Paradigma des Life Designs

Zürcher Hochschule
für Angewandte Wissenschaften
Überblicksreferat Innovation
Track A: Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung
Prof. Dr. Marc Schreiber, Zürich, 24.4.2015
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Agenda
• Was ist Diagnostik? Was ist Innovation?
• «Zeitgeist» dreier Paradigmen in der BSLB
- Paradigma der Passung
- Paradigma des lebenslangen Lernens
- Paradigma des Life Designs
• Diagnostik im Paradigma des Life Designs
- Was sagt uns die Persönlichkeitspsychologie?
- Veränderungsmessung anstatt Statusmessung
• Fazit
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Was ist Diagnostik?
Psychodiagnostik ist eine Methodenlehre im Dienste der Angewandten
Psychologie. Soweit Menschen die Merkmalsträger sind, besteht ihre Aufgabe
darin, interindividuelle Unterschiede im Verhalten und Erleben sowie
intraindividuelle Merkmal und Veränderungen einschliesslich ihrer jeweils
relevanten Bedingungen so zu erfassen, dass hinlänglich präzise
Vorhersagen künftigen Verhaltens und Erleben sowie deren evtl.
Veränderungen in definierten Situation möglich werden.
Amelang & Schmidt-Atzert, 2006, S.3
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Was ist Innovation?
«Bestehendes» neu strukturieren
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«Zeitgeist» dreier Paradigmen in der BSLB
Paradigma der
Passung
Paradigma des
lebenslangen Lernens
Tests und
Fragebogen
(Positivismus)
Kognitive Ansätze der
Problemlösung /
Gesprächsführung
Quelle: Savickas, 2012
Paradigma
des Life
Designs
Narrative Verfahren
(Konstruktivismus)
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Paradigma der Passung (1)
• Positivistische Grundhaltung
- Objektivität
(≠ Subjektivität)
- Statusdiagnostik
auf der Basis stabiler
Eigenschaften und
einer stabilen
Berufswelt
(Stabilität)
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Die Annahme der Stabilität …
…entspricht manchmal nicht der Realität der
«Klientinnen und Klienten».
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Die Annahme der Objektivität …
…entspricht oft nicht der Realität in der
Einzelfalldiagnostik.
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Paradigma der Passung (2)
• Psychometrie
- Klassische Testtheorie
- Skalierbarkeit ist als wichtiges Hauptgütekriterium identifiziert
(vgl. z.B. Bühner, 2011)
zu berücksichtigen:
Einzelfalldiagnostik
≠ Diagnostik von
Gruppen
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Klassische Testtheorie und Motivmessung
• Die klassische Testtheorie eignet sich nicht für die Motivmessung, weil das zu
messende Konstrukt (Motiv) nicht stabil ist (vgl. Kuhl, 2010, S. 274-276):
 Nach dem Essen habe ich keinen Hunger!
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Paradigma der Passung (3)
• Verschiedene Ansätze der Statusdiagnostik
- Explizite Verfahren (z.B. NEO-PI-R, …)
- Implizite Verfahren (z.B. TAT, OMT, …)
- Objektive Verfahren
(z.B. objektiver Persönlichkeitstest, …)
- Computerbasierte Verfahren
(z.B. auch adaptive Verfahren)
• Vocational Guidance (Savickas, 2012)
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Paradigma des lebenslangen Lernens
• Entwicklung und Anpassung
an eine einigermassen stabile
Arbeitswelt
• Hierarchische Entwicklungen
innerhalb von Organisationen
als klassischer Laufbahnpfad
• Kognitive Wende
(Selbstwirksamkeit und
soziale-kognitive Lerntheorie)
• Coaching und kognitives
Problemlösen
• Career Education (Savickas,
2012)
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Paradigma des Life Designs
Konstruktivismus und sozialer Konstruktionismus
Konstruktivismus
Sozialer Konstruktionismus
• Fokus auf individuelle kognitive
• Fokus auf die sozialen Prozesse sowie
Prozesse der Sinnstiftung sowie des
Konstruierens der sozialen und
psychologischen Welt einer Person
• Beispiel Lernen: Kognitive Prozesse,
die eine Person beim Lernen durchläuft
den historischen und kulturellen
Kontext: Die soziale und
psychologische Welt wird durch soziale
Prozesse und Interaktionen konstruiert
(real gemacht).
• Beispiel Lernen: soziale (Lern-)
Prozesse und die soziale Interaktion
- Radikaler Konstruktivismus
(Glaserfeld, 1995)
- Moderater Konstruktivismus
(Kelly, 1955; Piaget, 1969)
- Sozialer Konstruktivismus
(Brunner, 1990; Vygotsky, 1978)
Quelle: Young & Collin, 2004, p.375ff
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Paradigma des Life Designs
• Konstruktivistische (konstruktionistische) Grundhaltung
- Subjektivität (≠ Objektivität)
- Veränderung
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Paradigma des Life Designs
• Verschiedene Ansätze (narrativ, holistisch, systemisch, …)
- My System of Career Influences (McMahon, Watson & Patton, 2013)
- Career Style Interview (Savickas, 2005)
- Selbstkonstruktion (Guichard, 2009)
-…
• Career Counseling (Savickas, 2012)
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Paradigmen
wirksamer Beratung
Paradigma der Passung
Psychologie
(Vocational Guidance)
20. Jh. (1. Hälfte)
Urbanisierung und
Industrialisierung:
Industrie und Bau
(sekundärer Sektor)
dominieren
Differentielle Psychologie
Fragestellung in der
Beratung
Was für ein Beruf / eine
Stelle passt zu mir?
Zentrale
Beratungsmethoden
Tests und Fragebogen
(Positivismus)
Zentrale Konstrukte
Ähnlichkeiten und
Unterschiede von
Personen
Zeitlich Einbettung
Wirtschaftlicher
Kontext
Quelle: Savickas, 2012
Paradigma des
lebenslangen Lernens
(Career Education)
20. Jh. (2. Hälfte)
Globalisierung und
Internationalisierung:
Dienstleistungssektor
(tertiärer Sektor)
dominiert
Kognitive Psychologie
und
Entwicklungspsychologie
Was für
Entwicklungsschritte sind
für meine berufliche
Entwicklung nötig /
hilfreich?
Kognitive Ansätze der
Problemlösung /
Entscheidungsfindung /
Gesprächsführung
Bereitschaft einer
Person, sich zu
entwickeln
Paradigma des Life Designs
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(Career Counseling)
21. Jh.
Digitalisierung: Alle
Sektoren werden von der
Informations- und
Kommunikationstechnologie durchdrungen
Konstruktivismus und
Konstruktionismus
Wie kann ich meine
(berufliche) Identität aktiv
gestalten?
Narrative Verfahren
(Konstruktivismus/Konstruk
tionismus)
Reflexivität
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Diagnostik im Zeitgeist des Life Designs
Was sagt uns die Persönlichkeitspsychologie?
• Neuere Entwicklungen der Persönlichkeitspsychologie
- Whole Trait Theory (Fleeson & Jayawickreme, 2014)  States
- Cybernetic Big Five Theory (DeYoung, 2014)  Kybernetik
- The personality systems framework (Mayer, 2015)  Systemtheorie
- Personal projects as units of analysis (Little, 2014)  konkrete Projekte
• Klassiker der Persönlichkeitspsychologie
- William Stern (1871-1938)  Komparationsforschung, Psychographie,
Variationsforschung, Korrelationsforschung
-
Gordon Allport (1897-1967)  idiographischer Ansatz
Raymond B. Cattell (1905-1998)  L-Daten, Q-Daten, T-Daten
Hans-Jürgen Eysenck (1916-1997)  PEN-Modell
Walter Mischel (1930-)  Kognitiv-affektives Persönlichkeitssystem
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Diagnostik im Zeitgeist des Life Designs
Was sagt uns die Persönlichkeitspsychologie?
• Five main assertions of Whole Trait Theory
1. The descriptive side of traits is best thought of as density distributions
of states
2. It is important to provide an explanatory account of the Big 5
3. Adding an explanatory account to the Big 5 creates two parts to traits,
an explanatory part (traitEXP) and a descriptive part (traitDES), and these
two parts are distinct entities that nevertheless can be joined into
whole traits because one of the parts is the causal consequence of the
other part
4. The explanatory part of traits consists of social-cognitive mechanisms
5. What needs to be done next is to identify social-cognitive mechanisms
that produce Big-5 states
Quelle: Fleeson & Jayawickreme, 2014)
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Diagnostik im Zeitgeist des Life Designs
Was sagt uns die Persönlichkeitspsychologie dazu?
Quelle: Fleeson & Jayawickreme, 2014)
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Diagnostik im Zeitgeist des Life Designs
Veränderungsmessung anstatt Statusmessung
• Statusmessung
 interindividuelle Perspektive
• Veränderungsmessung
 intraindividuelle Perspektive
Nicht zufällig
gezogener Wert aus
der intraindividuellen
Verteilung einer
bestimmten Person
Quelle: Bühner, 2011
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Diagnostik im Zeitgeist des Life Designs
Veränderungsmessung anstatt Statusmessung
• Vorschlag
- Erfassung der Big Five Persönlichkeitsdimensionen als States
- Fokus auf die intraindividuelle Varianz im Erleben und Verhalten einer
Person
 Veränderungsmessung
- Experience Sampling Methode
(ESM; siehe Conner, Tennen,
Fleeson, & Barrett, 2009;
Fleeson & Gallagher, 2009;
Schallberger & Pfister, 2001;
Schallberger, 2006).
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Diagnostik im Zeitgeist des Life Designs
Veränderungsmessung anstatt Statusmessung
• In der Beratung können die relevanten (sozial-kognitiven) Prozesse als
Erklärung für das Erleben und Verhalten in ganz konkreten Situationen
thematisiert werden
• Emotionen (z.B. positive und negative Aktivierung) spielen auch eine Rolle
und sollten berücksichtigt werden (vgl. z.B. Kuhl, 2010; Fredrickson, 2003)
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Fazit
1. Innovation im Bereich der Psychometrie (z.B. Probabilistische Testtheorie,
DIF) stellt die Theorie und Praxis vor grosse Herausforderungen
2. Die klassische Testtheorie ist eigentlich nicht geeignet für die
Einzelfalldiagnostik
3. Die Skalierbarkeit sollte als Hauptgütekriterium psychometrischer
Fragebogen ernst genommen werden
4. Das Menschenbild (erkenntnistheoretische Grundhaltung) ist zentral für die
Theorie und Praxis in der Diagnostik
5. Je nach Menschenbild werden die folgenden Begriffspaare unterschiedlich
gewichtet
a) Konstruktivismus / Konstruktionismus und Positivismus
b) Stabilität und Veränderung
c) Subjektivität (Reflexivität) und Objektivität
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Literatur
• Amelang, M. & Schmidt-Atzert, L. (2006). Psychologische Diagnostik und Intervention (4. Auflage). Heidelberg: Springer.
• Bühner, M. (2011). Einführung in die Test- und Fragebogenkonstruktion (3., aktualisierte Auflage). München: Pearson Studium.
• Conner, T. S., Tennen, H., Fleeson, W., & Barrett, L. F. (2009). Experience Sampling Methods: A Modern Idiographic Approach to
Personality Research. Social and Personality Psychology Compass, 3, 292–313. doi:10.1111/j.1751-9004.2009.00170.x
• DeYoung, C. G. (2014). Cybernetic Big Five Theory. Journal of Research in Personality. Elsevier Inc. doi:10.1016/j.jrp.2014.07.004
• Fleeson, W., & Gallagher, P. (2009). The implications of Big Five standing for the distribution of trait manifestation in behavior: fifteen
experience-sampling studies and a meta-analysis. Journal of Personality and Social Psychology, 97(6), 1097–1114. doi:10.1037/a0016786
•
•
•
•
•
Fleeson, W., & Jayawickreme, E. (2014). Whole Trait Theory. Journal of Research in Personality. doi:10.1016/j.jrp.2014.10.009
Fredrickson, B. L. (2003). The value of positive emotions. American Scientist, 91(4), 330–335. doi:10.1511/2003.4.330
Guichard, J. (2009). Self-constructing. Journal of Vocational Behavior, 75(3), 251–258. doi:10.1016/j.jvb.2009.03.004
Kuhl, J. (2010). Lehrbuch der Persönlichkeitspsychologie. Göttingen: Hogrefe.
Little, B. R. (2014). The integrative challenge in personality science: Personal projects as units of analysis. Journal of Research in
Personality. doi:10.1016/j.jrp.2014.10.008
• Mayer, J. D. (2015). The personality systems framework : Current theory and development. Journal of Research in Personality, 1–11.
doi:10.1016/j.jrp.2015.01.001
• McMahon, M., Watson, M., & Patton, W. (2013). My System of Career Influences MSCI (Adult). A Qualitative Careeer Assessment
Reflection Process. Samford: Australian Academic Press.
• Schallberger, U. (2006). Die zwei Gesichter der Arbeit und irhe Tolle für das Wohlbefinden: Eine alktivierungstheoretische Interpretation.
Wirtschaftspsychologie, 2/3, 96–102.
• Schallberger, U., & Pfister, R. (2001). Flow-Erleben in Arbeit und Freizeit. Zeitschrift Für Arbeits- Und Organisationspsychologie A&O, 45(4),
176–187. doi:10.1026//0932-4089.45.4.176
• Savickas, M. L. (2005). The theory and practice of career construction. In S. D. Brown & R. W. Lent (Eds.), Career development and
counseling: Putting theory and research to work (pp. 149–208). New York, NY: Wiley.
• Savickas, M. L. (2012). The 2012 Leona Tyler Award Address: Constructing Careers--Actors, Agents, and Authors. The Counseling
Psychologist, 41, 648–662. doi:10.1177/0011000012468339
• Young, R. A., & Collin, A. (2004). Introduction: Constructivism and social constructionism in the career field. Journal of Vocational Behavior,
64(3), 373–388. doi:10.1016/j.jvb.2003.12.005
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