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Fremdbestimmte Wiedervereinigung?
Zum Einfluss des Art. 139 GG auf die Verhandlungen
zum Einigungs- sowie Zwei-plus-vier-Vertrag
Dr. Thomas Gertner, Bad Ems
Im Verlauf unserer Recherchen zu den Verhandlungen zum Einigungs- sowie Zwei-plus-vier-Vertrag
habe ich durch Vermittlung von Heiko Peters, dem ich auf diesem Wege hierfür herzlich danke, im
Herbst letzten Jahres ein hochinteressantes Gespräche mit Herrn Prof. Günter Krause, bekanntlich
Chef-Unterhändler der DDR bei den im Jahr 1990 geführten Verhandlungen. Er hat mich in dem bestätigt, was ich schon lange vermutet habe, aber nicht beweisen konnte. Man wird mit dem Mythos der
selbstbestimmten Wiedervereinigung, die allen die Angelegenheit der Deutschen gewesen sei, wobei
auch gern der unvollendet gebliebene Versuch der Herstellung der Einheit Deutschlands in der Frankfurter Paulskirche bemüht wird, aufräumen müssen.
Bei allen Dokumentationen über das Zustandekommen der genannten Verträge gewinnt man stets den
Eindruck, als hätten auf der einen Seite die bundesdeutsche, auf den anderer Seite die Einigungsvertrag die Delegationen der UdSSR und der DDR gehandelt. Demnach hätten beide Delegationen Vorbedingungen gestellt, auf welche sich die bundesdeutsche Delegation habe einlassen müssen, um nicht
die Wiedervereinigung zu gefährden. Das ist zwar richtig, aber nur eine halbe Wahrheit. Auch die
Westalliierten, scheinbar nur interessierte Beobachter der Verhandlungen, haben Bedingungen gestellt.
Ich will das mit Herrn Prof. Krause geführte Telefonat so wiedergeben, wie ich es mitgeschrieben
habe bzw. es in Erinnerung habe. Dass seine Aussagen wahrheitsgetreu sind, steht für mich zweifelsfrei fest.
Ich habe Herrn Prof. Krause danach befragt, ob ihm der – sogar in Fachkreisen weitestgehend unbekannte – Art. 139 GG geläufig sei. Dieser antwortete nach meinem belustigt, selbstverständlich sei
ihm diese Norm bestens bekannt, da sie in den Verhandlungen zum Einigungs- sowie Zwei-plus-vierVertrag von großer Bedeutung gewesen sei. Die Westalliierten hätten darauf bestanden, dass die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten unter Beibehaltung des Grundgesetzes auf der Grundlage
des Art. 23 GG erfolgen müsse. Von westalliierter Seite wurde es von vorneherein kategorisch abgelehnt, dass an die Stelle des Grundgesetzes eine neue Verfassung trete, die dann mit Sicherheit die
Vorbehaltsklausel des Art. 139 GG nicht enthalten hätte. Ein wesentlicher Grund für die Forderung
nach der Beibehaltung des Grundgesetzes war dabei dieser besagte Artikel.
Diese Norm erklärt bekanntlich Rechtsvorschriften deutscher Organe während der Besatzungsherrschaft, die im Zusammenhang mit der im Potsdamer Abkommen beschlossenen Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus stehen, für verfassungsfest. Allen Beteiligten, und zwar sowohl den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates als auch den Hochkommissaren
der Westalliierten, war dabei selbstverständlich klar, dass diese Vorschriften unter erheblichen verfassungsrechtlichen Mängeln leiden, insbesondere deswegen, weil durch diese Vorschriften rückwirkend
ein bestimmtes Verhalten während der nationalsozialistischen Herrschaft mit empfindlichen Sühnemaßnahmen sanktioniert worden ist. Kein zivilisierter Rechtsstaat darf in seiner Verfassung Strafnormen als verfassungsfest erklären, die an elementaren Mängeln leiden, zum Beispiel rückwirkend gegolten haben. Dies hätte dann jedoch zur Folge gehabt, dass zum Beispiel Personen wie Hermann Göring und Joachim von Ribbentrop allein deswegen hätten rehabilitiert werden müssen, weil sie auf
Grund rückwirkender Strafnormen, allein wegen ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Schicht der Großgrundbesitzer, zur Vermögenseinziehung herangezogen worden sind. Wenn aber schon deutsche Vorschriften zur Entnazifizierung wegen ihrer Rückwirkung hätten für unwirksam erklärt werden könnten,
Seite 2 so hätte man sich dann auch die Frage stellen müssen, ob nicht möglicherweise auch die Nürnberger
Prozesse eine schwere Menschenrechtsverletzung deswegen bedeutet haben, weil eigens für diesen
Prozess rückwirkend geltendes Strafrecht von den Siegermächten gesetzt worden ist. Dieses Problem
war den Westalliierten bekannt, und es sollte nach deren Willen niemals mehr aktuell werden.
Auf Befragen, warum sich in keinem Dokument irgendein Hinweis zu Art. 139 GG findet, antwortete
Herr Prof. Krause, dass eine Vielzahl von Akten, insbesondere, soweit dort auf Staatssekretär- bzw.
Beamtenebene verhandelt worden ist, unter Verschluss steht. Prof. Krause erklärte, auf Grund der
Darstellungen der Verhandlungen zum Zwei-plus-vier-Vertrag entstehe der Eindruck, als habe es sich
um eine Angelegenheit zwischen den beiden deutschen Staaten und der Sowjetunion gehandelt. In
Wahrheit aber hätte die USA, „Gewinner des Kalten Krieges“, das Wort geführt.
Aufmerksam geworden auf die Bedeutung des Art. 139 GG hat dann die Sowjetregierung das vom
BVerfG zitierte Aide-Mémoire vom 28.04.1990 formuliert und auf diese Weise auf die von den Westalliierten verlangte Beibehaltung dieses Artikels reagiert. Hätte nämlich die Sowjetunion darauf bestanden, dass Boden- und Wirtschaftsreform dazu gedient haben, eine vorkommunistische Gesellschaftsordnung herzustellen, hätte die Bundesrepublik Deutschland schon im Hinblick auf Art. 1 GG
diese Maßnahmen, die dann dem kommunistischen Klassenkampf gedient hätten, mit Blick auf das
KPD-Verbotsurteil des BVerfG vom 17.08.1956 nicht anerkennen dürfen. Wenn diese aber unter dem
Schutz des Art. 139 GG standen, bestand für die bundesdeutsche Delegation überhaupt keine Möglichkeit mehr, über diese Bestimmungen zu verhandeln. Ich habe hierzu schon vor längerer Zeit ein
Telefonat mit dem ehemaligen Spiegel-Redakteur Dr. Kiessler geführt, der publizistisch die Verhandlungen zum Zwei-plus-vier-Vertrag sowie zum Einigungsvertrag behandelt hat und der zusammen mit
dem seinerzeit im Auswärtigen Amt tätigen Frank Elbe hierüber das Buch „Ein runder Tisch mit
scharfen Ecken“ geschrieben hat. Nachdem ich ihn auf Art. 139 GG aufmerksam gemacht, der ihm bis
dahin unbekannt war, erklärte dieser, nun sei ihm auch klar, warum die bundesdeutsche Delegation
erklärt habe, wenn die sowjetische Seite darauf bestehe, dass die damaligen Maßnahmen (Boden- und
Wirtschaftsreform) der Entnazifizierung und Entmilitarisierung des deutschen Volkes gedient haben,
könne diese Thematik von deutscher Seite nicht verhandelt werden. Diese Aussage stimmt überein mit
dem Plädoyer des damaligen parlamentarischen Staatsekretärs im Bundesministerium der Justiz, Dr.
Klaus Kinkel, vor dem BVerfG am 22.01.1991, dessen Wahrheitsgehalt wir in keiner Weise anzweifeln. Kinkel hat wörtlich ausgesagt:
„Kenntnisnahme bedeutet kein Anerkenntnis, sondern die Hinnahme der gegebenen Realitäten un-­‐
ter den Bedingungen des politisch Möglichen, verbunden mit der Zusage, diese Realitäten als solche künftig nicht in Frage zu stellen. Die Notwendigkeit dazu ergab sich aus dem übergeordneten Verfas-­‐
sungsziel der Wiedervereinigung, dessen Verwirklichung das historische Gebot der Stunde war. Bei dieser rechtlichen Ausgangssituation hat Art. 143 Abs. 3 GG in der Fassung des Einigungsvertra-­‐
ges jedenfalls insoweit keine konstitutive, sondern lediglich klarstellende Bedeutung. Auf die Frage der Vereinbarung dieser Regelung mit Art. 79 Abs. 3 GG kommt es deshalb nicht an.“ Im Hinblick auf Art. 139 GG hatte die Bundesrepublik Deutschland keine andere Möglichkeit, als die
sowjetische Vorbedingung – Boden- und Wirtschaftsreform dienten der Entnazifizierung und sind als
solche zu respektieren und als verfassungsfest zu behandeln – zur Kenntnis zu nehmen; genauso verhielt es sich mit Art. 139 GG, der von den Westalliierten vorgegeben war. Um sich von dem Inhalt zu
distanzieren und zum Ausdruck zu bringen, dass man den Willen der Besatzungsmächte lediglich zur
Kenntnis genommen habe, hat das damalige Mitglied des Parlamentarischen Rates, Prof. Dr. Theodor
Heuss, den Vorschlag unterbreitet, man möge die Worte „zur Befreiung des deutschen Volkes vom
Nationalsozialismus und Militarismus“ in Anführungszeichen setzen, was dann auch geschehen und
Seite 3 von den Hochkommissaren der drei Westalliierten auch gebilligt worden ist. In den Verhandlungen
zum Einigungs- und Zwei-plus-vier-Vertrag hat sich die Geschichte letztlich konsequent fortgesetzt.
Der Umstand, dass die deutschen Rechtsvorschriften, welche die Boden- und Industriereform regelten,
verfassungsfest sind, bedeutet jedoch nicht, dass nicht unter Anlegung rechtsstaatlicher Maßstäbe,
insbesondere der Unschuldsvermutung, jeder Einzelfall überprüft werden kann und muss.
Dies hat der ehemalige Botschafter der Russischen Föderation, Terechow, in dem bereits mehrfach
erwähnten Schreiben an Herrn Dr. Madaus vom 27.10.1992 bestätigt. Herr Dr. Madaus wurde von
Herrn Terechow wie folgt informiert:
„Sie verstehen es richtig, dass das Hauptanliegen der sowjetischen Seite bei den „2 + 4“ Verhandlun-­‐
gen zur Frage der Nichtrückgängigkeit der Enteignungen auf besatzungsrechtlicher bzw. besatzungs-­‐
hoheitlicher Grundlage (1945 bis 1949) darin bestand, keine Rehabilitierung geschweige denn Wie-­‐
dergutmachung nazistischer Verbrecher durch den Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland erfolgen zu lassen. Dass dabei einige Unregelmäßigkeiten möglich waren, kann vermutet werden, aber jeder solcher Fall muss sorgsam geprüft werden.“ Diese Konsequenz wurde bereits in den alten Bundesländern gezogen. In einem Gutachten an den
Deutschen Bundestag vom 01.12.1949 beschreibt Prof. Brill (früherer Ministerpräsident von Thüringen) sehr anschaulich die Entstehungsgeschichte des Art. 139 GG. An entscheidender Stelle heißt es in
S. 5 des Gutachtens:
„Artikel 139 enthält eine Übergangsvorschrift, die den Zweck hat, das vorverfassungsmäßige Recht in einen verfassungsmäßigen Zustand überzuleiten. Vorverfassungsmäßiges Recht im Sinne des Artikels ist das Entnazifizierungsrecht der Länder, das ohne Rücksicht auf andere Vorschriften des Grundge-­‐
setzes in vollem Umfang in Kraft bleibt.“ Um nun einen solchen verfassungsmäßigen Zustand herzustellen, sahen die auf Länderebene verabschiedeten Gesetze vor, dass innerhalb einer gesetzlich bestimmten Ausschlussfrist sämtliche als
Hauptschuldige oder Belastete eingestuften Personen oder ihre Rechtsnachfolger das Recht hatten, die
Schuldzuweisungen, die z.B. nach den Befreiungsgesetzen in der amerikanischen Zone auf der Grundlage widerleglicher Vermutungen festgestellt worden sind, unter Beachtung des Prinzips der Unschuldsvermutung überprüft werden konnten. Dies führte z.B. zur Rehabilitierung des früheren
Reichskanzlers Franz von Papen durch die Berufungsspruchkammer München, welche die Entscheidung der Hauptspruchkammer Nürnberg-Fürth aufgehoben hat, der zu Folge der in erster Instanz noch
als Hauptschuldiger eingestufte von Papen in zweiter Instanz als Belasteter eingestuft worden ist und
mit einer Vermögensstrafe von DM 30.000,00 belegt worden ist. Diesen Betrag erhielt von Papen
nach seiner Rehabilitierung auf dem Verwaltungswege erstattet.
Weder die Gemeinsame Erklärung noch die sowjetische Vorbedingung hindern somit den Gesetzgeber
daran, dass sämtliche Einzelmaßnahmen im Rahmen der Boden- und Wirtschaftsreform im Zusammenhang mit einer Rehabilitierung überprüft werden können und müssen. Wie bereits mehrfach dargelegt worden ist, ist das einzige in Betracht kommende Gesetz das StrRehaG, dort der § 1 Abs. 5. Die
Möglichkeit einer Wiederaufnahme des Strafverfahrens besteht nicht, weil seinerzeit Verwaltungsstrafverfahren durchgeführt worden sind.