Lektion 18: Die ersten Kondizionalgefüge - graecum

Lektion 18: Die ersten Kondizionalgefüge
18.1 Protasis – Apodosis
Kondizionalgefüge sind "wenn-dann"-Gefüge. Den untergeordneten Satz nennt man "Pro-tasis" ("Vor-Spannung") und
den übergeordneten Satz "Apo-dosis" (die "Einlösung" oder "Bezahlung des Geschuldeten"). Es wird also eine Spannung
erzeugt, die mit dem übergeordneten Satz aufgelöst wird.
Das ist praktischer, als von Neben- und Hauptsatz zu sprechen. Die Apodosis ist ja nicht immer ein Hauptsatz, sondern
steht oft selbst in einem Nebensatz. Ein Beispiel aus Platons Apologie, 17d (Sokrates spricht vor Gericht; er bittet um
Verständnis dafür, dass er mit der Gerichtssprache nicht vertraut sei):
Genauso,
(Einleitung des Hauptsatzes)
wie ihr Verständnis für mich hättet,
(Apodosis als komparativer Nebensatz)
wenn ich wirklich ein Ausländer wäre,
(so) habt es auch jetzt,
(Protasis eine weitere Ebene darunter)
(Apodosis als Hauptsatz)
wenn ich in der Sprache zu euch spreche,
(Protasis eine Ebene darunter)
mit der ich aufgewachsen bin."
(Relativsatz eine weitere Ebene darunter)
Das zweite Kondizionalgefüge ist im Hauptsatz verankert, das erste nicht. Das kommt oft vor.
18.2
Die Partikel ἄν
ἄν zeigt eine Besonderheit im Modus an; man nennt sie deshalb auch "Modalpartikel". Das Wörtchen selbst wird nicht
übersetzt! Man schaut sich den Modus an, mit dem es steht, und übersetzt dann dem Gesamtsinn entsprechend.
ἄν kommt in mehreren Typen von Kondizionalsätzen vor. Merke dir genau, wo es steht und wo nicht.
Konjunktionen können mit ἄν Verbindungen eingehen:
εἰ
+ ἄν
ἐάν / ἄν (mit langem ᾱ)1) / ἤν
"(immer) wenn"
ὅτε
+ ἄν
ὅτᾱν
"(immer) wenn" (zeitlich)
ὁπότε
+ ἄν
ὁπόταν
dasselbe
ἐπεί
+ ἄν
ἐπεάν / ἐπάν / ἐπήν
"wenn", "sobald" (nie: "weil"!))
ἐπειδάν
"wenn", "sobald" (nie: "weil"!)
ἐπειδή + ἄν
1)
Die Partikel ἄν steht nie am Satzanfang. Wenn sie das scheinbar doch tut, handelt es sich in Wirklichkeit um ein
kontrahiertes ἐάν "wenn".
18.3
Die verschiedenen Kondizionalfälle
Hier zuerst eine Übersicht über alle Kondizionalgefüge, auch wenn wir noch nicht alle darstellen können:
PROTASIS
APODOSIS
NAME
Wenn A,
dann B.
INDEFINITUS (REALIS)
Wenn A (gewesen) wäre,
dann wäre B (gewesen).
IRREALIS der Gegenwart oder Vergangenheit
Wenn A,
dann vielleicht/wahrscheinlich... B.
POTENTIALIS
(Immer) wenn A war,
war (grundsätzlich) B.
ALLG. AUSSAGE / ITERATIV der Vergangenheit
(Immer) wenn A ist,
ist (grundsätzlich) B.
ALLG. AUSSAGE / ITERATIV der Gegenwart
Wenn A,
dann sicher B.
EVENTUALIS (Prognose für den Einzelfall)
1
18.3.1
Indefinitus
Dieser Fall, öfters auch irreführend "Realis" genannt, ist einfach nicht näher spezifiziert. Dieser Fall kommt selten vor.
18.3.2
Irrealis
Es gibt einen Irrealis der Gegenwart ("täte", "geschähe"...) und einen Irrealis der Vergangenheit ("hätte getan", "wäre
geschehen"....) Beide Fälle können auch gemischt vorkommen, der eine in der Protasis, der andere in der Apodosis.
Faustregel: Im Irrealis der Vergangenheit (hätte getan, wäre geschehen...) steht meist der Indikativ Aorist, im
Irrealis meist der Gegenwart (täte, geschähe) der Indikativ Imperfekt. Das ist wie immer eine Frage des Aspekts: Im
ersten Fall ist die die Situation abgeschlossen, im zweiten dauert sie noch an.
Abweichungen sind möglich! Wenn die vergangene Handlung oder Situation als länger dauernd oder wiederholt
gedacht ist, kann das Imperfekt stehen; wenn eine gegenwärtige punktuell gedacht ist, kann der Aorist stehen.
18.3.3
Allgemeingültige Aussage und der Iterativ der Gegenwart
Die Grenze zwischen der allgemeingültigen Aussage und dem Iterativ ist fließend. Beim Iterativ liegt der Fokus auf der
Wiederholung, bei der allgemeingültigen Aussage auf der Gültigkeit. Es gibt aber auch Fälle, die allgemeingültig, aber
nicht iterativ sind: "Wenn man bescheiden ist, führt man ein zufriedenes Leben."
18.3.4
Eventualis
Der Eventualis hat nichts mit "eventuell" im Sinne von "vielleicht" zu tun. Er beschreibt vielmehr eine sehr zuversichtliche
Prognose über ein einzelnes Ereignis (event) in der Zukunft ("Wenn A, dann wird sicher B passieren").
Dies ist das einzige zuverlässige Kriterium für die Unterscheidung zu 18.3.3: Bei der allgemeingültigen Aussage und
dem Iterativ geht es um mehrere oder alle denkbaren Fälle, beim Eventualis um ein einzelnes Ereignis.
So werden die bisher genannten Fälle sprachlich dargestellt:
PROTASIS
APODOSIS
εἰ + Indikativ
Indikativ
INDEFINITUS
εἰ + Indikativ Vergangenheit
Indikativ Vergangenheit + ἄν
IRREALIS
POTENTIALIS
ALLG. AUSSAGE / ITERATIV d. Verg.
ἐάν + Konjunktiv
Indikativ (meist) Gegenwart
ALLG. AUSSAGE / ITERATIV d. Ggw.
ἐάν + Konjunktiv
(meist) Futur / Imperativ
EVENTUALIS (Prognose f. Einzelfall)
ἐάν ist als Stellvertreter zu betrachten. Es können dafür auch eintreten
1.
temporale Konjunktionen, die sich mit ἄν verbinden; s. oben unter 18.2.
2.
Relativpronomina mit ἄν (in verallgemeinernden Relativsätzen). Statt des einfachen ὅς, ἥ, ὅ findet man dann öfters
ὅστις, ἥτις, ὅτι (zusammengesetzt aus ὅς und τις in allen Formen). Wörterbücher geben hierfür gern an "wer auch
immer". Beachte aber, dass das nur für die Verbindung mit ἄν und Konjunktiv gilt. Andernfalls ist ὅστις
gleichbedeutend mit ὅς.
2
18.4 Übung zu den bisher gelernten Kondizionalgefügen: Irrealis, Eventualis, Iterativ
/ allgemeingültige Aussage der Gegenwart
Textgrundlage: http://graecum-latinum.de/gr_texte/pdf/texte_herodot_polykrates.pdf
Verwende für diese Übung keine PC oder Genitivi absoluti, sondern drücke alle Kondizionalsätze mit "wenn"- oder, wenn
es sich anbietet, Relativsätzen aus.
Verwende in verallgemeinernden Relativsätzen auch mal ὅστις (aus Formen von ὅς + τις zusammengesetzt) statt ὅς!
Gruppe I - Polykrates überlegt:
1. Wenn ich Tyrann von Samos wäre, wäre ich glücklich.
2. Wer arm ist, führt ein erbärmliches (ἐλεεινός) Leben.
3. Ich brauche ein Bündnis, denn wer allein kämpft (μάχομαι D. M.), wird besiegt (ἡττάομαι D. P.)
4. Wenn man ein Bündnis mit jemandem schließt, muss man Geschenke (τὸ δῶρον) schicken.
5. Wenn Amasis will, wird er mein Freund sein.
6. Wenn ich Amasis Geschenke schicke, wird das Bündnis fest (ἰσχυρός) sein.
7. Wenn auch meine Schiffe (αἱ νῆες) heil (σῶος) zurückkehren (ἐπ-αν-έρχομαι), dann wird Amasis
glauben (Futur: οἰήσομαι), dass die Götter mich wahrhaftig lieben.
Gruppe II - Amasis schreibt:
1. Wenn du nicht so viel Glück hättest, hätte ich keine Angst um dich (φοβέομαι περί τινος).
2. Aber wer auch immer zu viel (ἄγαν oder λίαν) Glück hat, nimmt ein schlechtes Ende.
3. Denn wann immer die Götter sehen, dass ein Mensch zu viel Glück hat, vernichten (δια-φθείρω) sie
ihn.
4. Selbst wenn man will, kann man sich vor den Göttern nicht verstecken (λανθάνω τινά).
5. Wenn du gerettet werden willst, höre auf mich.
6. Wenn auch deine Schiffe (αἱ νῆες) nicht untergegangen sind (ἀπ-όλλυμαι D. M.) sondern heil
(σῶος) zurückkehren (ἐπ-αν-έρχομαι), wirf deinen Ring weg.
7. Und jedesmal, wenn du in allem Glück hast, hilf dir auf diese Weise (ἀκέομαι).
Gruppe III - Polykrates denkt:
1. Amasis hat recht (καλῶς/εὖ λέγει). Wenn ich zu viel (ἄγαν oder λίαν) Glück habe, werde ich kein
gutes Ende nehmen.
2. Wer arm ist, muss sich nicht fürchten (müssen: δεῖ "es ist nötig" + AcI).
3. Wenn ich nicht das Leben eines Tyrannen, sondern das eines Bauern führte, wäre ich sicher (σῶος).
4. Wenn meine Schiffe nicht zurückgekehrt (ἐπ-αν-έρχομαι) wären, würden die Götter glauben, dass
ich nicht zu viel Glück habe.
5. Wenn ich aber meinen Ring verliere (ἀπο-βάλλω oder ἀπ-όλλυμι), werden sie genau das (αὐτὸ
τοῦτο) glauben.
6. Wenn ich den Ring ins Meer (ἡ θάλαττα) werfe, wird er nicht mehr gefunden werden.
7. Wenn ich nicht einen so klugen Freund hätte, würde ich zugrundegehen (ἀπ-όλλυμαι D. M.)
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