Das Magazin 14 vom 4. April 2015

DER SCHWEIZER STAR
CARLOS LEAL LEGT
IN HOLLYWOOD NOCH
MAL LOS. S. 14
N ° 14 — 4. A PR I L 2015
KEINE MUTTER,
KEIN VATER WAGT ES
ZU SAGEN: DASS SIE
EIN LIEBLINGSKIND
HABEN. S.30
«Die Schweiz hilft
Russland,
den Krieg in der Ukraine zu
gewinnen»
Anne Applebaum
warnt davor, die
Gefahren für Europa
zu unterschätzen
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DA S M AGA Z I N 14/201 5 — BI L D C OV E R : K AT H A R I N A P OBL O T Z K I; E DI T OR I A L: S E RGE HOE LT S C H I
EDITOR IAL/INHALT
geschichte schreiben, geht es ihnen
doch um viel mehr als bloss darum, mit
jedem Start-up ein paar weitere Mil­
lionen zu verdienen. Sie wollen bestimmen, wie wir künftig leben sollen,
es gibt in der Logik dieser Menschen
praktisch kein Problem, das nicht technisch gelöst werden kann. Dabei
machen sie uns zugleich die (eigentlich
noch nahe) Vergangenheit vergessen,
als wir weder mit Bild telefonierten
noch in Sekunden von unzähligen Datenbanken Wissen abriefen oder
Unser Mann in Hollywood: Carlos Leal S. 14
in Echtzeit von einem zum anderen
Ende der Welt kommunizierten. Da erscheint es geradezu logisch, dass
Hoffman und Thiel über ihr Interesse
am Menschen und am guten Leben
zueinanderfanden: Sie lernten sich
Ostern ist eine Zeit der Erneuerung,
während des Philosophiestudiums kenund wie tiefgreifend diese heute
nen. So unterschiedlich ihre Wege
aussieht, erzählt die Geschichte der
und Haltungen auch sind, sie eint der
zwei Freunde Reid Hoffman und
Peter Thiel aus dem Silicon Valley (S. 36): Glaube an etwas Grösseres, an eine
übergeordnete Macht – und sind wir
Die beiden gehören zu einem Typus
neuer Mensch, der mit der Digitalisie- damit nicht gewissermassen wieder bei
Ostern? Auch wenn im Silicon Valley
rung unser aller Denken umwälzt.
In dem Tal versammeln sich die Köpfe Hühnereier bald überflüssig sind, wie
im letzten Heft zu lesen war.
einer digitalen Revolution – und
auch wenn sie alle ihre eigene Erfolgs- Finn Canonica
S. 14
Einfach Schauspieler. Carlos Leals Leben in Hollywood.
Von Mark van Huisseling
S. 20
Anne Applebaum und wie sie die Welt sieht. Ein Gespräch.
Von Mathias Plüss
S. 30 Eltern geben nicht zu, dass sie ein Lieblingskind haben. Über ein Tabu.
Von Katharina Kluin und Nicolas Büchse
S. 36Silicon Valley im Gespräch: Peter Thiel und Reid Hoffman.
Von Slaven Marinovic
3
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KOMMENTAR
IMMER SICHERER?
Und plötzlich merkt man,
ein ausgefüllter Terminkalender ist nicht gleich
ein ausgefülltes Leben.
normalen Bedingungen zwar einen sicheren Instrumentenflug ermöglichen,
deren plötzlicher Ausfall aber das Flugzeug in eine prekäre Lage brachte, die Piloten überforderte und schliesslich zur
Katastrophe führte.
Mit gleichnishafter Schlichtheit zeigt
nun der Germanwings-Crash, wie jede
neue Sicherheitsmassnahme sich in ihr
diametrales Gegenteil verkehren kann.
Erst seit den Anschlägen vom 11. September ist es Standard geworden, die Cockpits von Passagiermaschinen gegen äussere Eindringlinge abschliessbar zu machen. Vor fünfzehn Jahren hätte der Co-­
Pilot des Germanwings-Flugs den Piloten
nicht aussperren können. Erst der «verbesserte» Standard hat die jetzige Katastrophe ermöglicht.
Dass kein technischer Defekt, sondern der Faktor Mensch für den Crash
verantwortlich gewesen sein soll, verwundert im Übrigen nicht. «Erweiterte
Suizide» von Piloten sind zwar extrem
selten – in der Geschichte der Zivilluftfahrt gibt es nur vier bestätigte Fälle, was
angesichts der mittlerweile knapp drei
Milliarden Passagiere, die pro Jahr befördert werden, eine Fallzahl im mikroskopischen Bereich darstellt. Doch es ist
in der Tat sehr oft menschliches Fehlverhalten, das bei Flugzeugabstürzen die
entscheidende Rolle spielt.
Malcolm Gladwell hat in seinem
grossen Essay über statistische Ausreisser («Outliers») ein faszinierendes Kapitel über Flugzeug­abstürze geschrieben,
in dem er darlegt, dass die grosse Mehrzahl aviatischer Katastrophen durch eine
unglückliche Kumulation von kleinen
Pilotenfehlern herbeigeführt wird, die
psychologische und kulturelle Wurzeln
haben. In der Regel sind es Unachtsamkeit, Übermüdung und vor allem mangelnde Kommunikationskompetenz –
also alles weiche, menschliche Faktoren
– , die zu folgenschweren Unfällen führen.
Der Ruf nach einem rigoroseren psychologischen Screening von Flugzeugbesatzungen ist daher sicher nicht falsch.
Es dürfte jedoch illusorisch sein, alle
Probleme mit der Früherkennung depressiver Suizidkandidaten lösen zu wollen.
Die psychologischen Kompe­tenzen, auf
die es im Zweifelsfall viel häufiger ankommt – Stressresistenz, Aufmerksamkeit, Teamfähigkeit –, sind komplexer als
die simple Abwesenheit eines Todeswunsches. Die Öffentlichkeit klammert sich
heute daran, dass der GermanwingsCrash in der Person von Andreas Lubitz
vermeintlich ein eindeutig identifizierbares Gesicht und einen eindeutig verantwortlichen Täter bekommt. Die aktuelle
Tragödie mag tatsächlich auf diese Weise erklärbar sein. Sie stellt jedoch eine
extreme Ausnahme dar.
Für die Hinterbliebenen dürfte es
kein Trost sein, aber es gibt noch einen
weiteren Grund, weshalb dieses Unglück
so erschütternd ist: Flugzeugabstürze
werden seltener. Laut der Zahlen des
«Aviation Safety Network» sank die Zahl
der weltweiten Todesopfer der Zivilluftfahrt von knapp 2500 im Jahr 1972 auf
knapp 500 im Jahr 2012, obwohl sich
gleichzeitig die Anzahl der Passagiere
etwa versiebenfacht hat. Die Sicherheitsstandards steigen unablässig – und genau
deshalb sind immer wieder neue Katastrophen zu erwarten.
DA N I EL BI N S WA NGER ist Redaktor bei «Das Magazin»
4
w w w. a u s t r i a . i n f o
DA S M AGA Z I N 14/201 5 Von DANIEL BINSWANGER
Es ist nicht überraschend, dass der Absturz einer Germanwings-Maschine zu
einem medialen Mega-Ereignis geworden ist. Ein innereuropäischer Städteflug
mit einer Billigairline gehört zum ganz
gewöhnlichen Alltag des heutigen Normalbürgers. Der Schock und die öffentliche Trauer dürften sich auch dadurch
erklären, dass man sich persönlich betroffen fühlt vom tragischen Crash in den
französischen Alpen. Wer hatte nicht
einen bangen Gedanken an den eigenen
letzten Städtetrip?
Die Heftigkeit der Reaktionen kann
allerdings nicht ausschliesslich auf die
abrupte Erkenntnis zurückgeführt werden, dass Katastrophen sich überall und
jederzeit ereignen können. Es sind besonders die Umstände des Absturzes –
der absichtliche «Mitnahme-Suizid» des
Co-Piloten, der nach dem heutigen Wissensstand die plausibelste Hypothese
darstellt –, die die Öffentlichkeit verstören. Zudem ist der Germanwings-Crash
wohl deswegen so traumatisch, weil er
den tragischen Beweis liefert, dass perfektionierte Sicherheitssysteme zwar
Gefahren reduzieren, fatalerweise aber
auch neue Risiken erzeugen können.
Der Soziologe Niklas Luhmann hat
in seinen Theorien über die ständig zunehmende Komplexität gesellschaftlicher Systeme die Flugsicherheit als Beispiel dafür zitiert, dass mit jeder technischen Verbesserung die Kontrollsysteme
zwar leistungsfähiger, aber auch anfälliger für neue, selbst generierte Gefahren
werden. Schon die letzte Grosskatastrophe einer europäischen Airline, der Absturz einer Air-France-Maschine im Jahr
2009 auf dem Flug von Rio de Janeiro
nach Paris bekräftigte diese These. Auslöser für den Crash war das Versagen von
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DA S M AGA Z I N 14/201 5 DR AUSSEN SEIN MIT: NIKLAUS PETER
Der Pfarrer des Zürcher Fraumünsters erklärt auf einem Spaziergang durch
die Altstadt, was eine gute Predigt ausmacht.
Von ANUSCHKA ROSHANI
Das Wetter passt. Der Wind stülpt den Regenschirm um, aber
Niklaus Peter kann das nicht umpusten; mit Stürmen aller Art
hat er ständig zu tun, als Pfarrer des Zürcher Fraumünsters. Und
an diesem Palmsonntag, zu Beginn der Karwoche, scheinen
die Unbilden des Wetters fast noch mehr Deckung zwischen
inneren und äusseren Zuständen herzustellen – geht es doch,
erzählt Peter, zu Ostern besonders um die «geistige Tradition,
auf Essentials zurückzugehen», auch wenn es im Protestantismus keinen eigentlichen Fastenbrauch gebe.
Wir sind erst ein kurzes Stück gegangen, da nimmt er den
Schirm, weil mein Arm es bei seinen Fasteinsneunzig schwer
hat, nicht zu erlahmen. Diese Zugewandtheit ist typisch für Peter: ein Mensch, der sich voll und ganz einbringt, ohne sein Gegenüber aus der Aufmerksamkeit zu nehmen. Ein Pfarrer, wie
er im Buche steht – und doch wieder nicht, wenngleich Bücher,
nicht nur das eine Buch, für ihn wesentlich sind. Der 59-Jährige
mit den hellen Haaren und Wimpern hat etwas von einer literarischen Figur, ein Mann alten Formats, der sein Tun ernst
nimmt, der den Geist über alles schätzt und nicht aufhören will
zu lernen.
Und so hat er auch die Strecke gewählt: Vom Pfarrhaus an
der Limmat spazieren wir in die Froschaugasse, die alte «Judengasse», in der im Mittelalter die Synagoge stand, vor allem
aber die spätere Offizin von Christoph Froschauer, der zuvor,
1531, weiter unten im Niederdorf, die erste reformierte «Zürcher Bibel» gedruckt hatte.
Denn der «Kostbarkeit des Wortes» gilt Peters Augenmerk. Deshalb hat er den Theologischen Verlag Zürich geführt,
deshalb in der Zeitschrift «Reformatio» als Redaktor gearbeitet, deshalb wäre es für ihn verwunderlich, wenn einer wie er,
der Woche für Woche voll Sorgfalt seine Predigt schreibt, keine Lyrik lesen und lieben würde. Wie Christian Morgensterns
«Galgenlieder», die er in einer zweisprachigen Ausgabe verlegt
hat. Seine Wertschätzung für Sprache und das Wissen um den
«Geschichtenpool» der Religion, seine «Liebe zur biblischen
Matrix» machen ihn zu einem feinen Zuhörer und Weltaufnehmer. Als wir in die Untere Zäune abbiegen, erklärt er, wie
wichtig ihm die Präzision im Predigen ist: Stundenlang ringt
er um die nötige Einfachheit und Klarheit, liest den Text ein
paarmal laut, bevor er ihn seiner Frau, einer Musikerin, zum
Gegenlesen gibt. Dann unterstreicht er die Kernsätze mit
Leuchtmarkern, damit er frei auf der Kanzel sprechen kann.
Und zu Hunderten strömen sie in seine Sonntagsgottesdienste: Ältere, Jüngere, aus Zürich und dem Umland. Er hat
sich einen Namen gemacht, seit er 2004 ins Fraumünster berufen wurde, mit einer Intellektualität, die nicht abgehoben,
eben nicht von der Kanzel herab, daherkommt. Wenn einer aus
dem Kulturleben scheidet etwa, kann man sicher sein, dass Pe-
ter die Abdankung anvertraut wird. Genauso hält er Beerdigungen ab, wenn nur drei Trauernde erscheinen. Bemüht sich,
dem Toten einen Lebenslauf zu schreiben und «ihm Ehre anzutun», durch die Erinnerung. Ein kleines treffendes Porträt
soll es jedes Mal werden.
Vor Zwinglis Amtshaus in der Kirchgasse betont er, wie
«vital die richtige Metapher für das Gelingen einer Predigt» ist.
Trotzdem lasse sich die Wirkung seiner Rede nicht kalkulieren – schliesslich kämen die Leute mit ihren Leben in seine
Kirche, und einzelne seiner Sätze fallen auf einen ganz eigenen Resonanzboden.
Gott ist Gott, sagt er, aber Gott ist auch Wort, und dass er
versuche, in einem vom Glauben erhellten Raum Sprache zu teilen. Anderen aus einer Notlage, aus dem Auge des Orkans, herauszuhelfen, indem sie gemeinsam die Fassungs- und Sprachlosigkeit überwinden: Worte finden und damit eine Form.
Eigentlich wollten wir noch zum kleinen Friedhof an der
Oberen Promenade und zum Roten Schloss, wo eines seiner
liebsten Gemeindemitglieder wohnte, sein ältestes – eine Arztgattin, die mit 101 Jahren starb und die er so mochte für ihre
«raue und doch zarte Souveränität». Durch eine Anekdote versucht er sie für seine Begleitung lebendig zu machen: Mit Mitte
neunzig ereilte sie ein Schlaganfall, da klingelte das Telefon,
und sie sagte zur Freundin: Ich kann jetzt nicht sprechen, ich bin
gerade am Sterben.
Ihre «Grandezza» hat er bewundert, schwärmt Peter; kein
Zufall also, dass er allergisch reagiert, wenn jemand Stilebenen
durcheinanderbringt. «Ich gebe mir echt Mühe, dass meine
Gottesdienste schön sind.» Jeden Schritt denke er durch – und
niemals würde er grüne Socken zum Talar tragen!
Den Schrank, in dem der Talar hängt, bekommt man noch
zu sehen; zum Schluss schauen wir ins Fraumünster hinein –
nach dem Umbau Anfang 2016 soll die Krypta zugänglich sein.
Eine Gruppe Asiaten starrt mit dem Interesse von Reiseroutiniers zum Gewölbe empor, schnell noch die berühmten Chagall-Fenster, Stippvisite zum Wahrzeichen. Weil dort jährlich
eine halbe Million Besucher eine gewisse Unruhe reinbringt,
will man einen «Raum der Stille» einrichten: damit dem Ort
der Besinnung die Besinnung nicht abhandenkommt.
Zusammengefasst heisst Glaube für Peter, «den Blick nicht
abzuwenden, sondern die Ambivalenz unserer Existenz, die
Zerrissenheit des Lebens auszuhalten»: Dunkles und Helles,
das Leid Christi und das der Menschen, Fragmente, Gebrochenes, aber auch Versöhnung und Heilung. «Du feierst dort, wo
Heilung stattfindet», sagt er, «das Schöne am Feiern ist, den unterschiedlichsten Leuten ein Stück Gemeinsamkeit zu stiften.»
Und, ist die Osterpredigt schon geschrieben? Noch nicht.
Wird wohl wieder mal eine Nachtschicht werden.
Niklaus Peter im Wind vor seiner Kirche
Bild A N N E MORGEN S T ER N
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K ATJA FRÜH
MÄNNER HABEN AUCH POLYPEN
Überrede mal einen Mann fortgeschrittenen Alters, eine Darmspiegelung zu machen. Das geht dann etwa so:
Sag mal, du solltest das wirklich mal
machen .– Ja ja, ich habs gehört. – Warum
machst du es dann nicht? – Weil nichts
ist, was soll denn sein? – Das macht man
aus Vorsicht. – Dann könnte man sich ja
die ganze Zeit nur durchchecken lassen.
– Nein, nicht die ganze Zeit, aber
das, das ist erwiesen, lohnt sich
echt. – Wie: lohnt sich? – Weil man
durch die Früherkennung noch
was machen kann. – Ich will das
aber nicht früh erkennen. Dann
hab ich nur Angst. – Siehst du, du
hast Angst. – Nein, habe ich eben
nicht. – Du verdrängst es. – Ich hab
ja gar nichts, was soll ich denn verdrängen? – Du verdrängst, dass
möglicherweise etwas sein könnte. – Ich lebe einfach. Und wenn ich
was hab, geh ich zum Arzt. – Du
musst vorher gehen, bevor du etwas hast. – Das ist idiotisch! Man
weiss, dass das mit der Früherkennung gar nichts bringt. – Wer weiss
das? – Man weiss es eben. – Bei
mir haben sie Polypen rausgeschnitten. – Die können wiederkommen. – Danke, brauchst mir
keine Angst zu machen. – Siehst
du, nur weil du Polypen hattest,
hast du jetzt Angst, und ich habe keine. –
Das ist einfach dumm. Aber das ist typisch. Lieber von gar nichts etwas wissen. Das läuft so nicht. – Wie läuft es
dann? Immer zum Arzt rennen, beim
kleinsten Scheiss, und dann in Panik
rumlaufen, weil irgendetwas finden die
immer. – Beim Darm ist es etwas anderes. – Wieso? – Weil man dort reinschauen kann. – Ich will aber nicht, dass dort
jemand reinschaut. – Weil du feige bist.
– Weil ich gelassen bin. – Weil du Panik
hast. – Vor was denn, meine Güte? – Weils
hinten ist, weil er mit einem Rohr hinten
reingeht. – Mit einem Rohr?? – Siehst du?
Das erschreckt dich total! – Kein normaler Mensch möchte, dass jemand mit einem Rohr in seinen Hintern schaut. –
Findest du das schwul? – Wie bitte? – Das
hat mir mal ein Freund gesagt, dass Män-
ner nicht zur Darmspiegelung gehen,
weil sie Angst haben, schwul ... – Schwul
zu werden? Das glaubst du ja selber
nicht! Weils so schön ist oder was?? –
Nein, einfach weil das für sie tabu ist dort
hinten. – Ich bin nicht homophob. – Übrigens, es ist wirklich schön. – Hä? – Ja, es
ist sehr angenehm. Du kriegst so ein
Mittel, Propofol, das gleiche, an dem
Michael Jackson gestorben ist. – Das soll
mich jetzt beruhigen? – Ich meine, das
Mittel ist so schön, dass Michael Jackson
davon süchtig wurde. Du fliegst weg, und
wenn du wieder aufwachst, kriegst du
Tee und Zwieback. – Und vorher musst
du die ganze Nacht aufs Klo. – Ja und?
Das macht schlank. Bitte geh. Machs für
mich. – Ich sage dir, das ganze Vorsorgeding ist ein Denkfehler. – Warum? Es ist
ein Fortschritt in der Medizin, dass man
das kann. Es beruhigt. – Es beruhigt nur scheinbar. Wenn du dann
trotzdem was hast, denkst du, du
kannst nichts dafür. – Ja. Das ist
doch besser, als wenn du denkst,
du hättest es verhindern können.
– Wenn du wirklich was hast, spielt
das keine Rolle mehr. – Das ist fatalistisch. – Ich fühle mich aber
wohler so, wenn ich nicht alles
weiss. – Alles wirst du auch nicht
wissen. – Siehst du, da fängts schon
an. – Was? – Dass man wählen
muss, was man wissen will. Wenn
ich das Ding mit dem Darm mache, will ich auch wissen, ob alles
andere in Ordnung ist. Die Lunge,
die Bauchspeicheldrüse ... das ist
ein Fass ohne Boden. Nur der
Darm, das nützt mir nichts. Das
gibt mir keine Sicherheit. Das
macht mir nur noch mehr Angst.
– Du gibst also zu, dass du aus
Angst nicht gehst. – Dann müsst
ich ja auch mit dem Rauchen aufhören.
– Hm, ja. – So läufts aber nicht mit dem
Schicksal, glaub mir. – So, wie denn? –
Schicksal ist einfach Schicksal, das ist
ein Geheimnis. – Quatsch.
Ich hab dann doch gewonnen. Er ging,
kam bester Laune zurück und verkündete
stolz, sein Darm sei sauber wie der eines
Babys. Und wir wiegten uns weiter glücklich in falscher Sicherheit.
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DA S M AGA Z I N 14/201 5 M A X KÜNG
FR AGEN ÜBER FR AGEN
Sie hatte nicht gefragt: «Wie lautet die
Summe aller Zahlen von eins bis hun­
dert?»* Sie hatte auch nicht gefragt: «Wie
heisst das Gemüse, welches Präsident
Thomas Jefferson in den USA als Ver­
suchspflanze einführte?»** Sie hatte
auch nicht gefragt: «Wie hiess der zweite
Film, in dem Chuck Norris mitspielte und
durch den er Berühmtheit erlangte?»***
Nein. Die Frage der Frau war recht ein­
fach. Es war eine Frage, die mit einem
schlichten «Ja» oder einem simplen
«Nein» zu beantworten war. In einem
Ladengeschäft hatte ich etwas gekauft,
bezahlt, dann hatte mich die Frau hinter
der Kasse gefragt: «Möchten Sie einen
Plastiksack?»
Aber wie so oft bei Dingen, die einfach erscheinen: Sie
sind recht kompliziert, fängt man erst mal an, darüber nach­
zudenken. Wollte ich einen Plastiksack? Gegen den Plastik­
sack sprach natürlich der berechtigte Gedanke an den Um­
weltschutz. Der Umweltschutz ist eine tolle Sache, er liegt mir
am Herzen. Die Herstellung eines Plastiksackes benötigt Ener­
gie und wohl auch Ressourcen. Jeder Plastiksack ist ein Plastik­
sack zu viel. Würde ich jedoch keinen Plastiksack nehmen,
dann wäre es sicherlich genau diese Umwelt, die ein paar dunkle
Wolken herschickte, es würde regnen, hageln vielleicht sogar.
Also doch den Sack? Dann aber würde mich im Tram jemand
ansprechen, weil er die Tüte erkannte, er würde sagen: «Ah,
dort kauf ich auch immer ein», ich würde in ein Gespräch ver­
wickelt, ich vergässe darob, an der richtigen Tramhaltestelle
auszusteigen, ich würde mein Versäumnis zwei Stationen spä­
ter bemerken, würde hastig aussteigen, die Strassenseite wech­
seln, um mit dem nächstbesten Tram die zwei Stationen wie­
der zurückzufahren, ein Windstoss würde einen Blumentopf
von einem Fenstersims blasen, der Topf würde vor mir auf dem
Boden zerbersten, worauf ein vorbeifahrender Autolenker, der
dies sah, abgelenkt würde, von der Strasse abkäme, in eine
Bauabschrankung führe und in die Stützen eines Baugerüs­
tes, das ganze Gerüst stürzte herab, wirbelte Staub auf, ein
Staubkorn geriete in mein Auge, und ich liefe in eine Haltever­
botstafel und beulte meine Stirn. Nein, das wollte ich nicht.
Also doch keinen Plastiksack nehmen? Dann aber sähe ich,
wie mein Nachbar mir auf der Strasse entgegenkäme, ich woll­
te aber nicht, dass mein Nachbar mich anträfe mit dem, was
ich eben gekauft hatte, also wechselte ich schnell und unauf­
fällig die Strassenseite, beachtete aber nicht den Elektrovelo­
fahrer, der unerlaubterweise auf dem Trottoir fuhr, mir auszu­
weichen versuchte und in das Schaufenster eines Blumen­
ladens raste, um dort osterglockengeschmückt liegen zu
bleiben. Also doch eine Tüte? Mein ganzes weiteres Leben
könnte sich komplett anders entwickeln, sagte ich «Ja», sagte
ich «Nein». Sollte ich «Ja» sagen oder «Nein»? Nein? Ja? Ich
war wie paralysiert.
Als ich ein Räuspern hörte, da tauchte ich wieder aus mei­
nen Gedanken auf. Hinter mir hatte sich eine Schlange unge­
duldiger Konsumenten gebildet; sie hatte etwa die Länge ei­
ner ausgewachsenen Elefantenrüsselschlange (Acrochordus).
Die Verkäuferin blickte mich mit Besorgnis an. Ich sagte:
«Eine Tasche? Ja, gern.» Es war eine gute Antwort, denn das,
was ich gekauft hatte, das sollte man vielleicht besser in einer
Tasche mit nach Hause tragen. Es war etwas, das ich in mei­
nem Leben noch nie zuvor gekauft hatte. Aber als ich es gese­
hen hatte, da wollte ich es unbedingt einmal ausprobieren.
Was es war? Das werde ich sicher nicht verraten. Und ich
wette tausend Stutz: Niemand wird es je herausfinden. Nie­
mand. Oder soll ich es doch verraten? Oder doch nicht? Oder
doch? Oder nicht? Was würde geschehen, wenn? Und was,
wenn nicht?
Aaargh!
*5050
**Broccoli
*** «Die Todeskralle schlägt wieder zu»
M A X K Ü NG ist Reporter bei «Das Magazin».
13
Achtung,
fertig,
Carlos
In der Schweiz ist er ein Star. In Los Angeles einer
unter vielen: Carlos Leal, unser Mann in Hollywood.
Von Mark van Huisseling
Bilder Serge Hoeltschi
16
nes Schauspielers, vor allem wenn er Nebenrollen spielt, es in
die endgültige Fassung eines Films schafft, liegt nicht im Einflussbereich der Managerin. Eine Managerin heute bekommt
etwa zehn Prozent der Schauspie­lergage, früher waren es 15
Prozent. Im Erfolgsfall, andernfalls verdient sie nichts.
Meine auf Wunsch vor dem Treffen schriftlich eingereichten Fragen – nach Agenturgrösse, Kundenzahl, Kommissionseinnahmen und so weiter – beantwortet sie mit der Gegenfrage,
ob ich für den IRS, die Steuerverwaltung, arbeite. Sie erzählt
dann aber, dass ihr Geschäftspartner und sie vor drei Jahren die
Firma «Creative Partners Group» gegründet haben, mit rund
30 Kunden (darunter Julia Ormond; zu sehen etwa in «Mad
Men», «My Week with Marilyn», «CSI: NY») und einem Office
in Venice, einem Vorort von Los Angeles am Meer.
«Fans machen»
Carlos sei in der Schweiz berühmt, aber unbekannt in Hollywood, sagt sie. Und meint das nicht als Wertung, sondern als
Beschreibung eines Aggregatzustands, als hätte sie gesagt:
«Wasser ist flüssig.» Was sie weiter sagt: «Ich kann mich nicht
auf den Gipfel eines Berges stellen und in den Wind rufen:
‹Diese Person ist grossartig, buchen Sie sie!›» So laufe das nicht.
Wie es dagegen laufe: «Ich versuche, Fans zu machen.» Das
heisst, sie will mögliche Auftraggeber für Carlos begeistern.
Wie genau das geht? «Well, you know ... Sie wissen schon ...»
Die gute Nachricht: «Carlos ist nicht anspruchsvoll. Er ist
ein Working Actor, er macht, was zu tun ist.»
Zwei Stunden später – die Agentin wurde in der Zwischenzeit verabschiedet und das Sofa wieder Carlos’ Frau überlassen, die mittels Skype einer Schülerin Schauspiellektionen erteilt – machen wir uns auf den Weg ins nahe gelegene Food
Lab, ein kleines Lokal, das fast gefüllt wird von einer Theke,
an der man belegte Brote und leichte Gerichte bestellen kann.
Mir fällt ein, dass ein Bekannter, der eine Fotokunstgalerie in
West Hollywood betrieb, die Stadt mal als «Bullshit Capital of
the World» bezeichnete. Carlos findet einen Zweiertisch im
«Garten», der eigentlich ein Hof ist; der Sonnenschein, den
man von Los Angeles erwartet, fehlt an diesem Tag.
Im Garten, über einem belegten Brot sitzend, erzählt er von
Jobs, die er in den vergangenen vier Jahren, seit er in Hollywood
lebt, gemacht hat; wir sprechen Englisch, wie fast immer, wenn
sich ein Romand und ein Deutschschweizer unterhalten. Er
kommt auf 16 Projekte in seiner Aufzählung, darunter zwei
Spielfilme, fünf Kurzfilme und sieben Rollen als «Guest Star».
Ein Guest Star ist ein Schauspieler, der in einer TV-Serie einmal
oder mehrere Male auftritt; das Gegenstück dazu ist die
«Recurring Role», also der Schauspieler, der zum Stamm­
ensemble gehört und immer wieder vorkommt.
Dann erzählt Leal von zukünftigen Projekten. Diese sind,
was wahrscheinlich in der Natur der Sache liegt, grösser, besser, besser bezahlt, wichtiger («Hello, Darling, Are You Working?»). Sie sind also ungefähr vergleichbar mit Projekten aus
der Vergangenheit, die nicht zustande kamen – der Titel der
vielfach ausgezeichneten TV-Serie «Breaking Bad» fällt.
«Schauspieler gedeihen durch das Auf und Ab ihrer Laufbahn und durch viele falsche Hoffnungen sowie gelegentliche
Erfolge», schreibt der Schriftsteller Justin Cartwright. «Ist
das auch deine Meinung?», frage ich Carlos. Er sagt: «Ja. Als
Künstler muss man sich darauf einstellen, dass einen Unsicherheit durchs Leben begleiten wird. Man muss die Unsicherheit zum Partner machen, zum Freund – sonst wird sie der
Feind. Und wenn Unsicherheit der Feind ist, muss man aufhören und etwas anderes machen. Anfang 2012 hatte ich eine
Zeit, in der Leere war, als Schauspieler. Also habe ich wieder
angefangen, Liedertexte zu schreiben, daraus wurde ein Musikprojekt ... So, ja, wenn Unsicherheit an meine Tür klopft, bekomme ich Angst. Und daraus wird die Kraft, etwas Neues zu
machen.»
Carlos Leal kam 1969 in Renens bei Lausanne als Sohn
spanischer Gastarbeiter zur Welt. Nachdem er eine Lehre als
Tiefbauzeichner abgeschlossen hatte und bevor er als Schauspieler bekannt wurde, war er Gründungsmitglied und Sänger
der Hip-Hop-Gruppe Sens Unik, mit der er mehrere Alben aufnahm, die sich gut verkauften. Seine Rolle im Film «Snow
White» des Schweizer Regisseurs Samir brachte ihm 2006
den Schweizer Filmpreis und die Nominierung als Schweizer
Shootingstar bei den Internationalen Filmfestspielen Berlin.
Im gleichen Jahr kam der James-Bond-Film «Casino Royale»
ins Kino, in dem Leal eine Nebenrolle spielte, einen Chefcroupier. Vier Jahre später bekam er eine Hauptrolle in «Sennen­
tuntschi», dem Film von Michael Steiner, in dem vermutlich
jeder Schweizer Schauspieler hätte auftreten wollen; damals
lebte Leal in Paris. Danach zog er mit seiner Familie nach Madrid, wo er drei Jahre lang eine Recurring Role in der spanischen Adaption der amerikanischen «CSI»-Serie hatte; er
spielte den Kommissar.
DA S M AGA Z I N 14/201 5 «Hello, Darling, Are You Working?», ist der Titel eines Romans
von Rupert Everett. Darin beschreibt Everett, von Beruf Schauspieler, das Arbeitsleben eines Schauspielers, der oft nicht arbeitet, weil er keine Rollen hat. Das ist kein seltener Fall – es
gibt deshalb einen Begriff dafür, ob ein Schauspieler als Schauspieler arbeitet oder als etwas anderes. Der eine ist ein «Working Actor», der andere bloss ein «Actor». Was es auch noch
gibt: den Star und den Superstar. In Los Angeles gibt es mehr
Actors, mehr Working Actors, mehr Stars und mehr Superstars als sonstwo auf der Welt. In Los Angeles lebt auch Carlos Leal – in der Schweiz ein Star.
Gibt man seinen Namen in die Schweizer Mediendatenbank ein, findet die Suchmaschine 379 Artikel, allein aus den
vergangenen zwei Jahren und Schweizer Zeitungen oder Zeitschriften. Die Rolle etwa, die er in der zweiten Staffel der SFEigenproduktion «Der Bestatter» spielt, ist zahlreiche Artikel
wert: «Leal macht den lahmen Start endgültig vergessen»,
stand etwa in der «Berner Zeitung». Eine hohe Medienpräsenz für den Schauspieler und Musiker also, der vor vier Jahren von Spanien nach Los Angeles zog und zuvor in Madrid
und Paris gelebt hatte. Und davor in Lausanne.
Der 45-Jährige wohnt mit seiner Frau Jo, einer belgischen
Schauspiellehrerin/Schauspielerin, in West Hollywood, Los
Angeles, in einer ruhigen Strasse zwischen dem weniger ruhigen Santa Monica Boulevard im Norden und der über Strecken schicken Melrose Avenue im Süden. Das gemietete Haus
mit ockerfarbenen Wänden und braunem Satteldach ist hübsch,
nicht besonders gross, einstöckig und kommt ein wenig bescheidener daher als die Nachbarhäuser rechts – modernistisch – beziehungsweise links – im Hacienda-Stil. Ein Toyota
Prius parkt in der Zufahrt, ein Knochengerüst aus Plastik liegt
im Vorgarten; vor ein paar Tagen war der 1. November, Halloween, der Sohn des Paars, Elvis, ist sieben Jahre alt.
Carlos ist unrasiert, trägt ein Tuch um den Hals, sieht aber
bereits um zehn Uhr morgens gut aus und setzt Kräutertee auf.
Das Wohnzimmer ist einfach, aber geschmackvoll eingerichtet, mit einem tiefen Sofa, dazugehörenden Fauteuils und einem langen Esstisch; Besucher aus L.A. beschrieben es wohl
als «European» oder «bohemian» oder vielleicht «European
bohemian». In einem Secondhand- oder Vintageschrank gibt es
Belletristik (Philip Roth), Sachbücher (Voglers «The Writer’s
Journey») und Coffee-Table Books («The Art of Tim Burton»);
die iPod-Playliste, die wiedergegeben wird, ist stilsicher und
nicht besonders aktuell (The Art of Noise, Nightmares on Wax,
London Grammar).
Mit zehn Minuten Verspätung kommt Beth McIntosh,
Carlos’Managerin. Sie ist Mitte dreissig, hat lange, dunkelblonde Haare, trägt ein lila Kleid und braune Stiefel mit hohen
Absätzen; in der einen Hand hält sie eine Dose Red Bull, mit
der anderen ihr Mobiltelefon ans Ohr. Irgendwie schafft sie es
in einem Aufwisch, die Klingel zu drücken, die Tür zu öffnen,
einzutreten, den Anruf zu beenden, Carlos zu begrüssen und zu
erzählen, wie crazy ihr Tag bis hierher schon gewesen sei, aber,
natürlich, auch wie great.
Aufgabe einer Managerin ist es, ihren Klienten Filmrollen
zu verschaffen – oder wenigstens Drehtage; ob der Auftritt ei-
Fünf Drehtage als Pirat
Zurzeit hält ihn ein Guest-Star-Einsatz in «The Last Ship»
busy. Dabei handelt es sich um eine aufwendig produzierte
TV-Serie von «Transformers»-Regisseur Michael Bay, die vom
Kabelsender TNT ausgestrahlt wird. Er ist darin ein spanischsprachiger Pirat (in der Endzeit, in der die Geschichte spielt,
werden immer noch unsere heutigen Sprachen gesprochen);
er geht von fünf Drehtagen aus, die dazu führen dürften, dass
man den spanischen Piraten in drei Episoden zu sehen bekommt.
Vor einer Stunde oder so hat er erfahren, dass einer dieser
Drehtage bereits morgen sein soll, womit er nicht gerechnet
hat. Ein paar Minuten voller nervlicher Anspannung später, in
denen zahlreiche Four-Letter-Words – Kraftausdrücke – gefallen sind, sowie nach einigen Anrufen seiner Managerin Beth,
wurde klar, dass es sich um eine Fehlinformation handelte:
Morgen wird kein Drehtag sein, sondern nur ein Garderobetag, das heisst, Leal muss nach Pasadena ins Studio, um Kos­
tüm und Maske auszuprobieren, nicht um zu spielen.
Pro Drehtag als Guest Star einer solchen Serie verdient
ein Schauspieler bis zu 5000 Dollar. Das ist auf der einen Seite viel Geld – und auf der anderen wenig. Denn davon gehen
Abzüge und Steuern weg, die Managerin nimmt ihren Schnitt
und und und. Das grösste Und aber ist: Solche Drehtage bekommt man nicht einfach so. Es komme im Grunde nie vor, dass
sich ein Working Actor für eine Rolle bewirbt und dann sofort
den Zuschlag erhält, erklärte die Managerin. Vielmehr bewerbe man sich pausenlos – und schaffe es so auf die Radarschirme der für Rollenbesetzungen verantwortlichen CastingLeute, die sich dann im Idealfall irgendwann einmal an den
Schauspieler erinnern und ihn für einen Part antreten lassen,
für den er sich nie beworben hat. Was dazu führt, dass das Ganze auch planerisch zur Herausforderung wird.
«Wenn du willst, dass man dich für etwas bucht, buche
einen nicht verschieb- oder stornierbaren Flug, wohin auch
immer – du wirst einen Job für dieses Datum angeboten bekommen», sagt Carlos mit nur wenig Ironie. Es könnte aber
auch sein, dass man für dieses Datum keinen Job bekommt,
sondern bloss eine Einladung zum Vorsprechen. Ich hole Nachtisch an der grossen Theke im kleinen Food Lab, das heisst:
einen Cheese Cake für mich, einen Espresso für ihn, danach
fahren wir zurück in sein Haus.
Früher Erfolg als Rapper
Seine Eltern, sagt Carlos, seien sehr fleissig gewesen: «Mein
Vater hat immer nur von der Arbeit gesprochen.» Er selbst
habe schon früh Erfolg gehabt, als Rapper mit Sens Unik und
danach als Schauspieler. «Ich wollte geliebt werden», sagt er,
und dass er sich dafür verantwortlich gefühlt habe, die Erwartungen seines Publikums, das ihm den ersten Erfolg ermöglicht hatte, zu erfüllen. «Ich war es den Schweizern schuldig,
grosse Karriere zu machen, in Amerika.» Dann sagt er, dass er
es als Befreiung erlebe, das nicht mehr zu meinen. Was nicht
heisse, dass er nicht mehr ehrgeizig sei. «Es könnte immer noch
sein, dass ich einen Oscar gewinne – für einen fremdsprachigen Film selbstverständlich.» Er spricht damit die schwierige
Geschichte mit der Sprache an: «Sein Akzent wird nie weggehen», sagte seine Managerin. Und mit bester kalifornisch-positiver Grundhaltung fügte sie hinzu, dass das ein Vorteil sein
könne. «Wo er infrage kommt, ragt er raus.»
Bloss: Wo kommt einer infrage in Hollywood, der Spanisch
und Französisch akzentfrei, Englisch respektive Amerikanisch
dagegen mit verhältnismässig starkem Akzent spricht? Es gibt
die Rolle des Latin Lover und die des «French asshole» – Vincent Cassel in «Black Swan» zum Beispiel – und, eben, die des
spanischsprachigen Piraten in der Endzeit. Mit anderen Worten: jedes Jahr einige Filme, wenn auch eher wenige. «Es gibt
immer mehr internationale Produktionen oder Produktionen,
die international gezeigt werden», sagte Managerin Beth. Das
stimmt, der Kinokarten- beziehungsweise DVD- und Rechteverkauf in anderen Märkten nimmt bedeutungsmässig zu –
deshalb spielt in fast jedem grossen, teuren Film ein Star aus
China mit. Und gelegentlich einer aus Spanien (Penélope Cruz
oder ihr Mann Javier Bardem) sowie aus Frankreich (Vincent
Cassel eben) ... Aber ein Star aus Sweden, sorry Switzerland?
Trotzdem ist sein Leben in Los Angeles – er hat eine Greencard, eine Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung, erhalten, nachdem er der zuständigen Behörde mithilfe eines auf Einwanderungsfälle spezialisierten Anwalts seine bisherige Laufbahn,
sein vorhandenes Talent und seine Preise zeigen konnte – mehr
als bloss ein Aufenthalt an einem Platz an der Sonne. Hier, wo
17
Dunkelste Momente
«Acting», also Schauspiel, sagt Carlos, sei «toll, aber nicht
wichtig». Musik findet er wichtig, Musik sei für ihn das Grösste.
Jetzt hat er ein neues Album, für das er seinen Vornamen abgelegt hat und das «Reflections» heisst, «Reflections» von Leal.
«‹Reflections› ist, was es ist», sagt Leal, wie er sich nennt, wenn
es um seine Musik geht. Es sei «Therapie gewesen, Dämonen
treffen». Ein Werk mit vielen Schichten, «traurigste Augenblicke, dunkelste Momente». Das Album sei ihm wichtig, weil
er allein dafür verantwortlich sei. Anders als bei einem grossen Film, an dem er wenig Verantwortung für das Ganze trage,
stehe und falle das Album mit ihm. «Ich habe es für mich gemacht», sagt Leal, der zuvor, in anderem Zusammenhang, gesagt hat, er finde sich gut, habe aber Selbstzweifel.
Die zum grossen Teil elektronische Musik hat immer wieder eingängige Stellen, die Leal aber, so hört es sich an, durch
Worte voller Bedeutung und Schwere nicht zu radiotauglich
und/oder hitfähig werden lassen wollte. Und was an spätere
Platten von Serge Gainsbourg erinnert. Komisch ist, dass Leal,
mit Muttersprachen Französisch und Spanisch, auch auf Englisch singt respektive spricht – das frisch erschienene «Reflections» dürfte in der Mehrheit auf dem Heimmarkt, also in der
Schweiz, und möglicherweise in Spanien, Frankreich allenfalls bemerkt werden. Doch Leals «Reflections» könnte Anhänger, die ihn aus Zeiten von Sens Unik kennen und die Musik
von damals mögen, sagen wir, überraschen. «Ich habe mich
entwickelt. Und hoffe, meine Fans haben das auch getan», sagt
Leal, der kein Instrument spielt und nicht Noten lesen kann.
Der Lohn des Künstlers, heisst es, ist der Applaus. Und das
Gegenteil von Applaus ist die Absage, die Abfuhr, die Ablehnung. Wie geht einer, der sich gut findet, aber Selbstzweifel hat,
mit Absagen um, die jeder Working Actor erfährt? Wie mit Ab-
lehnung, die man logischerweise nicht persönlich nehmen
sollte, die man emotionalerweise aber mit Sicherheit persönlich nimmt? Eine Abfuhr, versteckt hinter netten Worten – «zu
charakterstark», auf Deutsch: zu wenig gut aussehend oder
zu alt oder zu ausländisch; «wir sahen ihn nicht auf dem Poster», eine zu kleine Nummer – eine Abfuhr dennoch, die
Selbstzweifel nährt ...
Das Universum will es so
«Er nimmt Absagen, ernst, aber er gibt nicht auf», sagte die
Managerin. Und Carlos sagt: «Es ist hart, aber oft geht dafür
eine andere Tür auf.» Die Los-Angeles-Art, mit Körben umzugehen, sagt er, sei: «Das Universum will es so ...» Ein Satz,
nebenbei, den Javier Bardem im Film «Biutiful» als krebskranker Vater zweier Kinder zu hören bekam. Worauf er sagte: «Kann sein, aber das Universum zahlt meine Miete nicht.»
Carlos Leal ist nicht Javier Bardem respektive nicht Uxbal, den
Bardem spielte und der das sagte. Carlos hat, nach eigenen
Angaben, ein wenig Geld auf der Seite, mit dem er seine geschätzten 2000 Dollar Monatsmiete eine Weile bezahlen könnte, sollte das Universum für längere Zeit etwas anderes wollen
als er. Und mit dem er sich Projekte wie «Reflections» leisten
kann.
«Diese Stadt kann Schauspieler gross und stark machen.
Aber auch auslaugen», sagte Carlos’ Managerin, als sie bei
ihm zu Hause, in seinem europäisch eingerichteten Wohnzimmer, auf dem Sofa sass und Red Bull trank. Doch von Ausgelaugtsein sei bei Carlos keine Spur zu sehen, im Gegenteil –
seine Wesensart komme gut an bei Entscheidungsträgern. Und,
auch nicht unwichtig: «Er organisiert diese grossartigen Pastadinners in seinem Zuhause. Jeder liebt sie.» Seine Haltung,
zusammen mit Talent, Erfahrung und Professionalität, führe
zum Erfolg, sagte Beth. Nicht zwingend zu Star- oder SuperstarErfolg, aber doch zu Working-Actor-Erfolg. Während Schauspieler, die woanders schon berühmt seien und deshalb mit
«Attitude» – einer Anspruchshaltung – nach Hollywood kämen,
ihre Karriere sabotieren würden.
Letzte Frage: Wie verkauft die Managerin den Schauspieler, den sie vertritt, wie geht der entscheidende Satz im Verkaufsgespräch, die paar Worte, die das Berufsleben eines Working Actor in eine Nussschale drücken?
«Carlos in einem Satz? Geht nicht, unmöglich», antwortet sie. Und dann formuliert sie doch eine Antwort: «Preisgekrönter europäischer Schauspieler, spricht fliessend mehrere
Sprachen, lebt in L.A., hat eine Greencard.» Und Carlos ergänzt:
«Und organisiert diese grossartigen Pastadinners in seinem
Zuhause. Jeder liebt sie.»
M A R K VA N H U I S SEL I NG ist freier Autor in Zürich; [email protected]
Der Fotograf SERGE HOELT S CH I lebt in Los Angeles; www.hoeltschi.com
18
•
DA S M AGA Z I N 14/201 5 die Lebenshaltungskosten niedriger sind als in der Schweiz
oder in Paris, wenn auch höher als in Madrid, der Hauptstadt
des Krisenlands Spanien. Ein Schauspieler, der auf dem wichtigsten Platz der Filmindustrie lebt, mit Familie, seit Jahren,
zeigt, dass er es ernst meint. Dass er gekommen ist, um zu bleiben. Oder jedenfalls, um zu spielen – «Hello, Darling, Are You
Working?». Das strahlt aus nach innen, nach Hollywood, und
nach aussen.
«Ich finde es super, dass er nach L.A. gezogen ist und nicht
bloss Videotapes einsendet», sagte Beth, die Managerin. Und
er sagt, dass es auch gut sei für seine Laufbahn in der Schweiz
sowie anderswo. «Ein ausländischer Schauspieler, der in Hollywood ist, bekommt aus seinem Land und auch aus anderen
Ländern eher Rollen angeboten als einer, der in der Schweiz
rumsitzt», sagt Carlos und verweist auf seine Hauptrolle in
«The Team», einer Krimiserie, an der Produktionsgesellschaften aus verschiedenen Ländern Europas beteiligt sind, sie läuft
auch im Schweizer Fernsehen. Die Logik der Branche sieht so
aus: Wer weiter weg ist, wird näher angeschaut. Das heisst aber
nicht, dass weit weg zu sein schon reicht, man muss auch am
richtigen Ort sein – Hollywood, Kalifornien, nicht Hollywood,
Florida. Und zu einem Teil ist es auch die Geschichte vom Propheten im eigenen Land.
«Putin zögert nicht, Leute zu töten.»
«Für Orban in Ungarn oder Erdogan
in der Türkei ist der Autoritarismus
Putins sehr attraktiv.»
«Enorme Mengen russischen Geldes
fliessen durch die Schweiz.»
«Die Ukraine ist eine Willensnation –
das ist doch etwas, was ihr
Schweizer verstehen könnt.»
«Gewisse Parallelen zu 1938
kann man nicht leugnen.»
«Einige von
Putins
wichtigsten
Gefährten
leben in der
Schweiz.»
DA S M AGA Z I N 14/201 5 «Putin will, dass Europa
auseinanderbricht. »
Die amerikanisch-polnische
Historikerin Anne Applebaum
spricht Klartext.
rin. Bekannt geworden ist sie mit dem Standardwerk «Der
Gulag» (Siedler, 2003), für das sie den Pulitzer-Preis erhalten
hat. Zuletzt ist von ihr erschienen: «Der Eiserne Vorhang: Die
Unterdrückung Osteuropas 1944–1956» (Siedler, 2013).
Von Mathias Plüss
Bild Katharina Poblotzki
Das Magazin — Frau Applebaum, leben wir in aussergewöhnlichen Zeiten?
Anne Applebaum — Jede Zeit denkt von sich, sie sei aussergewöhnlich. Für mich liegt die Merkwürdigkeit unserer Zeit darin, dass heute Dinge geschehen, die ich nur aus der Geschichte kenne. Es ist sehr seltsam, dass sich manches einfach so
wiederholt.
Was zum Beispiel?
Als die russische Invasion der Krim begann, wusste ich genau,
was da vor sich geht. Denn es war exakt dasselbe Vorgehen wie
1944, als die Rote Armee nach Polen kam. Sie schickten ein
paar Geheimagenten ohne Uniform rein, bauten die Geheimpolizei auf, organisierten die Volksrepublik Polen und erweiterten Schritt für Schritt ihren Einfluss. Genau dasselbe Spiel
haben sie auf der Krim gespielt. Es geschieht alles nach einem
uralten KGB-Drehbuch. «Es ist eine extrem strenge Zeit», sagt Anne Applebaum. Der
Krieg in der Ukraine hat die Nachfrage nach ihrem Wissen geschürt: Sie schreibt Artikel, gibt Interviews, hält Vorträge – das
alles neben ihrem üblichen Pensum als Bücher schreibende
Historikerin. In London, wo wir uns treffen, leitet sie überdies
eine Abteilung des Legatum Institute, eines Thinktanks zur Förderung von Demokratie und Kapitalismus. Ihr zweiter Lebensmittelpunkt liegt in Polen: Sie ist mit Radoslaw Sikorski verheiratet, dem polnischen Parlamentsvorsitzenden und ehemaligen
Aussenminister. Applebaum ist fünfzig Jahre alt, gebürtige
Amerikanerin und mittlerweile auch polnische Staatsbürge-
21
«Russland ist heute eine Diktatur, aber im Gegensatz zu
früher nicht isoliert vom Rest der Welt.»
22
«Die spezifisch russische Art, nostalgisch
zu sein, besteht darin, dass die Leute das Gefühl vermissen,
gefürchtet zu werden.»
Es gibt Parallelen zwischen Nemzows Ermordung und dem
Mord an Stalins Konkurrenten Kirow 1934. Bis hin zur Tatsache, dass der Chef persönlich die Untersuchung leitet.
Stalin nutzte den Mord, um die Partei zu säubern und schliesslich den Grossen Terror zu entfachen. Also wenn das jetzt wieder eine Art Kirow-Mord ist, dann geht es noch drei Jahre bis
zum Beginn des Grossen Terrors.
Glauben Sie daran?
Die Geschichte pflegt sich nicht eins zu eins zu wiederholen.
Aber dass es jetzt eine Säuberung in der russischen Führung
oder eine Attacke auf die Opposition gibt, halte ich für möglich.
Doch Putin ist nicht Stalin, sagen Sie, er ist kein Massenmörder.
Noch nicht.
Noch nicht?
Er ist sicherlich rücksichtslos. Der Krieg in der Ukraine ist ein
völlig unnötiger, zynischer Krieg – Putin hat ihn allein aus
politischen Gründen losgetreten. 5000 Leute sind gestorben,
komplett sinnlos. Und er scheint keine Schuld zu empfinden.
Nicht zu reden vom abgeschossenen Flugzeug. Nicht zu reden
von den Hunderttausenden, die in Tschetschenien gestorben
sind. Putin zögert sicher nicht, Leute zu töten. Aber er versucht,
ohne Massenverhaftungen auszukommen. Bisher zumindest.
Seine Methoden sind nicht so plump wie jene Stalins, er setzt
eher auf Unterwanderung, Medienmanipulation und gezielte
Gewalt.
Die 5000 Toten sind ja nur die offizielle Zahl – inoffiziell ist
von bis zu 50 000 Toten die Rede. Insbesondere auf russischer
Seite, wo die gute alte Kanonenfutter-Methode zur Anwendung kommt, dürfte die Opferzahl hoch sein. Aber darüber
wird nicht geredet.
Das ist nichts Neues, das war schon in Afghanistan so und auch
im Zweiten Weltkrieg. Sie haben die Zahl der Toten immer geheimgehalten.
Es gibt auch kaum Proteste in Russland.
Vielleicht ist die Zahl der Toten noch nicht hoch genug. Ausserdem haben die Leute Angst, und sie fühlen sich machtlos.
Sie denken, man könne sowieso nichts dagegen tun.
Das kann ich nachvollziehen. Was ich nicht verstehe: Mehr als
die Hälfte der Russen hat heute ein positives Stalin-Bild – obwohl praktisch jede Familie ein Opfer der Stalin-Repressionen zu beklagen hatte.
Man muss wissen, dass die Russen in den letzten zwanzig Jahren ihre Geschichte vernachlässigt haben. In letzter Zeit wurde die Geschichte oft sogar absichtlich falsch erzählt – die offizielle Geschichtsschreibung hat Stalins Verbrechen herun-
DA S M AGA Z I N 14/201 5 Auch in der Ostukraine?
Ja. Die Führer der angeblichen Separatisten sind russische Geheimdienstleute. Natürlich sind da auch ein paar Ukrainer,
aber es handelt sich um eine russische Militärorganisation.
Gegründet von russischen Geheimdienstlern, bewaffnet durch
die russische Armee, gespeist durch russische Soldaten und
Freiwillige.
Könnte man nicht vielleicht sagen: Die letzten 25 Jahre waren
aussergewöhnlich – jetzt sind wir wieder zurück in der Normalität?
Es ist nicht einfach so wie vorher. Zwischen Putins Russland
und der Sowjetunion gibt es gewichtige Unterschiede. Das
heutige System ist viel ausgeklügelter. Die Propaganda ist raffinierter, es gibt eine Art Kapitalismus, Menschen dürfen reich
sein. Russland ist heute eine Diktatur, aber im Gegensatz zu
früher nicht isoliert vom Rest der Welt.
Trotzdem, Sie nennen es eine Diktatur.
Ja.
Ohne Adjektiv?
Ohne Adjektiv. Natürlich führen sie Wahlen durch, aber das
tun viele autoritäre Regime, zur Vorspiegelung von Legitimität.
Sogar in der Sowjetunion gab es Wahlen.
Diktatur bedeutet doch: Ein Regimewechsel ist unmöglich.
Genau. Viele Leute im Westen denken, wenn der Ölpreis tief ist
und die russische Wirtschaft zusammenbricht, dann wird etwas geschehen. Aber es wird nichts geschehen. Es gibt im heutigen Russland keinen Mechanismus für einen Regimewechsel, es gibt keinen Anwärter für die Putin-Nachfolge.
Ein Satz, den man oft hört: Putin ist schlimm, aber wenn er
weg ist, wird es noch schlimmer.
Genau dasselbe wurde über Stalin gesagt. Als er starb, schrieb
die «Times of London»: Jetzt, da Stalin weg ist, werden die
Hardliner an die Macht kommen. Und Stalin war immerhin
ein Massenmörder.
Es gibt immer einen, der noch schlimmer ist.
Gewiss. Aber es gibt keinen Grund, warum es immer schlimmer werden sollte. In der Sowjetunion war es eher so, dass auf
einen Hardliner jeweils ein Reformer folgte und umgekehrt.
Wie deuten Sie den Mord an Boris Nemzow?
Das Hauptmotiv für den Mord war, die Leute einzuschüchtern.
Anders als Stalin steckt Putin nicht Tausende ins Gefängnis.
Vielmehr benutzt er gezielte Gewalt: ein Oligarch, eine Journalistin, ein Politiker.
Er wählt die Opfer gezielt aus?
Ich habe keinen Beweis dafür, aber jemand in seiner Umgebung
denkt sicher in diese Richtung.
tergespielt. Es kommt aber noch etwas anderes hinzu: die
Sehnsucht nach Macht. Stalin ist ein Symbol jener Zeit, als
man eine der beiden Supermächte war.
Woher stammt diese Sehnsucht?
Auch in anderen ehemaligen Grossmächten kommt es vor,
dass die Bevölkerung eine Nostalgie entwickelt für die vergangene Zeit – etwa in Frankreich oder Grossbritannien. Die spezifisch russische Art, nostalgisch zu sein, besteht darin, dass
die Leute das Gefühl vermissen, gefürchtet zu sein. Sie mögen
es, wenn andere Angst vor ihnen haben. Als sich vor einigen
Jahren in Washington niemand mehr für Russland interessierte, empfand man das als Kränkung. Ich würde sagen: Es ist doch
toll, wenn sich Washington nicht für dich interessiert! Aber die
Russen sehen das anders.
Ein wenig wie Nordkorea, das unbedingt gehört werden will?
Ja. Und es ist ihnen ja auch gelungen. Russland ist zurück in der
geopolitischen Debatte. Wenn auch mit einer negativen Rolle.
Es gibt Umfragen, in denen man gefragt wird, ob man lieber
arm in einem mächtigen Land oder reich in einem nicht so
mächtigen Land wäre. Die grosse Mehrheit der Russen zieht
die Option «arm und mächtig» vor.
Die Schweizer wären lieber reich und unbedeutend, oder?
Gewiss, aber wir haben keine Wahl.
Ich denke, in den allermeisten Ländern ist den Leuten der
Wohlstand wichtiger als die geopolitische Bedeutung. Vielleicht ist Russland sogar die einzige Ausnahme.
Und warum ticken die Russen anders?
Schauen Sie, die Sowjetunion war eine zutiefst kranke, perverse Gesellschaft mit sehr zynischen Werten. Die Leute lernten,
dass zu Hause und in der Öffentlichkeit unterschiedliche Wahrheiten galten – sie gewöhnten sich daran, dass die Wahrheit
etwas Relatives ist. Das System hatte einen sehr tiefgreifenden Einfluss auf das Verhalten und Denken der Menschen. Das
wird man nicht so schnell wieder los.
Die Leute denken immer noch sowjetisch?
Dieses Denken ist nie ganz verschwunden, und seit einiger
Zeit kommt es verstärkt zurück. Ich hielt schon 2004 in Berlin
einen Vortrag unter dem Titel «Putinismus», in dem ich über
den neuen russischen Autoritarismus sprach. Die Leute dachten damals, ich sei verrückt. Aber wenn ich auf diesen Vortrag
zurückschaue, war alles schon da. Putin begann damals die
Elemente zusammenzumontieren, die ihn an der Macht halten. Das war vor zehn Jahren. Und heute haben es alle begriffen.
Wirklich? Mir scheint nach wie vor, im Westen nähmen viele
Leute die Gefahr nicht ernst.
Ich hatte vor Kurzem in Deutschland eine Diskussion zum
Thema «Bedrohungen für den Westen». Und während ich von
Russland sprach, sprachen die Deutschen von Chlorhühnchen.
Chlorhühnchen?
Es geht um gechlortes Pouletfleisch aus den USA, das im Rahmen des geplanten Freihandelsabkommens mit den USA auch
in der EU zugelassen werden soll. Die Deutschen halten das
für eine ernsthafte Bedrohung.
Was ist gefährlicher, die Bedrohung durch den Islamischen
Staat oder durch Russland?
Die beiden Gefahren sind sehr unterschiedlich, haben aber eines gemeinsam: Beide bedrohen in ihren jeweiligen Regionen
die staatlichen Strukturen. Der Islamische Staat bedroht die
Existenz von Ländern wie Irak und Syrien – Putin bedroht die
seit 1945 geltende europäische Tradition, dass Grenzen nicht
mit Gewalt verändert werden dürfen. Für die Europäer ist die
russische Gefahr natürlich viel grösser, denn Terroristen können hier letztlich nur beschränkten Schaden anrichten. Putin
hingegen kann die innere Stabilität mehrerer europäischer
Länder gefährden, selbst die von Frankreich und Italien.
Wie das?
Indem er Anti-System-Parteien unterstützt, wie den Front National, die italienische Rechte, die ungarische Jobbik, die österreichische Freiheitspartei, die griechische Linke und Rechte.
Das gefährdet das Funktionieren einer EU-weiten Wirtschaftsund Aussenpolitik. Ausserdem können russische Waffen nicht
nur in der Ukraine Schaden anrichten, sondern auch im Baltikum, in Polen und in Rumänien. Und natürlich hat Putin Atomwaffen und spricht regelmässig davon, sie zu benutzen.
Zu diesem nicht ganz unwichtigen Thema nehme ich zumindest in der Schweiz kaum eine Diskussion wahr.
Das ist schade, denn die Schweiz ist teilweise verantwortlich
für das, was derzeit geschieht. Die Leute, die Russland regieren,
haben ihr Geld in europäischen Banken gewaschen. Einige von
Putins wichtigsten und engsten Gefährten leben in der Schweiz.
Wer etwa?
Zum Beispiel Personen im Umfeld von Gunvor, einer der grössten Ölhandelsfirmen weltweit. Sie operiert teilweise von der
Schweiz aus und gilt als jenes Unternehmen, das Putin am
nächsten steht.
So wird Geld gewaschen?
23
25
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24
Aber ihr seid auch korrupt! Unsere Politiker sind zynisch, eure
ebenso! Wir haben eine Scheindemokratie, aber ihr auch! Und
in dieser Propaganda steckt ein Körnchen Wahrheit. Russische Oppositionspolitiker sind sehr kritisch gegenüber dem
Westen. Sie finden es heuchlerisch, wenn man Vorträge über
Menschenrechte hält, aber nichts gegen korruptes Geld unternimmt. Für sie sind das keine getrennten Probleme. Für sie
ist korruptes Geld eine Menschenrechtsfrage, weil es das System stützt. Insofern ist die Schweiz eine Komplizin: Sie hilft
Russland, den Krieg in der Ukraine zu gewinnen.
In der russischen Elite gibt es diese Schizophrenie: Man wettert gegen den Westen, aber man hat sein Geld in der Schweiz,
macht Ferien in Frankreich, lässt seine Kinder in England studieren.
Diese Leute haben sich Teile des westlichen Modells angeeignet. Sie wollen Zugang zu den materiellen Gütern des Westens
haben, aber sie wollen sie mit niemandem teilen. Es gibt heute in Russland einen kleinen Kreis sehr mächtiger Leute, die
alles kontrollieren: die Wirtschaft, die Regierung, den Geheimdienst, die Medien. Diese Sphären sind überhaupt nicht getrennt, das sind alles die gleichen Leute. Und sie profitieren natürlich enorm von diesem System. Für diese Leute ist die Demokratie unbequem, weil sie eine Beschränkung ihrer Macht
bedeuten würde.
Und die einfachen Leute in Russland – warum ist für sie das
westliche Modell nicht attraktiv?
Es gibt in Russland eine grosse Verwirrung darüber, was das
westliche Modell ist. Dafür sind teilweise wir verantwortlich.
Als in den 1990er-Jahren ein politisches und wirtschaftliches
Chaos herrschte, kam Bill Clinton nach Moskau und sagte:
Gratulation, jetzt habt ihr Demokratie und Kapitalismus. Und
seither assoziieren die Russen Demokratie und Kapitalismus
mit Chaos und Korruption.
Es ist also unsere Schuld?
Teilweise. Wir haben Russland zur Demokratie erklärt und
dann vergessen. Wir hätten die Russen auch nicht so rasch in
unseren Institutionen akzeptieren dürfen. Es ist absurd, dass
Russland in der G-8 war, nicht aber China, das wirtschaftlich
viel bedeutender ist. Ein Fehler war es auch, Russland automatisch als Nachfolgestaat der Sowjetunion zu akzeptieren.
Sie bekamen die Atomwaffen, sie bekamen den sowjetischen
UNO-Sitz, statt dass wir endlich die UNO reformiert hätten.
Sie erzählen genau das Gegenteil jener Geschichte, die man
sonst immer zu hören bekommt: Russland sei vom Westen konstant gedemütigt worden.
Das ist absurd. Russland wurde immer als Spezialfall behandelt, man hat alle möglichen Sonderarrangements gemacht,
etwa auch beim Währungsfonds. Ausnahmslos jeder amerikanische Präsident erklärte bei Amtsantritt gute Beziehungen
zu Russland zum Ziel. George W. Bush sagte 2001, er habe Putin in die Augen geschaut und gesehen, dass er vertrauenswürdig sei. Obama verkündete gar einen Reset in den Beziehungen zu Russland, als er ins Amt kam. Aber alle Präsidenten
sind mit ihrer Vision enger amerikanisch-russischer Beziehungen gescheitert.
Haben wir es mit der Nato-Erweiterung zu weit getrieben?
Nein. Auch hier haben wir ständig Rücksicht genommen. Die
Erweiterung geschah stets in Absprache mit Russland. Es gibt
Vereinbarungen, wonach keine Nato-Truppen nahe der russischen Grenze stationiert sein dürfen. 2008 hat die Nato sogar
freiwillig entschieden, die Ukraine und Georgien nicht aufzunehmen – als Entgegenkommen gegenüber Russland.
Trotzdem sagen viele Leute: Ein mächtiges Land kann nicht
akzeptieren, dass die Nato bis an seine Grenzen reicht.
Warum denn nicht? Russland könnte sagen: Das weltgrösste
demokratische Militärbündnis kommt näher an unsere Grenze – fantastisch, das bringt Stabilität! Dasselbe gilt für die EU.
Die Ukraine in der EU? Grossartig! Wer hätte denn nicht lieber ein prosperierendes, stabiles Land zum Nachbarn statt eines, das im Chaos versinkt wie die Ukraine derzeit? Russland
sollte entzückt sein über die EU- und die Nato-Erweiterung.
Mehr noch, wenn sich Russland nach 1991 anders entwickelt
hätte, wäre es heute selber in der Nato.
Gab es aus heutiger Sicht überhaupt eine reale Chance, dass
sich Russland zu einem normalen Land entwickelt, oder war
es von Anfang an hoffnungslos?
Ich glaube nicht, dass Länder zu einem bestimmten Zustand
verdammt sind. Sie können sich ändern. Lange hiess es, Lateinamerika könne nie demokratisch werden, und heute geht
es doch. Indien ist eine stabile Demokratie, nach so vielen Jahren als Kolonie. Polen wurde nach dem Kommunismus ein
ökonomisches Desaster vorhergesagt – heute prosperiert es.
Sehen Sie in Russland Anzeichen für Hoffnung?
Es gibt eine lange Tradition des Liberalismus, die noch auf die
Zeit vor der Revolution zurückgeht. Die internationale Menschenrechtsbewegung wurde in Russland erfunden, russische
Dissidenten waren die ersten Menschenrechtler. Wenn jemand aus der liberalen Tradition an die Macht gekommen
wäre statt der KGB-Agenten, wenn Jelzin die Privatisierung
nicht so desaströs gestaltet hätte, dann könnte Russland heute
anders aussehen.
Was will Putin?
Sein Ziel ist es, an der Macht zu bleiben. Die Ukraine ist für ihn
eine innere Angelegenheit. Was er am meisten fürchtet, ist eine
Strassenrevolution wie jene in Kiew. Darum muss er beweisen, dass der Maidan ein Desaster war und die Ukraine zerstört
«Es wird oft gefragt, was wir tun können in Sachen Russland.
Lösen wir uns von russischem Geld!»
DA S M AGA Z I N 14/201 5 Ja. Enorme Mengen russischen Geldes fliessen durch die
Schweiz. Das hält das russische Regime am Leben. Es wird ja
oft gefragt, was wir denn tun können in Sachen Russland. Etwas vom Einfachsten wäre: Verstärken wir die Korruptionsbekämpfung! Lösen wir uns von russischem Geld! Ich habe gerade heute einen Bericht von Transparency International gelesen: Zehntausende Londoner Immobilien sind im Besitz von
Briefkastenfirmen mit Sitz auf den Cayman Islands oder den
Britischen Jungferninseln. Da steckt auch kasachisches oder
chinesisches Korruptionsgeld dahinter, aber ein Grossteil davon ist russisch.
Und das ist legal?
Ja. Dabei wäre es so einfach: Man müsste nur das Gesetz ändern
und es Briefkastenfirmen verbieten, Häuser zu besitzen. Ich
staune darüber, dass das in Grossbritannien kein grosses Thema ist. Denn das viele Geld lässt die Immobilienpreise derart
in die Höhe schiessen, dass es sich Briten kaum mehr leisten
können, hier zu leben.
Und was kann die Schweiz unternehmen?
Ihr müsst dafür sorgen, dass kein gestohlenes Geld in Umlauf
ist. Wer nicht beweisen kann, dass sein Geld sauber ist, sollte es
nicht in einer Schweizer Bank halten dürfen. Denn es hält das
russische System am Leben, und es unterstützt indirekt die
russische Propaganda.
Inwiefern?
Anders als zu Sowjetzeiten produziert der russische Staat heute keine Sendungen mehr, die behaupten, es sei bei ihnen alles grossartig. Vielmehr sagen sie: Wir sind korrupt, stimmt.
«Putin will die westlichen Institutionen unterwandern.
Beweisen, dass die EU und die Nato nur Papiertiger sind.»
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gegen die Globalisierung sind, die sehen in Putin einen Verbündeten.
Was ich nicht verstehe: Die Rechte verficht Werte wie Freiheit, Unabhängigkeit, Nationalstaat. Aber sie schlagen sich
nicht etwa auf die Seite der Ukraine, sondern sie halten zu Russland, das diese Werte mit Füssen tritt.
Ja, das ist schwierig zu verstehen. Ich denke, dass hier die Sache mit den konservativen Werten eine Rolle spielt, die Putin
predigt. Das funktioniert, obwohl es ein Witz ist, denn die russische Gesellschaft ist gar nicht besonders konservativ – es gibt
hohe Abtreibungs- und Scheidungsraten. Den meisten Russen
ist diese Anti-Homosexuellen-Rhetorik vermutlich so ziemlich egal.
Umgekehrt die Linke: Sie kämpft für Menschenrechte, Frieden
und Rechtsstaatlichkeit, aber viele schlagen sich auf die Seite
Putins.
Ich kann das auch nicht erklären. Ich denke, links aussen ist der
Antiamerikanismus viel, viel wichtiger als die Menschenrechte.
Hat Putin alles geplant, oder improvisiert er?
Beides. Die Sowjetunion hat auch so funktioniert. Es gibt einen
grossen Plan, und dann schaut man, wie weit man kommt.
Falls es nicht funktioniert, gibt es Ausweichpläne. Die KrimOperation war ganz klar geplant, man hat nur auf den richtigen
Moment gewartet.
Und die Ostukraine?
Da ist der Plan nicht ganz aufgegangen. Die ursprüngliche Absicht war, die ganze Ostukraine zu übernehmen, inklusive Charkiw, Dnipropetrowsk und Odessa. Putin dachte, weil die Bevölkerung dort Russisch spricht, werde sie ihn unterstützen.
Aber die Ukraine ist eine Willensnation – das ist etwas, was ihr
Schweizer verstehen könnt. Russisch zu sprechen macht einen
nicht zum Russen, sondern zum russischsprachigen Ukrainer.
So wie Deutsch zu sprechen einen in der Schweiz nicht zum
Deutschen macht, sondern eben zum Deutschschweizer. Putin hat das nicht verstanden, und darum ist sein Plan fehlgeschlagen. Der Donbass-Krieg ist nicht das, was er wollte – aber
alles, was er für den Moment bekommen konnte.
Jetzt ist viel die Rede davon, dass die Russen ihre Fühler in
Richtung Baltikum ausstrecken könnten.
Diesen Eindruck haben sie sicherlich erweckt. Es gab ja eine
Reihe von Zwischenfällen und Provokationen, die die Unsicherheit in den baltischen Staaten erhöht haben. Kommt hinzu,
dass die Russen in ihren Manövern die Invasion der baltischen
Wo KMU
einfach
ins Geschäft
kommen.
Wir sind einfach Bank.
DA S M AGA Z I N 14/201 5 hat. Denn wenn die Ukraine zum Erfolg würde, würden sich die
Russen sagen: Schaut mal, die können das – warum können
wir es nicht? Das würde Putins Macht gefährden.
Und was sind seine Ziele in Europa?
Er will die westlichen Institutionen unterwandern. Er will beweisen, dass die EU und die Nato nur Papiertiger sind. Er will,
dass Europa auseinanderbricht.
Wozu?
Es ist lukrativer für Russland, individuelle Beziehungen zu
haben. Wenn die EU eine gemeinsame Energiepolitik macht,
sitzt sie am längeren Hebel. Wenn Russland aber mit jedem
Land einzeln am Tisch sitzt, kann es seine Bedingungen diktieren.
Stecken vielleicht auch Rachegelüste dahinter? Ihr wart so erfolgreich – jetzt zeige ich euch, dass ihrs nicht seid.
Mag sein. Vielleicht nützt Putin auch einfach die Gunst der
Stunde. Er hat korrekt analysiert, dass die Attraktivität des
westeuropäischen Modells nach 2009 gesunken ist. Dass Europa heute viel schwächer ist als vorher.
Viele Schweizer sind skeptisch gegenüber Europa. Sie haben
selber gesagt, Sie seien nicht besonders europhil. Aber angesichts der politischen Lage kann man sich derzeit doch eigentlich nichts sehnlicher wünschen als eine starke EU?
Es gibt viele Gebiete, in denen Europa zusammenarbeiten
kann und soll. Aber ich habe das Gefühl, dass die EU viel Zeit
damit verbringt, die falschen Dinge zu tun. Die Schaffung des
Euro war ein klarer Fehler – oder zumindest die Einbeziehung
der südlichen Länder. Das letzte Jahrzehnt hätte man besser
dazu genutzt, eine intelligente Energiepolitik, eine intelligente Russlandpolitik und eine kohärente Politik gegenüber Nordafrika zu schaffen.
Warum hat Putin so viele Fans im Westen?
Erstens ist das russische Modell interessant für eine bestimmte Art von Politiker. Für Viktor Orban in Ungarn, für Recep Erdogan in der Türkei. Für ehrgeizige und antidemokratische
Politiker ist diese neue Art von Autoritarismus sehr attraktiv.
Auch zum Beispiel für einen Berlusconi. Berlusconi wäre gern
Putin gewesen, wenn er es gekonnt hätte. Die beiden sind sich
sehr ähnlich.
Und zweitens?
Zweitens ist die russische Politik attraktiv für alle, die gegen
die vorherrschende Struktur sind. Menschen, die gegen Europa, gegen die Nato, gegen die USA, gegen den Kapitalismus,
Wie beurteilen Sie die Politik von Angela Merkel? Sie haben mal
gesagt, Sie bewunderten sie.
Ja, ich bewundere sie, und ich bin froh, dass sie das Kanzleramt innehat – und nicht zum Beispiel jemand wie Gerhard
Schröder. Merkel begreift, was in Russland vor sich geht, und
das ist in Deutschland schon ziemlich viel. Sie versteht,
warum Putin gefährlich ist.
Aber?
Sie hat einen Fehler gemacht. Ich meine, wenn Deutschland mit
Griechenland verhandelt, ist es in einer starken Position. Letztlich kann es sagen: Wenn ihr nicht nachgebt, fliegt ihr aus dem
Euro. In Verhandlungen mit Russland ist Deutschland dagegen
schwach. Es kann nicht sagen: Wenn ihr nicht nachgebt, schicken wir Truppen in die Ukraine. Jeder weiss, dass die Deutschen das niemals tun würden, und ausserdem ist die Bundeswehr schwach, ihre Flugzeuge fliegen nicht und so weiter. Darum verstehe ich nicht, warum sie allein mit Russland verhandeln, mit den Franzosen als Anhängsel. Es wäre viel stärker,
wenn Deutschland im Verbund agierte, wenn es für die ganze
EU spräche.
Mir fällt auf, dass im deutschen Fernsehen sehr viele Russen
auftreten, aber praktisch keine Ukrainer.
Das ist etwas, was die Russen seit Jahren betreiben. Sie haben
ihre Leute in alle möglichen deutschen Institutionen eingebracht, und sie sind sehr gut darin, ihre Version der Geschichte zu erzählen. Die Ukrainer haben so etwas nie gemacht. Sogar in London ist es schwierig, Ukrainer zu finden, die im
Fernsehen auftreten.
Was hat den Eisernen Vorhang letztlich zu Fall gebracht: das
Wettrüsten, wie die Amerikaner glauben, oder doch eher die
besänftigende deutsche Ostpolitik?
Beides. Die Ostpolitik war sicher hilfreich, aber letztlich war
nicht sie es, die Gorbatschow davon überzeugte, die Sowjetunion zu reformieren. Gorbatschow hatte ja gar nie das Ziel,
die Sowjetunion aufzulösen. Es ist einfach geschehen. Vor allem wegen der Bürgerbewegungen. Und weil den Sowjets das
Geld ausging.
Und das Wettrüsten?
Was man sicher sagen kann: Ohne die massive Präsenz der
amerikanischen Armee hätte Westdeutschland nicht zum Westen gehört – Stalin hätte es sich einverleibt. Das ist etwas, woran sich die Deutschen heute nicht gern erinnern. Die Rolle der
amerikanischen Truppen wird verdrängt. Auch am 25. Jahrestag des Mauerfalls in Berlin letztes Jahr ist mir aufgefallen, dass
praktisch keine Amerikaner anwesend waren.
Woran arbeiten Sie derzeit?
An einem Buch über die Ukraine. Es geht um die erste ukrainische Unabhängigkeitsbewegung von 1918 bis hin zur Hungersnot in den 1930er-Jahren, die teilweise ein Versuch Stalins war,
den ukrainischen Nationalismus auszurotten. Was übrigens mit
ziemlich viel Erfolg gelungen ist.
Da gibt es also Parallelen zu heute?
Oh ja. Aber ich schwöre Ihnen, ich habe das Konzept für das
Buch schon vor drei Jahren geschrieben, bevor das in der
Ukraine alles losging.
M AT H I A S PLÜ S S ist redaktioneller Mitarbeiter des «Magazins»; [email protected]
Die Fotografin K AT H A R I NA P OBL OT Z K I lebt in New York City; www.katharinapoblotzki.com
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DA S M AGA Z I N 14/201 5 Staaten und die Bombardierung von Warschau und von Schweden üben. Warum üben sie das? Vielleicht ist alles nur Bluff,
aber wir müssen es ernst nehmen.
Nehmen wir es ernst genug?
Nein. Unsere Politiker sind konstant sechs Monate hintendrein.
Ich habe heute Morgen einen hochrangigen Vertreter der
Obama-Regierung getroffen. Wenn ich dessen Analyse letztes
Jahr gehört hätte, dann hätte ich sie für sehr gut gehalten. Aber
jetzt ist es ein wenig spät.
Was sollen wir denn tun?
Wenn wir vor zehn Jahren Truppen ins Baltikum verlegt hätten, dann hätten wir dieses Problem heute nicht.
Die Nato könnte immer noch Truppen ins Baltikum verlegen.
Ja. Aber jetzt würde es wieder heissen, es sei eine Provokation.
Angenommen, es passiert etwas im Baltikum: Wird die Nato
einschreiten?
Das ist eine existenzielle Frage. Wenn die Nato nicht einschreitet, dann existiert sie nicht mehr.
Und wenn sie einschreitet?
Es kommt darauf an, von welcher Art von Konflikt wir da sprechen. Natürlich ist ein Krieg zwischen Russland und der Nato in
niemandes Interesse, auch nicht in Putins. Aber die Ost-WestKonflikte waren schon immer ein Spiel mit Wahrnehmungen,
das war auch im Kalten Krieg so. Man erweckt den Eindruck,
etwas zu tun, um zu sehen, wie der andere reagiert.
Der Unterschied ist, dass sich im Kalten Krieg beide Seiten
der Gefahr bewusst waren.
Ja. Vermutlich sind wir uns heute der Gefahr nicht genug bewusst.
Die heutige Situation ist oft mit 1914 verglichen worden. In
Anlehnung an das Buch des australischen Historikers Chris­
topher Clark über den Ersten Weltkrieg heisst es dann etwa,
wir seien Schlafwandler, welche die Gefahr nicht sehen.
Es gibt eine sehr interessante Teilung in Europa: Manche Leute glauben, es seit 1914, und andere, es sei 1938. Das beeinflusst
das Denken und Handeln ungemein. Die Polen denken, es sei
1938 und darum müssten wir den Diktator stoppen, bevor es
schlimmer wird. Die Deutschen hingegen sind überzeugt, es
sei 1914 und wir müssten einen Krieg um jeden Preis verhindern. Ich habe selbst gehört, wie der deutsche Aussenminister Steinmeier diesen Vergleich gebraucht hat.
Und wer hat recht?
Ach, ich denke, es ist weder 1914 noch 1938. Klar ist, dass sich
im Moment die deutsche Politik durchsetzt. Man kann dem
Westen sicher nicht vorwerfen, einen Krieg zu provozieren.
Wir haben uns im Gegenteil die allergrösste Mühe gegeben, die
Situation zu beruhigen und gegenüber Russland nicht aggressiv aufzutreten. Die Frage ist, ob dies genügt, um Putin zu stoppen. Wir werden ziemlich bald wissen, vielleicht in etwa sechs
Monaten, ob unsere Politik erfolgreich ist.
Sie tönen nicht sehr optimistisch.
Gewisse Parallelen zu 1938 kann man nicht leugnen. Es gab
die Berliner Olympischen Spiele in Form von Sotschi, es gab
den Anschluss der Krim, und jetzt erleben wir in der Ukraine die
Aufteilung der Tschechoslowakei. Es ist schwierig, hier keine
Ähnlichkeiten zu sehen.
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Alle Eltern behaupten, ihre Kinder
gleich zu lieben. Die Wahrheit sieht anders aus.
DA S M AGA Z I N 14/201 5 — BI L D: J U L I EN M AGR E
MAMA, WARUM HAST
DU MICH WENIGER LIEB?
Von Katharina Kluin und Nicolas Büchse
Dass Eltern ein Kind bevorzugen,
sei schlicht menschlich, sagen Psychologen.
Doch Kinder können daran verzweifeln.
derne, die alle Menschen gleich und zu Brüdern und Schwes­
tern machte, bestimmt auch die Erziehungsmoral. Bemühte El­
tern berichten, dass in Kinderzimmern eine Stoppuhr über die
gerechte Vorlesezeit wacht. Dass sie alles tun, um ihren Kindern
und auch sich selbst gerechte Elternliebe vorzuleben – immer
bestrebt, dem «Dreisatz» zu genügen: sich auf Augenhöhe be­
geben, individuell fördern und, ganz wichtig, keinen bevorzu­
gen. Doch Eltern sind keine neutralen Schiedsrichter. Eltern
sind Fans. Fast immer wählen sie einen Liebling, bewusst oder
unbewusst, zumindest zeitweise: Vielleicht ist nur der Älteste
ein Wunschkind oder das Jüngste, vielleicht hatten die Eltern
bei Kind Nummer zwei eine schwere Krise, vielleicht ist es auch
nur viel hübscher, oder es hat ein so komisches Talent, dass es
ganz von allein im Mittelpunkt steht. Susanne Kemper schreibt,
ihr Jüngster habe ihr die Liebe einfach leichter gemacht:
Marie war immer schwieriger als Leon. Sie war hartnäckiger
in dem, was sie wollte, gnadenloser. Anders, als ich mir ein Kind
vorgestellt hatte, nerviger und viel weniger verschmust. Sie wand
sich fast, wenn man sie knuddeln wollte, und fing selbst bei der
Babymassage an zu quengeln. Dann kam der immer fröhliche
Leon. Mit seinem Strahlen im Gesicht, dem knuffigen Körper, der
sich an mich drückte. Der so war, wie ich mir ein Kind gewünscht
hatte. Ich habe ihn genossen – und Marie etwas weniger.
Der Hoferbe
Es gibt so viele Gründe, Merkmale und Situationen, die Müt­
ter oder Väter einem Kind näherbringen. So viele Gründe, wie
es Familiengeschichten gibt. Kaum jemand sei frei davon, sa­
gen Psychologen. Dass Eltern bevorzugen, das sei schlicht
menschlich. Doch Kinder können daran verzweifeln.
Lina Sauer, 45, die ihren richtigen Namen auch nicht preis­
geben will, weiss davon zu erzählen. Ihr älterer Bruder Chris­
tian wurde zum Lieblingskind, weil er ein Junge war. Der Hof­
erbe. Ihr Vater bemühte sich gar nicht erst, den Unterschied
zu verschleiern, den er zwischen ihm, Lina und den anderen
beiden Schwestern machte. Wenn Christian mit einer Eins
aus der Schule kam, dann strich ihm der Vater über den Kopf
und sagte: «Bist halt mein Söhnle.» Wenn sie eine Eins nach
Hause brachte, erntete sie, wenn überhaupt: «Das habe ich
nicht anders erwartet.» Zum 16. Geburtstag schenkten die El­
tern Christian ein Mofa. Der Bruder wurde 18, die Eltern stell­
ten ihm ein Auto auf den Hof. Weil Mädchen das ja nicht brauch­
ten, fuhren die Schwestern Bus und Fahrrad. «Er war der ein­
zige Sohn», sagt Lina Sauer. «Das war ein Wert an sich. Seine
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Endlich
bekomme ich,
was ich von einer
Anlageberatung
erwarte.
DA S M AGA Z I N 14/201 5 Susanne Kemper heisst nicht Susanne Kemper. Sie hat auch
die Namen ihrer Kinder in diesem Text geändert und ein paar
andere Details. Keiner soll Rückschlüsse ziehen können aus
dem, was sie schreibt – denn ihre Kinder dürfen sich niemals
darin erkennen. Sie brauchte ein paar Tage Anlauf, um die
Wahrheit zu Papier zu bringen. Sie kennt diese Wahrheit schon
lange. Aber es hat gedauert, bis sie die Worte vor sich auf dem
Bildschirm aushalten konnte.
Ich liebe Leon mehr als Marie. Der Satz will eigentlich nicht
raus, es tut fast weh, ihn zu schreiben. Eine Mutter hat doch ihre
Kinder zu lieben, für sie durchs Feuer zu gehen, basta. Anderthalb Jahre lang war Marie ein Einzelkind, eine Zeit ohne Vergleiche. Manchmal erinnere ich mich voller Wärme an ihre Geburt. Ich hätte ihr meine ungetrübte Liebe ein Leben lang gewünscht. Aber wenn ein anderes Kind auf die Welt kommt, wird
immer auch der Vergleich geboren. Mit dem musst du leben. Und
dein Kind muss es auch, egal, wie sehr du ihn zu verstecken suchst.
Susanne Kemper ist 49 Jahre alt, ihre Kinder sind inzwi­
schen 12 und 14. Sie hat aufgeschrieben, worüber fast niemand
zu sprechen wagt. Kaum eine Mutter, kaum ein Vater würde
offen zugeben, ein Kind lieber zu mögen als das andere. Die
meisten erlauben sich nicht einmal, so weit zu denken. Das
Lieblingskind. Es rührt an eines der letzten Tabus zwischen
Eltern und Kindern.
Und doch ist die unterschiedlich verteilte Liebe Realität:
Katherine Conger, Soziologieprofessorin an der University of
California in Davis, untersuchte 384 Geschwisterpaare und
deren Eltern. Ihr Fazit: 65 Prozent der Mütter und 70 Prozent
der Väter zeigten eine Vorliebe für eines ihrer Kinder, in der Re­
gel für das älteste. Kinder beklagen Benachteiligungen schon
lange, gut zwei Drittel erklären in Studien regelmässig, ihre
Eltern seien parteiisch.
Seit Kurzem rücken die ungerecht verteilte Elternliebe und
ihre Folgen verstärkt in den Blick der Forschung, «Favoritism»
nennt sich dieser junge Zweig der amerikanischen Entwick­
lungspsychologie. In die Öffentlichkeit getragen hat ihn der
Wissenschaftsjournalist Jeffrey Kluger. Mit einem Buch über
Geschwisterforschung löste er Ende 2011 in den USA eine leb­
hafte Debatte aus. Seitdem tauschen sich in unzähligen Blogs
Mütter und Väter aus, debattieren verschleiert hinter Pseudo­
nymen: Ist es normal, dass ich meine Tochter, meinen Sohn
lieber mag? Kann ich etwas dagegen tun?
Lange vorbei die Zeit, in der die Eltern ganz selbstverständ­
lich alles in den männlichen Stammhalter investierten. Die Mo­
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Copyright © 2015 Credit Suisse Group AG und/oder mit ihr verbundene Unternehmen. Alle Rechte vorbehalten.
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wickelten eher Ängste, ein geringes Selbstwertgefühl und De­
pressionen.
Lina Sauer war Mitte 30, als sie in den Burn-out rutschte.
Sie hatte zu lange versucht, das Defizit an Liebe im Elternhaus
mit Anerkennung im Job zu ersetzen. «Da ist mein Chef regel­
recht zu meinem Vater geworden: Wenn er mich lobte, habe
ich, um noch mehr Aufmerksamkeit zu bekommen, gleich dop­
pelt Gas gegeben.» Bis plötzlich nichts mehr ging. In der Aus­
zeit danach erkannte sie das Muster: Sie war schon als Jugend­
liche auf die Suche nach der Liebe gegangen, mit der die El­
tern ihren Bruder überschüttet und die sie ihr vorenthalten
hatten. Lina war gerade 15, als sie glaubte, diese Liebe in den
Armen ihres Deutschlehrers zu finden.
An guten Tagen beruhige ich mich, sage mir: Ist doch völlig normal, geht doch jedem so, dass er zu einem Kind einen besseren
Draht hat. Sind ja auch nur Menschen, kleine Menschen halt, und
die Chemie ist mal hier, mal dort besser. Dass es kein Problem ist,
dass ich mich mit Leon immer ein bisschen seelenverwandt fühlte. Aber letztlich ist es eben doch ein Problem: Maries Problem.
Liebling Erstgeborenes
Ungerechtigkeit verletzt eines der elementarsten Bedürfnisse
des Nachwuchses. Das Bedürfnis, angenommen zu sein, das
Bedürfnis nach bedingungsloser Nähe. Entwicklungspsycho­
logen sagen, es ist seit Urzeiten in uns angelegt, weil nur diese
elterliche Nähe das Überleben der Kinder sicherte. Und so ist
sie seit jeher hart umkämpft. Denn ungleich verteilte Eltern­
liebe ist in der Menschheitsgeschichte eher der Normalfall:
Mutter und Vater konzentrierten sich meistens auf ihre gröss­
ten und gesündesten Nachkommen. Die übrigen Kinder waren
eine Art Rückversicherung, für den Fall, dass das Kräftigste
nicht durchkam. Sie wurden zuletzt gefüttert – wenn noch et­
was übrig war. Oft schliefen sie nachts am Rand der Gruppe und
nicht in der Mitte, gewärmt und geschützt von zwei Seiten.
Profitiert haben meistens die Erstgeborenen. Sie wurden
leicht zu den Fittesten, weil sie Aufmerksamkeit und Nahrung
während ihrer ersten Lebensmonate nicht mit Geschwistern
teilen mussten. Diese Geschichte schlummert noch heute in
uns – wenn auch durch Gleichheitsideal und Erziehungsrat­
geber unterdrückt. Noch vor sieben Jahren ermittelte eine
Studie aus Norwegen, dass der IQ von Erstgeborenen durch­
schnittlich drei Punkte höher liegt als der ihrer Geschwister.
Weil das Bedürfnis der Kinder nach Zuwendung so ele­
mentar ist, sind sie so sensibel für alle Formen der Ungleich­
behandlung. «Sie nehmen kleinste Unterschiede wahr, aber sie
verstehen die Gründe noch nicht», sagt der Berliner Psycho­
analytiker Horst Petri. Ihre Verunsicherung richten sie dann
gegen sich selbst. «Sie erklären sich dieses Unrecht leicht mit
ihrem eigenen Versagen, mit ihren Schwächen oder auch mit
ihren Bosheiten.» Wenn diese Verunsicherung nicht nur eine
Phase lang dauert, sondern über Jahre immer tiefer wird, gra­
be sie sich in die Persönlichkeit.
Marie sagt, dass sie das Gefühl habe, nie so gut, so toll, so
richtig gewesen zu sein wie Leon. Zum Glück können wir wenigstens darüber reden. Neulich sagte sie: «Damals, als Leon den
Judowettbewerb gewonnen hatte, hast du den ganzen Tag von
nichts anderem geredet; ich hatte nie was, was dich so glücklich
gemacht hätte.» «Ich habe dich sehr lieb», habe ich matt gesagt. Und es auch gemeint. Aber was nützt das? Es ist zu spät,
das Gewicht lastet längst auf ihren Schultern. Ich würde so gern
die Zeit zurückdrehen, alles besser machen. Aber was würde ich
denn besser machen, wenn die Gefühle nun mal so wären, wie
sie waren und sind? Für Gefühle kann man nichts. Für das, was
sie anrichten, trägt man trotzdem die Schuld.
Der Eindruck, bei der Elternliebe zu kurz gekommen zu
sein, nagt oft ein Leben lang an einem Menschen. Clare Stocker,
die an der Universität Denver Psychologie lehrt, beobachtete
vier Jahre 136 Geschwisterpaare. Ergebnis: Kinder, die sich
weniger geliebt fühlten als ihre Brüder und Schwestern, ent­
Besondere Aufmerksamkeit
Doch nicht nur die zurückgesetzten Kinder leiden. Studien
zeigen, dass spürbare Ungerechtigkeit allen Kindern schadet
– auch den Lieblingen. Wie alle Hätschelkinder laufen sie Ge­
fahr, sich als Erwachsene schlechter zurechtzufinden, weil in
der Welt da draussen nicht alle so jubeln wie Mama und Papa.
Das Lieblingskind steht unter Druck, sich nichts zu erlauben,
was es aus der elterlichen Zuneigung verdrängen würde.
Ich liebe beide Kinder, wirklich. Von Herzen. Aber Marie
hat mich immer mehr gefordert, mir mehr Aufgaben gestellt.
Wenn ich es so sehe, gebe ich auch Marie einen besonderen Platz
in meinem Leben. Es so zu sehen versöhnt mich etwas.
«Es gehört zu den schwierigsten Herausforderungen für El­
tern, zu allen Kindern gerecht zu sein», sagt Petri. «Es ist oft
unvermeidbar, ein Lieblingskind zu haben. Das sollte man aber
bei den anderen Kindern durch besondere Aufmerksamkeit
und Zuwendung ausgleichen.» Und wenn das nicht gelingt?
Petris Kollege Hartmut Kasten tröstet mit dem Gedanken, dass
das Leben oft selbst den Ausgleich schafft. Mit Glück suchen
sich Geschwister – ob Liebling oder Aschenputtel – etwas, worin
sie glänzen können. Sie entwickeln dann eine Stärke, die sie
für sich nutzen können.
Wenn er heute zurückblickt, kann Stephan Krebs das auch
so sehen. Dass sein Bruder die Erwartungen des Vaters über
die Massen erfüllte, habe ihm die Rolle des Querdenkers na­
hegelegt – die – Rolle des Leistungsträgers war durch seinen
Bruder ja schon besetzt. Jetzt ist er froh darüber: über sein
buntes Studentenleben, über das politische Engagement, über
seinen Weg voller Brüche. Die Brüder lachen heute über den
Treppenwitz ihrer Familiengeschichte, den sie mit diesem Zoff
begründet haben. Ihr jüngster Bruder hat angesichts des Dau­
erzwists der Älteren früh seine ganz eigene Nische im Famili­
ensystem gefunden: mit dem Talent, beiden Seiten genau zu­
zuhören, zu schlichten, Lösungen zu finden. Thomas Krebs ist
Familienrichter geworden.
•
K AT H A R I NA K LU I N und N IC OL A S BÜCH SE sind Redakteure des «Stern»; [email protected]
© Stern 2015
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DA S M AGA Z I N 14/201 5 Vorrechte waren so selbstverständlich, dass ich das – damals
– nicht einmal ungerecht fand.»
Bei Familie Krebs war die Zuneigung nie so eindeutig ver­
teilt. Die Brüder Martin, Stephan und Thomas wuchsen in den
Sechzigern in einem protestantischen Pfarrhaus auf. Alle Kin­
der sollten gleich behandelt werden, da waren sich die Eltern
einig. Es gibt ein Foto, auf dem die Brüder, drei, sechs und neun
Jahre alt, lachend im Bett sitzen – alle im gleichen Schlafanzug
mit Punkten, alle mit dem liebevoll aufgestickten Namenszug
auf dem Hosenbein. Die Eltern haben sich bemüht. Noch heu­
te würde keiner der Brüder sagen, die Eltern seien ungerecht
gewesen. Dennoch gibt es einen Satz, aus dem die Enttäu­
schung hervorsticht und auch die Rivalität, an der die zwei Äl­
teren sich lange aufgerieben haben. Stephan, der Zweitgebo­
rene, sagt: «Die Augen unseres Vaters leuchteten immer, wenn
Martin von der Marine erzählte.» Die Marine war die grosse
Leidenschaft des Vaters. Er war im Krieg selbst zur See gefah­
ren, danach wurde er Marinepfarrer in Flensburg. Wie stark
sein Vorbild wirkt, zeigt die Berufswahl der beiden Ältesten.
Martin ist heute Admiral. Stephan ist auch Pfarrer geworden.
Sie haben sich die Fussstapfen des Vaters geteilt. Und doch
sind Stephan und sein Vater einander fremd geblieben. «Ich
glaube, Elternliebe ist wie ein Sockel, der ist da für alle Kinder.
Aber für mich konnte er nicht viel draufsatteln.» Bei Martin
sei eben mehr «obendrauf» gewesen. Denn Martin, das war
nicht nur der mit der Marine, er war auch der Unkomplizierte,
derjenige, der in den Siebzigern militärische Orden bekam und
nicht, wie Stephan, wütend Sponti-Parolen rief. Martin blieb
den Werten des Vaters näher.
«Eines der häufigsten Motive für Bevorzugung ist Ähn­
lichkeit», sagt der Münchner Psychologe und Familienforscher
Hartmut Kasten. Auch das Geschlecht spielt eine Rolle für die
Aussicht auf Elternliebe. In einer im Wissenschaftsjournal
«Human Nature» veröffentlichten Studie wurden Töchter und
Söhne vor einigen Jahren befragt, wer Mamas oder Papas Lieb­
ling war. Ergebnis: Das Lieblingskind der Mutter ist mit höchs­
ter Wahrscheinlichkeit der erstgeborene Sohn, das des Vaters
die letztgeborene Tochter. Allerdings lässt nicht der Charme
kleiner Mädchen die Väter kapitulieren oder die Unkompli­
ziertheit der Söhne die Mutterherzen höher schlagen. Offen­
bar fasziniert es Eltern, einen Teil von sich im anderen Ge­
schlecht wiederzufinden: Sie bevorzugen gerade die Eigen­
schaften, die mit der eigenen Persönlichkeit verbunden werden:
die gefühlvolle Mutter den grüblerischen Sohn, der Manager
die Tochter im BWL-Studium. Eltern handeln oft aus purem
Narzissmus. Wenn das Kind schon nicht so aussehen kann wie
sie, sollte es doch wenigstens so handeln.
Neulich, erzählt Hartmut Kasten, hat er bei einem seiner
Vorträge wieder für Empörung gesorgt. Dazu genügte ein ein­
ziger Satz: «Gleichbehandlung aller Geschwister ist blosse Uto­
pie.» Die Zuhörer schüttelten den Kopf, grosses Murren im
Saal. Doch sobald Kasten sich dann erklärte, als er sagte, dass
jedes Kind schon aufgrund seines Alters oder Geschlechts an­
dere Bedürfnisse habe und andere Reaktionen bei den Eltern
hervorrufe, nickten die Mütter und Väter im Publikum schliess­
lich zögernd – auch ein wenig erleichtert.
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entstehen in
Gute Ideen
entstehen im
Kopf
genialer
Einzelgänger
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Reid Hoffman hat Linkedin gegründet, Peter Thiel Paypal – gemeinsam
haben sie die Entwicklung des Internets geprägt. Die beiden ehemaligen
Philosophiestudenten sind Freunde – und könnten unterschiedlicher
nicht sein.
Von Slaven Marinovic
J. R. R. Tolkien und Grateful Dead
Reid Hoffman wächst als Kind von zwei liberalen Juristen der
68er-Generation in der nordkalifornischen Universitätsstadt
Berkeley auf. Seine Eltern engagieren sich für den Umweltschutz und sind in der Bürgerrechtsbewegung aktiv. Sie nehmen Reid schon früh auf Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg und auf Konzerte der Hippie-Rocker Grateful Dead mit.
Wie so viele Kinder seiner Generation verfällt auch Reid dem
Zauber von J. R . R . Tolkien. Dem Fünfjährigen liest sein Vater
abends aus «Der Herr der Ringe» vor. Die Geschichte um
Gandalf, den Zauberer, Frodo aus dem Auenland und Sauron,
den dunklen Herrscher, liefert der Rockband Led Zeppelin
Stoff für ihre Songtexte, etwa für die Lieder «The Battle of
Evermore» und «Misty Mountain Hop» und lässt Dutzende
Rollenspielverlage aus dem Boden spriessen. Mit zehn entdeckt
Reid das Fantasy-Rollenspiel «Dungeons & Dragons» und
übernimmt in seiner Spielgruppe die Rolle des Meisters und
Erzählers, der sich Abenteuer und Missionen ausdenkt und
seine Freunde durch imaginäre Verliese und Höhlen führt.
38
Die Welt der Rollenspiele prägt Hoffman. Sie regt seine Fantasie an, und er lernt den Umgang mit Gruppen. Mit dem konventionellen Unterricht an seiner Highschool im Silicon Valley
kann Reid Hoffman nicht viel anfangen, wie er erzählt: «Ich
wollte weniger Theorie und mehr hinaus in die Natur.» Mit
vierzehn Jahren bittet er seine Eltern, die Schule wechseln zu
dürfen, und geht an die Putney School, ein fortschrittliches Internat in den Bergen von Vermont. Die Schule legt Wert auf
handwerkliche Fächer und Gruppenarbeiten. Hoffman lernt
zeichnen und malen, schmieden und tischlern. Zusammen
mit seinen Mitschülern stellt er Ahornsirup her und führt
Ochsen durch die Wälder. Hoffman fühlt sich fast wie ein Hobbit im Auenland und bekommt sehr gute Noten.
Ein Sozialist und ein Konservativer
Peter Thiel wird 1967 als Kind deutscher Eltern in Frankfurt
am Main geboren. Sein Vater Klaus arbeitet als Ingenieur für die
chemische Industrie und zieht mit der Familie um den halben
Erdball, bis sich die Thiels schliesslich 1977 in Foster City im
Norden des Silicon Valley niederlassen. Ebenso wie Reid Hoffman verschlingt Peter Thiel als Junge die Bücher von J. R . R .
Tolkien; er trifft sich mit Schulkameraden zum Rollenspielen,
und er liebt Mathematik und Schach. Mit sechs Jahren spielt
Thiel seine erste Schachpartie und nimmt bald danach an Wettkämpfen teil. Er ist talentiert und ehrgeizig, auf seinem Schachbrett klebt ein Sticker mit dem Motto «Born to Win», und zu
Turnieren erscheint er stets erst wenige Minuten vor Beginn,
um seine Gegner nervös zu machen. Er gewinnt als Jugendlicher einen Mathematikwettbewerb des Bundesstaates Kalifornien und zählt landesweit zu den zehn besten Schachspielern seiner Altersklasse.
Nach seinem Highschool-Abschluss kehrt Reid Hoffman
an die Westküste zurück und studiert an der renommierten
Stanford University nahe dem Silicon Valley Philosophie und
«Symbolic Systems», eine Kombination aus Informatik, Linguistik und kognitiver Psychologie. Die Fächer sollen die Fragen beantworten, die ihn beschäftigen. «Ich wollte wissen,
wie wir Menschen denken, wie wir die Welt wahrnehmen, wie
wir miteinander kommunizieren und Entscheidungen treffen.» Auch Peter Thiel interessiert sich für das Wesen des Menschen und schreibt sich in Stanford für Philosophie ein, wo sich
die beiden im Winter 1987 in der Einführungsvorlesung «Mind,
Matter and Meaning» begegnen und sich im Anschluss in der
Mensa der Eliteuniversität zwei Stunden lang über Philosophie, Moral und Politik unterhalten.
Für Peter Thiel (links) geht es darum, originell und konträr zu denken. Reid Hoffman glaubt ans
Netzwerk, das Teilen von Informationen und Kontakten.
DA S M AGA Z I N 14/201 5 — BI L D: BR I A N VA L DI Z NO
Es ist acht Uhr morgens, und Reid Hoffman steht bereits hellwach und gut gelaunt in seinem Büro in Menlo Park, Kalifornien. Gestern Abend hat er sich mit einer Gruppe von Firmengründern getroffen, wie er erzählt, die wie so viele andere gern
seinen Rat wollten und wahrscheinlich auch seine Kontakte.
Von seinem Geld ganz zu schweigen.
Reid Hoffman gilt als der bestvernetzte Mann im Silicon
Valley, der Heimat von Google, Apple und zahllosen anderen
IT-Unternehmen südlich von San Francisco. Er hat das Karrierenetzwerk Linkedin gegründet und zusammen mit seinem
Freund Peter Thiel als Erster in Facebook investiert. Reid Hoffman und Peter Thiel, beide 47 Jahre alt, haben schon viele
Start-ups gross gemacht und belegen auf der Liste der erfolgreichsten Technologieinvestoren des amerikanischen Wirtschaftsmagazins «Forbes» die Plätze vier (Peter Thiel) und sieben (Reid Hoffman). Die meisten Investoren auf dieser «Midas-Liste» – benannt nach König Midas, welcher der Sage nach
alles zu Gold verwandelte, was er berührte – sind Ingenieure,
Informatiker, Ökonomen oder all das gleichzeitig. Hoffman
und Thiel hingegen haben Philosophie studiert, doch gerade
diese beiden haben die Entwicklung des Internets in den letzten fünfzehn Jahren geprägt wie kaum jemand. «Das Spannende am Leben ist, dass wir alle unsere eigene, persönliche
Geschichte schreiben», sagt Hoffman und fügt hinzu: «Warten Sie, ich giess mir noch eine Tasse Tee ein.»
Reid Hoffman vertritt damals die Meinung, nachzulesen in
Eric M. Jacksons Buch «The Paypal Wars», dass Steuererleichterungen gleichmässig über alle Einkommensschichten
verteilt werden sollten. Peter Thiel hält dagegen, dass nur Leistungsträger mit Steuersenkungen belohnt werden sollten,
und reizt Hoffman mit einem Zitat der Premierministerin von
Grossbritannien, der «Eisernen Lady» Margaret Thatcher:
«Es gibt keine Gesellschaft, bloss einzelne Männer und Frauen.» Für Hoffman ist Thiel ein Konservativer, für Thiel ist Hoffman ein Sozialist, doch sie werden Freunde, treffen sich nach
Vorlesungsende regelmässig zu Diskursen über philosophische Konzepte und Denkschulen und finden Gefallen am gegenseitigen intellektuellen Austausch.
Reid Hoffman stürzt sich während des Studiums in die
Schriften von Friedrich Wilhelm Nietzsche und Bernard Williams. «Von Nietzsche habe ich gelernt, wie wir Menschen die
Welt wahrnehmen und uns in ihr zurechtfinden, und Bernard
Williams hat mir verdeutlicht, wie wichtig es ist, etwas für die
Gemeinschaft zu tun», erzählt er in seiner ruhigen, sympathischen Art. Für den englischen Moralphilosophen Bernard Williams funktioniert eine Gesellschaft erst dann, wenn sich Menschen gegenseitig helfen und vertrauen. Dafür müssen sie
aufrichtig ihre persönlichen Überzeugungen offenlegen und
mögliche Missverständnisse und Fehleinschätzungen durch
eine genaue Sprache verhindern.
Peter Thiel hingegen liest an der Universität Ayn Rand, die
exzentrische Befürworterin des Laissez-faire-Kapitalismus,
und die Bücher des Franzosen René Girard. Girard hat als junger Mann die Romane Stendhals und Marcel Prousts studiert
und dabei erkannt, dass die Figuren in den Geschichten sich
nicht deshalb streiten, weil sie unterschiedlich sind, sondern
weil sie einander ähneln und das Verhalten des anderen nachahmen. Girard leitet daraus die «mimetische Theorie» ab, nach
der sich Menschen gegenseitig imitieren und deshalb um dasselbe kämpfen. Gier, Neid, Eifersucht und zwischenmenschliche Konflikte sind die Folge. Die Bücher René Girards haben
einen grossen Einfluss auf Thiel und nähren seine Skepsis gegenüber dem Verhalten von Menschen in Gruppen. «Es ist beunruhigend, wie viele Menschen die Meinung der Mehrheit unreflektiert annehmen, ohne sie kritisch zu hinterfragen», sagt
Thiel in einem Interview in «The New Yorker» (ein Gespräch
mit ihm ist trotz mehrmaliger Versuche nicht zustande gekommen). Er sehe sich selbst als Nonkonformisten und Querdenker: «Ich versuche immer, mir ein eigenes Urteil zu bilden.»
«Hoffentlich kriegst du Aids»
Noch während des Studiums gründet er die Zeitung «Stanford Review», die provozieren und allgemein anerkannte Ansichten infrage stellen soll. Als ein Redakteur der «Review»
einen homosexuellen Uni-Mitarbeiter auf dem Campus mit
dem Worten «Du Schwuchtel! Hoffentlich kriegst du Aids!»
beleidigt und deshalb die Universität verlassen muss, verteidigt
Thiel, der 2007 selbst als homosexuell geoutet wird, die Handlung als einen «mutigen Akt freier Meinungsäusserung, der
niemals hätte bestraft werden sollen». Über die offenkundige
Tatsache, dass Meinungsfreiheit zwar wichtig ist, ihre Grenze
aber in offenen Beschimpfungen und verunglimpfenden Äusserungen findet, setzt sich Peter Thiel hinweg, als zählte nur das
grosse Ganze. Ende der 1980er-Jahre trennen sich die Wege
der beiden unterschiedlichen Freunde: Hoffman erhält ein Philosophiestipendium in Oxford und geht nach England. Thiel
arbeitet, nach einem kurzen Abstecher in eine renommierte
39
Die Paypal-Mafia
Während Hoffman sich nach neuen Möglichkeiten umsieht,
startet Peter Thiel mit Max Levchin, einem introvertierten Informatiker mit ukrainischen Wurzeln, den Online-Bezahldienst Paypal. Max Levchin will eigentlich eine Software entwickeln, die elektronisch Geld zwischen Palm Pilots, Vorläufern der heutigen Smartphones, verschickt. Thiel denkt aber
grösser und stellt sich eine neue Währung vor, mit der man Geld
weltweit online überweisen kann. Thiel und Levchin beginnen
die Arbeit an Paypal 1998 und holen ehemalige Kommilitonen
ins Team. Sie wollen Mitarbeiter, die ihnen ähneln, schlaue und
erfolgshungrige Aussenseiter, die wenig Wert auf Kleidung
und Äusserlichkeiten legen und etwas von Computern und Mathematik verstehen. Bewerbungen von Beratertypen, MBAAbsolventen, Verbindungsmitgliedern und Sportskanonen
haben keine Chance. Peter Thiel legt von Anfang an Wert auf
flache Strukturen und eine offene Diskussionskultur, in der
wichtige Themen im Kreis aller Mitarbeiter besprochen und
entschieden werden. Die beste Idee und das beste Argument
zählen. Erfahrungswerte spielen keine Rolle.
Thiel bittet Hoffman, ihm bei Paypal zu helfen. Er wird der
Mann, der sich um die grossen Probleme kümmern sollte, und
Ein Start-up namens Facebook
Und was machen die Gründer und frühen Mitarbeiter der Firma? Sie werden über Nacht zu Millionären, einige kaufen sich
auch teure Häuser und Sportwagen. In den folgenden Jahren
werden sie bekannt als die «Paypal-Mafia», eine verschworene, eng befreundete Gruppe, die auch nach dem Platzen der
Dotcom-Blase und dem Scheitern der New Economy weiter
an das Internet glaubt. Und die Mitglieder der Paypal-Mafia
machen es sich nicht an ihren Pools gemütlich, sondern gründen die Videoplattform Youtube, das Bewertungsportal Yelp
und die Automarke Tesla. Peter Thiel startet das Softwareunternehmen Palantir, benannt nach den sehenden Steinen in
«Der Herr der Ringe». Thiel und Hoffman finanzieren Dutzende Start-ups – darunter auch ein soziales Netzwerk für Studenten, das man heute unter dem Namen Facebook kennt.
Mit dem restlichen Geld aus dem Verkauf von Paypal gründet Reid Hoffman 2003 das Karrierenetzwerk Linkedin, das
zu Beginn beinahe scheitert. «Eine Firma zu gründen ist, wie
von einer Klippe zu springen und auf dem Weg nach unten zu
versuchen, ein Flugzeug zusammenzubauen», glaubt Hoffman. «Der Erfolgsdruck ist sehr gross, und man muss Probleme innerhalb kürzester Zeit lösen. Schafft man das nicht, stürzt
man ab und stirbt.» Ebenso wie bei SocialNet.com bleiben die
Nutzer anfangs aus. Besuchern fehlt der Nachweis, dass sich
ein Beitritt lohnt und sie sich nicht auf einer «leeren» Seite anmelden. Die Userzahlen steigen erst, als die Seite anzeigt, welche Freunde und Bekannte bereits bei Linkedin registriert sind.
Linkedin zählt mittlerweile 347 Millionen Mitglieder in 200
Ländern und hat im deutschsprachigen Raum Anfang Februar
die Marke von sechs Millionen Nutzern geknackt. Auf dem
deutschen Konkurrenzportal Xing sind zwar knapp acht Millionen Mitglieder registriert, in der Schweiz ist Linkedin aber
Marktführer. Alles, woran Hoffman glaubt, ist in Linkedin vereint, er ist überzeugt, dass man besser, schneller und effektiver arbeitet, wenn man sich mit anderen aktiv vernetzt und Informationen und Kontakte teilt. Das ist sein Mantra. «Viele
wirtschaftlich starke Regionen verdanken ihren Erfolg den
Netzwerken, die sich bei ihnen in einzelnen Branchen entwickelt haben. New York etwa ist der weltgrösste Finanzmarkt,
Los Angeles ist das Zentrum der Entertainmentwelt, und das
Silicon Valley bietet die besten Bedingungen für Technologieunternehmen.» Mit über 7000 IT-Firmen, Dutzenden Forschungs- und Bildungseinrichtungen und Hunderten Business Angels und Risikokapitalgebern ist das Silicon Valley das
weltweit führende Technologie-Cluster. Start-ups finden hier
alles, was sie brauchen: Mitarbeiter, Know-how, Kontakte und
Kapital.
«Die Zeiten, in denen man sein gesamtes Berufsleben für
ein oder zwei Firmen gearbeitet hat, sind vorbei», glaubt Hoffman. «Selbst in Japan haben Dreissigjährige heute im Durchschnitt schon viermal den Arbeitgeber gewechselt.»
SPINAS CIVIL VOICES
davon gibt es viele: Visa und Mastercard wollen Paypal stoppen, die Betrugsfälle häufen sich und die staatlichen Regulierungsbehörden fordern Genehmigungen für den Betrieb des
Dienstes. Reid Hoffman schafft es mit seiner diplomatischen
und empathischen Art, alle Brandherde zu löschen, und wird
intern als «Oberfeuerwehrmann» gefeiert. «Der Begriff beschreibt meine Zeit bei Paypal ganz gut», sagt Hoffman heute.
2002 geht Paypal an die Börse und wird kurz darauf vom Internet-Auktionshaus Ebay für 1,5 Milliarden US-Dollar gekauft. Heute nutzen mehr als 230 Millionen User in 193 Ländern Paypal, um in Onlineshops einzukaufen.
Gesucht sind Studienabbrecher und Grenzgänger
Peter Thiel hingegen, der in seinem Buch «Zero to One: Notes
on Startups, or How to Build the Future» (2012) eine Brücke
zwischen der Bibel, Platon, Shakespeare, Marx und Einstein
schlägt, glaubt weniger ans Netzwerk als vielmehr an einzelne
Unternehmenspersönlichkeiten wie Steve Jobs, Bill Gates oder
Mark Zuckerberg. Thiel geht es um die Fähigkeit, das Talent
und den Mut, Bestehendes infrage zu stellen und originell und
konträr zu denken. Nur dann hat man die Chance, ein innovatives und dauerhaft profitables Produkt zu entwickeln, auf das
noch niemand gekommen ist. Als Paradebeispiel nennt Peter
Thiel Apple, die wertvollste Firma der Welt, die mit ihren Geräten wie dem iPod, iPhone und iPad zahlreiche Industrien revolutioniert hat. Ihr Gründer Steve Jobs war ein Mann ganz
nach Peter Thiels Geschmack: genial, charismatisch und wie
so viele andere erfolgreiche IT-Unternehmer ein Studienabbrecher und Grenzgänger. Menschen also, die eine sichere
Karriere in den Wind schlagen und stattdessen Firmen gründen. «Unternehmertum lernt man nicht an der Universität, sondern nur in der Praxis», schreibt er. «Je früher man damit anfängt, umso besser.»
Und welcher Ansatz ist nun der bessere? Darauf hat auch
Reid Hoffman keine Antwort, der Leisere von beiden, der ehrenamtlich bedürftige Schüler unterstützt und sich bei der Jugendorganisation Do Something engagiert. Hoffman hat als
einer der Ersten in Airbnb investiert, die weltgrösste Plattform
zum Mieten privater Unterkünfte. Deren Gründer Brian Chesky und Joe Gebbia haben die Webseite 2007 ins Leben gerufen, weil sie drei alte Luftmatratzen in ihrer Wohnung als
Schlafmöglichkeit vermieten wollten. Heute, acht Jahre später, kann man auf Airbnb Villen, Schlösser oder ganze Inseln
buchen. Welche Denkschule auch immer im Internet die erfolgversprechendere sein mag, sicher ist eines: Während wir
anderen online Urlaub in Thailand buchen, über Tiervideos
auf Youtube lachen und unsere Badehosen mit Paypal bezahlen, sind Hoffman und Thiel bereits am nächsten grossen
Ding, das unser Leben in fünf Jahren verändern wird.
•
DA S M AGA Z I N 14/201 5 Wirtschaftskanzlei, als Derivatehändler für die Credit Suisse
in New York. Doch sie bleiben in Kontakt und treffen sich 1994
in Kalifornien wieder. Das Internetzeitalter hat eben begonnen, und die Zeitungen berichten täglich von neuen interessanten Seiten im World Wide Web. Im Westen der USA herrscht
Goldgräberstimmung. In Seattle gründet ein gewisser Jeff Bezos die Onlinebuchhandlung Amazon, das Webportal Yahoo
geht als «Jerry and David’s Guide to the World Wide Web» online (Jerry und David sind die Stanford-Studenten Jerry Yang
und David Filo), und ein 24-jähriges Wunderkind mit dem Namen Marc Andreessen stellt mit dem Netscape Navigator den
ersten Internetbrowser für die breite Masse vor (Andreessen
prägt später den Satz «Software is eating the world»). Thiel und
Hoffman sind fasziniert von den Möglichkeiten des Internets
und wollen mitmischen. Thiel leiht sich von Freunden Geld
und gründet Clarium Capital Management. Hoffman, der zunächst eine akademische Laufbahn als Philosoph anstrebte,
erkennt, dass er mit dem Internet mehr Menschen erreichen
kann als mit wissenschaftlichen Aufsätzen. Mitte der 1990erJahre tritt Reid Hoffman einen Job als Projektmanager in der
Zentrale von Apple in Cupertino an. Apple – damals ohne Steve Jobs – ist ideen- und führungslos. Das Unternehmen kämpft
gegen sinkende Computerumsätze und hat keine Zeit für die
Entwicklung von Internetplattformen. Doch nach ein paar Jahren schon verlässt Hoffman Apple ernüchtert und gründet mit
SocialNet.com eines der ersten sozialen Netzwerke im Internet. Auf der Seite können User nach Dates, Mitbewohnern und
Tennispartnern in ihrer Umgebung suchen. Aber was heute
ganz normal klingt, war 1997 der Zeit voraus, die Seite funktioniert zwar technisch, aber die Nutzer bleiben aus. «Viele Startup-Gründer glauben, dass sich ein Produkt von selbst verkauft», sagt Reid Hoffman. «Das stimmt nicht. Man braucht
auch eine gute Marketingstrategie.»
Reid Hoffman (und Co-Autoren):
«The Alliance: Managing Talent in the Networked Age», 2014;
«The Start-up of You: Adapt to the Future, Invest in Yourself,
and Transform Your Career», 2012
Peter Thiel: «Zero to One: Notes on Startups, or How to Build
the Future», 2012
Ju gendarbeitslosigkeit
mu ss verschwinden.
Wir packen es an: mit konkreten Angeboten
unterstützen wir junge Menschen,
die nicht im Arbeitsprozess integriert sind.
Danke, dass Sie uns dabei helfen.
www.sah-be.ch PC-Konto 30-761339-3
Schweizerisches Arbeiterhilfswerk
SL AV EN M A R I NOV IC ist freier Journalist;
[email protected]
40
SAH BERN
Arbeit und Integration
der
Gemeinschaft
36
DA S M AGA Z I N 14/201 5 — BI L D L I N K S: S PENC E R M A N DE L L / P OL A R I S / DU K A S; R E C H T S: GU I L L AU M E Z U I L I / AGENC E V U
Gute Ideen
entstehen in
Gute Ideen
entstehen im
Kopf
genialer
Einzelgänger
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Reid Hoffman hat Linkedin gegründet, Peter Thiel Paypal – gemeinsam
haben sie die Entwicklung des Internets geprägt. Die beiden ehemaligen
Philosophiestudenten sind Freunde – und könnten unterschiedlicher
nicht sein.
Von Slaven Marinovic
J. R. R. Tolkien und Grateful Dead
Reid Hoffman wächst als Kind von zwei liberalen Juristen der
68er-Generation in der nordkalifornischen Universitätsstadt
Berkeley auf. Seine Eltern engagieren sich für den Umweltschutz und sind in der Bürgerrechtsbewegung aktiv. Sie nehmen Reid schon früh auf Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg und auf Konzerte der Hippie-Rocker Grateful Dead mit.
Wie so viele Kinder seiner Generation verfällt auch Reid dem
Zauber von J. R . R . Tolkien. Dem Fünfjährigen liest sein Vater
abends aus «Der Herr der Ringe» vor. Die Geschichte um
Gandalf, den Zauberer, Frodo aus dem Auenland und Sauron,
den dunklen Herrscher, liefert der Rockband Led Zeppelin
Stoff für ihre Songtexte, etwa für die Lieder «The Battle of
Evermore» und «Misty Mountain Hop» und lässt Dutzende
Rollenspielverlage aus dem Boden spriessen. Mit zehn entdeckt
Reid das Fantasy-Rollenspiel «Dungeons & Dragons» und
übernimmt in seiner Spielgruppe die Rolle des Meisters und
Erzählers, der sich Abenteuer und Missionen ausdenkt und
seine Freunde durch imaginäre Verliese und Höhlen führt.
38
Die Welt der Rollenspiele prägt Hoffman. Sie regt seine Fantasie an, und er lernt den Umgang mit Gruppen. Mit dem konventionellen Unterricht an seiner Highschool im Silicon Valley
kann Reid Hoffman nicht viel anfangen, wie er erzählt: «Ich
wollte weniger Theorie und mehr hinaus in die Natur.» Mit
vierzehn Jahren bittet er seine Eltern, die Schule wechseln zu
dürfen, und geht an die Putney School, ein fortschrittliches Internat in den Bergen von Vermont. Die Schule legt Wert auf
handwerkliche Fächer und Gruppenarbeiten. Hoffman lernt
zeichnen und malen, schmieden und tischlern. Zusammen
mit seinen Mitschülern stellt er Ahornsirup her und führt
Ochsen durch die Wälder. Hoffman fühlt sich fast wie ein Hobbit im Auenland und bekommt sehr gute Noten.
Ein Sozialist und ein Konservativer
Peter Thiel wird 1967 als Kind deutscher Eltern in Frankfurt
am Main geboren. Sein Vater Klaus arbeitet als Ingenieur für die
chemische Industrie und zieht mit der Familie um den halben
Erdball, bis sich die Thiels schliesslich 1977 in Foster City im
Norden des Silicon Valley niederlassen. Ebenso wie Reid Hoffman verschlingt Peter Thiel als Junge die Bücher von J. R . R .
Tolkien; er trifft sich mit Schulkameraden zum Rollenspielen,
und er liebt Mathematik und Schach. Mit sechs Jahren spielt
Thiel seine erste Schachpartie und nimmt bald danach an Wettkämpfen teil. Er ist talentiert und ehrgeizig, auf seinem Schachbrett klebt ein Sticker mit dem Motto «Born to Win», und zu
Turnieren erscheint er stets erst wenige Minuten vor Beginn,
um seine Gegner nervös zu machen. Er gewinnt als Jugendlicher einen Mathematikwettbewerb des Bundesstaates Kalifornien und zählt landesweit zu den zehn besten Schachspielern seiner Altersklasse.
Nach seinem Highschool-Abschluss kehrt Reid Hoffman
an die Westküste zurück und studiert an der renommierten
Stanford University nahe dem Silicon Valley Philosophie und
«Symbolic Systems», eine Kombination aus Informatik, Linguistik und kognitiver Psychologie. Die Fächer sollen die Fragen beantworten, die ihn beschäftigen. «Ich wollte wissen,
wie wir Menschen denken, wie wir die Welt wahrnehmen, wie
wir miteinander kommunizieren und Entscheidungen treffen.» Auch Peter Thiel interessiert sich für das Wesen des Menschen und schreibt sich in Stanford für Philosophie ein, wo sich
die beiden im Winter 1987 in der Einführungsvorlesung «Mind,
Matter and Meaning» begegnen und sich im Anschluss in der
Mensa der Eliteuniversität zwei Stunden lang über Philosophie, Moral und Politik unterhalten.
Für Peter Thiel (links) geht es darum, originell und konträr zu denken. Reid Hoffman glaubt ans
Netzwerk, das Teilen von Informationen und Kontakten.
DA S M AGA Z I N 14/201 5 — BI L D: BR I A N VA L DI Z NO
Es ist acht Uhr morgens, und Reid Hoffman steht bereits hellwach und gut gelaunt in seinem Büro in Menlo Park, Kalifornien. Gestern Abend hat er sich mit einer Gruppe von Firmengründern getroffen, wie er erzählt, die wie so viele andere gern
seinen Rat wollten und wahrscheinlich auch seine Kontakte.
Von seinem Geld ganz zu schweigen.
Reid Hoffman gilt als der bestvernetzte Mann im Silicon
Valley, der Heimat von Google, Apple und zahllosen anderen
IT-Unternehmen südlich von San Francisco. Er hat das Karrierenetzwerk Linkedin gegründet und zusammen mit seinem
Freund Peter Thiel als Erster in Facebook investiert. Reid Hoffman und Peter Thiel, beide 47 Jahre alt, haben schon viele
Start-ups gross gemacht und belegen auf der Liste der erfolgreichsten Technologieinvestoren des amerikanischen Wirtschaftsmagazins «Forbes» die Plätze vier (Peter Thiel) und sieben (Reid Hoffman). Die meisten Investoren auf dieser «Midas-Liste» – benannt nach König Midas, welcher der Sage nach
alles zu Gold verwandelte, was er berührte – sind Ingenieure,
Informatiker, Ökonomen oder all das gleichzeitig. Hoffman
und Thiel hingegen haben Philosophie studiert, doch gerade
diese beiden haben die Entwicklung des Internets in den letzten fünfzehn Jahren geprägt wie kaum jemand. «Das Spannende am Leben ist, dass wir alle unsere eigene, persönliche
Geschichte schreiben», sagt Hoffman und fügt hinzu: «Warten Sie, ich giess mir noch eine Tasse Tee ein.»
Reid Hoffman vertritt damals die Meinung, nachzulesen in
Eric M. Jacksons Buch «The Paypal Wars», dass Steuererleichterungen gleichmässig über alle Einkommensschichten
verteilt werden sollten. Peter Thiel hält dagegen, dass nur Leistungsträger mit Steuersenkungen belohnt werden sollten,
und reizt Hoffman mit einem Zitat der Premierministerin von
Grossbritannien, der «Eisernen Lady» Margaret Thatcher:
«Es gibt keine Gesellschaft, bloss einzelne Männer und Frauen.» Für Hoffman ist Thiel ein Konservativer, für Thiel ist Hoffman ein Sozialist, doch sie werden Freunde, treffen sich nach
Vorlesungsende regelmässig zu Diskursen über philosophische Konzepte und Denkschulen und finden Gefallen am gegenseitigen intellektuellen Austausch.
Reid Hoffman stürzt sich während des Studiums in die
Schriften von Friedrich Wilhelm Nietzsche und Bernard Williams. «Von Nietzsche habe ich gelernt, wie wir Menschen die
Welt wahrnehmen und uns in ihr zurechtfinden, und Bernard
Williams hat mir verdeutlicht, wie wichtig es ist, etwas für die
Gemeinschaft zu tun», erzählt er in seiner ruhigen, sympathischen Art. Für den englischen Moralphilosophen Bernard Williams funktioniert eine Gesellschaft erst dann, wenn sich Menschen gegenseitig helfen und vertrauen. Dafür müssen sie
aufrichtig ihre persönlichen Überzeugungen offenlegen und
mögliche Missverständnisse und Fehleinschätzungen durch
eine genaue Sprache verhindern.
Peter Thiel hingegen liest an der Universität Ayn Rand, die
exzentrische Befürworterin des Laissez-faire-Kapitalismus,
und die Bücher des Franzosen René Girard. Girard hat als junger Mann die Romane Stendhals und Marcel Prousts studiert
und dabei erkannt, dass die Figuren in den Geschichten sich
nicht deshalb streiten, weil sie unterschiedlich sind, sondern
weil sie einander ähneln und das Verhalten des anderen nachahmen. Girard leitet daraus die «mimetische Theorie» ab, nach
der sich Menschen gegenseitig imitieren und deshalb um dasselbe kämpfen. Gier, Neid, Eifersucht und zwischenmenschliche Konflikte sind die Folge. Die Bücher René Girards haben
einen grossen Einfluss auf Thiel und nähren seine Skepsis gegenüber dem Verhalten von Menschen in Gruppen. «Es ist beunruhigend, wie viele Menschen die Meinung der Mehrheit unreflektiert annehmen, ohne sie kritisch zu hinterfragen», sagt
Thiel in einem Interview in «The New Yorker» (ein Gespräch
mit ihm ist trotz mehrmaliger Versuche nicht zustande gekommen). Er sehe sich selbst als Nonkonformisten und Querdenker: «Ich versuche immer, mir ein eigenes Urteil zu bilden.»
«Hoffentlich kriegst du Aids»
Noch während des Studiums gründet er die Zeitung «Stanford Review», die provozieren und allgemein anerkannte Ansichten infrage stellen soll. Als ein Redakteur der «Review»
einen homosexuellen Uni-Mitarbeiter auf dem Campus mit
dem Worten «Du Schwuchtel! Hoffentlich kriegst du Aids!»
beleidigt und deshalb die Universität verlassen muss, verteidigt
Thiel, der 2007 selbst als homosexuell geoutet wird, die Handlung als einen «mutigen Akt freier Meinungsäusserung, der
niemals hätte bestraft werden sollen». Über die offenkundige
Tatsache, dass Meinungsfreiheit zwar wichtig ist, ihre Grenze
aber in offenen Beschimpfungen und verunglimpfenden Äusserungen findet, setzt sich Peter Thiel hinweg, als zählte nur das
grosse Ganze. Ende der 1980er-Jahre trennen sich die Wege
der beiden unterschiedlichen Freunde: Hoffman erhält ein Philosophiestipendium in Oxford und geht nach England. Thiel
arbeitet, nach einem kurzen Abstecher in eine renommierte
39
Die Paypal-Mafia
Während Hoffman sich nach neuen Möglichkeiten umsieht,
startet Peter Thiel mit Max Levchin, einem introvertierten Informatiker mit ukrainischen Wurzeln, den Online-Bezahldienst Paypal. Max Levchin will eigentlich eine Software entwickeln, die elektronisch Geld zwischen Palm Pilots, Vorläufern der heutigen Smartphones, verschickt. Thiel denkt aber
grösser und stellt sich eine neue Währung vor, mit der man Geld
weltweit online überweisen kann. Thiel und Levchin beginnen
die Arbeit an Paypal 1998 und holen ehemalige Kommilitonen
ins Team. Sie wollen Mitarbeiter, die ihnen ähneln, schlaue und
erfolgshungrige Aussenseiter, die wenig Wert auf Kleidung
und Äusserlichkeiten legen und etwas von Computern und Mathematik verstehen. Bewerbungen von Beratertypen, MBAAbsolventen, Verbindungsmitgliedern und Sportskanonen
haben keine Chance. Peter Thiel legt von Anfang an Wert auf
flache Strukturen und eine offene Diskussionskultur, in der
wichtige Themen im Kreis aller Mitarbeiter besprochen und
entschieden werden. Die beste Idee und das beste Argument
zählen. Erfahrungswerte spielen keine Rolle.
Thiel bittet Hoffman, ihm bei Paypal zu helfen. Er wird der
Mann, der sich um die grossen Probleme kümmern sollte, und
Ein Start-up namens Facebook
Und was machen die Gründer und frühen Mitarbeiter der Firma? Sie werden über Nacht zu Millionären, einige kaufen sich
auch teure Häuser und Sportwagen. In den folgenden Jahren
werden sie bekannt als die «Paypal-Mafia», eine verschworene, eng befreundete Gruppe, die auch nach dem Platzen der
Dotcom-Blase und dem Scheitern der New Economy weiter
an das Internet glaubt. Und die Mitglieder der Paypal-Mafia
machen es sich nicht an ihren Pools gemütlich, sondern gründen die Videoplattform Youtube, das Bewertungsportal Yelp
und die Automarke Tesla. Peter Thiel startet das Softwareunternehmen Palantir, benannt nach den sehenden Steinen in
«Der Herr der Ringe». Thiel und Hoffman finanzieren Dutzende Start-ups – darunter auch ein soziales Netzwerk für Studenten, das man heute unter dem Namen Facebook kennt.
Mit dem restlichen Geld aus dem Verkauf von Paypal gründet Reid Hoffman 2003 das Karrierenetzwerk Linkedin, das
zu Beginn beinahe scheitert. «Eine Firma zu gründen ist, wie
von einer Klippe zu springen und auf dem Weg nach unten zu
versuchen, ein Flugzeug zusammenzubauen», glaubt Hoffman. «Der Erfolgsdruck ist sehr gross, und man muss Probleme innerhalb kürzester Zeit lösen. Schafft man das nicht, stürzt
man ab und stirbt.» Ebenso wie bei SocialNet.com bleiben die
Nutzer anfangs aus. Besuchern fehlt der Nachweis, dass sich
ein Beitritt lohnt und sie sich nicht auf einer «leeren» Seite anmelden. Die Userzahlen steigen erst, als die Seite anzeigt, welche Freunde und Bekannte bereits bei Linkedin registriert sind.
Linkedin zählt mittlerweile 347 Millionen Mitglieder in 200
Ländern und hat im deutschsprachigen Raum Anfang Februar
die Marke von sechs Millionen Nutzern geknackt. Auf dem
deutschen Konkurrenzportal Xing sind zwar knapp acht Millionen Mitglieder registriert, in der Schweiz ist Linkedin aber
Marktführer. Alles, woran Hoffman glaubt, ist in Linkedin vereint, er ist überzeugt, dass man besser, schneller und effektiver arbeitet, wenn man sich mit anderen aktiv vernetzt und Informationen und Kontakte teilt. Das ist sein Mantra. «Viele
wirtschaftlich starke Regionen verdanken ihren Erfolg den
Netzwerken, die sich bei ihnen in einzelnen Branchen entwickelt haben. New York etwa ist der weltgrösste Finanzmarkt,
Los Angeles ist das Zentrum der Entertainmentwelt, und das
Silicon Valley bietet die besten Bedingungen für Technologieunternehmen.» Mit über 7000 IT-Firmen, Dutzenden Forschungs- und Bildungseinrichtungen und Hunderten Business Angels und Risikokapitalgebern ist das Silicon Valley das
weltweit führende Technologie-Cluster. Start-ups finden hier
alles, was sie brauchen: Mitarbeiter, Know-how, Kontakte und
Kapital.
«Die Zeiten, in denen man sein gesamtes Berufsleben für
ein oder zwei Firmen gearbeitet hat, sind vorbei», glaubt Hoffman. «Selbst in Japan haben Dreissigjährige heute im Durchschnitt schon viermal den Arbeitgeber gewechselt.»
SPINAS CIVIL VOICES
davon gibt es viele: Visa und Mastercard wollen Paypal stoppen, die Betrugsfälle häufen sich und die staatlichen Regulierungsbehörden fordern Genehmigungen für den Betrieb des
Dienstes. Reid Hoffman schafft es mit seiner diplomatischen
und empathischen Art, alle Brandherde zu löschen, und wird
intern als «Oberfeuerwehrmann» gefeiert. «Der Begriff beschreibt meine Zeit bei Paypal ganz gut», sagt Hoffman heute.
2002 geht Paypal an die Börse und wird kurz darauf vom Internet-Auktionshaus Ebay für 1,5 Milliarden US-Dollar gekauft. Heute nutzen mehr als 230 Millionen User in 193 Ländern Paypal, um in Onlineshops einzukaufen.
Gesucht sind Studienabbrecher und Grenzgänger
Peter Thiel hingegen, der in seinem Buch «Zero to One: Notes
on Startups, or How to Build the Future» (2012) eine Brücke
zwischen der Bibel, Platon, Shakespeare, Marx und Einstein
schlägt, glaubt weniger ans Netzwerk als vielmehr an einzelne
Unternehmenspersönlichkeiten wie Steve Jobs, Bill Gates oder
Mark Zuckerberg. Thiel geht es um die Fähigkeit, das Talent
und den Mut, Bestehendes infrage zu stellen und originell und
konträr zu denken. Nur dann hat man die Chance, ein innovatives und dauerhaft profitables Produkt zu entwickeln, auf das
noch niemand gekommen ist. Als Paradebeispiel nennt Peter
Thiel Apple, die wertvollste Firma der Welt, die mit ihren Geräten wie dem iPod, iPhone und iPad zahlreiche Industrien revolutioniert hat. Ihr Gründer Steve Jobs war ein Mann ganz
nach Peter Thiels Geschmack: genial, charismatisch und wie
so viele andere erfolgreiche IT-Unternehmer ein Studienabbrecher und Grenzgänger. Menschen also, die eine sichere
Karriere in den Wind schlagen und stattdessen Firmen gründen. «Unternehmertum lernt man nicht an der Universität, sondern nur in der Praxis», schreibt er. «Je früher man damit anfängt, umso besser.»
Und welcher Ansatz ist nun der bessere? Darauf hat auch
Reid Hoffman keine Antwort, der Leisere von beiden, der ehrenamtlich bedürftige Schüler unterstützt und sich bei der Jugendorganisation Do Something engagiert. Hoffman hat als
einer der Ersten in Airbnb investiert, die weltgrösste Plattform
zum Mieten privater Unterkünfte. Deren Gründer Brian Chesky und Joe Gebbia haben die Webseite 2007 ins Leben gerufen, weil sie drei alte Luftmatratzen in ihrer Wohnung als
Schlafmöglichkeit vermieten wollten. Heute, acht Jahre später, kann man auf Airbnb Villen, Schlösser oder ganze Inseln
buchen. Welche Denkschule auch immer im Internet die erfolgversprechendere sein mag, sicher ist eines: Während wir
anderen online Urlaub in Thailand buchen, über Tiervideos
auf Youtube lachen und unsere Badehosen mit Paypal bezahlen, sind Hoffman und Thiel bereits am nächsten grossen
Ding, das unser Leben in fünf Jahren verändern wird.
•
DA S M AGA Z I N 14/201 5 Wirtschaftskanzlei, als Derivatehändler für die Credit Suisse
in New York. Doch sie bleiben in Kontakt und treffen sich 1994
in Kalifornien wieder. Das Internetzeitalter hat eben begonnen, und die Zeitungen berichten täglich von neuen interessanten Seiten im World Wide Web. Im Westen der USA herrscht
Goldgräberstimmung. In Seattle gründet ein gewisser Jeff Bezos die Onlinebuchhandlung Amazon, das Webportal Yahoo
geht als «Jerry and David’s Guide to the World Wide Web» online (Jerry und David sind die Stanford-Studenten Jerry Yang
und David Filo), und ein 24-jähriges Wunderkind mit dem Namen Marc Andreessen stellt mit dem Netscape Navigator den
ersten Internetbrowser für die breite Masse vor (Andreessen
prägt später den Satz «Software is eating the world»). Thiel und
Hoffman sind fasziniert von den Möglichkeiten des Internets
und wollen mitmischen. Thiel leiht sich von Freunden Geld
und gründet Clarium Capital Management. Hoffman, der zunächst eine akademische Laufbahn als Philosoph anstrebte,
erkennt, dass er mit dem Internet mehr Menschen erreichen
kann als mit wissenschaftlichen Aufsätzen. Mitte der 1990erJahre tritt Reid Hoffman einen Job als Projektmanager in der
Zentrale von Apple in Cupertino an. Apple – damals ohne Steve Jobs – ist ideen- und führungslos. Das Unternehmen kämpft
gegen sinkende Computerumsätze und hat keine Zeit für die
Entwicklung von Internetplattformen. Doch nach ein paar Jahren schon verlässt Hoffman Apple ernüchtert und gründet mit
SocialNet.com eines der ersten sozialen Netzwerke im Internet. Auf der Seite können User nach Dates, Mitbewohnern und
Tennispartnern in ihrer Umgebung suchen. Aber was heute
ganz normal klingt, war 1997 der Zeit voraus, die Seite funktioniert zwar technisch, aber die Nutzer bleiben aus. «Viele Startup-Gründer glauben, dass sich ein Produkt von selbst verkauft», sagt Reid Hoffman. «Das stimmt nicht. Man braucht
auch eine gute Marketingstrategie.»
Reid Hoffman (und Co-Autoren):
«The Alliance: Managing Talent in the Networked Age», 2014;
«The Start-up of You: Adapt to the Future, Invest in Yourself,
and Transform Your Career», 2012
Peter Thiel: «Zero to One: Notes on Startups, or How to Build
the Future», 2012
Ju gendarbeitslosigkeit
mu ss verschwinden.
Wir packen es an: mit konkreten Angeboten
unterstützen wir junge Menschen,
die nicht im Arbeitsprozess integriert sind.
Danke, dass Sie uns dabei helfen.
www.sah-be.ch PC-Konto 30-761339-3
Schweizerisches Arbeiterhilfswerk
SL AV EN M A R I NOV IC ist freier Journalist;
[email protected]
40
SAH BERN
Arbeit und Integration
CHR ISTIAN SEILER
DAS OSTERTABU
Zeit für den Osterschinken. Die Metzger mit dem besten Gespür
für Pökelsalz und kaltes Räuchern haben Konjunktur, und neben dem alljährlichen Rekordverbrauch von harten Eiern und
Lindt-Osterhasen feiern manche von uns, das Fett des Schinkens noch im Mundwinkel, die Auferstehung des Herrn. Das
ist der Augenblick, in dem sich andere von uns voller Ekel abwenden und zutiefst froh darüber sind, dass ihr Herr ihnen
verboten hat, Schweinefleisch zu essen.
Die einschlägigen Verbote stammen sowohl aus dem Alten Testament als auch aus dem Koran. «Von dieser Fleisch sollt
ihr nicht essen noch ihr Aas anrühren; denn sie sind euch unrein», steht in 3. Mose 11,8. Während im Alten Testament darüber hinaus jede Menge anderer, einander zum Teil widersprechender Fleischverbote zu finden sind (Stichwort: Wiederkäuer und/oder Tiere mit gespaltenen Klauen, jede Menge
Seevögel und Adler), beschränkt sich der Koran überraschend
eindeutig und dezidiert auf das Verbot des Schweins: «Verboten hat Er euch nur Fleisch von verendeten Tieren, Blut, Schweinefleisch und Fleisch, worüber ein anderes Wesen als Gott angerufen worden ist.» (Koran 2,173)
Das Motiv des Unreinen wird seither von Juden und Muslimen in seltener Eintracht neu ausgelegt und mit Bedeutung
gefüttert. Rabbi Moses Maimonides, im 12. Jahrhundert Hofarzt des muslimischen Sultans Saladin in Ägypten, gab als erstes Erklärungsmuster vor, dass «die Lebensgewohnheiten und
die Nahrung des Tieres höchst unsauber und ekelerregend
sind» – einen Befund, den kein Schweinezüchter teilen würde,
der seine Tiere frei im Wald laufen lässt, wo sie am liebsten
Wurzeln, Nüsse und Getreide fressen.
Die im 19. Jahrhundert gewonnene Erkenntnis, dass durch
schlecht gekochtes Schweinefleisch Trichinose auf den Men-
schen übertragen werden kann, musste nachträglich als Rationalisierung dieser Unreinheit herhalten, als Motiv, das den
Verzicht auf Schweinefleisch plötzlich vernünftig erscheinen
lässt – und das göttliche Verbot fürsorglich. Wenn das so wäre,
müsste sich der Herr allerdings die Frage gefallen lassen,
warum er seinen Anhängern nicht beibringt, Schweinefleisch
so zu garen, dass keine Erreger mehr übertragen werden können. Man fragt ja nur.
Der Anthropologe Marvin Harris macht in seinem Buch
«Wohlgeschmack und Widerwillen. Die Rätsel der Nahrungstabus» (Klett-Cotta TB) auf erstaunliche, durchaus weltliche
Zusammenhänge aufmerksam, die erklären, warum das
Schwein von grossen Konfessionen als «abscheulich» empfunden wird, während andere Weltreligionen damit nicht das
geringste Problem haben. Er analysiert das religiöse Tabu im
Zusammenhang geografischer und landwirtschaftlicher Besonderheiten der jeweiligen Lebensräume: «Der Islam hat»,
so Harris, «(…) bis zum heutigen Tag eine geografische Schranke, die zusammenfällt mit den ökologischen Übergangszonen
zwischen bewaldeten Regionen, die für die Schweinehaltung
gut geeignet sind, und Gegenden, wo zu viel Sonne und trockene Hitze die Schweinehaltung zu einem riskanten und aufwendigen Unternehmen machen.»
Die Schlussfolgerung ist interessant und folgt der marxistischen Hierarchisierung von Fressen und Moral. «Priester,
Mönche und Heilige», sagt Harris, «weigern sich oft zum Zeichen ihrer Frömmigkeit statt aus Gründen praktischer Notwendigkeit, köstliche und nahrhafte Speisen anzurühren.
Aber die Religion, deren Esstabus dem normalen Menschen
eine gute Ernährung erschweren und die dennoch floriert,
muss man mir erst noch zeigen.»
Mehr von CH R I S T I A N SEI L ER immer montags in seiner «Montagsdemonstration» auf blog.dasmagazin.ch
Illustration A L E X A N DR A K L OBOU K
42
DA S M AGA Z I N 14/201 5 Moses, Mohammed und warum gerade Schweinefleisch so unheilig ist
Immer sperrig, immer schwierig und immer mit Raute: Die Bücher von Merve sind Kult.
DA S M AGA Z I N 14/201 5 — BI L D: M E RV E V E R L AG
HANS ULR ICH OBR IST
UNSER POP WAR FOUCAULT
Kürzlich erschien ein Buch über eine Zeit, die noch
gar nicht lange vergangen ist. Es ist einerseits die
Biografie eines Verlags, andererseits handelt es
von fast jedem, der wie ich zwischen den späten
60er- und den 80er-Jahren aufgewachsen ist und
als Student stets einen Band wie Gilles Deleuzes
«Rhizome» oder Jean-François Lyotards «Patch­
work der Minderheiten» oder eines anderen kultisch verehrten Theoretikers in der Tasche trug
und gierig verschlang. «Der lange Sommer der
Theorie», so der Titel des Buches des Historikers
Philipp Felsch, fiel zeitlich zusammen mit dem
Kalten Krieg. In dieser Situation der Erstarrung
gab es einen Hunger nach Modellen und Ideen,
die wenigstens geistig etwas in Bewegung bringen wollten, oft aber auch wirkliche gesellschaftliche Veränderungen bewirkten wie etwa die Revolten und Freiheitsbewegungen von 1968. Felsch
ruft eine Epoche ins Gedächtnis zurück, in der
Denker und ihre Theorien Pop waren und nicht
nur für ein paar Experten gedacht. Wenn es kompliziert wurde, dann war das nicht schlimm, im
Gegenteil: Es spornte einen nur an, noch gründlicher zu lesen, um Autoren wie Paul Virilio oder
Jean Baudrillard zu verstehen oder auch Michel
Foucault, der selbst dazu aufrief, die Gedanken in
seinen Büchern wie einen Werkzeugkasten zu
gebrauchen, weiterzudenken und für eigene
Zwecke zu verwenden.
Zwei besessene Leser, Peter Gente und Heidi
Paris, machten ihre Obsession zum Beruf und
gründeten 1970 den Merve Verlag, mit dem Ziel,
aktuelle Denker, vor allem aus Frankreich, für
deutschsprachige Leser verfügbar zu machen. Der
Suhrkamp-Verlag hatte mit seinen Taschenbüchern bereits vorgelegt und Klassiker der Philosophie, aber auch Zeitgenossen wie Theodor W.
Adorno herausgebracht. Merve-Bücher wurden
Kult, waren günstig und mit nichts als Autor- und
Titelangabe in einer farbigen Raute sehr schlicht
gestaltet – nichts sollte von der reinen Theorie
ablenken. Heute ist die Lust am schwierigen Denken vor allem in der Kunstwelt präsent, und
Merve-Bücher findet man in Museumsshops.
Kunsttheorie war allerdings schon immer ein
Schwerpunkt des Verlags, der auch das «Museum
der Obsessionen» von Harald Szeemann verlegte,
dem grossen Schweizer Kurator und Kunstvisionär. Mir wurde durch Merve erst klar, dass ich
Kurator werden wollte. Auch deshalb hat mich
das Buch sehr bewegt: weil es einen Teil meiner
eigenen Biografie wiedergibt.
Philipp Felsch, Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte, 1960–1990, Verlag C.H. Beck
H A N S U L R ICH OBR I ST ist Kurator und Co-Direktor der Serpentine Galleries in London.
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Liebe Rätselfreund
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TRUDY MÜLLER-BOSSHAR D
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Seit einem halben Jahr unterrichte ich
nicht mehr als Lehrer. Das ist einerseits
eine gute Nachricht für die Schüler, andererseits eine schwierige Umstellung
für mich. Viele schöne Dinge erinnern
mich an die neun Jahre Unterrichten. Das
Schönste war immer der Dienstagabend,
da habe ich nämlich Diktate korrigiert.
Andere Lehrer hassen Korrigieren, ich
liebte es. Oh, yes, Baby! Während der
Arbeit hörte ich «Zauberflöte» oder Kuschelrock. Neben den Heften standen
drei Schalen, gefüllt mit M & M, Pistaziennüssen und Marshmallows. Wenn ein
Schüler null bis drei Fehler machte, griff
ich in die M&M-Schale. Pis­taziennüsse
landeten in meinem Mund bei vier bis
acht Fehlern, und ab neun Fehlern ass
ich Marshmallows. Einmal hatte ich eine
grosse Klasse, etwa 28 Kinder. Da musste ich grössere Futterschalen kaufen.
Jetzt bin ich nicht mehr Lehrer. Weil ich
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FR ENKEL
«ZAUBER FLÖTE» UND KUSCHELROCK
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GRUND, ÜBER OSTERN DEN GOTTHARD ZU MEIDEN:
Die Lösung ergibt sich aus den grauen Feldern waagrecht fortlaufend.
keinen Sport treibe und keine Freunde
habe, ist der Dienstagabend einer dieser
unsäglichen «Komm lass uns lange über
irgendetwas reden»-Abende» mit der
Frau. Wir sitzen auf dem Sofa und reden
über neue Stühle. Oder über einen neuen Esstisch oder über neue Lampen.
Irgendwann hatte ich genug davon.
Ich ging in eine teure Papeterie und kaufte dort ein schönes Buch mit leeren Seiten. Ich habe nämlich ein neues Hobby.
Seit ein paar Wochen sammle ich Verpackungen von Schokoladetafeln. Ich versuche, jeden Tag eine neue Tafel Schokolade zu essen. Dienstagabend verschwinde ich in mein Arbeitszimmer und
klebe die leeren Verpackungen in das
schöne Buch ein. Dabei höre ich «Zauberflöte» oder Kuschelrock. Vorsichtig
drücke ich meine Handfläche auf die
Verpackung, bis sie flach ist. Im Unterschied zu den Sammlerinnen von Kaf-
feerahmdeckeli reinige ich die Verpackungen allerdings nicht sehr gründlich.
Ich will, dass das Buch auf jeder Seite
nach Schokolade riecht. Bei vielen Verpackungen sieht man sogar noch einen
Schokoladenstreifen. Meine Arbeit ist
auch ein Zeitdokument. Deswegen
schreibe ich unter jede Schokolade eine
Note, zum Beispiel: 5–. In Klammern
versuche ich die Benotung zu begründen: schmeckte gut, liess sich gut essen,
Nüsse gut bis sehr gut, Abgang auch gut,
Geruch auch gut.
Natürlich erzähle ich keiner Menschenseele davon. So doof bin ich auch
nicht. Ich weiss doch, wie peinlich sich
das anhört. Das Schokoladebuch dient
mir aber auch ein wenig als Training, falls
ich doch wieder in den Schulbetrieb einsteigen möchte.
BEN I F R EN K EL ist freier Autor und lebt in Zürich.
HELPLINE FÜR RATLOSE: Sie kommen nicht mehr weiter? Wählen Sie 0901 591 937 (1.50 Fr. / A nruf vom Festnetz), um einen ganzen Begriff
WA AGRECHT (J + Y = I): 6 Schädigt, von blossem Auge betrachtet, ebendas. 12 Zinspolitisch bedingte Massnahme – für Einsteiger lukrativ. 18 Verlor
wegen Flötentönen Töchter und Söhne. 19 Lände eines Artenvielfalterhalters. 20 Macht in Zeitnot der Blick auf den Ticker. 21 Wobei Memmen klemmen:
steht in den Sternen. 22 Utensil für den, der bestellen will. 23 Auf der Steuerbordseite des Schiffs: Reeders Kollegin. 26 Der Dritte im Dutzend, anno
dunnemals. 28 Dame, die im Hundegehege permanent zugegen. 29 Der Bautista, der sich mit Lüthi auf der Piste mass. 30 James Brown hatte die Music
im Blut. 31 Für Primaten Zwangshabitate. 35 Tut der Ordnungsliebe hörbar einen Abbruch. 38 Löste unter den Italokolonialisten Massaua als Metropole
ab. 39 Redensartlich die Fassade, wo – qualitätsdefizitär – innen Hundetadel. 40 Stopft das Leck in Küfers Werk. 41 In Brisbane sieht man das Licht – es sei
denn aus Bremen – nicht. 42 Aktuell Versteckte werden geschüttelt zur Insel. 43 Zum Weltleader fehlt Mr. Swiss Country selig wenig. 44 Unmanieriert –
niveauunterschiedslos mit eben kombiniert. 45 Haben – zu zweit Häuschen – ein Vermögensdefizit. 46 Bedeutende Ethnie im jüngsten Staat der Welt.
zu erfahren. Wenn Sie nur den Anfangsbuchstaben wissen möchten, wählen Sie 0901 560 011 (90 Rp. / A nruf vom Festnetz).
LÖSUNG RÄTSEL Nº 13: SCHLITTENFAHRT
WAAGRECHT (J + Y = I): 8 SCHWERELOSIGKEIT. 12 SCHAUFENSTERPUPPE. 18 MUELLSCHLUCKER. 19 LASSO. 20 Franz LEHÁR
(«Der Zarewitsch»). 21 PUSHEN. 24 DELFT (Porzellanmanufakturen). 25 NAME (Rumpelstilzchen). 26 (Ab-/Auf-)RISS. 28 PATT. 29 PHLEGMA.
32 RITTERSAAL. 35 AUNS. 36 (Fein-)UNZE (Gold). 37 ZORI (japanische Zehenstegsandalen). 38 ALF. 39 GENRE. 40 ORNATE, Anagramm:
Notare. 41 CITRA (lat. für diesseits). 42 SOJA(-bohne). 43 STRICKNADEL.
SENKRECHT (J + Y = I): 1 SCHMALHANS. 2 TEFLON. 3 «Der SENSEMANN (Eierlikör)». 4 LOTHAR. 5 SIRUP. 6 PEPE (ital. für Pfeffer, Pepe Reina/
Manuel-Neuer-Ersatz beim FC Bayern). 7 STEINTAFEL. 8 SCHLEPPER. 9 HAUSFLUR (Entree). 10 WUESTENEI. 11 K.U.K. 13 ELLA, von unten:
alle. 14 SCHERZARE (ital. für scherzen). 15 ELRITZE. 16 PC-USERIN. 17 PRÊT (franz. für bereit, Pfadfinder). 22 SPRIT. 23 HASARD, aber: Hazard
(Eden). 27 STOCK. 30 GSOA. 31 Mohammed MURSI. 33 YETI (Reinhold Messner). 34 Á LA.
SENKRECHT (J + Y = I): 1 Anlaufstelle für einen, der stellenweise nicht von der Stelle kommt. 2 Bietet sich bei Unkenntnis der Materie als Routenplan
an. 3 Was man gern am Hals hat – oder auch nicht. 4 Mit Gartengerät kombinierter Peter ist Wurst. 5 Wird, kurz, Zug um Zug kürzer. 6 Eingangs
umlegbarer Ozeanzwerg. 7 Lehrt, dass eines Bundesrats Ahnen mit Senklot und Kelle zugange waren. 8 Textiles Emblem – unter anderem Namen
Rauschmelder ausserdem. 9 Wird Lädierten auf dem Feld untergestellt. 10 Was sich Oligarchen vom bunten Treiben einverleiben. 11 Eines Denkers
Traumterritorium? Äusserst zweckmässig! 13 Residierte früher am Arno, nunmehr tut ers am Tiber. 14 Wirds herzig vorgesetzt, ist Jöheffekt ausgemerzt.
15 Mr. Beans Feindvehikel hinsichtlich der Rotierenden Zahl. 16 Faltend gestalten. 17 Der letzte: Plagegeists Sore. 24 Motten aschermittwochs ihre
Klamotten ein. 25 Sein Namenspate: der Doppelgesichtige. 27 Hatte das Fräulein einst gern am Bein. 32 Conditio sine qua non für den MöchtegernSpender. 33 Als Thema kein Thema. 34 Ihr Feld: verherrlichte Walstatt. 36 Anno wann Basel zur Eidgenossenschaft kam. 37 1. UNO-Generalsekretär
«DAS MAGAZIN» ist die wöchentliche Beilage
des «Tages-Anzeigers», der «Basler Zeitung»,
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ists, im Verständnis der Briten, nicht.
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Oberland Medien AG, Zürcher Regionalzeitungen AG
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R AJAGOPAL P.V., 66, Präsident der indischen LandlosenBewegung Ekta Parishad, läuft für die Ärmsten Indiens durchs Land.
Auf einem kleinen «Padyatra» kamen wir
eines Abends in ein Dorf. Solche Frie­
densmärsche machte auch schon Gan­
dhi in den Dreissigerjahren des letzten
Jahrhunderts, es war seine liebste Form
des gewaltlosen Widerstands.
In diesem Dorf im indischen Bun­
desstaat Madhya Pradesh sagten uns die
Leute, sie wollten flüchten. «Wegen der
Rowdys können wir unsere Äcker nicht
mehr pflegen», erklärten sie uns.
In Indien terrorisieren Rowdys im
Auftrag der Mächtigen die kleinen Bau­
ern und vertreiben sie von ihrem Land,
für Fabriken und Rohstoffminen.
Es war Winter, wir sassen um ein Feuer
und versuchten, die Dorfbewohner zum
Bleiben zu bewegen. Ich sagte: «Macht
euch keine Sorgen, diese Leute tun
Schlechtes, aber durch den Dialog kön­
nen wir ihr Denken verändern. Lauft
nicht davon! Ihr müsst euch ihnen ent­
gegenstellen!»
Durch gewaltlosen Widerstand kön­
nen sich die Unterdrückten befreien. Sie
befreien aber auch die Unterdrücker von
ihrer Gewohnheit des Unterdrückens.
Wir müssen verstehen: Auch der Unter­
drücker ist ein Opfer der Situation, genau
wie der Unterdrückte. Gandhi sagte: «Ich
kämpfe gegen die Art, wie uns die Briten
behandeln, ich kämpfe aber nicht gegen
die Briten selbst: Ich betrachte sie nicht
als Feinde.» Das hat die Leute beein­
druckt. Sogar ein britischer Richter, der
Gandhi für seinen Widerstand gegen die
Kolonialmacht verurteilen sollte, stand
damals auf, als dieser den Gerichtssaal
betrat. Das zeigt: Gewaltloser Wider­
stand verändert das Gegenüber genau
wie einen selbst.
Das versuchte ich damals auch den
Dorf­leuten am Feuer klarzumachen.
Und als wir so redeten, tauchte plötzlich
ein halbes Dutzend Männer mit Waffen
auf und setzte sich zu uns. Alle verstumm­
ten. Da verstand ich: Das sind die Row­
dys. Ich redete einfach weiter, ohne mich
um sie zu kümmern. Irgendwann stand
einer von ihnen auf und sagte: «Sir, wir
wussten, dass Sie mit hundert Leuten
hier durchreisen, und sind hier, um Ih­
nen zu versichern, dass wir dieses Dorf
in Zukunft nicht mehr terrorisieren wer­
den.» Ich war sehr überrascht.
Ich nenne das die moralische Kraft
des Padyatra, eines solchen Friedens­
marschs. Man weiss beim gewaltlosen
Wi­derstand nie, womit genau man das
Ge­genüber erreicht. Denn in einem
Marsch stecken viele Botschaften: Wir
scheuen keine Mühe, um für unsere
Rechte zu kämpfen. Ein Marsch ist aber
auch ein Zeichen für die eigene Kraft.
Die Unterdrücker denken dann: «Oh,
diese Leute können sich organisieren,
Tausende stossen jeden Tag dazu, es ist
wohl jetzt besser, sich zu benehmen.»
Manchmal hilft die Angst der Gegensei­
te, manchmal ihr Respekt, manchmal
ihre Spiritualität. Sicher ist: Menschen
hören nie auf sich zu verändern.
2012 organisierten wir einen Marsch
mit 60 000 landlosen Bauern. In sechs
Tagen liefen wir 120 Kilometer. Wir nann­
ten die Aktion «Jan Satyagraha» – Marsch
für Gerechtigkeit. Am Ende hatten wir
ein Abkommen mit der Regierung in
Neu-Delhi in der Tasche. Das war ein
grosser Erfolg.
Im Jahre 2020 wollen wir wieder
marschieren. Mit einer Million Men­
schen und bis nach Genf, zum UNOSitz. Denn die Ungerechtigkeit hört nicht
an der indischen Grenze auf.
Protokoll D OM I N I K GRO S S; Bild R A F FA EL WA L DN ER
46
Taten statt Worte Nr. 62
Das Wichtigste ist
immer noch die Familie.
Unseren Natura-Beef-Rindern geht es besonders gut. Denn sie wachsen bei viel Auslauf auf der Weide
in der Herde bei ihren Müttern und mit Altersgenossen auf. Das ist nur eines von vielen Beispielen für
unseren hohen Anspruch, den wir als Pioniere der artgerechten Tierhaltung seit über 35 Jahren verfolgen.
Und der uns gemäss Schweizer Tierschutz STS zur Nr.1 in Sachen Tierwohl gemacht hat.
DA S M AGA Z I N 14/201 5 EIN MAR SCH IM LEBEN
Alles über das Nachhaltigkeits-Engagement
von Coop auf: taten-statt-worte.ch