Konsequenzen, ist im Handeln des
Menschen in Verbindung mit den Objekt- immanenten Instruktionen zu erkennen.
Lotusfuss
Ein Beispiel eines kulturell verwurzelten Objektes mit
grossem Einfluss sind die kleinen „Lotusfüße“ der Frauen
in China. Es handelt sich hierbei um ein Schönheitsideal, dass bis zum Ende des 20. Jahrhunderts geltend war, und welches die Frau auf schmerzhafte Weise
zu einem unbeweglichen und hilfsbedürftigen „Ausstellungsobjekt“ des Mannes macht. Spätestens im Alter von
sieben Jahren begann die ästhetische Korrektur der Mädchenfüße. Beim ersten Einbinden wurden vier Zehen von
den strammen Bändern unter die Fußsohle gebunden, bis
die Knochen brachen. Nur der große Zeh blieb stehen,
denn der Fuß sollte später an eine Mondsichel erinnern.
Vorher verklumpte er unter den Bandagen, blutete und
eiterte, bestenfalls verfaulte das Fleisch nach einiger
Zeit.Auf den gebundenen Fußklumpen konnte die Frau nur
humpeln und war an das Haus gefesselt. Wohlhabende Damen
ließen sich in Sänften tragen, oder aber von ihren Dienern Huckepack. Die, die sich das nicht leisten konnten,
drückten sich wie Stöcke an der Wand entlang. Manche
sollen sich auch auf zwei Hockern kniend durch das Haus
geschoben haben. Dass eine arbeitende Tätigkeit damit
unmöglich war, galt als Zeichen von Wohlstand.
Jahrhundertlang wurde ein Schönheitsideal weitergegeben
und als unantastbar betrachtet, für welches die Frau 46
sowohl mit ihrer Bewegungseinschränkung als auch ihrer Gesundheit bezahlte. Das rituelle Objekt machte
die minderwertige, devote und hilfsbedürftige Position in der Gesellschaft, die der Frau aufgezwungen
wurde, physisch erfahrbar.
In der Geschichte Europas ist das Korsett als vergleichbares Modeobjekt zu finden:
Seit
dem 16. Jahrhundert war dieser „Schnür - Apparat“ ein
unabdingbares Accessoire der Frau, das erst mit dem
verstärkten Aufkommen der Frauenbewegung und mit dem
ersten Weltkrieg zu Beginn des 20. Jahrhunderts völlig aus der Mode kam.
Das Tragen von Korsetts, die zuerst als „steife Mieder“, „Leibstückern“, „Schnürleibern“ oder „Schnürbrüsten“ bezeichnet wurden, war unabdingbar an die
Mode der damaligen Zeit gekoppelt. Die Frauen wurden
durch sie in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt
und ihre Körper in eine unnatürliche Position gezwungen. Schon im 18. Jahrhundert warnten Ärzte vor dem
schädlichen Einfluss des Korsetts, das bei verfrühtem
Schnüren den Knochenbau verformte und bei übertriebenem Engschnüren die inneren Organe einquetschte.
Mitunter wurden schon Kleinkinder in schnurgesteifte
Mieder gesteckt; Mädchen bekamen ihre erste Schnürbrust im Alter von 12-14 Jahren. Die daraus resultierende Verformung des Skeletts wurde nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern war sogar erwünscht,
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Korsett
insbesondere da es den Frauen im weiteren Verlaufe ihres Lebens die Schnürung erleichterte. Auch das Korsett verkörpert den (Objekt-) status der Frau – unfrei und
bewegungseingeschränkt im Dienste der Schönheit.
In unserer Zeit werden ebenfalls Schönheitsideale verbreitet und akzeptiert, die Einfluss auf den Körper, dessen Haltung und Bewegungsfreiheit haben Hochhackige
Schuhe zum Beispiel nehmen durchgängig einen festen Platz im Modebild ein. Sie konnotieren die Begriffe Weiblichkeit, sexuelle Attraktivität und Eleganz. Um diesem
Bild zu entsprechen, nimmt der Träger in Kauf, dass der Schuh die Art und Weise der
Körperhaltung und des Ganges bestimmt. Er schränkt die Mobilität der Person ein, die
sie trägt, und ist nachweisbar schädlich für den Bewegungsapparat. Trotzdem ist man
weit davon entfernt, diese Schuhe als selbstverletzend oder einschränkend wahrzunehmen – sie sind einfach akzeptierter und symbolischer Bestandteil des weiblichen Erscheinungsbildes.
Diese Beispiele zeigen, wie ein gesellschaftlicher Status Quo (in diesen Fällen die
Rolle der Frau als schönes Objekt und unfreies devotes Anhängsel des Mannes) durch konventionelle Gebrauchsobjekte verkörpert werden. Die unangezweifelte Existenzberechtigung dieser Dinge verhilft zur Beibehaltung der bestehenden Machtstrukturen.
Diesen instruierenden und einschränkenden Charakter der allgemein akzeptierten Gebrauchsobjekte visualisiert Rebecca Horn in ihrem Frühwerk. Jene sogenannten „Körpererweiterungen“, die die Basis ihrer Performances bilden, sind eindeutig gekoppelt
an den menschlichen Körper: Die Bewegungsfreiheit und die Sinneswahrnehmungen werden
durch das Tragen der Objekte eingeschränkt, der Mensch wird zum „anonymen Träger“ und
visuell der Körperplasik untergeordnet. Und doch verbildlicht die Künstlerin nicht nur die Einengung durch gesellschaftliche
Zwänge sondern weist zugleich auf die Notwendigkeit hin, sich von diesen zu befreien.
Es entsteht eine „Skulptur“ aus Mensch und Objekt, die sowohl die „Unfreiheit“ als
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auch die neue subjektive Körpererfahrung des Performers zeigt. „Flucht aus der Zwangsjacke, dem endlosen Rhytmus der menschlichen Verordnungen entfliehen, die Tag- und Nachtrythmen stören, umkehren. Gefangen sein, die Freiheit
des Körpers missbraucht wissen, die Qualen, auf der Stelle gebunden zu sein.“
(Rebecca Horn, „Die innere Zwangsjacke der Äusseren“ vom 5. April 1983, Buster Keaton
gewidmet).
Rebecca Horn erschafft Objekte, die auf der Grenze zwischen Gebrauchsgegenständen und
Kunstobjekten liegen. In ihrer tragbaren, an den Menschen gekoppelten Eigenschaft,
implizieren sie eine Funktion, die vergleichbar mit einem Kleidungsstück ist. Diese
kann eher als „Pseudo – Funktion“ bezeichnet werden, da sie nur innerhalb des Kunstkontextes einen „Zweck“ erfüllt. Im Moment des Tragens findet eine „skulpturale
Performance“ statt, ein Kunstwerk wird vom Menschen verkörpert.
Auch Yael Davids sucht in ihrem Werk diese Grenze auf. Ihre Objekte implizieren eine
konkrete Position des Menschen und nur wenn er diese einnimmt, wird das Kunstobjekt
komplett. Er wird zum unabkömmlichen „Material“, dessen Abwesenheit eine Unvollständigkeit des Werkes bedeutet. Auf diese Weise entsteht ein Kunstwerk, dass unmittelbar an den menschlichen „Gebrauch“ der Dinge gekoppelt ist.
Auch in der Philosophie wird die Problematik der willkürlich von Menschen geschaffenen
Grenzsetzung und Zuschreibung der uns umgebenden Dinge thematisiert.
So beschäftigt sich z.B. Martin Heidegger (1889-1976) in seinem Essay „Der Ursprung
des Kunstwerkes“ von 1956 mit der „Definition der Dinge“. Der deutsche Philosoph, der
vor allem durch sein 1927 erschienenes Werk „Sein und Zeit“ die Philosophie des 20. Jahrhunderts massgeblich geprägt hat, teilt die Dinge in drei Kategorien ein, um
die Materialität des Kunstwerkes zu untersuchen. Er kategorisiert die Dinge in
- das pure, in sich ruhende „Ding“ (z.B. ein Felsblock )
- das „Zeug“ (Gebrauchsgegenstände, Werkzeuge) und
- das „Kunstwerk“.
Der Mensch nimmt laut Heidegger die Gebrauchsdinge durchgängig als die ihm am naheste-
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hendsten wahr. Sie sind die „eigentlichen Dinge“, die zudem eine Zwischenposition
einnehmen: Zwar ist das „Zeug“ ein Ding, aber nicht selbstgenügsam wie ein Gegenstand
der Natur oder ein Kunstwerk, da es durch seine Funktion („Dienlichkeit“) bestimmt
wird. Es nimmt „das, woraus es besteht, den Stoff, in seinen Dienst. Der Stein wird
in der Anfertigung des Zeuges z.B. der Axt, gebraucht und verbraucht.“ Die Nähe zum Kunstwerk erklärt Heidegger damit, dass das Zeug auch ein Werk ist, da
es von Menschenhand gefertigt wird. Im Gegensatz dazu ist das Kunstwerk, welches auch
vom Menschen hergestellt wird, selbstgenügsam und in sich ruhend wie das „pure Ding“.
Das Kunstwerk gebraucht die Dinge (die „Erde“), aber verbraucht bzw. missbraucht sie
nicht als Material, und unterwirft sich keiner konkreten Funktion, sondern entreißt
die Dinge aus ihrer vertrauten Umgebung und täglicher Brauchbarkeit. Sie erscheinen
so als etwas Unvertrautes und absolut Unbekanntes, Unergründliches.
Eine solche charakteristische Eigenschaft des Gebrauchsgegenstandes verwendet Rebecca
Horn in ihren Körpererweiterungen. In diesem Kontext wird die konventionell festgelegte funktionale Bedeutung, die man bestehenden Objekten zuschreibt, hinterfragt und
eine direkte Verbindung zwischen Kunstgegenstand und Mensch hergestellt. Erwin Wurm hingegen stellt in seinen „One Minute Sculptures“ nicht nur den gewohnten
Umgang mit alltäglichen Gebrauchsgegenständen in Frage, sondern setzt diese losgelöst
von ihrer Funktion in Szene: In seinem eigenen System von Instruktionen erhalten
die Objekte einen neuen „Nutzen“. Der Mensch wird kurzfristig zum Kunstwerk, indem
er ungewöhnliche und absurde Anweisungen ausführt. Wurm betont den Objektstatus, in
welchem der Mensch sich befindet, wenn er bestehenden Regeln und Instruktionen automatisch folgt. Gleichzeitig zeigt er einen anderen Umgang mit den uns umgebenden
Objekten, indem er sie von ihrer ursprünglichen Funktion „befreit“. Wurm will bewusst
machen, dass vorgegebene Regeln und feststehende Bedeutungen innerhalb eines Systems
immer auch anders zu interpretieren oder zu dekodieren sind.
“We live in a world of signs, and it is the labour of our interpretation that makes
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meaning of those signs. It is important to remember that we use semiotics all the time
without labelling it as such, or recognizing our interpretative acts.” (“Practices of
Looking”, S. 29)
Auch für Tino Sehgal geht mit dem Ausführen von Instruktionen immer eine subjektive
Interpretation einher. Mit seinen Inszenierungen, die auf verbalen Anweisungen
basieren, introduziert der Künstler eine neue Form des Produktes: Der Masse an Dingen,
die uns in unserem Raum umgeben, setzt er “immaterielle Objekte” entgegen. Innerhalb
einer musealen Umgebung verkörpert der Mensch ein Kunstobjekt und konfrontiert den
Rezipienten mit einer anderen, dematerialisierten Form des (Kunst- ) Produktes.
Indem Sehgal Begriffe wie Produkt, Kunstwerk und Mensch neu besetzt, wird die generelle Gültigkeit konventioneller Bedeutungen in Frage gestellt.
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Quellenverzeichnis
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Hardcoverausgabe Deutschland, Cantz Verlag,
1994
Rebecca Horn, Venustrechter,
Katalog, Gemeentemuseum Arnhem, 1989
Rebecca Horn, Der Eintänzer,
Katalog, Stedelijk Van Abbemuseum Eindhoven, 1979
Rebecca Horn, Bodylandscapes, Zeichnungen, Skulpturen, Installationen 1964 – 2004
Katalog, K20, Hatje Cantz Verlag, 2005
Yael Davids
www.akinci.nl/yael_davids/davids.htm
Yael Davids, No object, Artimo,Amsterdam, 2002
Peter Weibel (Herausgeber): Erwin Wurm,
Hatje Cantz Graz; Neue Galerie Graz, 2002
Erwin Wurm, one minute sculptures, Werkverzeichnis 1988 – 1998,
Cantz, Kunsthaus Bregenz, 1999
Vanessa Beecroft Performances, VB 08 – 36,
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62
www.vanessabeecroft.com
Artikel: Tino Sehgal Interview, Hans Ulbricht Obrist,
Home Metropolis M, 2004
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Stedelijk Museum CS Bulletin, 2006
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A.A. Braembussche, Denken over Kunst,
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Kunst & Körper, Tracey Warr (Herausgeberin)
Phaidon Press Limited, 2002
Artikel: Marita Sturken and Lisa Cartwright,
Practices of looking – an introduction to Visual Culture
Oxford University Press, 2001
Sylvia Bovenschen, Die Listen der Mode,
Suhrkamp Verlag 1986
63
64
my.shoes.tell.me.how.
to.walk.
nina.glockner.2007
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academie.minerva.groningen.
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