Neuö Zürcör Zäitung Mittwoch, 15. April 2015 V Nr. 86 ZÜRCHER KULTUR 19 Memento mori im Autospritzwerk ZWISCHENRUFE Gendergerechte Innensanierung Das Projekt «Sollbruchstelle» zeigt todgeweihte Kunst am sterbenden Bau In einem ehemaligen Karosserieund Autospritzwerk in Zürich Wiedikon entsteht Kunst, die mit dem Gebäude zerstört wird. Die Gewissheit des Todes zeigt sich auf der dritten «Sollbruchstelle» als befreiend. Melanie Keim 1999 im Zürcher Steinfelsareal: Dort, wo heute Blockbuster und Popcornduft die Räume füllen, hängt in einem leer geräumten Künstleratelier eine riesige Kugel aus Stühlen, Tischen, Töpfen. Der Zürcher Künstler Hans Knuchel hat jahrelang in dem Raum gewohnt und gearbeitet. Aus Wut, dass sein Arbeitsund Wohnort einem Neubau weichen sollte, band und schraubte er das gesamte Mobiliar, das er nicht mitnehmen wollte, zu einer möglichst grossen Kugel zusammen; ein Unding, so gross, dass man es nicht aus dem Raum schaffen konnte. Medial fand seine «Wutkugel» keine Aufmerksamkeit, bei den Abbrucharbeiten aber unweigerlich schon. Verlust des Unbeachteten Knapp 20 Jahre später steht in einer leer geräumten Garagenhalle an der Werdstrasse im Kreis 3 ein Gebinde aus alten Deux-Chevaux-Pneus. Wieder muss ein langjähriger Arbeitsort einem Neubau weichen, und wieder hat Knuchel eine grosse Kugel geformt. Doch diesmal ist sie, wenn auch nicht gerade leicht, so doch weich, und statt Wut oder rebellischem Trotz findet man etwas Lustvolles im brusthohen Gummiknäuel. Man würde ihn gerne anstossen, ins Rollen oder gar zum Hüpfen bringen, dem Quietschen und Ächzen der Pneus lauschen. Doch Knuchels Kugel könnte frische Farbspuren verwischen oder eine Markierung am Boden zerstören; Künstlerarbeiten, die in dem Abbruchobjekt entstehen und mit dem Gebäude abgerissen werden. «Den kritischen Übergang von einem Altbau zu einem Neubau erfahrbar machen» ist Ziel der «Sollbruchstelle» und ihrer «Kunst am sterbenden Bau». Die Geschichte des Abbruchobjekts soll ebenso Platz haben wie die bauliche Zukunft durch die Mitarbeit der Architekten des Neubaus. Eine prächtige Idee, so scheint es. Doch erzählt Knuchels Kugel nicht die zuckerwattensüsse Geschichte einer Kapitulation? Gummiger Einklang statt raue Revolte? Städtebauliche Entwicklung, die zum kulturellen Wohlfühlerlebnis wird? Nikkol Rot (38) und Jenja Roman Doerig (35), die Initianten der «Sollbruchstelle», kennen solche Kritik an ihrem Projekt. Der Begriff der Gentrifizierung greift der Fotografin und dem Allrounder, der sich beruflich kaum einordnen lässt, allerdings zu kurz. «Wer kennt das nicht? Man geht tagtäglich an einem Haus vorbei, ohne es bewusst wahrzunehmen. Und wenn das Gebäude plötzlich abgebrochen wird, bleibt ein merkwürdiges Verlustgefühl», so setzt Doerig zur Erklärung an. «Wir Hans Knuchels Knäuel aus Deux-Chevaux-Pneus im ausgedienten Autospritzwerk in Zürich. wollen, dass man hinschaut und einen Moment innehält.» Die Kritik an der Schnelllebigkeit und einer Konsumhaltung gilt auch der Kunstwelt. Doch muss deshalb Kunst zerstört werden? Das morbide Konzept der «Sollbruchstelle» mag verstörend wirken, doch es wirft interessante grundlegende Fragen auf: Wie begegnet man etwas, das dem Tode geweiht ist? Wird das Erlebnis durch das aufgedrängte Bewusstsein der materiellen Vergänglichkeit intensiver? Da die «Sollbruchstelle» nur das Jetzt-oder-nie kennt, sind die Ausstellungen jeweils nur für kurze Zeit geöffnet. Nach der ersten «Sollbruchstelle» im ehemaligen Restaurant Bierfalken an der Zürcher Löwenstrasse im Jahr 2013 und einer zweiten in einem Wohnhaus in Zollikon 2014 führt das dritte Projekt in die grosszügigen Hallen der Karosserie Boffa und des Spritzwerks Max Zimmermann, wo bis Anfang Jahr noch Autos ein- und ausfuhren. Elf Künstlerinnen und Künstler wurden eingeladen, in den hellen Räumen zu arbeiten. Bei vielen ist nicht nur die Werkstattvergangenheit, sondern auch die Vergänglichkeit ein zentrales Thema. Der Videopionier Jürg Egli etwa will eines der länglichen Dachfenster entfernen und darunter ein Rechteck aus vom Flachdach abgetragenem Moos pflanzen, quasi ein Grab aus einer der ältesten Pflanzenarten oder eine vom Regen bewässerte Liegewiese. Schräg davon klafft ein grosses Loch in der Wand, «Was bleibt?» lautet der Arbeitstitel von Christoph Rütimann, der auch für das Werk «Studio» der in Brooklyn lebenden Chrissy Angliker stehen könnte. Es besteht aus Farbspritzern und -spuren und einer rechteckigen Aussparung, wo die Leinwand stand, auf der sie malte. Das Abbruchobjekt schafft nicht nur künstlerische Freiheiten hinsichtlich der technischen Möglichkeiten. «Ich würde vielleicht gefälliger arbeiten, wenn ich verkaufen könnte», mutmasst Doerig, der sich nicht als Künstler bezeichnet, sich auf der dritten «Sollbruchstelle» aber mit Pickel und Schaufel ans Werk gemacht hat. Er erzählt von einem Künstler, der bei den Vorbereitungen für die erste «Sollbruchstelle» klagte, er könne sich einfach nicht entscheiden, zu welchem Preis er seine Bilder verkaufen solle. Nach der Klärung des Missverständnisses sei dieser total erleichtert gewesen, für einmal nicht entscheiden zu müssen, welcher materielle Wert seine Kunst habe. Ein Funken Ungehorsam So vorsichtig sich Rot und Doerig ausdrücken, man muss nicht besonders hellhörig sein, um zu verstehen, dass ihnen vieles am heutigen Kunstbetrieb fremd ist. Statt einer partylustigen Kunstszene wünschen sich die beiden ein gut durchmischtes Publikum für die «Sollbruchstelle». Ausser Sonntag findet jeden Tag eine Führung statt, und auf dem diesjährigen Rahmenprogramm steht unter anderem ein Dokfilm-Screening über ein altes Bauernpaar, das ganz ohne Maschinen arbeitete. Die 80-jährige Bäuerin Edith Freidig wird an dem Sonntagnachmittag anwesend sein, und ihre Super-8-Filme sind während der Ausstellung in einem Schopf auf dem Areal zu sehen. Fixe Trennlinien, wer als Künstler gilt und SIMON TANNER / NZZ wer nicht, gibt es auf der «Sollbruchstelle» keine. Beim ersten Projekt gestaltete etwa ein Maurer, der an den Abbrucharbeiten an der Löwenstrasse beteiligt war, einen der Räume. «Wir ernten oft Kritik über die Zusammenstellung unserer Kunstschaffenden», sagt Rot, deren Berechtigung als das, was andere Kuratorin nennen, ganz einfach in ihrer Freude an der Kunst liegt. Die «Sollbruchstelle» ist für die Stadtzürcherin primär ein Raum, in dem nach Regeln jenseits des Kunstmarkts gearbeitet werden kann, und ein Treffpunkt, an dem man sich sieht, ohne sich zu verabreden – etwas, was sie in Zürich heute vermisst. Tatsächlich gehen an diesem Samstagnachmittag zahlreiche Leute ein und aus, Künstlerinnen, Helfer, Freunde, die kurz vorbeischauen. Vor dem Haus zeichnen junge Architekten Markierungen auf den Boden für ein 1:10-Modell der vier Wohnhäuser, die auf dem Areal gebaut werden. Auf den Garagenplätzen daneben stehen parkierte Autos. Rot und Doerig setzten darauf, dass sie von den Besitzern für die Zeit der Ausstellung umparkiert werden – ein Funken Ungehorsam innerhalb des strikten rechtlichen Rahmens sozusagen. Den Blick in die Zukunft der «Sollbruchstelle» wagen die Initianten noch nicht. Zuerst soll gefeiert und getrauert werden. Doch so viel ist klar: Das Auge der beiden ist nach gut vier Jahren Projektarbeit geschult – Abbruchobjekte in und um Zürich sind ihnen zur Genüge bekannt. Zürich, Werdstrasse 126. Vernissage: 15. April, 17 Uhr. Vom 15. bis 18. und 22. bis 25. April von 17–22 Uhr geöffnet mit Führung um 19 Uhr. Am 26. April von 14–19 Uhr geöffnet. Rahmenprogramm mit Lesungen, Film und Konzerten unter www.die-sollbruchstelle.org Betörend kalkulierte «Bad Trips» Das Ensemble Phoenix Basel bei der IGNM im Kunstraum Walcheturm Felix Michel V Bloss eine gute Dekade umfasste die Karriere von Fausto Romitelli, und entsprechend schmal blieb sein Œuvre. Dass die Werke des 2004 früh verstorbenen italienischen Komponisten jedoch die Begegnung lohnen, bewies das von Jürg Henneberger geleitete Basler Ensemble Phoenix: Ästhetische Wucht und hohes Können kennzeichnen Romitellis zwischen 1998 und 2000 entstandenes Triptychon «Professor Bad Trip», dessen zweiter und dritter Teil zur Aufführung kamen. Der Titel nimmt Bezug auf das Autorpseudonym grotesk-psychedelischer Cartoons aus der italienischen Punk-Subkultur, und entsprechend handfest ha- ben verzerrte Klänge von E-Bass und -Gitarre Teil an Romitellis Musik. Allerdings nie als wohlfeiler Effekt, sondern integriert in ein feines, im Paris der frühen 1990er Jahre geschultes Handwerk: So verbinden sich z. B. in einer weitschweifenden Solokadenz für verstärktes Violoncello Spektralismus und Verzerrung, als wären Gerard ´ Grisey und Jimi Hendrix Freunde gewesen. Diese unwahrscheinliche Verbindung aber kalkuliert Romitelli sorgfältig und ganz im Dienst der Aussage; Ekstase hat ihren Platz hier in der Wirkung, nicht im Hervorbringen, und entsprechend konzentriert gestaltete der Cellist Beat Schneider diese Passagen. Selbst das im Begriff «Bad Trip» angesprochene Halluzinogene in seinen Schattierungen von Rausch bis Paranoia bleibt kompositorisch vermittelt (ohne dass Romitelli Rohes durch Rationalisierung verharmlosen oder durch Geschliffenheit unterdrücken würde; auch Ökonomie scheint er, etwa in besagter Kadenz, zu verachten). Dies gelingt ihm einerseits durch grandiose, oft sinnlich betörend komponierte Timbres, andererseits durch eine ganz eigene formale Konzeption: Kleine Einheiten steuern in stetiger, aber unregelmässiger Verformung unvorhersehbaren Zielen entgegen – weniger «Entwicklung» als vielmehr eine Art verstörender negativer Entelechie. Zuvor zwei Werke jüngerer Komponisten: Während Oscar Bianchis «Mezzogiorno» die Klangwelt Romitellis weiterspann, aber etwas in statische Tableaus zerfiel, formte Benedikt Schiefers Auftragswerk «Vom Verlieren und Finden» überzeugende Bewegungen aus, z. B. subversiven Sog in einem metrisch rigiden Koordinatennetz (das vielleicht eine noch präzisere Interpretation deutlicher hätte durchscheinen lassen können) oder kurze, aus Bartok´ Pizzicati gewonnene Motiv-Bögen – dies alles in einer spröderen, stets fein nuancierten Klangfarbendramaturgie. Kunstraum Walcheturm, 13. April. Urs Bühler V Das System der Zürcher Strassennamen soll eine tiefgreifende Reform erfahren. Auf Anregung des Gleichschaltungsbüros und der Strassenreinigungskommission hat der Stadtrat im April beschlossen, seinen Säuberungseinsatz im Dienste der geschlechtergerechten Sprache auf diesen Bereich auszuweiten: In den nächsten Jahren werden sämtliche Strassennamen mit eindeutig männlichem Bezug entweder in die weibliche Form übertragen oder geschlechtsneutral formuliert. Insgesamt sind auf einer noch geheimen Liste 250 der gegen 2300 Zürcher Strassennamen mit dem Vermerk «unbedingt änderungswürdig» markiert. Weitere 50 werden als suboptimal, aber bis auf weiteres tolerabel taxiert. Die Bärengasse muss bis auf weiteres nicht zur Bärinnengasse mutieren. Beim gewichtigeren Löwenplatz hingegen ist der Kompromissvorschlag «Grosskatzenplätzin» notiert, der Chorherrenweg soll zum Chorleuteweg, die Diener- zur Dienendenstrasse mutieren. Der Fürstweg aber würde zum Fürstinnenweg. Im Zuge der politischen Korrektheit schrecken die Stadtoberen selbst vor umständlichen Doppelformen nicht zurück: Einer Stadt, der Bandwürmer wie Joseph-von-Deschwanden-Platz recht seien, müsse auch eine Aargauerinnenund Aargauerstrasse oder eine Schweizerinnen- und Schweizer-Gasse billig sein, heisst es dazu im Argumentarium. In Ausnahmefällen sollen auch Schreibweisen wie Prediger/-innen-Platz zur Anwendung kommen. Damit wäre diese Form der Innensanierung dann komplett. Einen Scherz dürfte sich die Exekutive mit dem Vorschlag erlauben, den Stierliweg zum Stierli-und-ChüeliWeg zu adeln und den Vetterliweg zum Vetterli-und-Baseli-Weg. Negativ konnotierte Bezeichnungen wie der Räuberweg sind zudem nicht in die Betrachtungen einbezogen. Nicht angetastet werden überdies Reverenzen an historische Figuren, wie General-GuisanQuai oder Goethestrasse; auch hier wird aber langfristig insgesamt ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis angestrebt. Für die Ausarbeitung der neuen Namen und die Neubeschriftung der Schilder wird dem Parlament ein Kredit von einer Million Franken unterbreitet. Das ist allerdings nur ein Bruchteil dessen, was der nächste Schritt im Massnahmenpaket kosten wird: Mittelfristig erfahren die dynamischen grünen Männchen auf den Verkehrsampeln eine Geschlechtsumwandlung; nur die hässlichen roten dürfen bleiben, wie sie sind. JETZT Marco Camenisch Seit über dreissig Jahren geistert der Name Marco Camenisch durch die Zeitungsspalten. Wegen der Ermordung eines Grenzwächters sitzt der «Öko-Terrorist» noch immer im Gefängnis. Dort hat ihn der Journalist Kurt Brandenberger mehrfach besucht, um seinen Lebensweg nachzuzeichnen. Im daraus entstandenen Buch wird Camenischs Entwicklung vom aufmüpfigen Schulabbrecher zum gewaltbereiten Anarchisten aufgezeigt, der sein halbes Leben lang auf der Flucht oder in Gefangenschaft ist (siehe Buchbesprechung im Ressort Schweiz). An der Buchvernissage von «Marco Camenisch – Lebenslänglich im Widerstand» tritt neben dem Autor auch Camenischs langjähriger Verteidiger Bernard Rambert auf. Moderiert wird das Gespräch von der Radiojournalistin Stefanie Hablützel. Passagen aus dem Buch lesen Martin Butzke und Yanna Rüger vom Ensemble Neumarkt. yr. Zürich, Theater Neumarkt, 16. 4., 20 h. www.nzz.ch/nachrichten/kultur
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