Handelsblatt vom 09.04.2015 Autor: Seite: Gillmann, Barbara/ Specht, Frank/ Hoppe, Till 006 Nummer: Auflage: Ressort: Gattung: Wirtschaft & Politik Tageszeitung Reichweite: 068 122.585 (gedruckt) 118.034 (verkauft) 123.847 (verbreitet) 0,48 (in Mio.) Die stille Reserve Viele Asylsuchende wären als Fachkräfte durchaus qualifiziert. Doch der Arbeitsmarkt sperrt sich. Barbara Gillmann, Frank Specht Berlin. -- Unternehmen vermissen Planungssicherheit. -- Wirtschaft mahnt mehr Sprachförderung an. Flüchtling ist kein Beruf - der Slogan prangt auf vielen Plakaten in Berlins City. Der Senat und die Handwerkskammer werben damit für das Projekt "Arrivo". In Workshops können junge Flüchtlinge verschiedene Berufe ausprobieren, im Idealfall finden sie später einen Praktikums- oder Ausbildungsplatz. Rund 50 Betriebe auf der Suche nach Berufsnachwuchs beteiligen sich an der Initiative. Diese gelebte Willkommenskultur setzt einen klaren Kontrapunkt zum Brandanschlag auf die fast bezugsfertige Asylbewerberunterkunft im sachsen-anhaltinischen Tröglitz. Denn angesichts der alternden Bevölkerung und des drohenden Fachkräftemangels kann es sich Deutschland gar nicht leisten, auf das Potenzial von Flüchtlingen zu verzichten. Gerade viele jugendliche Asylsuchende seien sind nicht nur bereit, sondern auch besonders motiviert, eine Ausbildung zu absolvieren, sagt Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer. "Gerade für sie darf das Asylverfahren keinen Lebensstillstand bedeuten." Aus Sicht der Wirtschaft ist Stillstand jedoch oft eher die Regel als die Ausnahme - trotz bereits erfolgter Gesetzesänderungen. So dürfen Asylsuchende und Geduldete inzwischen bereits nach drei Monaten, und nicht erst nach bis zu einem Jahr, eine Arbeit aufnehmen, wenn sich für die Tätigkeit kein EUBürger findet. Leben sie länger als 15 Monate in Deutschland, entfällt auch diese "Vorrangprüfung". Unternehmen, die einen Flüchtling beschäftigen oder ausbilden wollen, fehlt allerdings die Planungssicherheit, solange sie jederzeit mit einer Abschie- bung rechnen müssen. In ihrer Ende März veröffentlichten "Berliner Erklärung" setzen sich der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) und der Handwerksverband ZDH deshalb für eine weitere Beschleunigung der Asylverfahren ein. Auch die Bertelsmann Stiftung weist in einer neuen Studie, die in Kürze veröffentlicht werden soll, auf den gewaltigen Antragsstau hin. So häuften sich beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Ende Januar fast 180 000 unbearbeitete Asylanträge. "Diese hohe Zahl ist im europäischen Vergleich ohne Parallele", warnt Studienautor Dietrich Thränhardt, Migrationsforscher von der Universität Münster. In der Praxis dauere der Prozess vielfach Jahre. Die per Gesetz erleichterte Arbeitsaufnahme werde damit von der Verwaltung quasi zunichtegemacht, weil weder Asylbewerber noch potenzielle Arbeitgeber vernünftig planen könnten, solange das Verfahren nicht abgeschlossen sei. Die Verantwortung für diesen "Flaschenhals" bei der Integration trage das Bundesinnenministerium. Die langen Asylverfahren sind aber nicht die einzige Hürde, die beim Sprung auf den Arbeitsmarkt zu überwinden sind. In ihrer "Berliner Erklärung" fordern DIHK und ZDH zudem, Asylbewerber stärker bei der Anerkennung ihrer Berufsabschlüsse zu unterstützen und mehr Sprachkurse anzubieten. Hier gebe es noch "Förderlücken in beträchtlichem Ausmaß", bemängelt der Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit (BA). So könnten Asylbewerber oft nicht von der berufsbezogenen Deutschförderung profitieren, die das BAMF mit Mitteln des Europäischen Sozialfonds organisiert. Denn ihnen fehlten oft schon die Grundkenntnisse, die Voraussetzung für eine Teilnahme seien. Dabei sind sich Wissenschaft und Wirtschaft einig, dass mehr Engagement für die Integration von Flüchtlingen sich lohnen würde. Denn von den Asylantragstellern - rund 300 000 werden für das laufende Jahr erwartet - ist nach Daten der Bundesagentur für Arbeit im Schnitt jeder fünfte Akademiker und jeder dritte Facharbeiter. "Da ist also Arbeitskräftepotenzial zu heben", sagt Hans-Peter Klös, Geschäftsführer des Instituts der Deutschen Wirtschaft in Köln. Das gilt umso mehr, als es Deutschland immer noch zu wenig gelingt, Zuwanderer aus Staaten außerhalb der EU anzulocken. Wenn die vielen Migranten, die derzeit aus den Euro-Krisenländern hierherkommen, irgendwann in ihre Heimat zurückkehren, wird sich die Fachkräftesituation also dramatisch zuspitzen. Auch deshalb seien der Brandanschlag von Tröglitz und die verbreitete Fremdenfeindlichkeit ein gefährlicher Angriff auf die Willkommenskultur, warnt der stellvertretende DIHK-Hauptgeschäftsführer Achim Dercks. Deutschland erarbeite sich langsam einen Ruf als offener und attraktiver Standort: "Das dürfen wir als Exportnation und globalisiertes Industrieland nicht leichtfertig wieder aufs Spiel setzen." Gastkommentar Seite 56 ASYL WER DARF BLEIBEN? Verfolgt "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht": So steht es kurz und prägnant in Artikel 16a des Grundgesetzes. Die Betonung liegt dabei auf dem Wort "politisch", denn wer aus anderem Antrieb in Deutschland Zuflucht sucht, Armut oder Perspektivlosigkeit etwa, der hat keinen Anspruch auf Asyl. Im besten Falle genießt er subsidiären Schutz. Anerkannt 128 000 Asylanträge bearbeitete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im vergangenen Jahr, lediglich einem Viertel davon wurde stattgegeben. Zählt man subsidiären Schutz und Abschiebeverbote aus humanitären Gründen hinzu, steigt die Quote auf knapp ein Drittel. Die übrigen sind aber nicht alle Wirtschaftsflüchtlinge: Ein Großteil der Anträge wird abgelehnt, weil die Flüchtlinge über einen sicheren Drittstaat einreisten. Abgelehnt Mehr als jeder fünfte Asylantrag wurde 2014 von Bürgern aus den Balkanländern gestellt - die Anerkennungsquote tendierte gegen null. Meh- rere Staaten sind inzwischen als "sichere Herkunftsländer" eingestuft. Seither können die Anträge schneller abgelehnt werden. Till Hoppe. Deutschland: Asylanträge 2014 nach Herkunftsländern in Prozent (STAT / RANK / Tabelle) Deutschland: Übergriffe auf Flüchtlinge 2015 und Anzahl genehmigter Asylanträge nach Bundesländern (STAT / GEO / POL / Grafik) Abbildung: Abbildung: Wörter: Urheberinformation: © 2015 PMG Presse-Monitor GmbH Notunterkunft in der Hamburger St.-PauliKirche: Die Länder fordern Hilfen. Markus Matzel imagetrust 800 Verlagsgruppe Handelsblatt GmbH 2015: Alle Rechte vorbehalten. 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