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Albert Bömer
Nebeltänze
agenda
Albert Bömer
Nebeltänze
agenda Verlag
Münster
2015
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Layout, Satz und Umschlaggestaltung: Kristina Schellenberg
Umschlagabbildung: inkje / photocase.de
Druck und Bindung: TOTEM, Polen
ISBN: 978-3-89688-533-3
Inhalt
Prolog9
Unner us
(Unter uns)
13
Rächt toe Vöduowenheet (Recht zur Niedertracht)
45
Müerkamellen93
(Mauergeschichten)
Dat groate Grippen
(Der große Angriff)
165
Bange Tieden
(Angstzeiten)
231
Stumme Rööpe
(Stumme Schreie)
331
Bruisen un Biewern
(Brausen und Erschüttern)
361
Aschkecheeten445
(Ascheregen)
Kocheerslöe491
(Befehlshaber)
Vöweer565
(Verwirrung)
Niewweldänse601
(Nebeltänze)
Glossar613
Prolog
Der Ort Nienborg ist momentan ein Teil der Gemeinde Heek im westlichen
Münsterland, der an die 3300 Einwohner zählt. Hier bin ich aufgewachsen
und verbrachte eine Jugend, wie sie treffender nicht in dem Film von Max
von der Grün – die Vorstadtkrokodile – hätte sein können. Mit Banden, in
denen man aufgenommen wurde, wenn man Mutproben bestand, mit dem
Tragen von Lederhosen mit Hirschsymbol, mit einem Messer zum Schnitzen von Pfeilen und Bögen und ein paar Groschen in den Taschen, um sich
Eis oder Salinos zu kaufen.
Wir bauten Baumhäuser und taten es den Eltern gleich, wenn man die ersten Zigaretten und den ersten Schluck Bier heimlich in den Wallhecken
rings um das Dorf probierte. Wir schlachteten Schweine, indem wir Kartons zerstachen oder lasen stundenlang Comic-Hefte wie Fix und Foxi oder
auch Clever und Smart.
Erst nach der Schulzeit strebte ein jeder mehr und mehr seinen vorgesehenen Zielen zu, sich auf dem jeweiligen Interessensgebieten seiner selbst zu
bewegen und sich dort zu etablieren.
Ich verrannte mich in dem Gebiet der Elektrotechnik, auf dem ich zwar viel
Spaß erlebte, aber auch erkennen musste, dass ich hier nie ein wirkliches
Interesse entwickeln konnte. Ich tat mich stets schwer mit den anstehenden Aufgaben und motivierte mich immer mit der Vorstellung, die Prüfungen und Projekte, welche ich zu bewältigen hatte, mögen mich immer ein
weiteres Stückchen nach vorne bringen, um den abgehandelten Abschnitt
dieses Fachs als abgeschlossen und nicht mehr zu behandelnden Teil anzusehen.
Klar, dass mir Letzteres nicht gelang. Auch nach dem Abschluss meines
Fernstudiums zum Elektrotechniker und meiner beruflichen Veränderung,
die heute auf einem sehr spezifischen Gebiet zu finden ist, habe ich sehr
viel Freude und Interesse an meiner Arbeit gefunden, doch waren immer
wieder Lücken in meiner Welt zu finden, die dadurch nicht geschlossen
werden konnten.
Und diese Lücken sind ganz anderer Natur.
Worin ich aufblühe, ist das Spielen auf der Trompete. Sei es im Musikverein Nienborg, in der Kirche zur Begleitung der Orgel oder als Attackenbläser in den deutschen Fußballstadien. Je verrückter – je besser. Sicher hört
es an dieser Stelle nicht auf. Zu erwähnen sei da noch ein Kegelklub, ein
Stammtisch und der Schützenverein – oder vereinfacht gesagt: Nienborg.
Die Geschichte hierzu, aber auch die Geschichte der Deutschen insgesamt,
hatte mich immer wieder in den Bann gezogen. Ich trat 1989 dem Heimatverein bei und wollte fortan alles über unseren Ort wissen. Denn neben
dem Spielen der Trompete, war dieses Interesse meine größte Leidenschaft.
Ich sammelte Totenzettel, studierte die Genealogie und scannte Fotos ein
– je älter desto besser.
Eines Tages kam die Ikone im Dorf auf mich zu – Hermann Lütke-Wissing.
Er war zudem mein ehemaliger Nachbar. Er führte Gruppen über die Burg
unseres Ortes und brachte denen die Geschichte auf witzige, spritzige und
kompetente Art nahe. Irgendwann, vor etwa 10 Jahren, hatte er mal keine
Zeit, und er fragte mich, ob ich eine Gruppe übernehmen könnte.
Mir war mulmig zumute. Das hatte ich vorher noch nie getan. Aber ich
überlegte kurz, ob ich es schaffen könnte, die Gruppe über dieses Thema
auf eine Stunde hin zu unterhalten und sagte zu.
Ich fand so viel Gefallen daran, dass der heutige Zustand es erlaubt, die
Führungen auf uns beide aufzuteilen. Mit jeder Führung über die ehemalige Ringburganlage wuchs auch mein Wissen dazu, denn ich stöberte immer
mehr in den passenden Büchern.
Gottlob gab es da einen prädestinierten Geschichtsforscher unseres Ortes:
Josef Wermert.
Niemand anderer als er wusste mehr über die Geschehnisse Bescheid, die
sich im Laufe der Jahrhunderte in und um Nienborg zugetragen hatten. Und
den gewann ich als Freund. Ich rief ihn oft an, schrieb ihm Briefe, auf die er
mir jedes Mal auch interessante Antworten gab. Und dieses Wissen verhalf
mir, immer ausführlichere Kenntnisse den Zuhörern nahe zu bringen.
Von Jahr zu Jahr, von Führung zu Führung wurde es zwar nicht langweiliger, aber ich erzählte im Grunde immer dasselbe. Und die Historie um
Nienborg hatte Lücken, die selbst durch Josef Wermert nicht zu schließen
waren. Zu vieles Wissen war verloren, da oftmals Unterlagen irgendwie
verschwanden oder eine schlechte Archivierung in irgendwelchen Stuben
das Papier vermodern ließen.
Jedenfalls setzte ich gedanklich daran an, diese Lücken phantastisch im
Vergleich zu den Geschichten benachbarter Orte, die die gleiche Geschichte durchlebten, zu schließen. Zumindest nur in Gedanken.
Und das schrieb ich auf.
Sehr hilfreich stand mir an dieser Stelle Herr Dr. Zutschke vom Hamaland-Museum in Vreden zur Seite, der es mir erlaubte, an einigen Tagen,
von morgens bis abends durchgehend bei ihm in den Büchern zu wälzen.
Auf einen längeren, zehnstündigen Flug hatte ich den Mut, weit über die
50 schon verfassten Seiten, die dadurch entstanden waren, einen Roman
anzufangen. Ich stellte mir vor, wie es wäre, die Geschichte in einen Krimi
zu verpacken, mit einer Prise Kungelwirtschaft, Verschwörung und Nepotismus zu versehen. Und das Zeitalter war sofort gewählt. Ein Zeitalter,
welches wirklich viele Lücken, aber auch viele Nachweise beinhaltete –
das des Dreißigjährigen Krieges.
Viele Sagen aus dieser Zeit und auch ein besonderer Held, gingen aus ihr
hervor.
Das war meine Angriffsfläche – das schien der Stoff für meinen Roman zu
sein.
Nach sechs Jahren, in denen ich mir ab und an mal ein paar Stunden des
Nachts, auf längeren Fahrten, abends im Hotel, wenn ich beruflich unterwegs war, oder in den Zeiten, wenn ich zu meiner Elternzeit unfreiwillig
die Nacht beenden musste, genehmigte, an diesem Buch zu schreiben, fand
ich ein spannendes Ende. Ich korrigierte und ließ lektorieren. Ich skizzierte
und ließ Zeichnungen anfertigen.
Nach sechs langen Jahren war alles umgesetzt.
Und nun verspüre ich den Drang es noch einmal, diesmal mit einer wohl
geplanten und mir selbst genehmigten Gelassenheit zu lesen – einzutauchen in eine Welt, die ich selbst erschuf.
Aber so hätte sie auch gewesen sein können.
Albert Bömer
Unner us
(Unter uns)
So., 20.Juni 1632
Wie in der Verdammnis dunkel ließen die Silhouetten knochiger Stämme
der noch jungen Birkenbäume jeden Menschen erschauern, der sich dieser unheilvollen Gegenden nähern sollte. In diesen moorigen Wiesen und
Feldern waren die Birken, je größer sie wurden, dem sicheren Tod näher,
da ihr Gewicht nicht mehr von dem regendurchtränkten fleischigen Boden
getragen werden konnte.
Der Tod war hier allgegenwärtig. In diesen Zeiten hatte er Konjunktur. Es
war eine schlimme Zeit. Eine Zeit, in der man kaum noch Grundpfeiler für
ein sinniges Leben hatte. Es fehlten die Pfeiler der Liebe, des Glaubens,
der regelmäßigen Ernährung und völlig verloren gegangen, waren die der
Hoffnung.
In dieser Gegend waren Krankheit, Tod und Furcht an der Tagesordnung.
Dreck und viele hungernde Menschen waren zu finden. Menschen, die aus
allen Ecken des Heiligen Römischen Reiches, einer armseligen zerrütteten Deutschen Nation strömten, da sie aus Gegenden flüchten mussten, wo
es noch schlechter um sie bestellt war. So zogen Vertriebene, die sich zu
Söldnerheeren zusammenrauften, in den Wäldern und Wiesen in ständiger
Angst umher, wenigstens in diesen münsterländischen Niederungen etwas
Essbares und nötige Reserven finden zu können. Und im Glauben, den
Krieg im friedlich wirkenden Münsterland hinter sich zu lassen.
Vier dieser Söldner waren es, die sich, nachdem sie sich vorbei an Pestgegenden, vorbei an niedergebrannten Städten und sich wütend verteidigenden Katholiken gekämpft hatten, in frühesten Stunden in der aufgehenden
Sonne vor der scheinbar uneinnehmbaren Burg, der Feste zu Nienborg,
auf den vorgelagerten Moorwiesen einfanden. Sie dürsteten nach sauberem
Wasser. Hunger war nebensächlich geworden.
Es war das Jahr sechzehnhundertzweiunddreißig.
Das Jahr inmitten des Dreißigjährigen Krieges.
Am Ende des Weges, wo leichter Bodennebel waberte, wie als Vorbote
der herannahenden Räuber, standen die achtjährigen Zwillinge Anna und
Josepha von Bauer Voß. Sie brauchten an diesem Sonntagmorgen nicht bei
der Landarbeit helfen und hatten etwas Zeit für sich. Nichts ahnend von der
Gefahr, die auf sie zukommen sollte, spielten sie ein Spiel, welches sich
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„Stumpenstoaten“ nannte. Jedes Kind in der Stadt kannte es. Man musste
dabei mit einem nackten Fuß einen Holzschuh anziehen und diesen dann
mit Wucht aus kurzer Entfernung zu einem Baumstumpf schleudern, um
hier einen zusammengebundenen Ball aus Kleidungsstücken zu treffen.
Fiel dieser Ball vom Stumpf, so gewann man eine Tonmurmel von seinen
Mitspielern.
Diese Murmeln bekam man nur aus dem nahe gelegenen Ochtrup, wo in
der Töpferei Eiling in der Horst ein Mann arbeitete, der selber keine Kinder
hatte, diesen aber freundlich zugetan war. Er war zuständig für das Brennen
von Tonschüsseln, Vasen, Tassen und Tellern. Aus Tonresten kreiste er mit
den flachen Händen Kügelchen und legte sie dem Geschirr in den Ofen bei.
Er lieferte die Ware auch selber aus, darauf legte er großen Wert. Kam er
nun zu Kunden, welche Kinder hatten, so legte er für sie jedes Mal ein paar
Murmeln dazu.
Anna war an der Reihe. Sie besaß nur noch zwei Murmeln und musste sich
sehr konzentrieren auf ihren nächsten Stoß. Sie holte weit aus, überlegte
noch einmal kurz und fiel, weil sie sich zu sehr zurück gelehnt hatte, nach
hinten. Sie konnte noch kurz ihren rechten Fuß absetzen, verlor aber ihr
Gleichgewicht und kippte zu Boden. Josepha lachte. Dann aber bemerkte
sie, dass Anna Schmerzen verspürte, zog erschreckt ihre Hände zum Mund
und bückte sich zu ihr nieder. Für einen Moment war es sehr still. Wären
da nicht Geräusche von herannahenden galoppierenden Pferden zu vernehmen gewesen. Die Kinder erschraken.
„Los, Anna, wir müssen ins Korn. Wer immer da kommen mag“, sagte
Josepha mit kaum vernehmbarer Stimme.
Es war ungewöhnlich, dass mehrere Pferde zugleich zu hören waren, schon
gar nicht galoppierende.
Auf dem Lande ging es eigentlich immer ruhig zu.
Schnell huschten sie in das nur vier Fuß entfernte Kornfeld und duckten sich.
Es waren vier Söldner, die hastig auf den Kalvarienberg zu ritten.
„Sie wollen unser Dorf. Sie wollen es wieder einmal erstürmen und brandschatzen“, flüsterte Anna ihrer Schwester zu.
„Das glaube ich nicht“, beruhigte Josepha, „es sind nur vier Reiter. Aber sie
haben es auf einen Hof abgesehen!“
„Auf unseren Hof?“
„Ich glaube es nicht, eher den von Ossendorps oder Hericks. Aber sei jetzt
leise, ich weiß nicht, ob man uns hören kann.“
Sie duckten sich und klammerten sich fest einander.
Auf der Anhöhe hielten die Reiter und stiegen ab. Sie tauschten Waffen
aus, banden die Pferde an die Bäume und berieten sich.
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Die Reiter waren auch dem Bauern Gottschalk Biäntfeld aus Averbeck
nicht unbemerkt geblieben, welcher gerade im Wald des Kalvarienbergs
Pilze sammelte. Er brauchte sich nicht zu sehr ducken, da er noch eine
ziemlich sichere Distanz zu ihnen hatte. Er schlich sich, gedeckt von den
Bäumen, zum nächsten Pfad und ging in gebückter Haltung hinter den Hecken entlang, um den nächsten Bauern zu warnen.
Nach kurzer Zeit erreichte er den Hof Ossendorp. Die Magd war draußen
bei den Hühnern. Sie sah das bange Gesicht des Bauern Biäntfeld, welcher
ihr einen Wink gab und eilte ihm, den Rock hochziehend, in das Haus nach.
Er stieß die beiden Kühe, welche sich im Haus befanden, von sich und rief
nach dem Bauern.
„Schnell Jans, hol` deine Prengel und die Fork, Söldner sind da. Ich laufe
weiter und hole Verstärkung.“
Mit diesen Worten eilte er aus dem Haus. Als er den direkten Pfad zu seinen
Hof erreichte, beschleunigte er seinen Lauf noch einmal.
Jans und seine Magd sahen sich verängstigt an. Sollte es schon wieder dazu
kommen, wie im letzten Herbst, als die Horden unter Hauptmann Gallein
alles niedermachten und jedes Haus, in dem nichts zu holen war, in Brand
setzten. Wer sich wehrte, wurde erschlagen.
Jans sah noch genau vor sich, wie sein Weib sich vor etwa einem halben Jahr
weigerte, ihre Dienste für die Reiter vom Braun darzubringen. Zwei Söldner hielten ihn damals mit einer Hellebarde in Schach, stießen mit einem
Kantholz auf seine Kniescheiben, so dass er sich schreiend vor Schmerzen
am Boden wälzte und seiner Frau nicht helfen konnte. Sie wehrte sich so
heftig gegen den dritten Reiter, dass dieser den Dolch zog, um ihr damit zu
drohen. Im Affekt stieß er ihn ihr jedoch in den Hals. Jans bekam mit, wie
der Reiter das Messer verschreckt zu sich zurück zog, als wolle er andeuten, es sei bei dieser Drohung geblieben.
Alles war für den Augenblick mucksmäuschenstill. Nur seine Frau war zu
hören. Sie stieß leise pfeifende Laute aus und drückte mit aller Kraft die
linke gedrehte Handfläche an ihre linke Halshälfte. Ihre Augen wurden immer größer und sie starrte dabei kontinuierlich auf den Reiter. Zwischen
ihren gespreizten Fingern quoll das Blut über die Fingerrücken und weiter
über ihre Schulter. Dann sackte sie zusammen. Und stand nie wieder auf.
Der Reiter konnte seinen Blick nicht von ihr abwenden. Erst als er einen
Hieb seines Gefährten bezog, kam er wieder zur sich, stieg auf sein Pferd,
wendete es mit einem heftigen Stoß und galoppierte davon. Die anderen
beiden plünderten das Naheliegende und flohen ebenfalls.
„Ich möchte nicht auch noch dich verlieren“, sagte Jans zu seiner Magd.
„Wo soll ich denn das Vieh lassen?“, fragte sie.
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