Das Magazin 17 vom 25. April 2015

«PAPA, WARUM
HAST DU MAMA UM­
GEBR ACHT?» EIN
FAMILIENDR AMA,
S. 36
N ° 17 — 25. A PR I L 2015
«O HNE MAUER GÄBE
ES KEINE MENSCHLICHE
ZIVILISATION»
Ein Gespräch mit dem
Architekten Jacques Herzog
MAILAND, MON
AMOUR? BESICHTI­
GUNG EINER UN­
BEQUEMEN STADT,
S. 24
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DA S M AGA Z I N 17/201 5 — BI L D C OV E R : N AC Á S A & PA RT N E R S; E DI T OR I A L: W E R N E R BI S C HOF / M AGN U M PHO T O S
EDITOR IAL/INHALT
Mit Jacques Herzog diskutieren zu
dürfen, ist immer eine grosse Freude.
Die Weltausstellung in Mailand ist
der Ausgangspunkt des Gespräches ge­
wesen, der Basler Architekt war mit­
beteiligt am Masterplan. Aus dem Ge­
spräch über die Weltausstellung ist
schliesslich eines über die Schweiz und
über die grossen Themen geworden,
mit denen sich Herzog und sein konge­
nialer Partner Pierre de Meuron sowie
ihr Team des Basler Büros Herzog &
de Meuron beschäftigen (das Coverbild
zeigt das Miu-Miu-Gebäude in Tokio).
Städtebauliche und architektonische
Fragen waren in diesem Magazin in
den vergangenen Jahren immer wieder
Thema. Im Moment bräuchte die
Schweiz aber, so Herzog, eine noch viel
breitere Diskussion darüber, wie wir
in Zukunft in diesem Land leben wol­
len – Seite 12.
Mailand 1946, im Hintergrund der Dom. Heute, fast siebzig Jahre später,
putzt sich die Stadt heraus für die Expo.
Grund ist, wieder einmal in den Zug
zu steigen und dorthin zu fahren (vor
allem, seit es den unsäglichen Cisal­
pino nicht mehr gibt). Die Stadt macht
es einem nicht einfach – Mailand ist
keine Stadt, die sich sofort erschliesst.
Wir haben den grossen Schweizer Jour­
nalisten, Autor und Italienkenner
Dieter Bachmann schon mal auf eine
Dieses Heft setzt den Schwerpunkt
auf Mailand. In einer Woche wird in der Erkundungstour vorausgeschickt.
In guter alter Reportermanier hat er
norditalienischen Metropole die
Weltausstellung eröffnet, was ein guter sich durch die Stadt treiben lassen und
Notizen gemacht. Seinen Eindruck,
der zum Glück von lästigen Urteilen völ­
lig frei ist, lesen Sie auf Seite 24.
Finn Canonica
S. 12Der Architekt Jacques Herzog im grossen Gespräch. Von Finn Canonica
S. 24Mailand, du bist keine Schönheit! Von Dieter Bachmann
S. 36Papa, warum hast du Mama umgebracht? Von Malte Herwig
5
KOMMENTAR
peugeot-professional.ch
MENSCHENRECHTE «MADE IN
SWITZERLAND»
Unbestritten ist zwar, dass der Grundrechtekatalog der Bundesverfassung
mit der EMRK weitgehend übereinstimmt und in einigen Aspekten sogar
noch über diese hinausgeht. Die Schutz­
wirkung dieser Grundrechte ist jedoch
aus mehreren Gründen viel schwächer
als diejenige der EMRK.
Erstens führt die in der Schweiz fehlende Verfassungsgerichtsbarkeit dazu,
dass die in der Bundesverfassung kodifizierten Grundrechte häufig gar nicht ein­
geklagt werden können. Für alle «rechtsanwendenden Behörden» inklusive des
Bundesgerichts sind nach BV Artikel 190
die Bundesgesetze und nicht die Verfassung massgebend. Wenn ein Bundesgesetz gegen ein Grundrecht verstösst, kann
das Bundesgericht nur unter Berufung
auf die EMRK, jedoch nicht auf Basis des
Schweizer Grundrechtekatalogs seine
Anwendung aussetzen. Diese archaische
Lücke in der hausgemachten Garantie
der Grundrechte könnte nur durch die
Verfassungsgerichtsbarkeit geschlossen
werden, deren Einführung aber von
mächtigen politischen Kräften verhindert wird. Am erbittertsten bekämpft
wird die Verfassungsgerichtsbarkeit von
der SVP. Es ist de facto nicht zutreffend,
dass Blocher die «Swissness» des Grundrechteschutzes stärken will. Sehr im Gegenteil.
Ein weiteres Problem liegt darin,
dass die Rechtslage nicht nur durch den
Grundrechtekatalog, sondern auch durch
die Fortentwicklung der Verfassung bestimmt wird. Mit neuen Verfassungsartikeln können Grundrechtsgarantien in
der Schweiz jederzeit zur Unkenntlichkeit entstellt werden – etwa die Religionsfreiheit durch die Minarett-Initiative.
Auf­grund des Initiativrechts, das zu viel
häufigeren Verfassungsänderungen
führt als in anderen demokratischen
Rechtsstaaten üblich, werden in der
Schweiz immer wieder schwere Ein­
schränkungen der Grundrechte beschlossen, ohne dass diese besonders
geschützt werden könnten. Die Grundrechtsgarantien durch die Bundesverfassung sind deshalb im internationalen
Vergleich ausgesprochen schwachbrüstig. Die Aufkündigung der EMRK wäre
zuallererst für den Rechtsschutz der
Schweizer Bürger eine Katastrophe.
Dass die Freiheitlichkeit einer Verfassungsordnung sich vor allem daran
bemisst, wie schwer sie es der Staatsmacht macht, die Grundrechte immer
stärker zu beschränken, hat schon der liberale Staatsrechtler Zaccaria Giacometti unterstrichen. Ausgerechnet Christoph
Mörgeli wollte ihn jedoch als Kronzeuge
für sein Lager reklamieren. Giacometti –
der im Übrigen ein vehementer Vertreter der Verfassungsgerichtsbarkeit war –
sah den besonderen Menschenrechtsschutz der Schweizer Verfassung allerdings genau darin, dass das Referendumsrecht die Gesetzesentwicklung
und damit die immer weitergehenden
Eingriffe in die Grundrechte verhindere.
Es sei das Referendum, das sich «konservativ und damit zugunsten des Individuums» auswirke, schrieb der liberale
Staatsrechtler in «Demokratie als Hüterin der Menschenrechte».
Wüsste Giacometti, dass die exponentielle Häufung von Volksinitiativen
die Bundesverfassung in ein pitoyables
politisches Schlachtfeld der permanenten Verfassungsteilrevisionen und der
immer neuen Grundrechtseinschränkungen verwandelt hat, er würde sich
wohl im Grab umdrehen.
DA N I EL BI N S WA NGER ist Redaktor bei «Das Magazin».
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DA S M AGA Z I N 17/201 5 Von DANIEL BINSWANGER
Mit dem Wahljahr nimmt auch die SVPKampagne für ihre Initiative «Schweizer
Recht gegen fremde Richter» Fahrt auf.
An der Universität Zürich fand letzte Woche vor überbelegtem Hörsaal ein Podium zu dem Thema statt, auf dem Christoph Mörgeli und Christoph Blocher mit
den Rechtsprofessoren Urs Saxer und
Daniel Jositsch sowie mit Doris Fiala und
Claude Longchamp die Klingen kreuzten.
Überraschend war die Abwesenheit
von Hans-Ueli Vogt. Warum verteidigte
der SVP-Ständeratskandidat und Professor an seiner eigenen Alma Mater
nicht die Vorlage, als deren geistiger Vater er gilt? Ein Grund könnte sein, dass
die Volkspartei die staatsrechtliche Debatte tunlichst vermeiden will und deshalb lieber die Schlachtrösser des politischen Schaukampfs als einen Rechts­
experten in den Ring schickte.
Bemerkenswert war, dass Blocher
und Mörgeli – nebst farbenfroher Ausmalung des «Volksverrats» durch Brüsselhörige Eliten – sich auf das Argument
einschossen, die Schweizer Rechtsprechung bedürfe der Sicherung durch die
Europäische Menschenrechtskonvention
gar nicht, da in der Bundesverfassung
der Schutz der Grundrechte ohnehin viel
besser gewährleistet sei. Kampagnenstrategisch ist diese Ar­gu­mentation einleuchtend: Eine Vorlage, die unter dem
Verdacht steht, den Menschenrechtsschutz in der Schweiz zu verschlechtern,
hätte kaum eine Chance. Deshalb greift
Blocher die EMRK nicht frontal an, sondern behauptet lieber, Menschenrechte
«Made in Switzerland» seien ohnehin
viel wirkungsvoller als internationales
Vertragswerk. Dumm ist nur, dass diese
Argumente in keiner Weise den juristischen Fakten standhalten.
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DA S M AGA Z I N 17/201 5 DR AUSSEN SEIN MIT: DOR IS KNECHT
Die Schriftstellerin durchquert den Steinhof am Rand von Wien und erzählt,
warum sie sich gerne versteckt.
Von MICHAEL HUGENTOBLER
Wir sitzen im Taxi, ein Inder steuert einen schwarzen Mercedes
aus Wien hinaus, einen Hügel hoch. «Sagen Sie, Frau Knecht,
wann haben Sie eigentlich das letzte Mal eine Maus getötet?»
«Letztes Wochenende. Zumindest habe ich es versucht.»
«Welches ist denn Ihr bevorzugter Köder?»
«Brekkies mit Nutella. Raten Sie mal, was die Maus gefressen hat.»
«Ich habe keine Ahnung.»
«Die Herdplatte.»
«Die Herdplatte?»
«Sie war flächendeckend angeknabbert. Die Matratze der
Kinder ebenfalls – und die Knöpfe der Fernbedienung. Seltsamerweise aber nur die bunten Knöpfe, die schwarzen nicht.»
Doris Knecht besitzt ein Haus auf dem Land. Es ist ihr
Rückzugsort. Seit vorgestern ist sie allerdings wieder in der
Stadt, denn gestern war Vernissage ihres neuen Romans. Die
Mäuse sind ein wichtiger Teil des Buches, sie stehen für die Verwandlung der Protagonistin. Im Leben dieser Marian gibt es
ein Vorher und ein Nachher. Im Vorher rennt sie kreischend vor
den Mäusen davon, und im Nachher schaut sie den Tieren beim
Sterben zu. Die Mäuse sind denn auch der brutalste Teil des
Buches, wenn auch nicht der traurigste. Traurig sind die Männer: Sie sind entweder Versager oder Schurken.
Beim Steinhof steigen wir aus dem Taxi, Krähen schaukeln in der Luft, ihre grauen Nackenfedern schimmern, irgendwo hämmert ein Specht. Es ist ein charakterloser Tag, der Himmel sieht aus wie ein schmutziger Gletscher. Das Wetter erinnert an jenes in Knechts Buch, ans Frieren der Marian. Der
Leser folgt dieser Marian, die ins Ungewisse stürzt, von einer
überteuerten Stadtwohnung mit beheizter Toilette, weichem
Klopapier, Luftbefeuchter und Klimaanlage (Marians Liste des
leeren Lebens ist mehrere Seiten lang) in die verlotterte Hütte
ihrer toten Tante, an einen Ort, wo es fast nur noch Wald gibt.
So heisst denn auch das Buch: «Wald».
Früher, als sie das Haus auf dem Land noch nicht hatte,
kam Doris Knecht oft hierher ins Erholungsgebiet Steinhof, wo
ordentliche Kieswege und hübsche Baumreihen die Illusion
von Natur vermitteln und die Stadt trotzdem nahe genug ist, dass
man sie am Fuss des Hügels schimmern sieht. Knecht sagt, sie
habe die Spielplätze in der Stadt nicht mehr ertragen können,
darum habe sie sich zusätzlich zu ihrer Mietwohnung in der
Stadt noch das Haus auf dem Land gekauft, weit weg von UBahn, S-Bahn und Flughafen. Damit ihre Kinder auf echten
Wiesen spielen können. Knecht erliegt aber nicht der Selbstversorger-Sehnsucht. Sie hatte auf dem Land versucht, Tomaten zu züchten. Sie verfaulten. Sie setzte Kürbissetzlinge. Die
Schnecken kamen. Sie sagt: «Da bin ich dann jeweils froh, dass
ich ein Auto habe und in den Supermarkt fahren kann.» Ihre
Heldin ist ein bisschen erfolgreicher im Garten, sie schafft es,
einiges Gemüse anzupflanzen. Allerdings stiehlt sie dann
doch vor lauter Verzweiflung das Lieblingshuhn einer Bäuerin.
Doris Knecht ist in Vorarlberg zur Welt gekommen, einer
ländlichen Gegend, und mit neunzehn sei sie nach Wien geflüchtet, sagt sie. Sie begann ein Studium und brach es ab, arbeitete als Putzfrau und Sekretärin, begann Kurzmeldungen für
den «Standard» zu schreiben und war zehn Jahre später Chefredaktorin des Stadtmagazins «Falter». Vor fünfzehn Jahren
begann sie beim «Magazin» eine Kolumne zu schreiben, die bis
heute in verschiedenen Zeitungen fortgeführt wird, ein paar
Hundert Geschichten über das Leben von Doris Knecht. Allerdings nicht das echte Leben, zumindest nicht zu hundert Prozent. «Die Leute glauben, mich zu kennen, aber das bin nicht
ich», sagt sie. Partys seien nicht so ihre Sache, sie fühle sich in
anonymen Massen nicht wohl, lebe lieber in ihrer Höhle.
Oben in den Bäumen wachsen Misteln, unten geht ein älteres Paar, sie klammern sich an Walkingstöcke und tragen
Kleidung wie Radrennfahrer. «Ich glaube, ich habe mit der
Zeit eine soziale Phobie entwickelt», sagt sie. In der Ferne geht
eine kleine Frau über ein grosses Feld, ein weisser Umhang
schaut unter ihrer Jacke hervor und flattert im Wind; dann setzt
sich die Frau auf eine Kinderschaukel und wippt unter dem
bleiernen Himmel hin und her. «Anfangs habe ich wohl vor allem geschrieben, um Anerkennung und Lob zu bekommen,
aber heute spielt das nicht mehr eine so grosse Rolle», sagt
Knecht. Der kalte Wind wird immer stärker, und sie zieht sich
eine blaue Mütze über die Ohren und purpurrote Handschuhe
über die Finger. «Obwohl, Anerkennung schon.»
Wir sind mittlerweile einen Kreis gegangen, vorbei an der
ehemaligen Irrenanstalt, vorbei an der verrückten Kirche von
Otto Wagner, die seinerzeit den Kaiser erzürnte, und wir sind
wieder am Anfangspunkt angelangt.
«Wenn Sie sich so gerne zurückziehen, warum sind Sie
dann Schriftstellerin geworden?»
«Weil das Schreiben das Einzige ist, was ich kann.»
«Aber Schriftsteller müssen auch an Lesungen.»
«Das ist dann immer lässig, aber es macht mich auch froh,
wenn sie wieder vorbei sind.»
«Und Sie verstecken sich wieder?»
«So schreibe ich das nächste Buch.»
Hinter einem langen Holzstapel dringt das Kreischen einer
Säge hervor. Ein weisser Traktor mit orangen Überrollbügeln
schiebt Baumstämme durch den Dreck. Wir fahren in Bus Nummer 46A den Hügel wieder hinunter, am Gasthaus Starchant
und einem Hallenbad vorbei. Anfangs haben die Häuser noch
Gärten, dann stehen sie immer näher beisammen und bilden
schliesslich Reihen von Blocks. Wir steigen beim Brunnenmarkt aus. Der Wind ist hier unten kaum noch zu spüren, stattdessen brummt die Stadt. Es ist jetzt fast 14 Uhr, Doris Knecht
will nach Hause. Sie muss kochen gehen für ihre Kinder.
Doris Knecht auf dem Land, Wien aber noch in Sichtweite
Bild DAV I D PAY R
9
HAZEL BRUGGER
DUFT DER INSOMNIA
Wenn ich nachts nicht schlafen kann,
lese ich gerne die neusten Einträge in
Parfümforen. Selbst ernannte FragranceAficionados geben dort ihr Innerstes
preis und schreiben über Wirkung und
Emotion hinter Düften. Die Texte wären
ausgedruckt oft mehrere Meter lang und
von einer ehrlichen Schwurbeligkeit, die
ich mir ausserhalb des Pyjamas nicht
antun könnte. Man lässt sich bewerten, kommentiert Kommentare und kann virtuelle Auszeichnungen verschicken. Diese Foren
haben ihre ganz eigenen Stars, und
manchmal kriegt man einen Wortwechsel mit, der auf Vertrautheit
zwischen den einzelnen Usern
deuten lässt. Um die Gerüche selber geht es nur am Rande – denn
wie in jeder Szene ist man hier,
um sich als Teil des Ganzen und
weniger extrem banal zu fühlen.
Ein Spritzer würde genügen,
und plötzlich wäre Taurus 67 wieder in der Dorfdisco, und draussen ist es 1983. Man tanzt zu Michael Sembello, und die Mädels
sehen gut aus. Das allererste Handy ist auf dem Markt und wiegt
800 Gramm, Jordanien kriegt
einen neuen Flughafen, auf Galapagos wird der letzte Riffbarsch
gesichtet. Taurus 67 hat sich eine
Fahrt im mattglänzenden Wikingerschiff
gegönnt, sich den schwarzen Drachen
auf die Haut gestäubt. Spiel? Spannung?
Schokolade? Nein, er hat etwas viel Besseres zu bieten, etwas Exotisches, un­
vergesslich: «Drakkar Noir» von Guy
Laroche, ein olfaktorischer Hochgenuss.
Kopfnote: Artemisia, Basilikum, Bergamotte, Lavendel, Rosmarin, Zitrone und
Zitronenstrauch; Herznote: Gartennelke, Jasmin, Koriander, Wacholder und
Zimt; Basisnote: Amber, Eichenmoos,
Leder, Patchouli, Sandelholz, Tanne,
Vetiver und Zedernholz.
Klar, denke ich, während ich müde
werde und versuche, mir den Geruch
vorzustellen. Lavendel kenne ich, Koriander hätte ich notfalls noch zur
Schnupperprobe in der Küche, und wer
oder was Artemisia ist, müsste ich zu-
erst noch googeln. Über Düfte zu lesen,
ist so abstrakt, wie als Hörender Clips zu
schauen, in denen Konzerte in Gebärdensprache dargestellt werden.
Doch leider ist der schwarze Drache
nicht mehr das, was er in den Achtzigern
einmal war. Man hat mit dem Millennium auch die Rezeptur geändert – es ist
traurig, einem Feuertier so den Lebensgeist zu nehmen. Ähnlich Rilkes Panther
nunmehr eine zensierte, abgeschwächte
Version seiner selbst. Der Flacon überzeugt Taurus 67 auch nicht mehr wirklich, er ist zu sehr en bloc und nicht filigran genug. Optisch kommt hier nur die
Schwere durch, man könnte dem Duft
als Laie leicht eine Lautstärke und Aufdringlichkeit vorwerfen. Dabei ist es
diese lederne Leichtigkeit, die einen
packt, die einen streift wie schwingende
Mottenflügel an der Nackenhaut,
wie der verlorene Kuss einer Fremden in einer Nacht ohne Mond.
Etwas, das durch Klarglas-Elemente vielleicht besser unterstrichen würde.
Ich stelle mir Kinder vor, die
in der Schule erzählen, dass ihr
Vater Parfümflaschen designt.
Kinder, die vielleicht nie gezeugt
worden wären, wenn die genetischen Differenzen der Eltern beim
Kennenlernen nicht durch einen
ansprechenden Duft überdeckt
gewesen wären. Kinder, welche
die Natur so eigentlich nicht vorgesehen hat, kleine Armeen von
«Drakkar»-Babys in der Obhut
von unparfümiert inkompatiblen
Eltern.
Die Dorfdisco gibt es heute
nicht mehr, sagt Taurus 67. Früher
konnten die Mädchen sich sicher
sein, ihn dort auch noch frühmorgens tanzend im Nebel vorzufinden. Der
Drache trug einen Schild gegen Schweiss,
hatte Zähne zum Anbeissen und ein alles verzehrendes Feuer für die Nacht.
Heute ist er gräulich und mit dritten
Zähnen. Er blinzelt müde in die Runde.
Ich stelle mir Düfte vor und wie die
Schlaflosigkeit ein Ende nimmt. Ich träume von Artemisia.
Die Slampoetin H A Z EL BRUG GER ersetzt diese Woche ausnahmsweise Katja Früh.
Bild LU K A S WA S SM A N N
DA S M AGA Z I N 17/201 5 M A X KÜNG
GUTE FR AGEN
Das erste Mal habe ich es mit Charlotte probiert. Es hat nicht
geklappt.
Dann habe ich es mit Ditta versucht. Obwohl es anfangs
ganz vielversprechend aussah: Es war nicht wirklich befriedigend, wie es am Ende herausgekommen ist.
Danach habe ich es mit Désirée gewagt. Schon bald aber
war mir klar: Das wird auch wieder nichts.
Es gibt gute Fragen, eine davon ist: Warum tragen Kartoffeln eigentlich immer Frauennamen? Die Erklärung ist wohl
– so habe ich irgendwo mal gelesen –, dass früher die Bauern die
tollsten Kartoffelzuchten nach ihrer schönsten Tochter benannten, aus Stolz auf sowohl Kartoffeln wie auch ihre Töchter, denn beides versprach ja so etwas wie Zukunft. Aber wenn
dem so wäre, wie verhielte sich das denn mit dem Sprichwort,
dass die dümmsten Bauern die grössten Kartoffeln haben?
Eine andere gute Frage ist: Warum werden verdammt noch
mal meine Pommes frites nicht so gut wie die, welche man in
Belgien auch in der hinterletzten Bude serviert bekommt? Dass
diese belgische Spezialität, das Frittieren, nicht so simpel ist,
wie es scheinen mag, das weiss ich. Es gibt da ein paar nicht zu
unterschätzende Faktoren, so wie es jeder Wissenschaft eigen
ist. Soll man einmal oder zweimal frittieren? Zwischen den Frit-
tiergängen die Ware tiefkühlen? In Raps- oder in Erdnussöl
frittieren? Oder doch Rinderfett nehmen? Pferdefett? Bei welcher Temperatur? Wie lange? Soll man die Kartoffeln dick
schneiden oder dünn? Waschen oder nicht? Und natürlich:
Welche Kartoffelsorte soll man nehmen? Mehligkochend? Festkochend? Was dazwischen? Und Kartoffelsorten gibt es viele;
das Lexikon listet allein für den Anfangsbuchstaben A nicht
weniger als 46 verschiedene Sorten auf: Antonia! Afra! Agnes!
Nun, in Belgien scheints verwendet man Bintje. Das hat mir
ein Belgier einst erzählt. Was ich nicht wusste: Auch Bintje ist
ein Frauenname, wenn auch hierzulande und heute wenig geläufig. Die Kartoffel Bintje heisst Bintje, weil: Ihr Züchter war
ein Botaniker namens Kornelis Lieuwes de Vries, geboren 1854
im zur Gemeinde Tytsjerksteradiel gehörenden Ort Hurdegaryp. Die von ihm gezüchteten Kartoffeln benannte er jeweils
nach seinen Kindern. Da er aber bloss neun Kinder hatte,
brauchte er für seine zehnte Züchtung einen Namen, und da
De Vries auch Lehrer war, nahm er einfach den Namen seiner
kleinsten Schülerin: Bintje Jansma.
Im Jahr 2012 wurde die Bintje noch zur «Kartoffel des Jahres» gewählt, aber heute scheint sie bei uns aus den Läden
verschwunden zu sein, wohl wegen ihrer grossen Anfälligkeit
gegenüber Kraut- und Knollenfäule und Kartoffelnematoden.
Wo ich auch fragte: Bintje? Schulterzucken.
Es gibt zwei Dinge, über die sehr viel geschrieben wird.
Das ist einerseits – wie in diesem Fall hier – das Essen, andererseits die Sexualität. Die beiden Dinge weisen eine gewisse
Verwandtschaft auf. Es geht um nicht weniger als den Fortbestand und darüber hinaus um die Befriedigung von individuelle Bedürfnissen. Viele halten sowohl das Essen wie auch die
Sexualität für überbewertet. Viele sagen, das Essen sei der
Sex des Alters. Ich glaube, es ist umgekehrt: Der Sex ist das Essen der Jugend. Wie dem auch sei, meiner Meinung nach weist
das Essen der Sexualität gegenüber gewisse Vorteile auf. Zum
Beispiel finde ich es toll, dass man beim Essen seine Kleider
anbehalten kann. Noch besser als zu essen ist aber das Kochen.
Und etwas vom Schönsten am Kochen ist es, wenn man den
feinmaschigen Metallkorb ins siedende Öl absenkt, im Korb
die von Hand geschnittenen bleichen Kartoffelstifte, und man
dieses Geräusch vernimmt: ein zischendes Brodeln oder brodelndes Zischen, das sich fortan stets leicht verändert.
Morgen versuch ich es mal mit Amandine, der Liebenswerten. Vielleicht klappt das ja. Obwohl: Ich glaube, es muss
Bintje sein. Bintje …
M A X K Ü NG ist Reporter bei «Das Magazin».
11
Jacques Herzog spricht darüber, warum
viele Schweizer Veränderungen ablehnen, wie
unterschiedlich sich Städte trotz Globalisierung
entwickeln – und warum Herzog & de Meuron
nie einen eigenen Stil anstrebten.
Von Finn Canonica
Porträt Till Janz
12
DA S M AGA Z I N 17/201 5 «M AN KANN EINE
STADT NICHT
EINFACH LASSEN,
WIE SIE IST,
SONST STIRBT
SIE.»
Das Magazin — Jacques Herzog, die Welt ist auf jedem
Smartphone ständig präsent, warum finden heute noch
Weltausstellungen statt? Sind solche Ausstellungen
nicht ein Anachronismus?
Jacques Herzog — In der bisherigen Form sind sie anachronistisch und eine Verschwendung von viel Geld und Ressourcen.
Die letzte Weltausstellung von Shanghai steht exemplarisch
dafür: eine Ansammlung von Pavillons, jeder mit prätentiösem
individuellem Design aufgebaut und mit Ausstellungen ausgestattet, die auch sonst wo stattfinden könnten und deshalb
wenig Sinn machen. Die Länder der Welt präsentieren sich
durch unterschiedliches Design ihrer Pavillons und werden paradoxerweise gerade dadurch ununterscheidbar. Es ist ein
Wettbewerb des Designs, dabei müsste es um Inhalte gehen.
Und dann ist die Ausstellung vorbei, und kein Mensch weiss
mehr, was das Thema war.
Der Eiffelturm ist das wohl dauerhafteste Produkt einer
Weltausstellung.
14
Der Eiffelturm und der Crystal Palace in London waren Ausnahmen, technische Errungenschaften ihrer Zeit, die so nur
anlässlich einer Weltausstellung realisierbar waren. Das kann
heute kein nationaler Pavillon mehr leisten. Deshalb muss man
dieses Konzept abschaffen oder radikal neu angehen. Der Besucher sieht eine mehr oder weniger kohärente Show, die irgendwie im Zusammenhang steht zum Grossthema der Ausstellung, aber kaum ist er draussen, ist alles vergessen. Er erinnert sich nur noch an die unendlich grosse Gastromeile und
den Stress, den er hatte, als er mal eine Toilette suchen musste.
Dennoch haben Sie sich dafür entschieden, am Masterplan der Mailänder Ausstellung mitzuarbeiten.
Wir stiegen darauf ein, weil auch Carlo Petrini, der Slow-FoodBegründer, im Team war. Petrini ist eine beeindruckende und
begeisternde Persönlichkeit. Seine Überlegungen zur Produktion von Nahrungsmitteln in Bezug zu spezifischen Landschaften haben uns überzeugt. Wir besuchten ihn im Piemont,
wo er eine weltweit angesehene Universität für «Gas­tronomic
Sciences» aufgebaut hat. Unsere Zusage erfolgte in der erklärten und von allen – inklusive der damaligen Bürgermeisterin Letizia Moratti – mitgetragenen Absicht, das Konzept einer Weltausstellung ganz neu anzugehen: Mehr Inhalt, möglichst wenig Design. Das Thema der Ausstellung – «Feeding the
Planet, Energy for Life» – erschien uns dafür ein sehr geeignetes und drängendes Thema.
Die Ausstellung beginnt in einer Woche. Wie muss man
sich das Gelände in Mailand vorstellen?
Unser grosses Anliegen war, mit unserem Masterplan den läppischen Design-Wettbewerb der Länderpavillons überflüssig
zu machen und dafür die spezifischen Beiträge der verschiedenen Länder zur Ernährung der Welt als Inhalt zu fokussieren. Ebenso wichtig war die Nachhaltigkeit des Plans. Das Gelände ist heute eine grosse Grünfläche neben der Messe. Wir
plädierten dafür, auf eine weitere gesichtslose Bebauung im Stil
der Mailänder Trabantenstädte zu verzichten – uns schien es
klüger, das Expo-Gelände als grossen, urbanen Garten für die
Nahrungsproduktion zu erhalten. Es sollte eine Art Gartenstadt entstehen, mit einzelnen Gebäuden und Gastbetrieben
darin, beinahe dörflich, als Kontrast zur Dichte der Metropole
Mailand und als einmaliges Asset für die Attraktivität des benachbarten Messegeländes. Zusammen mit den Architekten
Stefano Boeri, Richard Burdett und Mark Rylander haben wir
einen solchen Plan entworfen. Carlo Petrini war als Mentor mit
dabei.
Es wird dennoch nationale Pavillons geben.
Ja, das ist ja klar und auch als Botschaft zu verstehen: Es geht um
eine Welt der unterschiedlichen Länder und der spezifischen
Landschaften mit ihren spezifischen Qualitäten und Herausforderungen. Möglichst jedes Land soll ja dabei sein können.
Leider ist es uns nicht gelungen, die Expo-Leitung dazu zu
bringen, auf die einzelnen Länder einzuwirken, damit sie auf
ein eigenständiges Design ihrer Pavillonarchitektur verzichten. Bis heute ist nicht klar, wer das abblockte ... dabei wäre die
Gelegenheit ja günstig gewesen, mit der Schweiz, welche als
erstes Land ihre Beteiligung zusagte, ein Anfangssignal zu setzen. Welch verpasste Chance! «Steckt das Geld in die Gärten»
DIE NEUE
DINERS CLUB ® KARTE
VON CORNÈRCARD.
Die ideale Begleitung für aktive Menschen, die
leidenschaftlich gerne die Welt erkunden, das
DA S M AGA Z I N 17/201 5 Gute Architektur ist mehr als das «Design» von Häusern, nebst
Raum gestaltet sie immer auch Umgebung und schafft so einen
Ort. Die Miyuki-Strasse ist eine kleine, nicht besonders hübsche Strasse in Tokios Aoyama-Bezirk. Es gäbe keinen Grund
der Welt, sich länger in dieser Strasse aufzuhalten als die paar
Minuten, die es braucht, um sie zu durchschreiten – wenn nicht
diese beiden Gebäude wären, die sich dort schräg gegenüberstehen. Beide wurden von Herzog & de Meuron für das italienische Modeimperium Prada gebaut. Das mächtigere erscheint
wie ein grosser, jedoch eigentümlich lebendiger Kristall mit
einem bienenwabenartigen Innenleben. Schräg gegenüber
steht, wie sein Antipode, das neuste Werk des Basler Büros.
Es ist eine geheimnisvolle Schatulle aus Stahl, deren Inneres
wie weich gepolstert wirkt, obschon aus einer dicken Schicht
aus Kupfer. Es kann kein Blick in das Gebäude dringen, also
«schnell, schnell hinein, bevor ich wieder zuklappe», bedeutet einem das leicht geöffnete Vordach, das gleichzeitig Fassade ist zur Strasse hin. Auch für dieses Projekt von Herzog & de
Meuron gilt, was viele ihrer Arbeiten auszeichnet: Sie sind visuelle Rätsel, bei denen man erst nach ein paar Minuten merkt,
dass einem die Lösung ja direkt vor den Augen steht. So unterschiedlich die beiden Bauten auch sind, auf geheimnisvolle
Art entfalten sie zusammen noch mehr Wirkung und verleihen
dieser banalen Strasse im vielerorts gesichtslosen Tokio eine
Identität.
Jacques Herzog lässt viel Welt in seinen Kopf, was dazu
führt, dass man seinen eigenen Kopf im Gespräch mit dem Architekten immer wieder neu kalibrieren muss: Urbanisierung
der Schweiz, die Kräfte der Globalisierung und ihre Folgen auf
das gebaute Bild der Welt, die Bedeutung von lokaler Identität, die Weltausstellung in Mailand – die Breite der Themen, mit
denen sich die Architekten von Herzog & de Meuron produktiv
beschäftigen, ist immens. Architektur wird in den Räumen ihres Basler Büros im besten Sinne des Wortes verstanden als
eine Disziplin, in der alle Fäden zusammenlaufen. Die Schweiz
täte gut daran, wenn sie die Visionen ihrer zahlreichen, hervorragenden Architekten vertiefter diskutieren würde.
gewisse Etwas schätzen und das Leben mit
seinen vielen Facetten auskosten.
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16
barn nicht wirklich. Aus dieser Grundhaltung heraus ist er immer eine Spur unfreundlich und auf Distanz bedacht. Die
Schweizer wollen sich abgrenzen und sich zu nichts bekennen. Das belegen die Abstimmungsresultate der letzten Jahre.
Das kann man zu interpretieren versuchen und gut oder
schlecht finden. In jedem Fall ist dies auch Ausdruck eines Freiheitsdranges, welcher der Schweiz im Verlaufe ihrer Geschichte zu manchem Vorteil verholfen hat. Für jegliche Idee von
Stadt ist es aber fundamental wichtig, dass man mit anderen
in Kontakt treten will, dass man Brücken schlägt, Öffentlichkeit sucht und sie auch akzeptiert.
Die grosse Theorie des französischen Soziologen und
Stadttheoretikers Henri Lefebvre besagt, dass ein Ort
umso urbaner ist, je mehr soziale Interaktionen an ihm
stattfinden.
Im Denken Henri Lefebvres ist der Begriff der Differenz zentral.
Dort, wo Andersartiges aufeinanderprallt und sich produktiv
austauscht, entsteht Urbanität. In den Zentren einiger Schweizer Städte kann man diese auf Differenz gründende Urbanität
im Ansatz erkennen. Diese Urbanität erfordert auch Dichte und
eine gewisse Masse. Genau das sind aber Dinge, die hier nicht
gut ankommen, wie die letzten Abstimmungen gezeigt haben.
Einzonungen, Aufzonungen, Hochhäuser ... das alles sind für
Schweizer Ohren Schimpfworte.
Verdichten heisst immer auch verdrängen. Verdichtung in den Städten geht oft auf Kosten der ökonomisch
Schwachen.
Die gesellschaftliche Balance der Schweiz ist ihre Stärke. Deshalb braucht es auch Platz und Wohnraum für alle Gesellschaftsschichten. Ein starker Mittelstand ist von zentraler Bedeutung, sonst entstehen Ghettos für Arme und ebensolche
für Reiche. Neue oder nachverdichtete Quartiere können für
alle Ansprüche sehr attraktiven Wohnraum bieten – das ist
kein architektonisches oder städtebauliches Problem, solche
Modelle existieren längst und mit Erfolg. Das Problem ist,
dass die extremen Kreise sowohl der Linken/Grünen als auch
der Nationalkonservativen solche Projekte bisher erfolgreich
blockiert haben.
Der Zeithorizont in der Politik schrumpft – die Erwartungen an Architekten und Planer steigen. Sie sollen die
Schweiz bauen, aber die Politik macht keine Vorgaben,
in welcher Schweiz wir eigentlich leben sollten, das
Land ist zerrissen, es herrscht ein Kulturkampf zwischen der Stadt und dem Land.
Noch nie, seit ich als Architekt tätig bin, hatte die Bevölkerung
so wenig Verständnis dafür, dass man Stadt immer weiterbauen muss. Dabei ist dies eine unvermeidliche Tatsache: Man
kann eine Stadt nicht einfach so lassen, wie sie ist, und konservieren, sonst stirbt sie. Wir müssen sie ständig verändern,
und dadurch verändert sich eben auch das Leben ihrer Bewohner. Dieser Prozess macht vielen Mühe, obwohl mittlerweile verschiedene Mitbestimmungsmodelle in der Planung
eingesetzt werden.
War das denn in der Schweiz mal anders?
Ich kann mich erinnern, wie mein Vater mir in den Sechzigerjahren die damals neue Basler Kunstgewerbeschule gezeigt
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DA S M AGA Z I N 17/201 5 und nicht ins Design des Gebäudes, das war immer unser Argument. Es gibt kein «nationales Design», um «nationale Identität» auszudrücken, wie dies noch an der Landi 39 mit den
Bauten von Hoffmann oder Meili versucht wurde. Bereits die
Expo in Lausanne von 1964 musste der damals bildmächtigen
Architektur der Moderne den Vortritt vor den nationalen Stilversuchen lassen, und in der heute globalisierten Welt sind Versuche, nationale Identität durch eine eigene Architektursprache zu schaffen, ohnehin zum Scheitern verurteilt. Für Mailand
schlugen wir deshalb standardisierte Pavillons in verschiedenen Grössen und Zusammensetzungen vor und grosszügige
Zeltdächer für die Promenaden und Plätze. Ausgestiegen sind
wir 2013, als klar wurde, dass es bezüglich der Pavillons die
gleiche Designschlacht geben sollte wie eh und je.
Können Sie den Masterplan beschreiben?
Die Form und Infrastruktur unseres Masterplans wird umgesetzt. Wie in der römischen Stadt wird es einen Cardo und einen
Decumanus geben, zwei Hauptachsen also. Die eine verläuft
von Norden nach Süden, die andere von Westen nach Osten.
Wir stellten uns vor, dass auf dem Cardo – also mitten auf dem
Hauptboulevard der Expo – ein langer Tisch steht, wo jedes
Land unmittelbar vor seinem Pavillon seine eigenen Produkte
aufträgt. In dieser Direktheit und Symbolik lag die Stärke unseres Konzepts: ein langer Tisch wie beim Abendmahl, an dem
die ganze Welt zu Gast ist. Getrübt wird das Konzept, wie gesagt, durch die individualisierten Länderpavillons.
Was bleibt nach der Ausstellung?
Wer weiss das? Das Problem der heutigen Politik in Italien ist
ihre grosse Unberechenbarkeit. Die Expo findet auf einem sehr
gut erschlossenen Gelände statt – ob die Gartenidee erhalten
werden kann, ist deshalb fraglich.
Die Expo 2015 wird eine Gelegenheit sein, sich besser
mit Mailand anzufreunden. Es fällt schwer, die Stadt
ins Herz zu schliessen, im Gegensatz zu Paris oder Rom
zum Beispiel.
Mailand ist nicht so hedonistisch wie Rom oder Neapel; aber
Mailand ist dennoch ein Mythos. Für uns Schweizer ist Mailand
die erste Stadt des Südens, ein Versprechen! Jeder kennt dieses
erwartungsfrohe Gefühl bei der Einfahrt in den grossartigen
Mailänder Hauptbahnhof! Und dann? Mailands Städtebau ist
in seiner monolithischen Kohärenz zwar faszinierend – eine
Fundgrube für Architekten –, aber es gibt in dieser Stadt wenig
«Leichtigkeit»: kein Wasser, keine Erhebungen, keine besondere Topografie. Mailand ist die Verkörperung der steinernen
Stadt.
Also genau das, womit in der Schweiz viele Mühe haben. Der antiurbane Reflex vieler Schweizer ist sehr
gross, obwohl die Verstädterung des Landes längst Realität ist. Weshalb ist das so?
Die Schweiz ist trotz zunehmender Urbanisierung nicht durch
die Urbanität ihrer Städte geprägt. Es gibt ja gar keine grosse
Stadt in der Schweiz und wird auch kaum je eine geben. Die
Schweiz ist heute eine vollständig urbanisierte Landschaft, in
der es keine wirklichen Städte, aber auch keine unberührte
Landschaft mehr gibt. Kann man das ändern? Und: Soll man das
ändern? Ich glaube, der Schweizer mag im Grunde seine Nach-
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R E C H T S: I WA N B A A N (2 X )
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DA S M AGA Z I N 17/201 5 — BI L DER L I N K S: C H R I S T I A N R IC H T ER S; M A RGH ER I TA SPI LU T T I N I;
«Gebäude müssen ins soziale Leben einer Stadt eingebettet sein.»
Prada Aoyama Gebäude in Tokio (Bild oben), Sammlung Goetz in München (Bild unten).
«Wir gehen jedes Projekt völlig frei an, so, als ob es das allererste wäre.»
Naturbad Riehen (Bild oben), Parkhaus 1111 Lincoln Road, Miami (unten).
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teure Prestigebauten, der klassische Wohnungsbau interessiert die gar nicht mehr.
Der einzelne Wohnungsbau ist weniger interessant als die
Konzeption eines ganzen Quartiers, wo verschiedene Architekten zum Zuge kommen. Das gibt es heute zwar auch, es ist
aber zum Aufgabenbereich grosser Investoren geworden – anders als bei den gründerzeitlichen, historischen Quartieren
unserer Städte. Der Grossinvestor baut grosse, zusammenhängende Blöcke, quasi aus einer Hand, während früher –
zum Beispiel im Gundeldingerquartier in Basel – jede einzelne
Parzelle von einzelnen Kleininvestoren, Familien etc. bebaut
wurde, was zu einer grösseren Vielfalt führte, die wir heute als
«schön» empfinden, obwohl die einzelnen Bauten nicht immer
so toll sind. Dieses Modell ist heute ökonomisch schwierig geworden, das heisst, das damit verbundene städtebauliche Dilemma ist nicht in erster Linie ein architektonisch-ästhetisches, sondern auch eines der wirtschaftlichen Veränderungen in unserer Gesellschaft.
Was wäre denn, rein theoretisch, die beste Lösung, um
dem Land baulich Kontur zu verleihen?
Mit einer radikalen Idee: Man kann nur noch dort bauen, wo
schon etwas steht, ein Parkplatz, eine Rabatte, ein verlassenes
Rangierfeld, eine unternutzte Bauparzelle etc., also an den vergessenen oder verwahrlosten Unorten unserer Städte. Solche
Szenarien untersuchen Pierre de Meuron und ich seit einiger
Zeit am ETH Studio Basel zusammen mit unserer Assistenz
und den Studierenden. Das ist nicht nur ein interessanter Wahrnehmungsprozess, weil wir viel Interessantes und Unbekanntes an alltäglichen Orten entdecken, es macht auch Potenziale
sichtbar, die wir alle unterschätzt haben und deren Neunutzung
eine politische Chance bedeutet.
Lassen Sie uns über die jüngste Publikation des ETH
Studios Basel reden. Sie und Ihre Kollegen zerpflücken
die These, wonach die Globalisierung alle Städte gleich
gemacht habe.
Natürlich gibt es in immer mehr Städten Starbucks, McDonald’s, Zara etc. – all diese globalen Konzerne eben. Dieses
Phänomen betrifft jedoch vor allem die Fussgängerzonen der
Innenstädte und die Geschäftszentren, Orte also, die ohnehin
nicht durch das gewöhnliche Alltagsleben der Menschen geprägt werden. Dort jedoch, wo das eigentliche Leben stattfindet, in den Wohnquartieren, Industriebezirken und an den
Stadträndern, haben sich Städte extrem unterschiedlich entwickelt, und dies oftmals gerade als eine Reaktion auf die Globalisierung. Im Verlaufe ihrer Geschichte werden Städte immer spezifischer.
Die gegenteilige These stammt von Ihrem Kollegen
Rem Koolhaas, er schuf den Begriff «Generic City», die
Stadt ohne Eigenschaften, und fand damit vor zwanzig
Jahren grosse Beachtung.
Die These von Koolhaas war seinerzeit wichtig: Sie war anregend, provokativ und vor allem plakativ; sie hat zu vielen guten Diskussionen geführt. Aber sie ist falsch. Die meisten
Thesen und Theorien haben sich im Verlauf der Architekturgeschichte als unbrauchbar erwiesen, und dennoch waren sie
einst wichtig, um die Debatte, wie man Städte bauen soll, über-
DA S M AGA Z I N 17/201 5 hat, voller Stolz auf den modernen Bau. Als kleiner Junge fand
ich das natürlich irrsinnig spannend. Wir gingen gern auf Baustellen! Es war reizvoll, dort zu leben, wo es modern war. Heute ist es doch eher umgekehrt, und diese kritische und skeptische Haltung ist auch verständlich, wenn man sich die Flut an
Hässlichkeit vergegenwärtigt, die sich in der Schweiz seit den
Sechzigern breitgemacht hat. Skepsis und Kritik sind nie
schlecht, schlecht sind hingegen die Lust- und Freudlosigkeit
und der Mangel an Bereitschaft, Neues zu wagen und willkommen zu heissen, auch wenn es grösser ist und anders als das,
was man zuvor gekannt hat. So wird die Planung in der Schweiz
paralysiert und zu einem freudlosen, technokratischen Geplänkel, wo es nur darum geht, auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner herumzureiten.
Der extreme Föderalismus, der beinahe Fetischcharakter hat, erschwert die Raumplanung in der Schweiz zusätzlich.
Der Föderalismus ist die unantastbare DNA der Schweiz – aber
auch der Föderalismus muss sich wandeln, wenn wir ihn erhalten wollen. Wir brauchen einen Föderalismus, der die gelebte Alltagsrealität besser abbildet: multikantonale Grossregionen und Metropolitanregionen, die in einem Wettstreit sind.
Eine starke Region Zürich reicht nicht, sondern schadet und
provinzialisiert die Schweiz. Genf und Basel, aber auch andere Städte sind gleichwertig zu fördern. Wir sind gefordert, die
Schweiz effizient und kompetitiv zu gestalten. Das weiss die
Politik, und die Landesplanung ist in der Art aufgestellt. Aber
dieses wirklich grundlegend föderalistische Bild der Schweiz
ist noch nicht wahrnehmbar und noch lange nicht in den Köpfen der Menschen angekommen.
Diese Diskussionen währen schon lange, es scheint sich
aber nicht viel zu bewegen; die Begeisterung für Neues
fehlt, es ist, als habe man den Glauben an den Fortschritt zumindest im Städtebau verloren.
«Stadt bauen» heisst eigentlich, den zukünftigen Ort für den
Menschen bauen. Was für ein Ort soll das sein, wie wird die
Zukunft aussehen? Je lebendiger diese Diskussion geführt wird,
je mehr Menschen, Quartiergruppen, Feuilletons, Fernsehformate, Schulen und Universitäten sich mit dieser Frage beschäftigen, desto mehr bewegt das unsere ganze Gesellschaft. Wir
wünschen uns mehr Debatte und nicht weniger. Debatte mit
Engagement und Pragmatismus, nicht mit dem Missmut und
der populistischen Voreingenommenheit, wie sie inzwischen
auch Lokalredaktionen wichtiger Tageszeitungen verbreiten.
Sie sind skeptisch, was die Zukunft der Raumplanung
in der Schweiz anbelangt. In einem letztjährigen Beitrag für die NZZ haben Sie sich fast satirisch geäussert.
In der Schweiz funktioniert Planung von oben nach unten nicht,
aber von unten nach oben auch nicht, weil wir zu gespalten sind.
Es herrscht eine grosse Uneinigkeit darüber, in welche Richtung
sich das Land entwickeln soll. Ausnahmen sind die grossen
globalen Firmen, die ihre Gelände städtebaulich verdichten
und in viel interessanterer Art entwickeln, als dies der Staat
oder Einzelinvestoren hierzulande zu leisten imstande sind.
Ein Vorwurf, der häufig an Ihre Zunft gerichtet wird,
lautet: Namhafte Architekten wie Sie bauen nur noch
haupt weiterzuführen. Es gab die ideale Stadt der Renaissance,
die Gründungsstädte des Mittelalters, revolutionäre Stadt­
utopien des 18. und 19. Jahrhunderts in Frankreich und Russland, Le Corbusiers «Ville radieuse». Wenn man heute genau
hinschaut, muss man feststellen, dass diese Theorien und Utopien die tatsächliche Entwicklung von Städten nicht zu erfassen vermögen; die Realität hat immer alles widerlegt. Alle
Städte des Römischen Reiches waren zum Beispiel gleich angelegt, selbst die meisten Häuser waren identisch. Und doch
haben sich alle im Verlauf der Geschichte ganz anders, eben
«spezifisch» entwickelt.
Welche Faktoren führen denn zu dem, was Sie als die
«Spezifität» der Städte bezeichnen?
Alle Städte werden im Verlauf ihrer Geschichte und Entwicklung von drei grossen Kräften beeinflusst: von ihrer Lage, also
dem Territorium, auf dem sie sich entwickeln; von den Machtstrukturen, in die sie eingebunden sind – diese sind zum Beispiel politischer oder ökonomischer Natur; und schliesslich
von dem, was meine Kollegen und ich als Differenz bezeichnen.
Darunter verstehen wir die Fähigkeit einer Stadt, sich zum
Beispiel ökonomisch zu diversifizieren oder kulturelle Vielfalt
zu erzeugen. Das Zusammenspiel dieser drei Kräfte zwingt
jede Stadt in spezifische Muster, welche diese Unterschiedlichkeit hervorbringen.
Es fällt auf, dass Sie skeptischer geworden sind gegenüber Grosstheorien. Sie plädieren für das reine Schauen, für einen unverstellten Blick sozusagen.
Uns interessieren das Denken und Schauen mehr als Theorien,
weil dies unsere alltägliche Praxis unterstützt. Wir sind jedoch
nicht theoriefeindlich; wir haben ja auch eine lange Geschichte mit dem Basler Soziologen Lucius Burckhardt, und Aldo
Rossi war einer unserer Lehrer an der ETH – auch er ein Mann
mit grossem Theoriegepäck.
Wir vergleichen Architektur gern mit einer Landschaft,
einer künstlichen Topografie, die für den Menschen gemacht
wird, damit er sich wohlfühlt. Dazu gehörten im Verlauf unserer Karriere zunehmend grössere, öffentliche und teilweise sehr
sichtbare Projekte in völlig unterschiedlichen Gesellschaften
auf dieser Welt. Dass viele dieser Projekte so gut funktionieren, das heisst von den Menschen einer Stadt angenommen
und «selbstverständlich» wurden, ist das für uns entscheidende Thema. Diese Vielfalt an unterschiedlichen Projekten
konnte nicht aus einer «Theorie» heraus entstehen, sondern
eher aus einer «Strategie» heraus: durch genaues, unvoreingenommenes Beobachten, naives Hinschauen sozusagen. Ein
Architekt muss einen Ort verstehen, bevor er ihn verändert.
Das ist eine grosse Herausforderung, denn die Veränderung
soll ja dauerhaft sein.
Herzog & de Meuron haben in den letzten Jahren sehr
sichtbare Objekte an prominenter Lage gebaut. Es war uns immer wichtig, nicht nur das Raumprogramm des Bauherren zu
erfüllen, sondern auch Öffentlichkeit zu schaffen; Orte, wo
der Mensch lokale Identität spürt, eine Atmosphäre erlebt und
dennoch mit der Welt verbunden bleibt. Gebäude müssen ins
soziale Leben einer Stadt eingebettet sein – nur so überleben
sie, nur so schafft ein Architekt auch Dauerhaftes.
Die Tate Modern ist ein Beispiel für einen solchen Bau,
der an einem eigentlichen Nichtort, der Southbank in
London, ungeheuer viel Öffentlichkeit geschaffen hat.
Ja, die Tate Modern veranschaulicht gut, was ich mit dieser dauerhaften Veränderung meine. Mit diesem Bau entstand ein
völlig neuer, öffentlicher Ort. Es ist nicht nur ein Museum, vielmehr bietet die Turbinenhalle als öffentliche Zone einen Treffpunkt für ganz London und für sagenhafte fünf Millionen Besucher jährlich. Viele gehen dorthin, bloss um in diesem Raum
zu stehen, der alle zwölf Monate mit einer neuen Grossinstallation eines Künstlers bespielt wird.
Was empfinden Sie denn noch, wenn Sie in der Tate sind?
Wir sind entspannt, wenn wir sehen, dass dieser Raum so gut
bespielt wird und so populär ist. Aber wir sehen es nicht als
«unser» Gebäude; wir haben keine so persönliche Beziehung
zu Gebäuden, sie sind zwar von uns, aber nicht für uns gemacht
und müssen ohne uns funktionieren.
Mal ganz grundlegend gefragt: Was ist das denn eigentlich – Architektur?
Es ist der Versuch, das Leben für den Menschen angenehmer
zu machen. Ohne Gebäude müssten wir draussen leben, hätten keinen Schutz vor Wind und Wetter und Feinden. Vor etwa
12 000 Jahren begannen Menschen sesshaft zu werden – seit
damals bemüht sich der Mensch, «Architektur» als eine dauerhafte Einrichtung zu schaffen, die ihm dient und vor allem
auch gefällt!
Wir sprachen von Städten, Metropolen und Agglomerationen. Lassen Sie uns den Massstab verkleinern. Was
ist das wichtigste Element der Architektur?
Schon nomadische Völker entwickelten Architekturen, etwa ein
Grab, eine Felsmalerei oder einen Zaun. Der Zaun – respektive
seine festere Form, die Mauer – ist vielleicht das grundlegendste Element der Architektur. Er unterscheidet eine Seite von der
anderen, definiert Innen und Aussen, trennt Dein und Mein.
Ohne Mauer gäbe es keine menschliche Zivilisation – nur das
Paradies kennt keine Mauer, weil alles eins war und weil es
keine Unterscheidung gab und diese auch nicht brauchte.
Menschen haben immer gebaut, auch ohne professionelle Architekten. Kann es sein, dass die Rolle der Architektur überschätzt wird?
Im oben erwähnten Buch des ETH Studios, «The Inevitable
Specificity of Cities», sind ja viele Städte nicht nur der Dritten
Welt beschrieben, in denen ganze Quartiere aus «informeller»
Planung entstehen, viele davon ohne Architekten und gar ohne
professionelle Baufirmen. Zahlreiche dieser Quartiere sind
nicht einfach Slums und Wohnorte benachteiligter Menschen,
sondern viel komplexere soziale, ökonomische und ästhetische Lebenswelten. In einem so stark regulierten Land wie
der Schweiz sind solche Orte unvorstellbar – und doch wäre
der Versuch, in unseren Agglomerationen versuchsweise Orte
für Verdichtung mittels Selbstregulierung einzurichten, interessanter als das «partizipative Bauen» der Siebzigerjahre, welches bloss biederes Design hervorbrachte. Die informellen
Quartiere von Nairobi, Niltal, Casablanca, Mexiko-Stadt oder
Belgrad sind ungleich lebendiger als viele von professionellen
Architekten gebaute Orte. 21
Wie rasch sehen Sie eigentlich, ob ein beliebiges Gebäude Qualität hat?
Man sieht einem Gebäude an, ob es mit «Ambitionen» daherkommt oder nicht. Gebäude können wie Menschen prätentiös
wirken. Deswegen ist der Selbstbau des Laien ja so interessant,
weil eine Absichtslosigkeit, ja eine Art Unschuld zum Ausdruck
kommt. Es gibt zwar auch hier diese erkennbaren ästhetischen
Vorlieben, die wir häufig als Kitsch abtun, wenn sie in den
Schweizer Vorgärten sichtbar werden. Informelle Quartiere
sind aber anders. Sie sind gebaute Notwendigkeit. Solche Häuser haben eigentlich immer eine Qualität. Hierzulande ist in
jedem Haus immer extrem viel Absicht oder Ambition erkennbar; man sieht sofort, wenn Architekten einen sogenannten
guten Geschmack haben. Geschmack ist aber eigentlich das
Schlimmste, besonders wenn er sich im ganzen Land ausbreitet – wie nun schon seit Jahren diese riesigen rechteckigen
Fensterscheiben, die uns wie blinde Augen aus rechteckigen
Kisten anstarren.
Sie sagten, es gebe keinen HdM-Geschmack. Wenn man
sich alle Ihre Arbeiten anschaut, kann man sogar sagen,
es gibt keinen HdM-Stil – keine Handschrift, die Ihre
Arbeiten sofort erkennbar macht.
Wir haben nie etwas angestrebt, das man als einen eigenen,
typischen Stil bezeichnen würde. Pierre de Meuron und ich haben stets – eigentlich seit unseren gemeinsamen Anfängen als
Primarschüler – das Experimentelle gesucht, weil es unserem
Charakter und unserer Neugierde entspricht. Auf erkennbaren Stil zu verzichten, war also zunächst keine bewusste Entscheidung. Erst nach einigen Jahren und unseren ersten Gebäuden haben wir das Potenzial und die Neuartigkeit dieser
Haltung verstanden. Wir erkannten die täglichen Schwierigkeiten, so völlig ohne selbst auferlegte Regeln immer neue Projekte anzugehen, wir sahen aber vor allem den enormen Freiraum, in den wir vorstossen konnten. Wir wollen uns bis heute
nicht selbst dazu versklaven, ständig ikonische Gebäude bauen zu müssen, die mehr an uns erinnern als an den spezifischen,
neuen Ort, der jeweils durch einen Bau geschaffen wird. So
gesehen, ist es nicht klug, für einen Stil oder einen Geschmack
zu stehen. Wir sagen das immer wieder, nicht aus Bescheidenheit oder Selbstkasteiung, sondern weil wir unabhängig bleiben wollen und neugierig sind auf Neues.
Es gibt keinen HdM-Stil, aber doch einen Weg, den Sie
und Pierre de Meuron in Ihren Arbeiten gegangen sind.
Ihre frühen Gebäude, wie etwa der Minimalismus des
DA S M AGA Z I N 17/201 5 — BI L D L I N K S: M A RGH E R I TA S PI LU T T I N I; R E C H T S: N AC Á S A & PA RT N E R S
«Pierre de Meuron und ich haben stets das Experimentelle gesucht.»
Steinhaus bei Tavole, Ligurien (links), Miu Miu Gebäude in Tokio (diese Seite).
Museums für die Sammlung Goetz, kann man verstehen als eine Antwort auf den Postmodernismus der
Achtzigerjahre, mit diesen Gebäuden, die aussahen wie
grosse Kaffeetassen oder Fassaden hatten, welche die
Akropolis zitierten.
Unsere Nähe zur Kunst und zu Künstlerfreunden hat unsere
architektonische Spur in den Anfängen sehr begleitet: der
amerikanische Minimalismus der Sechzigerjahre, Pop, aber
auch die deutsche Malerei und natürlich Beuys. Am stärksten
sind wir wahrscheinlich beeinflusst von der Konzeptkunst,
weniger vertreten durch einzelne Künstler als von der strategischen Macht der Konzepte. Jedes Projekt wird mittels einer
eigenen Strategie konzeptuell aufgestellt. Dieses Konzept muss
so gut sein, dass es am Schluss im fertigen Bau nicht mehr erkennbar bleibt; der Bau soll dann ganz selbstverständlich an
seinem Ort stehen, basta. Den Architekten und seine Ideen
werden Historiker eh einst ausgraben, wenn es dafür einen
Bedarf gibt.
Später kam dann das Ornament dazu, Sie versöhnten
sozusagen den Minimalismus mit dem Ornament. Diese Synthese lässt viele Ihrer Gebäude irgendwie flirrend und sehr organisch leicht erscheinen, Ihre Gebäude sind immer auch Objekte, die man so noch nie gesehen hat. Sie scheinen wie aus einer anderen Zeit zu sein,
als ob sie gigantische Figuren wären eines Brettspiels
extraterrestrischer Künstler.
Was man als Ornament bezeichnet, wird im gemeinen Sprachgebrauch oft falsch verstanden. Es geht nicht um Dekoration,
also nicht darum, eine Gebäudehülle irgendwie zusätzlich zu
verzieren. Das Ornament selbst konstituiert vielmehr den Bau,
schafft dessen Form. In unseren besten Bauten sind idealerweise Konstruktion, Raum und Ornament nicht mehr unterscheidbar, sie fallen zusammen. Wenn das mal erreicht ist, erklärt sich alles wie von selbst, Ornament, Raum und Konstruktion müssen nicht mehr begründet werden; es herrscht eine
grosse Ruhe.
Meiner Meinung nach sieht man das exemplarisch am
Prada-Aoyama-Gebäude in Tokio aus dem Jahre 2003.
Ein komplexes, aber gleichzeitig rational klares Gebäude, es ist wie ein irreales Lebewesen, das gleichzeitig
hart ist wie ein Diamant, aber dann doch wieder weich.
Es begann schon früher, mit dem Steinhaus in Ligurien, der
Dominus Winery in Napa Valley, sehr deutlich ist dieses Prinzip auch beim Parkhaus 1111 Lincoln Road in Miami oder beim
Olympic Stadium in Peking.
Die Skala Ihrer Arbeiten ist gewaltig. Ein grosses, komplexes Museumsprojekt entsteht in Hongkong, letztes
Jahr bauten Sie in Riehen das Naturbad, ein vergleichsweise winziges Projekt mit einer fast Zen-artigen Simplizität. Wie ist das möglich?
Ich habe versucht, das mit unserer Tabulosigkeit zu erklären,
die eben von festgelegten ästhetischen und theoretischen Maximen absieht. Wir gehen jedes Projekt völlig frei an, so, als ob
es das allererste wäre. Man sollte auch nicht immer gleich eine
Meinung haben. F I N N C A NON IC A ist Chefredaktor des «Magazins»; [email protected]
Der Fotograf T I L L JA N Z lebt in Berlin; www.tilljanz.com
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DA S M AGA Z I N 17/201 5 — F E R DI N A N D O S C I A N N A / M AGN U M PHO T O S; C ON T R A S T O/ DU K A S
72 STUNDEN
MILANO
In Mailand wird in einer Woche die Weltausstellung
eröffnet. Grund genug für eine Reise, mit frischem Blick
und ohne die üblichen Vorbehalte gegenüber
der Metropole. Der Italienkenner Dieter Bachmann
unternimmt einen neuen Annäherungsversuch.
Der eigentümliche Charme der Modestadt Mailand: Stazione Garibaldi.
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DA S M AGA Z I N 17/201 5 — BI L DE R I M U Z S: A L E S S A N DRO GR A S S A N I; FA BIO P OL O S A ; PAOL O VA L EN T I N I; R IC H A R D K A LVA R /M AGN U M PHO T O S – A PROJ E C T S U PP ORT E D BY I N T E S A S A N PAOL O
Wer Mailand besucht, landet irgendwann auf der Piazza Duomo (oben links). Doch für viele ist der
Bahnhof Milano Centrale und vor allem die Stimme des Sprechers, der die Ankunft und Abfahrt der Züge
ankündigt, das Erste, was sie von Mailand sehen bzw. hören (oben rechts). Porta Nuova (unten links):
Europas grösste Baustelle. Unten rechts: Ältere Männer, die auf jung machen, an der Via Montenapoleone.
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DA S M AGA Z I N 17/201 5 — BI L DE R : C A L O GE RO RU S S O / LU Z; F E R DI N A N D O S C I A N N A / M AGN U M PHO T O S
Hinein! – Nach Como noch eine Weile
schütteres Grün. Robinien und Erlen an
Bachrändern, Wiesen und Flusstälchen.
An den Bahngeleisen liegen Plastik und
Papier, Flaschen, leere Büchsen, Schie­
nenteile, Kabel, Zementplatten. Carimate, Seregno, trostlose Bahnhöfe; und irgendwann, nach einigem Bremsen und
Wiederanrucken, Lissone. Fabriken,
Werkhallen, leere Fensterhöhlen, zertrümmertes Glas. Monza. Dann endlich
Milano Centrale.
7,4 Millionen Einwohner im Ballungsraum, Wohnen, Arbeiten und der
wirre Nudelsalat von Strassen, in dem
die Italiener Weltmeister sind, 1,3 Millionen auf dem eigentlichen Stadtgebiet.
Wie es dazu kommen konnte, erzählt
unter anderem Luchino Viscontis «Rocco e i suoi fratelli» von 1960, das Familiendrama auf der Folie der Einwanderung
aus dem Süden: In den Fünfziger- und
Sechzigerjahren kamen Millionen.
Ich glaube mich an die Zeit zu erinnern, als man Mailand noch durchqueren
musste; zu erinnern an eine Ferienfahrt,
frühe Fünfzigerjahre, die, täusche ich
mich nicht, am Domplatz vorbeiführte
und an einem Polizisten auf einer Kanzel,
mit weissen Handschuhen; Hitze, Chaos,
Staub. Oder erinnere ich mich in Wirklichkeit nur an das Foto von Werner Bischof von 1946, als diese Verkehrskanzel
vor dem Dom eine Art Nabel der Welt
war – da gings nach Brescia, Verona, dort
nach Monza, Lecco und hier nach Piacenza, Bologna? Spürt man an seiner aufgehobenen Hand schon die Verzweiflung,
die Niederlage im Kampf gegen das Chaos? Oder auf jeden Fall das Chaos, das
man Mailand nachsagt?
Nun kam ich im Auftrag. Nahm mir
vor, tapfer zu sein. War auf jeden Fall neugierig. Das Wetter hatte, nach kalten Regentagen, ein wenig aufgehellt.
Countdown – Die Aufregung überall
war nicht überraschend. Die Pflästerer,
die Baumaschinen, die Gärtner, der
Lärm, der Staub in der Luft. Die verzwei-
felten Vorbereitungen für den grossen
Tag. Absperrungen, Umleitungen. Die
Fussgänger wie in Raubtiergängen um
die aufgebrochenen Strassenbeläge herumgeschleust.
Alte grosse Bäume schlugen grade
zögernd aus mit zartem Grün, sie waren
am Fuss frisch geharkt. Auffällig waren
die vielen neu gepflanzten, kahl noch und
mit Holzpfählen geschützt. Überall riesige Werbeflächen, auch am Dom, grade da. Samsung behauptete mit buntem
Geflimmer, sich um das kulturelle Erbe
Italiens zu kümmern.
Derweil wurde die Plattform vor dem
Domeingang grossflächig abgesperrt
und die Bodenplatten ersetzt. Warum erst
jetzt, die letzte Minute vor dem l. Mai?
Auf dem Corso Buenos Aires röhrten ein roter Ferrari und ein schwarzer
Porsche um die Wette, beide mit Tessiner Nummer. Sie wurden überholt von
schweren Motorrädern, die ihren Lärm
übertrafen. Die Gehsteige schwarz von
Menschen, ein so noch nie gesehenes
Völkergemisch. Der Ausländeranteil sei
20 Prozent. Aber es sah nach einer Mehrheit aus.
Von der Strassenbahn aus konnte
man den Betrieb wie aus einer Loge sehen. Die Trams fuhren langsam und blieben lange stehen; der öffentliche Verkehr
hat keinen Vortritt. Man hat Musse, die
Fassaden, Läden und Kneipen zu studieren.
Ein Büstenhaltergeschäft hiess Una
e Una.
In einem schönen lombardischen Innenhof mit Loggien ums ganze Quadrat
verkündete eine Sonnenuhr, sie zähle nur
die heiteren Stunden: Horam non numero nisi serenam. Sie lag im Schatten.
Zwischen den römischen Säulen vor
San Lorenzo sassen junge Zeittotschläger, «nullafacienti» oder aber «fannulloni»?, liessen den Ghettoblaster laufen,
tanzten und drehten Joints. Dann fuhr ein
blau-weisser Alfa aufs Trottoir, die Carabinieri filzten einen der Jungs. Die anderen sassen ungerührt, das fiel auf. Ich
setzte mich dazu, eine schüchterne Sonne schien.
Es fiepte in meiner Rocktasche. Ein
Schweizer Milano-Habitué, den ich gefragt hatte, was er an Mailand anziehend
finde, sandte eine SMS: «urban, im besten
sinn. die stadt lebt, weil die strasse lebt.
Die bars, die restaurants und blumen­
kioske. fürchterlichstes strassenbelagsgemisch. herrliches schaufenster-schauvergnügen.»
Eugenio Montale hat geschrieben:
«Mailand ist eine enorme Ansammlung
von Eremiten.» Gilt das nicht auch für
Paris?
Ich spürte eine grössere Unruhe, bebend vor Gegenwärtigkeit. Zum Beispiel
Porta Nuova, Europas grösste Baustelle.
Vor der Stazione Garibaldi wurden in den
letzten Jahren dreissig neue grosse Gebäude hochgezogen. Piazza Gae Aulenti
heisst der Ort, nach der berühmten Architektin und Designerin. Dort der Torre
Unicredit, mit 231 Metern das höchste
Gebäude Italiens.
Der Verlag Feltrinelli baut an der
Porta Volta ein neues Verlagszentrum,
mit wem wohl? Die Architekten heissen
Herzog & de Meuron. Dem Autor eines
brandneuen Stadtführers, Henning Klüver, «Gebrauchsanweisung für Mailand»,
hat Inge Feltrinelli, die tolle Inge, gestanden, ihr fehlten in Mailand vor allem
Grünanlagen und Bäume. Eigentlich sei
Mailand hässlich. «Aber ich liebe es.»
Am 7. April veröffentlicht der «Corriere della Sera» eine 342 Seiten starke
Design- und Möbel-Sonderbeilage, gratis, darin viel Werbung, aber auch eine
Menge über ein ganz neues Mailand;
Stichwort Rinascita, Wiedergeburt.
Anschauungsunterricht – So wie es
in Pisa eine Dummheit wäre, den Schiefen Turm zu meiden, nur weil alle hingehen, wäre es in Mailand ein Fehler, nicht
eine Weile in der Galleria Vittorio Emanuele II zu verbringen.
Der Notierer installiert sich in der
zweiten Reihe der Tischchen, die unter
In einem schönen lombardischen Innenhof verkündete
eine Sonnenuhr, sie zähle nur die heiteren Stunden:
Horam non numero nisi serenam. Sie lag im Schatten.
Am 1. Mai beginnt die Expo Milano. Der belgische Pavillon war Mitte März noch im Rohbau.
Die Pasticceria Cova (Bild unten) gibt es schon seit 1817.
28
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sich und in die vier Passagenfluchten,
die von hier abgehen, stehen klein in der
grossen Halle, schwache Schatten werfend wie auf einem Stich von Piranesi.
Der grösste Misanthrop muss sie nun
lieben, diese Menschheit; «es gibt keine
andere», hat ein anderer Misanthrop
gesagt. Am Ende steht er auf und gliedert
sich wieder ein in den nicht abreissenden Menschenstrom, die Dauerprozession der Sterblichen. 26 Euro für zwei Bier
und eine Menge Anschauungsunterricht.
Teatro Elfo – Es war Sonntagnachmittag, gegen halb vier. Ich musste mich beeilen, um rechtzeitig am Corso Buenos
Aires zu sein. Ich steckte das Notizbuch
in die Jackentasche und setzte das Theatergesicht auf. Nahm ein Stück weit die
famose Via Montenapoleone, Mailands
glitzernde Modemeile, und steuerte über
die Via Manzoni und Piazza Cavour auf
dem Weg zur Porta Venezia die Giardini
Indro Montanelli an, einen Park mit verschlungenen Spazierwegen.
An der Kasse sollte eine Karte für
mich hinterlegt worden sein. Das E-Mail,
das mich anmeldete, war nicht angekommen. Und nun bemerkte ich, dass ich
auch alle Ausweise und das Geld im Hotel hatte liegen lassen. Ich versuchte es
mit Dringlichkeitsfloskeln, bot meine
Uhr als Pfand, was freundlich zurückgewiesen wurde. Zwei Platzanweiser mit
Walkie-Talkies warteten auf den spät
Kommenden. Ich war der Letzte. Trat
von einem Fuss auf den anderen. Das
junge Mädchen hinter der Scheibe schaute mich an, druckte eine Karte aus, sah
mich noch einmal an, schob die Karte
unter Glas durch und sagte nur: Ecco.
Ich bedankte mich und sagte, dass das in
der Schweiz nicht möglich gewesen
wäre. Wir lächelten gemeinsam.
Als der Vorhang aufging, fand ich
mich auf gleicher Höhe mit der kreisrunden Bühne, deren hintere Hälfte von einem roten Vorhang begrenzt wurde. Ein
grosser Spiegel und ein Schminktisch,
Sessel links und rechts davon waren die
üppige Garderobe eines Theaters, nein,
einer Oper.
Thomas Bernhard, «L’ignorante e il
folle», «Der Ignorant und der Wahnsinnige» – in der Regie von Ferdinando Bruni und Francesco Frongia. Hinreissend.
Das Teatro Elfo entstand in einer Zeit,
als Leute wie Ariane Mnouchkine
(Théâtre du Soleil), Peter Stein (Schaubühne) oder Peter Brook (Bouffes du
Nord) das Theater als Kollektiv neu erfanden. Als in Mailand das Piccolo Teatro mit Giorgio Strehler und Paolo Grassi
noch der Magnet war, der so viele Theaterliebhaber in die Stadt zog. Das Elfo
blieb eigen-artig und unabhängig. 2010
eröffnete es in dem umgebauten, der
Stadt gehörenden ehemaligen Puccini
sein eigenes Theater mit drei autonomen Spielräumen: der Sala Shake­speare
(500 Plätze), der Sala Fassbinder (300)
und der Sala Pina Bausch (100). Man darf
die Namen als Hommage sehen, doch
auch als Programm.
Im Süden – Ich ging in der Gegend der
Navigli spazieren, jener Kanäle – oder der
traurigen Reste, die von ihnen geblieben
sind –, die einst die Wasser des Ticino, der
Adda, von Olona und Lambro bis in den
Stadtkern hinein schiffbar gemacht hatten. Einladend sahen die Cafés und Osterien aus, morgens um neun, mit Platz
zwischen den Häusern und dem Kanal;
da sassen auch schon Zeitung lesende
Leute entspannt in Korbstühlen. Innen
quadratische Tischchen und Stühle, eng
wie in Paris; auf der handgeschriebenen
Tafel vor der Tür signalisierten die Wirte
eine moderne Marktküche. Eine junge
Frau, Kellermeisterschürze und Jeans,
wässerte mit dem Schlauch das Pflaster
vor ihrem Lokal. Das alles sah sehr urban aus. Ich ging vorbei.
Ich dachte: Das Tückische an Mailand ist vermutlich, dass man mit ihm vertraut sein muss, um mit ihm vertraut sein
zu können.
Ich fuhr von der Darsena, der verwaisten Schifflände, mit dem Tram zur
Porta Romana, stieg in den 77er-Bus und
fuhr hinaus aus der Stadt, bis zur Endstation: Abbazia di Chiaravalle.
Im Süden war Mailand ganz anders
als im Norden. Neuere Wohngebiete und
ein grosser Markt, und nach den letzten
Häusern kam gleich das Land, Felder,
pappelgesäumte Flüsschen oder Kanäle.
Darüber ein grosser Himmel – Po-Ebene.
Wenige Kilometer östlich hätte man,
starke Nerven vorausgesetzt, Metanópoli besuchen können, la città del meta-
DA S M AGA Z I N 17/201 5 der roten Markise ein Draussen im Drinnen simulieren, nämlich Freiluft unter
dem gewölbten Glasdach. Hat also noch
eine Reihe von Tischen vor sich, mit den
entsprechenden Gästen, zum Beispiel
einem Gentiluomo, der eine gescheitelte, unfassbar gepflegte, über den Ohren
wie bei Clooney hochgeschorene Superfrisur ausstellt.
Davor fliesst der Strom der sich schiebenden, drängenden Menschenmenge –
Theatrum Mundi. Alle drei, vier Tischchen steht ein sauber gekleideter Kellner, weisse Kell­nerjacke und schwarze
Hosen, Goldknöpfe, schnalzt und lockt
gelegentlich ins Menschengewühl, das
vor ihm vorbeizieht. Accomodatevi!
Maulaffen feilhalten. Es wird frisch
gezapftes Nastro Azzurro gereicht, nebst
Chips und den viel zu grossen, den geschmacklosesten Oliven.
Am Nebentisch eine ranke Lateinamerikanerin, Ohrgehänge, ein in den
Nacken geschobener, riesiger weisser
Borsalino, für die der Kellner nun tausend unterwürfige Anbiederungen, Aufmerksamkeiten, Knickse und Balzschritte hat. Ja, bis zwei Galane sich zu der
Dame gruppieren. Balzender Kellner
zieht sich auf Zehenspitzen zurück.
Die Kinder im Menschenstrom sind
die Einzigen, die zum Glasdach hinaufsehen. Die alten Paare, vierbeinig im
Passgang, beladen mit Hekatomben vergangener, zu Gewohnheit gewordener
Tage, schauen zu Boden. Junge Verliebte,
denen man das Hotelzimmer ansieht, aus
dem sie kommen und auf das sie sich
schon wieder freuen.
Manche von denen, die vorbeiziehen,
lächeln, das bemerkt er plötzlich, der glotzende Müssiggänger, und hoch über allem, unter der zentralen Kuppel, von der
inzwischen flach stehenden, draussen
untergehenden Sonne beleuchtet, blinkt
in einem ihrer vier Zwickel eines der Mosaike, die über den tragenden Eckpilastern die Welt in vier Kapitel teilen, Amerika, Europa, Afrika und das nun aufleuchtende: Asien. Australien fehlt, als
überzählig aus der Wahl gefallen.
Unter der Kuppel, die auf die Grosse
Ausstellung hin begehbar gemacht wird,
auf dem herrlich ornamentierten Boden
vom Ende des 19. Jahrhunderts stehen
die Passanten, schauen um sich, unter
Ich dachte: Das Tückische an Mailand ist vermutlich,
dass man mit ihm vertraut sein muss, um mit ihm vertraut
sein zu können.
Letzter Reisläufer – «Nach Chinatown?», fragte der Taxifahrer, als ich
den Strassennamen nannte. «Ja, nur
noch Chinesen wohnen dort, wo Sie hinwollen», sagte der Mann. Und noch etwas Besonderes: «Wissen Sie, was?
Wenn die Chinesen sterben, werden sie
nicht bestattet – sie verschwinden einfach.» Rätsel fremder Völker. Wir bogen
von einer Piazza in die Via Bramante da
Urbino ein, und tatsächlich waren nun
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plötzlich alle Aufschriften in chinesischen Zeichen.
Kommst du zu den Chinesen?, das
hatte auch Humm schon am Telefon gefragt. Sein Atelier im obersten Stock eines ehemaligen Fabrikationsgebäudes
steht geschützt im Innenhof einer Blockrandbebauung.
Seit den Siebzigerjahren in Mailand,
wohnt und arbeitet Felix Humm hier, ein
Schweizer Grafiker in Mailand – vielleicht
der Letzte einer illustren Reihe von
Schweizer Reisläufern der Grafik und
des Designs. Der Schweizer, die in den
Jahren des wirtschaftlichen Booms, den
Sechzigerjahren, nach Mailand kamen,
prägend wurden bei Rinascente, Pirelli,
Olivetti, den Firmen im Aufschwung.
Vorbei die Zeiten, als Max Huber und
Lora Lamm in Mailand der Massstab für
gute Grafik und Typografie waren. Mit
anderen wie Serge Libiszewski als Fotograf, Hans Suter als Werbeunternehmer,
und als es noch Kunden gab, die auf die
neue rationale, hoch ästhetische Gestaltung setzen wollten. Humm war damals
unter den Jüngsten, bald mit grossen
Kunden – Birra Wührer, San Pellegrino,
Stefanel, Italtel, Volvo Italia, Zenith, Fiat,
Grafiche Boffi.
«Von der Werbung hatte ich aber
dann einmal genug», sagt er, der sich als
Typograf versteht, als Liebhaber der Lettern. Humm hat dann für Chasper Pult
die Identity des neuen Centro Culturale
Svizzero gemacht, des CCS, und jahrelang dessen Auftritte und Aussendungen
gestaltet. Er hat Ausstellungen gestaltet,
CD-Cover entworfen, Bücher designt –
bis hin zu Reto Hännys kürzlich erschienenem «Blooms Schatten». Er hat eine
Menge Preise kassiert, und er war als
Nachfolger von Bruno Monguzzi – «das
ist der grösste Grafiker, den die Schweiz
hat» – Lehrer an der Kunsthochschule in
Lugano.
Im Atelier unter dem Dach stehen
zwei MacBooks unter einer riesigen Palme. Auf seinen Tischen liegen, säuberlich ausgerichtet, Zeugnisse einer jahr-
NISSAN PULSAR
zehntelangen Arbeit. Es sieht ein bisschen aus wie eine Hinterlassenschaft.
In Mailand bleiben. Mit gut zwanzig
gekommen, an die siebzig geworden, da
kommt man nicht mehr so leicht weg.
Wir gehen essen, zu einem Sizilianer
unten an der Strasse, also mitten in China. Der Wirt bringt als Antipasto einen
frisch angerichteten Salat aus Orangen,
Zwiebelringen und Heringsstückchen.
Nordsee und Mittelmeer. Mitten in China sitzen wir in Mailand an der Heringsgrenze, irgendwo zwischen Stralsund
und Palermo.
Urbanes Urgestein – Und immer wieder das sanfte Zuklappen der Schwingtüren in den alten Kirchen. Ich war von
einem enttäuschenden Augenschein im
eben erst eröffneten Mudec, Museo delle
Culture, einer Art Völkerkundemuseum
mit unklarem Auftrag, ein Neubau, von
dem sich der Architekt, David Chipperfield, wegen eines kriminell verpfuschten Fussbodens distanzierte, durch die
lange Via Tortona zurückgegangen,
zentrumwärts. Über die Passerelle bei
der geradezu afrikanisch heruntergekommenen Stazione Porta Genova an
die nahe Porta Ticinese und dann nur
noch ein paar Schritte zu der hübschen
Piazza Sant’ Eustorgio.
Stiess die Schwingtür auf, ging aus
dem 21. ins 4. Jahrhundert zurück und
hatte eine der ehrwürdigsten Mailänder
Kirchen vor mir. Im 4. Jahrhundert sollen
dort die Reliquien der Heiligen Drei Könige aufbewahrt worden sein, bevor Barbarossa sie entführte. Mich fasziniert die
hinter der Basilika gelegene Cappella
Portinari aus dem 15. Jahrhundert, Einfluss florentinischer Architektur des 14.
Jahrhunderts – und in ihr der Sarkophag
des aus einer Katharer-Familie stammenden San Pietro Martire.
Der gewaltige Marmorsarg, in etwa
zwei Metern Höhe von acht Figuren getragen, welche acht Tugenden verkörpern. An der einen Ecke verblüffte mich
die Vorsicht (Prudenza) mit ihren zwei
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hat dort ab 1952 für Verwaltung, Infrastrukturen und Mitarbeiter eine Kunststadt mit heute 6000 Einwohnern aus
dem Boden gestampft – mit Bürotürmen, Wohnblocks, einer technischen
Hochschule nebst Sportanlagen und der
in Mailand offensichtlich unvermeidlichen Skulptur von Giò Pomodoro.
Nein. Es ging darum, zwischendurch einmal frischere Luft zu schöpfen.
Chiaravalle, das Zisterzienserkloster, roter Backstein, 12. Jahrhundert, steht mit
seinen Seitenschiffen breit wie eine brütende Henne im grünen Feld. Wenige Kilometer vom Moloch, in friedlicher Ruhe,
mit einem grossartigen Chorgestühl, einem herrlichen Kreuzgang.
Daneben wartete das Laghett. Einfache Trattoria, ländlich, für den Sommer eine Pergola mit Glyzinien. Im Innern die geräumige Gaststube. Weisse
Vorhänge, ein gesticktes, geschwungenes L in der Mitte. Das Essen unkompliziert, Pappardelle al sugo di brasato, Lenticchie e cotechino.
An einer langen Tafel ein Dutzend
älterer Herren, in Altmännerpullovern,
Prälaten in Zivil. Nur am Stehbündchen
am Hals sind sie als solche erkennbar.
Knuspriger Mandelkuchen und ein
Gläschen Vecchia Romagna. Die Schrecken der Stadt sind verblasst, und es eilt
keineswegs mit der Rückfahrt. Draussen
in der Sonne wartet der Fahrplan, hakt
seine Zwölfminutenintervalle ab, sagt
un­hörbar: Komm – oder bleib noch einen
Takt.
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Eine schwarze Rose für M. – Ging dann doch noch in
den Dom, die «grösste Kathedrale der Welt». Auf ihr Dach
hatte ich eigentlich gewollt. Aber ich war in Italien:
Ascensori fuori servizio. Zu Fuss wären es 750 Stufen gewesen.
Im Innern zermurmeltes Halbdunkel. Man bewundert sofort die Grösse. Gleich darauf misstraut man ihr.
Es ist wohl die Nötigung zum anfänglichen Staunen,
die verstimmt: der Imperativ des Glaubenmüssens in
diesem Bahnhof Gottes.
DA S M AGA Z I N 17/201 5 SPINAS CIVIL VOICES
Arbeitslosigkeit
mu ss verschwinden.
Gesichtern, von denen das eine vorwärts, das andere
aber rückwärts blickt: Es ist unsere Ängstlichkeit, dachte ich, die der Bildhauer meinte, gibt es das denn, Vorsicht als Tugend?
Der Innenhof des ehemaligen Klosters, auf den ich
hinaustrat, war Parkplatz und Fussballfeld, ein Netz für
Korbball fehlte nicht, Fahrräder standen da, vertrocknete Pflanzen in Kübeln. Ich spürte auch hier noch, nach
dem sanften Zuklappen der Kirchtür hinter mir, die Erleichterung, die andere Luft dort drin, Dankbarkeit für
den Zeitensprung, den so ein Gebäude verschafft. Man
kommt an solchen Orten an die tiefsten Ebenen der Stadt.
Kann süchtig werden nach so etwas.
Also ging ich weiter nach San Lorenzo und sah mir
an der linken Innenwand ein rührendes «Abendmahl»
an, die «Ultima Cena» eines Meisters, dessen Fresko
ganz klar Leonardos «Cenacolo» nachempfunden war.
Naiver und dadurch anrührend.
Ich hatte noch nicht genug von dieser ältesten Schicht
mailändischer Kultur und flanierte, indem ich Nebenstrassen benutzte, Via del Torchio, Via Lanzone und durch
diesen tessuto urbano, welcher wie ein Flickenteppich war
und so ganz anders als in den italienischen Innenstädten,
die wir wegen ihrer Kompaktheit anstaunen, ein architektonischer Flickenteppich, Stadtbild mit Brüchen, insofern
modern. Mittelalter, Ottocento; Faschismus und die Neubauten nach den Bombardements des Zweiten Weltkriegs.
An einem nasebohrenden Portier vorbei kam ich in
einen Innenhof des Dix-neuvième, hier eben Ottocento,
Brunnen, dunkle Ranken. Fassaden, hoch aufragend zu
einem fernen Himmel, wie Wohntürme, die eng zueinander standen – städtische Verdichtung; Nachbarschaft.
Ich kam schliesslich nach Sant’Ambrogio, noch einmal mailändisches Urgestein. Grosse Basilika, weitläufige Klosteranlage; die Kirche gebaut nach 1110 an dem
Ort, wo der Patron der Stadt, der heilige Ambrosius, am
5. April 397 beigesetzt wurde. Und trat über den wunderbaren Vorhof wieder hinaus in die Gegenwart, wo junge
Leute an der Sonne sassen auf den Steinbänken der
­Piazza Sant’Ambrogio, laut und ausgelassen, viele in
dunkler Luft und manche mit einem Lorbeerkranz auf
dem Haupt wie wiedererstandene Dantes: und mit Spumante, aufmüpfigen Sprechchören und viel Fotografieren ihren Studienabschluss feierten.
Vorsichtshalber steckte ich für diesen sündigen Einfall an
einer Seitenkapelle eine Kerze an.
In der Riesenkaverne lenkte eine weisse Skulptur den
Blick auf sich, scheinwerferbeleuchtet. Ein Werk von
Tony Cragg, namhaftes Mitglied des herrschenden Kunstbetriebs, ein weisser, wolkenartig in die Höhe gedrehter
Marmorgelato, dessen wichtigste Eigenschaft sein Gewicht zu sein scheint. «3400 Kilogramm Marmor» stand
gross angeschrieben auf jeder der Stelen, die links und
rechts flankierten. Es ging um Effekt, und einen solchen
hatte die Kirche offenbar in ihren Dienst stellen wollen,
Propaganda fide.
Inzwischen war die 70. Stunde Mailand angebrochen. Sollte ich noch etwas unternehmen? Da bat mich
das Museo del Novecento gleich neben dem Dom zu sich
herein. Der Ruf dieses wunderbaren Palazzo dell’ Arengario mit seinen zwei hohen Rundbogen, in den Dreissigerjahren errichtet – ja, Mussolini –, vor wenigen Jahren
umgebaut und als Galerie der italienischen Kunst des
20. Jahrhunderts gewidmet. Der Doppelbau in diesem
spezifisch mailändischen De-Chirico-Licht, klar, hell,
kantig – grosse Architektur.
Mir war zum Abschied ein Geschenk zugedacht. Italienische Malerei des 20. Jahrhunderts – war die nicht,
ausser im Futurismus, nur marginal oder epigonal gewesen? Diese Fünfziger- und Sechzigerjahre, als Italien mit
etwas ganz anderem, dem Film nämlich, glänzte?
Nun kam ich in eine filigran auf fünf Stockwerken arrangierte Galerie, in der eine ungewohnte Ruhe herrschte. An einem Mittwochvormittag kaum Besucher. Die
Bilder schienen untereinander zu flüstern und erzählten
die Geschichte eines künstlerischen Sonderwegs, von Zeit
und Krieg, von Tradition und Experiment. Im Einstiegsbereich, der wie im New Yorker Guggenheim sich hochdrehenden Spirale, hing eine Ikone von 1901: «Il Quarto
Stato» von Pellizza da Volpedo. Das berühmte Breitleinwandpanorama der (Land-)Arbeiter, die auf den Betrachter in entschlossen geschlossener Reihe zugehen, ja, das
aus dem Vorspann von Bertoluccis «Novecento».
An der Stirnwand des letzten Saals hing eine grosse
Leinwand von Kounellis, dem Griechen, der seit Jahrzehnten in Rom lebt: eine schwarze Rosensilhouette auf
beigem Grund, annähernd zwei auf drei Meter ...
Kounellis’ Rose, Design plus Rätsel, passte in diese
Stadt. Sie sagte, zurückhaltend: auf Wiedersehen.
Das wird kein Problem sein, sagte ich.
In der 72. Stunde Mailand stand ich auf der Rolltreppe, die in Milano Centrale, dem assyrisch-mailändischen Monster, zu den Bahnsteigen hinaufführt, und ich
spürte, wie nun auch ich lächelte in dieser, wie man mir
sagt, von so vielen gehassten Stadt. Schwimmen und
Kontaktlinsen – das geht!
Wussten Sie, dass Kontaktlinsen im Auge schwimmen?
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Genauer gesagt auf einem feinen Tränenfilm leicht über
der Hornhaut? Daniel Ulrich erklärt es Ihnen aber gerne
genauer. Der Optometrist hat sich mit Hingabe und
Faszination auf Kontaktlinsen spezialisiert. Der leidenschaftliche Experte analysiert Fehlsichtigkeiten präzise
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gestochen scharf sehen.
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SAH BERN
Arbeit und Integration
Der Autor DI ET ER BACH M A N N lebt in Umbrien und Zürich.
Eben erschien sein neuer Roman «Die Gärten der Medusa»
im Limmat-Verlag. [email protected]
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Der Vater tötet die Mutter im Streit.
Lügt den Kindern vor, sie habe ihn verlassen.
Jahrelang bleibt der Mord unentdeckt –
bis der Tochter Zweifel kommen.
MAMAS
LEICHE IM
KELLER
DA S M AGA Z I N 17/201 5 — BI L D: PR I VAT
Von Malte Herwig
Das Unglück der Familie Paulus begann vermutlich lange vor
dem 14. Februar 2008. Wer weiss das schon? Die Nachbarn jedenfalls ahnten nichts. Die Ehe galt als vorbildlich. Oft sah man
das Paar Händchen haltend durch das Dorf spazieren.
Sicher, es gab ab und zu Streit. Der Mann, sagte die Frau, arbeite zu viel und kümmere sich nicht genug um die Kinder. Die
Frau, sagte der Mann, habe Ansprüche, und irgendwoher müsse das Geld für teure Kleider und Möbel schliesslich kommen.
Doch zu Handgreiflichkeiten kam es nie im Haus der Familie Paulus. Brauste die Mutter auf, gab der Vater schnell klein
bei. «Er war immer ruhig, nett, freundlich», wird sein Sohn
später vor Gericht aussagen.
Nach zwanzig Jahren Ehe, nach einem Streit am Morgen
eines Februartages vor sieben Jahren, erwürgt der Mann seine
Frau. Er betoniert die Leiche im Keller ein, in den Sockel eines
Weinregals, dessen Bau sie noch zusammen geplant haben.
Den gemeinsamen Kindern, 15 und 18 Jahre alt, erzählt er, die
Mutter habe ihn verlassen. Bei der Polizei erstattet er Vermisstenanzeige, zweimal.
Dann passiert fünf Jahre nichts.
Die Nachbarn glauben ihm. Die Polizei glaubt ihm. Die
Kinder glauben ihm – was bleibt ihnen auch übrig?
Das Leben geht weiter. Die Kinder werden erwachsen. Der
Mann heiratet wieder. Er hat eine Leiche im Keller.
Er kümmert sich jetzt mehr um die Kinder. Vor allem zur
Tochter entwickelt sich ein enges Vertrauensverhältnis. Der Vater sei fünf Jahre lang «ohne Wenn und Aber» für sie da gewesen, erzählt die Tochter. Ganz anders als früher. Da habe der Vater immer so viel gearbeitet, dass er kaum Zeit für die Familie
hatte.
Kann man das, will man das glauben? Ist es zu fassen, dass
ein Mann zum guten Vater wird, nachdem er die Mutter ermordet hat? Dass er es schafft, den Mord zu vertuschen und ein
Lügengebäude zu errichten, in dem er fortan mit seinen Kindern lebt, als wäre nichts geschehen?
3500 Einwohner hat Ittenbach bei Königswinter. Einfamilienhäuser, hingewürfelt zwischen grüne Hügel am Rhein.
Spiessige Vorstadtidylle, heile Welt. Hier kennt jeder jeden –
glauben die Leute wenigstens.
Bei der Kinderkirmes hängen die Dorfbewohner jedes Jahr
eine Stoffpuppe an den Maibaum. «Um die bösen Geister zu
vertreiben», erklärt Christina Junghans, die Tochter von Gerd
und Sigrid Paulus. Junghans sitzt im Garten ihrer kleinen WG
in einem Nachbarort von Ittenbach und raucht. Sie war 15, als
der Vater ihr und ihrem Bruder erklärte, die Mutter sei verschwunden. Die Kinder sind damals schon auf der Heimfahrt
im Schulbus, als der Vater sie anruft: Sie sollen vorher aussteigen und in einem Restaurant zu Mittag essen. An der Haltestelle wartet der Vater allein auf sie.
«Papa, wo ist Mama?», fragt die Tochter.
«Mama ist abgehauen.»
Gerd Paulus wirkt weder aussergewöhnlich traurig noch
aufgebracht. Er spielt seine Rolle perfekt, wie immer in den
nächsten Jahren.
«Ich dachte, sie hat vielleicht einen Kerl kennen gelernt,
der Kohle hat», sagt Christina Junghans. Ein Bild aus glücklichen Tagen: Familie Paulus – Tochter Christina, Mutter Sigrid, Vater Gerd
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Heute ist sie 22, und sie hat einiges gelernt in der sehr kurzen
Zeit, die sie zum Erwachsenwerden hatte. Zum Beispiel, dass
manchmal alles von einem selbst abhängt und man nie aufgeben darf, nach der Wahrheit zu suchen. Selbst wenn einem der
eigene Vater und die Polizei erklären: Gibs auf, es ist sinnlos.
Es stimmt: Die Mutter hatte Ansprüche. Den Kindern sollte es gut gehen. Deswegen stritten sich die Eltern oft über Geld.
Vielleicht kann ein Kind von 15 Jahren sogar schon verstehen,
dass die Mutter den Vater wegen solcher Dinge verlässt. Aber
dass die Mutter auch das Kind verlässt, das kann und will ein
Kind nicht verstehen.
«Ich habe mich immer gefragt», sagt Junghans, «ob ich
daran schuld gewesen bin. Warum hat sich die Mutter nicht
einmal gemeldet, wenn wir Geburtstag hatten oder Weihnachten war?»
Während der Vater im Keller das Weinregal zubetoniert,
baut er darüber sein Lügengebäude, als wäre es ein Eigenheim.
Er will sie beschützen vor der Wahrheit, dass ihr Vater die
Mutter umgebracht hat. Und er ist zu feige, ein Geständnis abzulegen.
Zwei Wochen nach der Tat erfindet der Vater wieder eine
Lüge. Die Mutter, erzählt er den Kindern, sei zurückgekommen,
als sie in der Schule waren. Zwei Männer mit einem Lieferwagen hätten ihr geholfen, ihre Sachen fortzubringen.
In Wirklichkeit verkauft der Vater heimlich die Habseligkeiten der Mutter. Der Schmuck geht an den Juwelier zurück,
ihr Handy, eine Damenhandtasche und ein Paar Schuhe versteigert er bei Ebay. Er fälscht die Unterschrift seiner Frau und
überweist Geld von ihrem Konto, um die Schulden der Familie zu bedienen. Er ist ein guter, ein fürsorglicher Lügner. Auch
auf dem Kindergeldantrag für seine Tochter fälscht er die Unterschrift der toten Mutter.
Niemand ausser den Kindern scheint die Mutter zu vermissen. «Wir haben Weihnachten so gefeiert, als wäre sie nie
da gewesen», erzählt Christina Junghans.
Nur eine Schwester der Mutter habe den Vater einmal angeschrien: Du hast sie umgebracht und im Garten vergraben!
Aber das war auf einer Feier, die Tante war betrunken, und
keiner nahm sie ernst.
Der Vater baut sein Lügengebäude aus. Er zimmert, malt
und mauert, wann immer eine Ecke darin einzustürzen droht.
Die Polizei fahndet nicht nach der Frau. «Erwachsene, die im
Vollbesitz ihrer geistigen und körperlichen Kräfte sind, haben
das Recht, ihren Aufenthaltsort frei zu wählen, auch ohne diesen den Angehörigen oder Freunden mitzuteilen», heisst es
lapidar auf der Internetseite des Bundeskriminalamts. Es sei
nicht Aufgabe der Polizei, Aufenthaltsermittlungen durchzuführen, wenn keine Gefahr für Leib oder Leben vorliege.
Immer am 14. Februar backt die Tochter Apfelstrudel. Der Tag,
an dem die Mutter verschwand, wird ihr Muttertag.
2009 dann ein Hoffnungsschimmer. Auf der Polizeiwache
teilt man der Familie Paulus mit, die Personalien einer Frau
namens Sigrid Paulus seien bei einer Verkehrskontrolle in
Düsseldorf aufgenommen worden. Doch die Spur läuft ins
Leere. Weitere Informationen über die Person gibt es nicht.
Der Vater hält es für einen Wink des Schicksals. Nun steht sein
neues Haus auf festem Fundament.
Wenig später lernt er eine neue Frau kennen, die Ende
2010 zu ihm zieht. Christina zieht aus, bald darauf heiratet sie.
Dass sie selbst zu ihrer Hochzeit kein Lebenszeichen von der
Mutter erhält, kann sie nicht verstehen. Sie kann es sich nicht
mehr anders erklären: Der Mutter muss etwas zugestossen sein.
Sie wendet sich an RTL und bittet den Sender, dem Verschwinden ihrer Mutter nachzugehen. Der Vater widersetzt
sich nicht. Falls die Wahrheit herauskommt, soll es so sein.
Ende 2012 leitet die Polizei endlich Ermittlungen ein – weil
die Tochter hartnäckig bleibt und sich nun auch das Fernsehen für den Fall interessiert.
Die Familie tritt in mehreren Sendungen auf, und der Vater erklärt unter Tränen, wie seine Frau verschwand. Einer
Boulevardzeitung sagt er, die Polizei habe ihn darüber informiert, dass der Ehemann meistens der Verdächtige sei: «Aber
wenn ich ein reines Gewissen hätte, meinten sie, müsse ich
mir ja keine Sorgen machen.»
Wenn die Tochter und ihr Ehemann zu Besuch sind, geht
Gerd Paulus mit dem Schwiegersohn in den Keller, um Wein zu
holen. Er lässt sich dabei nichts anmerken.
Der Verdacht ist ein Puzzle mit tausend Teilen. Es dauert
lange, bis sich alles zu einem Bild zusammenfügt. Man braucht
Geduld und Ausdauer. Christina Junghans ist zwanzig Jahre alt,
als sich ihr Vater im Frühjahr 2013 vor dem Amtsgericht Königswinter von seiner seit fünf Jahren verschwundenen Ehefrau
scheiden lässt, um seine neue Partnerin heiraten zu können.
Aber die Tochter traut sich jetzt, Dinge zu denken, die sie
früher nicht ausgehalten hätte: Vielleicht ist die Mutter tot,
vielleicht hat sie jemand umgebracht. Aber wer? Im Mai geht
Christina Junghans zum ersten Mal zur Mordkommission. Als
ihr die Beamten sagen, dass ihr Vater verdächtig sei, will sie es
zuerst nicht glauben. Das Puzzle ist noch nicht fertig. Aber sie
arbeitet weiter daran. Die Staatsanwaltschaft Bonn leitet ein
Verfahren gegen Unbekannt ein. Im Oktober zieht sie nach
der Trennung von ihrem Mann wieder in ihr Elternhaus – in
ein Zimmer direkt neben dem Keller, in dem der Vater ihre
Mutter einbetoniert hat. «Mein Vater hat gesagt: Warum
willst du ausgerechnet in den Keller? Da ist es kalt und feucht.
Komm doch nach oben.»
Eine Schwester der Mutter habe den Vater einmal angeschrien:
Du hast sie umgebracht und im Garten vergraben!
38
Doch Christina Junghans lässt zum ersten Mal den Gedanken
zu, dass ihr Vater die Mutter ermordet haben könnte.
Hat er sie vielleicht im Garten begraben? An der Stelle, wo
der Hund immer gescharrt hat, worauf der Vater dort einen
Steingarten anlegte? Die Tochter geht wieder zur Mordkommission.
«Mein Vater hat sich früher nie für den Garten interessiert», sagt Junghans und zündet sich noch eine Zigarette an.
Etwas über ein Jahr ist es her, aber sie wirkt gefasst, während sie
von dem Moment berichtet, in dem ihr Leben zusammenbrach.
Sie ist allein zu Hause, als am Morgen des 30. Oktober
2013 Polizeibeamte mit schwerem Gerät und einem Durchsuchungsbefehl anrücken, um den Garten mit Leichenspürhunden abzusuchen. Als der Vater wenig später in Begleitung eines
Polizisten erscheint, umarmt er seine Tochter wortlos. Dann
führt er die Beamten in den Keller und zeigt auf das Weinregal.
Christina Junghans blinzelt jetzt nachdenklich in die Sonne. An einer Kette um ihren Hals hängt der Ehering, den die Gerichtsmediziner am mumifizierten Leichnam der Mutter fanden. Die Wahrheit, so schrecklich sie ist, kann auch befreiend
sein. «Heute weiss ich, dass Mama mich nie verlassen hat.»
Das Geld für das Begräbnis der Mutter muss sich Christina
Junghans zusammenbetteln. Einige Dorfbewohner spenden.
Am Tag der Bestattung wetten die Boulevardreporter, wer als
Erster ein Foto von der Tochter schiesst.
Sie ist die Tochter des Opfers, aber im Dorf behandeln sie
alle als die Tochter des Täters. Wenn sie in den Supermarkt geht,
tuscheln die Leute hinter ihrem Rücken. «Alle fragen immer
nur: Wie gehts dem Vater?», erzählt Junghans. «Am liebsten
würde ich einen Gedenkstein auf den Marktplatz stellen, damit die Leute sich erinnern: Da war auch mal eine Frau!»
Ein Drittel aller Gewaltopfer hat mit posttraumatischen
Belastungsstörungen zu kämpfen. Doch die Chancen stehen
besser, wenn sie innerhalb von 24 Stunden therapeutische
Unterstützung bekommen. Christina Junghans hat das Glück,
gleich nach Entdeckung der Tat auf den Notfallseelsorger Albrecht Roebke zu treffen, einen 47-jährigen Geistlichen, der
Motorrad fährt und Ohrringe trägt.
Als er Junghans besucht, rauchen sie erst mal eine. Der
Seelsorger findet einen Draht zu der traumatisierten Tochter
– und ist beeindruckt von ihrer Kraft. «Ich habe sie sofort als
sehr starke Person erlebt», sagt Roebke. «Sie wusste, wo sie
Hilfe braucht, und hat sie sich gezielt geholt.»
Mitunter können Menschen an persönlichen Katastrophen
auch wachsen. Psychologen sprechen dann von posttraumatischer Reife. «Aber das dürfen die Betroffenen nicht zugeben», sagt Roebke. «Die Leute erwarten ja, dass man daran
zerbrechen muss.»
Schon im November macht Christina Junghans wieder beim
rheinischen Karneval mit. Sie hat sich vorgenommen, nicht zu
zerbrechen. Schliesslich hat sie immer geahnt, dass die Mutter
sie nicht einfach verlassen hat. «Aber sie musste erst erwachsen
werden, um den Gedanken zulassen zu können, dass ihr Vater
der Mörder der Mutter ist», sagt Roebke.
Den Kontakt zum Vater hat sie trotz allem nie abgebrochen.
Es stimmt ja, sie ist auch sein Kind. «Wenn irgendjemand anders meine Mutter getötet hätte, wäre das leichter.»
Sie hat ihm ins Gefängnis geschrieben: «Ich bin jetzt Vollwaise.» Aber sie hat ja auch noch Fragen an den Vater. Zum Beispiel: «Papa, warum hast du Mama umgebracht?»
Der Vater schreibt zurück: «Das ist das, was ich mich selbst
auch immer frage … Aber auch ich weiss es nicht und werde
wohl auch für mich nie eine Antwort finden. Und somit auch
nicht für Dich. Es tut mir leid!»
Das Erste, was einem an Gerd Paulus auffällt, sind die gepflegten Hände. Es sind Kellnerhände, dienstfertige Hände, die
Fingernägel perfekt manikürt. Ungewöhnlich für den Insassen
einer Haftanstalt. «Die Hände sind das Erste, was der Gast
sieht», sagt Gerd Paulus, in einem früheren Leben Gas­tronom,
Ehemann, angesehener Familienvater.
Der 53-Jährige ist bei Mithäftlingen und Wärtern in der
Justizvollzugsanstalt Köln beliebt, weil er verlässlich ist und
keine krummen Dinger dreht. Er hat sich schnell eingelebt und
macht als Hilfsarbeiter bei der Essenausgabe mit. Er arbeitet
gewissermassen wieder in seinem Metier. Anders als Berufskriminelle neigen Affekttäter hinter Gittern weniger zu Straftaten. «Sie gelten bei der Knastleitung als zuverlässig, denn sie
haben genug», erklärt Paulus.
Wen man auch fragt, die Leute, die Gerd Paulus persönlich
kennen, beschreiben ihn als stillen, freundlichen Mann. Keine
Drogen, kein übermässiger Alkoholkonsum. Einer, der immer
hart gearbeitet hat und der, wenn es Probleme gab, noch härter arbeitete.
Er ist kein Mensch, der aus sich herausgeht. «Als Kinder
mussten wir viermal sagen ‹Wir lieben dich›, bis er es auch
sagte», erinnert sich seine Tochter Christina.
Ganz anders Sigrid Paulus. Die temperamentvolle Frau
hat Ansprüche und zögert nicht, diese gegenüber dem Mann
geltend zu machen. Gleichzeitig gilt sie als Familienmensch
und liebevolle Mutter. Sie ist immer für die Kinder da.
Als Sigrid und Gerd 1988 heiraten, gibt Gerd Paulus seine
gut dotierte Stellung in Düsseldorf auf, weil Sigrid in ihre Heimat nach Bonn zurückwill. 1989 ziehen sie nach Ittenbach und
machen sich mit einem Restaurant selbstständig. Erst wohnen
sie in einer Zweizimmerwohnung über dem Betrieb. Als 1990
der Sohn geboren wird, zieht die Familie auf Drängen der Frau
Aber das war auf einer Feier, die Tante war betrunken,
und keiner nahm sie ernst.
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auf das Erscheinungsbild der Familie. Die Kinder sollen Markenkleidung tragen, und der Familienwagen muss ebenso standesgemäss sein wie die Einrichtung des Hauses.
Dem Vater steht das Wasser längst bis zum Hals, als er zu
tricksen beginnt. Dreimal wird er von 2004 bis 2007 wegen
Betrugs und Urkundenfälschung verurteilt.
Die Kinder und Nachbarn haben von alldem keine Ahnung.
Seine Frau aber gibt dem Mann die Schuld für die beruflichen
Fehlschläge. Wenn die Post unbezahlte Rechnungen und Mahnungen bringt, macht Sigrid Paulus ihrem Unmut Luft und beschimpft ihren Mann. Am Ende belaufen sich die Schulden auf
80 000 Euro.
Er lässt sich nicht anmerken, in welchen Schwierigkeiten
die Familie steckt. Nach aussen bleibt er fröhlich und zuvorkommend, «wie man in der Gastronomie halt ist». Seine eigenen Gefühle stellt der Vater zurück, seine Unzufriedenheit
schliesst er in sich ein. Wenn er überhaupt etwas kritisiert, dann
sachlich.
Seine Frau hingegen macht ihm auch vor den Kindern immer wieder lautstarke Vorwürfe und droht ihm einmal auch
mit Scheidung. Gerd Paulus nimmt das nicht ernst. Schliesslich
liebt er seine Frau und die Kinder und kann sich unmöglich
vorstellen, dass sie ihn verlässt. Wenn die Frau wieder einmal
schimpft, versucht er zu beschwichtigen. Streit ist ihm zuwider,
erst recht vor den Kindern. Lieber gibt er nach.
Schliesslich muss auch Sigrid Paulus eine Arbeit aufnehmen. Beide Eheleute heuern bei einer Leiharbeitsfirma an,
die Eventshows anbietet. Im Jahr vor dem Mord arbeiten Sigrid
und Gerd Paulus gemeinsam auf einem Rheinschiff, das KrimiDinner anbietet. Die Schichten sind lang, der Mann ist Vorgesetzter seiner Frau. Als Sigrid Paulus ihren Mann um Urlaub für
ihren Geburtstag bittet, lehnt der ab. Das Geld reicht hinten und
vorne nicht. Obwohl sie hart arbeiten, erdrückt sie die Schuldenlast.
Doch was sie auch versuchen, Gerd und Sigrid Paulus
scheinen kein Glück zu haben. Anfang 2008 geht der Veranstalter pleite, und die beiden sind wieder arbeitslos.
Nun sitzen sie 24 Stunden täglich zu Hause. Die letzten
Gehälter stehen noch aus, die Ersparnisse reichen nur für ein
paar Wochen. Gerd Paulus muss sich schnell einen neuen Job
suchen, was im Winter nicht leicht ist in der Gastronomie. Seine Frau macht ihm Vorhaltungen: Er gebe sich nicht genug
Mühe, eine angemessen bezahlte Stelle zu finden. Er sei ja noch
nie in der Lage gewesen, seine Familie anständig zu ernähren.
Am 14. Februar 2008, Valentinstag, steht der Vater wie
immer um sechs Uhr auf und macht Frühstück für die Kinder.
Danach legt er sich wieder zu seiner Frau und schläft weiter.
Um neun Uhr stehen beide auf und gehen ins Bad.
Während Gerd Paulus vor dem Waschbecken steht,
macht seine Frau ihm lautstarke Vorwürfe. Er müsse nun endlich eine neue Arbeit finden, aber dazu sei er wohl unfähig.
Der Mann bleibt ruhig und wendet ihr den Rücken zu.
Wie oft hat er das schon gehört. Aber als seine Frau aus der
Dusche tritt, schimpft sie weiter und stösst ihn von hinten an.
«Sie kam aus der Dusche raus, es war wieder irgendwas»,
erklärt Gerd Paulus später. «Sie brüllte und machte Terz, und
dann hat es bei mir Klick gemacht. Ich wollte einfach nur meine Ruhe haben, ich konnte das Gebrülle einfach nicht mehr
hören.»
Der Mann dreht sich um – «Warte doch mal!» – und stösst
die Frau von sich. Sigrid Paulus rutscht auf dem nassen Badezimmerboden aus und schlägt sich den Hinterkopf an der Dusche an. Wütend springt sie auf und packt seine Oberarme.
Ein Streit, ein Unfall – dabei hätte es bleiben können. Sigrid
Paulus hätte ihren Worten Taten folgen lassen und die Scheidung einreichen können. Gerd Paulus hätte seine Frau festhalten und beruhigen oder das Badezimmer verlassen können.
An die Tat habe er keine Erinnerung, sagt der Vater: ein
Blackout. Als er aufgewacht sei, habe vor ihm seine tote Frau
gelegen.
Kann man einem Menschen glauben, dass er sich für einen
Moment in jemand ganz anderen verwandelt und wie in Trance eine Tat verübt, die ihm niemand zutraut? Die Rechtsprechung kennt die verminderte Schuldfähigkeit bei Tätern, die
im Wahnsinn oder Rausch handeln.
Der Gerichtsmediziner aber stellt fest, dass Gerd Paulus
den Hals seiner Frau drei Minuten lang zugedrückt hat – so
brutal, dass er ihr dabei den Kehlkopf zerquetschte. «Nachdem
der Angeschuldigte keinerlei körperliche Reaktionen mehr
wahrgenommen hatte», vermerkt das Gerichtsprotokoll,
«fühlte er nach ihrem Puls und verblieb, ohne einen Notarzt
oder die Polizei zu verständigen, nach seinen Angaben noch
etwa dreissig Minuten im Badezimmer und überlegte, wie er
den leblosen Körper aus dem Badezimmer verschwinden lassen könnte.»
Der Sachverständige vor Gericht kommt zu einem eindeutigen Ergebnis: Keine Affekthandlung, der Angeklagte ist
voll schuldfähig. Am 17. März 2014 fällt das Urteil: acht Jahre
Freiheitsstrafe wegen Totschlags. Das Gericht hält Gerd Paulus
sein Geständnis zugute und glaubt ihm, dass er seine Frau spontan im Streit erwürgt hat – deswegen keine Verurteilung wegen Mordes.
Wie soll eine junge Frau nun damit umgehen, dass sie den
Mörder ihrer Mutter hasst, aber den Vater nach wie vor liebt?
War er nicht ein guter Vater in den vergangenen Jahren und
hat sich immer um sie gekümmert? Sie schreibt ihm wieder,
fragt, ob er das nur aus schlechtem Gewissen getan habe. Der
Vater antwortet: «Ich habe seit der Tat nie etwas für dich getan, gekauft, besorgt oder versucht, weil ich mich von meiner
Schuld freikaufen wollte.»
Die Tochter will die Zeit mit der Mutter, die ihr der Vater
geraubt hat, wenigstens etwas nachholen. Welche Lieblingsfarbe hatte die Mutter, welche Blumen gefielen ihr, was war
ihr Lieblingslied?
Der Vater antwortet auf alles und schreibt dann: «Ich habe
Deine Mutter geliebt, als ich sie geheiratet habe … Und habe sie
geliebt bis über meine Tat hinaus.»
Ist das Unglück der Familie Paulus doch nicht so einzigartig, wie wir denken? Vielleicht versteckt sich hinter dem Entsetzen über die Tat auch die Angst, dass sie überall geschehen
könnte.
«Die Leute halten die Ohnmacht nicht aus, dass man sich
nicht davor schützen kann», sagt Albrecht Roebke und zuckt
mit den Schultern. «Deshalb schimpfen sie über den Mörder
und wundern sich, dass er nicht im schmutzigen Unterhemd
dasitzt und man es ja immer geahnt hat.»
Jeder könne in einer bestimmten Situation zum Mörder
werden, glaubt der Notfallseelsorger. Das einzige Mittel dagegen: «In den Spiegel schauen und erkennen: Das hätte ich sein
können.»
Es gehört viel Kraft dazu, sich der Wahrheit zu stellen.
Wann immer sie die Kraft findet, setzt sich Christina Junghans
ins Auto und fährt an ihrem alten Elternhaus vorbei, in dessen
Keller der Vater die Mutter vergraben hatte. Vor einigen Monaten ist dort wieder eine Familie eingezogen und hat sich in der
Idylle am Dorfrand eingerichtet. Im Vorgarten spielen die Kinder in der Nachmittagssonne, und ein Mann läuft lächelnd über
den Rasen. M A LT E H ERW IG ist Autor beim «Süddeutsche Zeitung Magazin»; [email protected]
DA S M AGA Z I N 17/201 5 in eine teure 180-Quadratmeter-Wohnung. Sie zahlen jetzt
2800 Mark Miete bei einem Verdienst von rund 3500 Mark.
Aber der Mann will seiner Frau eine ansprechende Umgebung
bieten, sie kaufen Möbel und andere Einrichtungsgegenstände. Die Frau sucht aus, er zahlt. Er will keinen Streit. Wenn er
nur härter arbeitet, wird das Geld schon reichen, glaubt Gerd
Paulus.
Wenn sie sich aufregt und ihm Vorwürfe macht, versucht
er sie durch Entgegenkommen zu beruhigen. Doch das Restaurant läuft nicht wie erhofft. Die junge Familie gerät zum ersten
Mal in finanzielle Schwierigkeiten, als die Bank den Kredit
nicht mehr verlängert. Der Mann arbeitet jetzt 15 bis 16 Stunden täglich. 1992 wird Christina geboren. Die Frau ist unzufrieden, weil sie mit den Kindern allein ist, während der Mann
arbeitet. So hat sie sich das nicht vorgestellt.
Nach der Pleite des Restaurants hält der Mann die Familie über Wasser, indem er mehrere Jobs gleichzeitig ausübt.
Sechs Tage die Woche ist er nicht zu Hause, oft muss er auch an
Feiertagen arbeiten.
Die Familie ist ihm wichtig. Auch nach Nachtschichten
steht er um sechs Uhr auf, um den Kindern das Frühstück zu
bereiten, bevor er sich wieder ins Bett legt. Einen Tag in der
Woche hält er sich immer für die Familie frei.
1998 zieht die Familie Paulus zur Miete in ein günstigeres
Haus am Dorfrand. Doch so hart der Vater arbeitet, die Schulden wachsen. Die Gastronomie ist ein hartes Gewerbe. Viele
Neueröffnungen schliessen innerhalb eines Jahres wieder.
Auch mit einem neuen Restaurant geht Gerd Paulus pleite
– auch weil er immer wieder Geld aus dem Geschäft zieht. Die
Frau, die aus wenig begüterten Verhältnissen kommt, legt Wert
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CHR ISTIAN SEILER
DR EI STER NE SIND NICHT DR EI STER NE
Dreisternrestaurants sind extraterritoriales Gebiet, ganz klar.
Das fällt, gemessen an der Grundfläche der Schweizer Kulinarik, nicht besonders ins Gewicht, denn es gibt nur zwei: Andreas Caminadas Schloss Schauenstein in Fürstenau und Benoît
Violiers Restaurant de l’Hôtel de Ville in Crissier.
Die Versuchsanordnung ist übersichtlich: Wie verhalten
sich diese Speerspitzen der Unterhaltungsgastronomie zueinander? Steht der eine Cuisinier eher für die Vergangenheit und
der andere für die Zukunft (oder beide, oder keiner)? Lässt sich
am Beispiel der beiden Marktführer etwas über den Unterschied zwischen West und Ost, zwischen Deutschschweiz und
Romandie feststellen, über unterschiedliche Denkweisen und
Arbeitshypothesen?
Ich würde sagen: Ja. Caminada und Violier repräsentieren
auf spektakuläre Weise unterschiedliche Schulen des kulinarischen Denkens.
Beginnen wir bei Benoît Violier. Er hat ein schweres und
zugleich definiertes Erbe angetreten, als er 2012 das Restaurant de l’Hôtel de Ville in Crissier übernahm. Das Restaurant
war von Frédy Girardet zu höchsten Ehren geführt worden (drei
Michelin­-Sterne, die härteste Währung im Restaurantbusiness). 1996 übernahm der ehrgeizige, gestrenge Philippe Rochat das Haus und führte es auf selbem Niveau bis 2012. Dann
war Violier an der Reihe, der seit 1996 für Rochat gearbeitet
hatte. Mit 22 Köchen und 23 Servicemitarbeitern, einem Mitarbeiter pro Sitzplatz, bereitet er das zu, was man sich seit Jahrzehnten von einem Spitzenrestaurant erwartet: Kaviar und
Gänseleber, Jakobsmuscheln und Hummer – kein Klischee,
das über luxuriöses Essen kursiert, wird ausgelassen.
Caminadas Team ist vielleicht halb so gross wie jenes von
Violier, und auch der Anlauf, den er genommen hatte, war kür-
zer. Seine Lehrzeit war komprimierter. Caminada liess sich
nicht auf den Stil eines kulinarischen Übervaters einschwören,
sondern holte sich in Bregenz, Baiersbronn und Uetikon Impulse, die ihm genügten, um sich 26-jährig selbstständig zu machen. Den Aufstieg von Schloss Schauenstein zum Dreisternrestaurant verantwortete er selbst, und er ging dabei einen verspielten, selbstbewussten Weg der Eigensinnigkeit. Caminadas
Küche ist nicht wie irgendeine andere Küche. Die Auszeichnung durch drei Michelin-Sterne ist eher eine Herausforderung für die betont traditionsverliebten Michelin-Inspektoren
als für Caminada: Seine Position als Meister der – man kommt
in diesem Zusammenhang um das öde Wort nicht herum –
kreativen Kulinarik wäre auch dann unbestritten, wenn ihm
der Michelin nicht folgen würde.
Das heisst nicht, dass man bei Violier schlechter isst. Die
Perfektion des Menüs ist beeindruckend, die Präzision der
Geschmäcke erstaunlich, und zuweilen (etwa bei der Kombination eines Kardonengemüses mit schwarzem Trüffel)
schlagen die Einfälle des Küchenchefs auch Funken. Dennoch
wohnt man dem Essen wie einer Opernvorstellung bei, tief
beeindruckt, elegant angezogen und ein bisschen erstaunt,
für einen Abend zu einer Gesellschaft zu gehören, die für ein
Essen und ein bisschen Wein 1500 Euro ausgibt. Sicher, auch
bei Caminada isst man nicht umsonst (wenn auch markant
weniger teuer als in Crissier). Aber man befindet sich hier nicht
in der Oper, sondern in der Vorstellung eines spannenden Films
mit unabsehbaren dramaturgischen Wendungen und ziemlich lauter Musik.
Der Vergleich der Schweizer Dreisterner läuft auf den Unterschied zwischen Hoch- und Populärkultur hinaus. Warum
auch nicht. Beides hat Zukunft.
Mehr von CH R I S T I A N SEI L ER immer montags in seiner «Montagsdemonstration» auf blog.dasmagazin.ch
Illustration A L E X A N DR A K L OBOU K
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DA S M AGA Z I N 17/201 5 Was für unterschiedliche Kulturen die beiden besten Restaurants der Schweiz repräsentieren
DA S M AGA Z I N 17/201 5 — MON I R S H A H ROU DY FA R M A N FA R M A I A N: U N T I T L E D, 201 2 . C OU RT E S Y OF T H E A RT I S T A N D T H E T H I R D L I N E
Die andere iranische Revolution: Traditionelle persische Ornamentik trifft zeitgenössische Kunst.
HANS ULR ICH OBR IST
TEHER ANS FACTORY
Monir Shahroudy Farmanfarmaian war 22 Jahre
alt, als sie 1946 den Iran verliess. Sie schiffte sich
nach New York ein, studierte an der renommierten Parsons School für Kunst und Design und arbeitete zum Geldverdienen als Schaufensterdekorateurin in einem Warenhaus. Ein Kollege, der
dort Schuhmodelle zeichnete, war ein gewisser
Andy Warhol. Während dieser wenig später die
glitzernde Warenwelt der Kaufhäuser zu Kunst
veredelte und die Pop-Art entstand, fand Farmanfarmaian ihre eigene Sprache. Sie interessierte
sich weniger für die Reize der Konsumgüter als
die der Intarsienkunst ihres Heimatlandes und
schuf riesige Spiegelkugeln und -reliefs, die unter
ihren Künstlerfreunden begeistert aufgenommen
wurden. Dennoch entschloss sie sich 1957, aus
New York, dem damaligen künstlerischen Zentrum der Welt, in den Iran zurückzukehren.
Dort baute sie etwas auf, was sich am ehesten
noch mit Warhols legendärer Factory vergleichen
liesse: Eine Manufaktur, in der sie mit traditionell
geschulten Kunsthandwerkern Muster, Spiegelwände und Glasmalereien schuf, die das persische Erbe aufnahmen, aber neu interpretierten.
Sie wollte die Schönheit der geometrischen Ornamente und Mosaiken aus den Moscheen und Pa-
lästen weitergeben und auch in die Museen und
Häuser tragen. Doch die islamische Revolution
1979 vertrieb sie erneut nach New York. Dort arbeitete sie an Collagen und bestückte kleine
Holzboxen mit Schmuck und Bildern aus dem
Iran. Sie vermisste ihr Land, sie vermisste aber
vor allem die brillanten Handwerker, die es nur
dort, nicht aber in New York gab.
2004 schliesslich, im sensationellen Alter
von 80 Jahren, entschloss sie sich, zum zweiten
Mal zurückzukehren, und eröffnete in Teheran
erneut ihre Manufaktur – zum Teil mit denselben
Handwerkern, von denen sie sich 25 Jahre zuvor
trennen musste. Natürlich gibt es viel Zensur in
dem Land, aber obwohl sie sich ihren unabhängigen Geist erhalten hat, wird sie bei ihrer Arbeit
in Ruhe gelassen. Seit ihrer Rückkehr hat sie eine
Produktivität entwickelt und ein Œuvre erarbeitet, das ihr gesamtes früheres Werk in den Schatten stellt. Sie erinnert damit an die grosse Louise
Bourgeois, eine Künstlerin, die fast bis in ihr hundertstes Lebensjahr hinein gearbeitet hatte und
erst sehr spät die nötige Anerkennung erfuhr.
Nun, mit über 90 Jahren, wird endlich auch Farmanfarmaian erstmals in ihrer New Yorker Zweitheimat gewürdigt.
Monir Shahroudy Farmanfarmaian: Works On Paper – New York,
Guggenheim Museum Katalog, hg. v. Karen Marta. Verlag der Buchhandlung Walther König, 2015
www.guggenheim.org
H A N S U L R ICH OBR I ST ist Kurator und Co-Direktor der Serpentine Galleries in London.
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TRUDY MÜLLER-BOSSHAR D
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Ich liege in der Notfallstation auf so einer
Pritsche. Mit dem Velo bin ich vor einer
Stunde gegen ein Auto geprallt und dann
unsanft gelandet. Zwei Tatütatü-Autos
sind gekommen. Ich musste in mittlerer
Stärke ohne Unterbruch in ein Röhrchen blasen. Ich brauchte fünf Anläufe.
Der Polizist wurde wütend, weil ich so
lange brauchte. Dann endlich haben sie
mich in die Notfallstation gefahren.
Da liege ich schon seit drei Stunden.
Links liegt eine Italienerin, die Pech beim
Kochen hatte. Sie hatte Öl in die Pfanne
geschüttet, und dann gabs eine Flamme.
Ihr Gesicht muss ziemlich übel aussehen.
Sie weint stark. Ihr Mann ist mitgekommen und versucht sie zu trösten. Die Ärztin redet ganz langsam mir ihr: Wo tun
aua?
Der Lauteste im Zimmer ist aber
Mike. Er ist Amerikaner und hat unbekannte Pillen geschluckt. Er schreit auf
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FR ENKEL
105 KILOGR AMM, WIEDER HOLT DIE KR ANKENSCHWESTER
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GESCHÄFTSESSEN, SEHR NÜCHTERN BETRACHTET:
Die Lösung ergibt sich aus den grauen Feldern waagrecht fortlaufend.
Englisch, man soll bitte ’ne Kanone holen und ihn abknallen. Doch die Ärzte
weigern sich. Sie fragen: Mike, was hast
du für Pillen geschluckt? Mike antwortet:
Fuck you! Aber Mike, sagen sie, wir müssen unbedingt wissen, welche Substanz
du eingenommen hast. Mike antwortet
wieder: Fuck you. Die Doktoren werden
ungeduldig. Mike, was hast du geschluckt? Aber der Amerikaner hält
dicht, will nicht kooperieren und fuchtelt mit seinen Fäusten. Fuck you, schreit
er und fällt plötzlich in einen friedlichen
Schlaf.
Ein anderer Patient ist ein Schweizer.
Der Tollpatsch ist die Rolltreppe runtergefallen. Und zwar wie in einem Trickfilm, sodass er wohl am ganzen Körper
geblutet hat. Hans, nennen wir ihn so, ist
verdammt tapfer. Ob er grosse Schmerzen habe, wollen sie wissen. In einer
Skala von 1 bis 10, wobei 10 höllisch und
1 easy ist. Hans antwortet: Bein 3, Rücken
2, Kopf 2, Arm 3, Bauch 4.
Ich habe mir nur die Hand gebrochen. Sie haben mir die Kleider ausgezogen und so ein Hemd übergestreift. Unter dem Hemd, das mir bis zu den Knien
reicht, trage ich eine Unterhose. Eine junge Krankenschwester ist gerade gekommen und wollte sehr intime Sachen von
mir wissen. Zum Beispiel, wie viel ich
wiege. Ich überlegte kurz, ob ich lügen
soll. Es geht wahrscheinlich um die Narkose, die sie mir geben werden. Dann
muss ich schon die Wahrheit sagen. 105
Kilogramm, antwortete ich tapfer.
105 Kilogramm, wiederholt die
Krankenschwester. Dann schieben sie
mich in den Operationssaal.
BEN I F R EN K EL ist freier Autor und lebt in Zürich.
HELPLINE FÜR RATLOSE: Sie kommen nicht mehr weiter? Wählen Sie 0901 591 937 (1.50 Fr. / A nruf vom Festnetz), um einen ganzen Begriff
zu erfahren. Wenn Sie nur den Anfangsbuchstaben wissen möchten, wählen Sie 0901 560 011 (90 Rp. / A nruf vom Festnetz).
WA AGRECHT (J + Y = I): 6 Ihr Standort: ein Markus-Werner-Roman. 12 Kitzeln das Zwerchfell sozusagen von oben herab. 18 Trip mit Ship oder Hollywood-VIP. 19 Auch Elstern sinds, rein deliktisch. 20 Fabelhafter Gockel, lässt einen schwedischen Krimiautor aufhorchen. 21 Weitgehend hölzern beide,
sowohl der Industrielle H.C. als auch der Künstler M.C. 23 In Betrieb wiederholen: entspringt bei den Mongolen. 24 Steht im Anforderungsprofil von James, dem Servilen. 26 Schweizer in Preussen machten sich daran zu schaffen. 27 Inklusive – kein Raschler, wenn gross geschrieben. 28 Altes Trinkgefäss
– lüpft entzweit das Gesäss! 30 Körperbauteil mit klingendem Ausklang. 32 Kätzchenträgerin – bei Goethes Stift mit inbegriffen. 33 Von Harold Geliebte,
obwohl older als er. 34 Wo, wo wo heute dove. 35 Den Wein hat man nach Streichen eines Zeichens im Auge. 37 Bäumig, was bei Kissenschlachten mitgeschmissen wird. 38 Chemische Keulen sind in dem Laden nicht zu haben. 39 Ist Gnadenloser und indischen Chefs Sache nicht. 40 Bewirken schwindend
Bewusstseinsstörung. 41 Freitagsgruss? Erlebt Eilandmann wider Willen!
LÖSUNG RÄTSEL Nº 16: BOXENSTOPP
WAAGRECHT (J + Y = I): 6 TOURISMUSEXPERTE. 14 ROTLICHTMILIEU (Prostitution ist in Schweden verboten). 18 BANANE. 19 ORESTES.
20 GES. 21 CANALE (ital. für Sender/Kanal). 22 BREME («Übre Gotthard flüged Bräme»). 23 EMBARGO. 25 Hänsel und GRETEL. 27 IMAX
29 PÊCHE Melba (Nellie). 31 EIERN. 32 ONE (engl. für eins) in m-one-y. 33 HELPLINE. 35 «Die ROTE». 36 TOE (engl. für Zehe). 37 IDEE.
38 GERA, Anagramm: Rage. 39 (B)RITEN. 40 ENNS, Anagramm: Senn. 41 (Kalb-)ERMATTEN. 42 SEEIGEL. 43 EVERTEBRAT (Wirbellose).
SENKRECHT (J + Y = I): 1 Michelangelo BUONARROTI. 2 Alan Alexander MILNE (Autor von «Pu der Bär»). 3 KUHREIHEN (lockt Kühe zum Melken an).
4 Emse in GEMSE (neu: Gämse). 5 (Puff-)REIS. 6 TABATIERE. 7 ORANGERIE. 8 SIEBENTEL. 9 STEMMEISEN. 10 PLEMPLEM. 11 REGA
(Notruf: 1414). 12 TUER (franz. für töten). 13 ESSGERAET (Bratwurst). 15 TALENTE. 16 CORLEONE. 17 IT-EXPERTE. 24 BEIGABE. 26 TOENE(!). 28 Streichmusik ALDER. 30 HERTA (Hertha BSC). 34 NET (engl. für Netz, von unten: ten).
SENKRECHT (J + Y = I): 1 Soll Widerspenstige von Staats wegen zähmen. 2 Wie man gefiederten Freund hinter Gittern oft nennt. 3 Vertraut endet empfangsbereit. 4 Ort von Wallensteins Mord, vor Ort. 5 Ihr Symbol: Kreis mit fusswärts zeigendem Cruz. 6 Fleckenentfernung bei Werk dieses Genres wär
ein Vandalenakt. 7 Stilloses Argumentabklemmen 8 Gewebe für Culotte, auch Père von Charlotte. 9 Damit wird die Schlangenfrau ein Fall für die IV.
10 Das Gewässer lässt sich zum Landstreicher steigern. 11 Gepimpte Mayonnaise mit Grusswort am Schluss. 13 Basta, geht auch als Subkultur durch!
14 Hat zwei Extremitäten mehr als der herkömmliche Herr. 15 Erlebt – sein Benehmen grenzwertig! – den zweiten Lenz. 16 Lag rebellischem Fürst angeblich weiland zu Füssen. 17 Miete steigernder Lagebeschrieb. 22 Rapide 25 senkrecht am Tiber. 25 Rückwärts orientiertes Adverb, leicht patiniert.
29 Geht nach dem Auslaufen unter. 31 Macht Light less bright. 32 Lieferte den Soundtrack zur Terrorattacke. 36 Aargauer Gemeinde – passt, neu gerich-
«DAS MAGAZIN» ist die wöchentliche Beilage
des «Tages-Anzeigers», der «Basler Zeitung»,
der «Berner Zeitung» und von «Der Bund».
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AVINE HASSAN, 31, aus Syrien hätte nie gedacht, dass sie ihre fünf
Töchter eines Tages in einem Flüchtlingslager aufziehen wird.
Wir sind seit fast vier Jahren hier. Ich kann
es immer noch nicht glauben. Wir lebten
früher in einem sehr schönen Quartier
von Damaskus. Ich betrieb einen BrautSchönheitssalon, mein Mann war Buchhalter eines Restaurants. Wir hatten ein
wunderbares Leben.
Bis wir inmitten der Kämpfe zwischen Rebellen und Assads Soldaten waren. Drei Tage waren wir im Haus gefangen, ohne Strom, Wasser, das Essen ging
zu Ende. Ich fürchtete, dass wir verhungern. Während einer Gefechtspause am
vierten Tag flohen wir, mit nichts als
meiner Handtasche, den Pässen, Geld
und einer Goldkette, einem Geschenk
meiner Mutter. Wir mussten unsere da-
mals vier Töchter retten, die eins, drei,
fünf und sieben Jahre alt waren. Ich versuchte, meine Angst vor ihnen zu verbergen, aber sie schrien und weinten, weil
sie spürten, was vorging.
Ein Bus brachte uns für 3000 Franken hinter die Grenze, ins Kurdengebiet
im Nordirak. Danach liefen wir vier Stunden, meine Schuhe blieben im Matsch
stecken, und ich erreichte den Irak barfuss und zu Tode erschöpft.
Wir waren unter den Ersten, die ein
Zelt im Flüchtlingslager Domiz bekamen. Es war ein Chaos; heute leben hier
50 000 Menschen – es ist für die Hälfte
ausgerichtet. Meine Kinder fragten ständig: Warum sind wir hier? Wann gehen
Protokoll L ENA C OR N ER
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wir nach Hause? Ich antwortete immer:
Seid geduldig, bald. Jetzt, vier Jahre später, haben sie aufgehört zu fragen. Ihr Zuhause vergessen. Das macht mich sehr
traurig. Nie im Leben hätte ich gedacht,
dass ich meine Kinder in einem Flüchtlingslager aufziehen werde. Niemals!
Langsam wurden die Dinge besser.
Ich verkaufte die Kette meiner Mutter an
einen Juwelier in der nächsten Stadt,
kaufte dafür Make-up und einen Föhn
und zog einen Kosmetikservice auf, für
Mädchen, die im Camp heiraten. Mein
Mann schaute nach den Kindern. Nach
ein paar Monaten konnten wir jemanden
bezahlen, der uns ein Haus aus YtongSteinen baute und einen Salon daneben.
Es ist klein – wir schlafen alle in einem
Raum –, aber doch besser als ein Zelt
und mit eigenem Aussen-WC.
Anfangs wagte ich nicht, meine Kinder aus den Augen zu lassen, aus Angst
vor Seuchen, vor der befahrenen Strasse
beim Camp. Meine grösste Angst aber
war, dass sie Analphabeten blieben. Zum
Glück gibt es inzwischen eine Schule, wo
meine Grösseren sechs Tage die Woche
lernen dürfen. Und Begleitprogramme,
damit die Kinder den seelischen Stress
überwinden, dessen Langzeitfolgen mich
bereits ängstigen.
Dann wurde ich schwanger – keine
gute Idee, unter unseren Umständen. Vor
zehn Monaten bekam ich meine Kleine.
Sie ist das einzig Gute, was aus all dem
Schlimmen hervorgegangen ist.
Mein Salon war der erste, ich hatte
jede Menge zu tun, schnell 20 Brautkleider im Verleih. Jetzt gibt es mehr Salons,
und es läuft schlechter, vielleicht muss
ich bald verkaufen. Mein Mann versucht
seit vier Monaten, in Deutschland, wo
meine Eltern und Geschwister leben,
Asyl für uns zu kriegen. Wieder erlebten
meine Kinder eine Trennung. Seitdem
fragen sie täglich: Wann kommt Papa
wieder? Aber wir können nur warten.
Es bricht einem das Herz, sein Zuhause verlassen zu müssen. In Syrien ist
alles kaputt. Es wird lange dauern, bis wir
zurückkehren können. So lange treibt
mich die Sorge um, was es für sie bedeuten wird, in einem Flüchtlingscamp aufzuwachsen. Aber sie sind Kinder. Ich
hoffe, sie werden das alles vergessen.
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im Aserie 5
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DA S M AGA Z I N 17/201 5 — BI L D: GUA R DI A N N E W S & M E DI A LT D 201 5
VIER JAHR E IM LEBEN
h/
70 Jahre Kriegsende.
Die NZZ erinnert.
Sieben Jahrzehnte sind vergangen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges.
Zum Gedenken an dieses düstere Kapitel der Menschheitsgeschichte erscheinen
in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 2. Mai bis 20. Juni jeden Samstag Artikel
aus einer achtteiligen Serie: Ressortübergreifend beleuchten wir die wichtigsten
Ereignisse aus verschiedenen Blickwinkeln und geben den wenigen verbliebenen
Zeitzeugen eine Stimme. Verfolgen Sie die Serie mit einem Probeabo der NZZ.
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