Freie Alternativschule... Und danach (?)

 Victoria Jankowicz
Freie Alternativschule... Und danach (?)
Bildungsbiografien von AlternativschulabsolventInnen in Deutschland
2015
Modulabschlussarbeit (Modul "Soziologie der Bildung und Erziehung"),
eingereicht an der Philosophische Fakultät III – Erziehungswissenschaften,
Institut für Pädagogik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Kontakt: Victoria Jankowicz – [email protected]
Inhalt
1.
Problemaufriss
S. 2
2.
Freie Alternativschulen: Gegenstandsbestimmungen
S. 3
2.1
Begriffliche Abgrenzungen und Profil
S. 3
2.2
Entstehung, Entwicklung und rechtlicher Rahmen
S. 5
3.
Empirische Erkenntnisse
S. 7
3.1
Forschungsstand und Quellen
S. 7
3.2
Die FAS-Klientel
S. 8
3.3
Schulabschlüsse und Anschlüsse
S. 9
3.3.1 Schulwechsel nach alternativer Grundschule
S. 10
3.3.2 Abschlüsse und Anschlüsse nach zehn Jahren Alternativschule
S. 10
3.3.3 QuereinsteigerInnen und WechslerInnen
S. 12
3.4
Berufsorientierung und Ausbildung
S. 13
4.
Fazit und weiterführende Fragen
S. 14
Quellen
S. 17
1 1. Problemaufriss
"Wer will, kann zehn Jahre im Baum hocken" lautet der Titel eines Artikel der
Nachrichtenseite Spiegel Online, in dem von der freien Schule Leipzig erzählt wird, die
offensichtlich so ganz "anders" als "normale" Schulen funktioniert: Keine Noten, keine
Lehrpläne, kein Siezen der LehrerInnen, dafür viele Freiheiten (Roberts 2010).
Bemerkenswertes spielt sich auch im Kommentarbereich unter dem Artikel ab: Zahlreiche
Wortmeldungen zeigen die Vielfalt der Meinungen, die allein in Deutschland über Schulen
dieser Art kursieren – von der harschen Zurückweisung über Skepsis bis zur euphorischen
Lobpreisung. Viele Kommentare ähneln dem von UserIn "mittwochsnie":
"Das Leben ist keine Baumschule. (...) Freie Schulformen fördern Kreativität und
Problemlösekompetenz sicher besser als traditionelle Schulen. Aber Leistungsdruck,
Bewertungsstress oder Zeitvorgaben gehören zum Arbeitsalltag und darauf müssen Kinder
auch vorbereitet werden." (ebd., Kommentarbereich)
und "mouve" meint:
"(...) Das Interessante an diesen Schulen ist doch (...), ob sie in der Lage sind, Schüler auf
eine spätere Ausbildung oder ein Studium vorzubereiten (...)" (ebd.)
Genau das ist das ist Ausgangspunkt dieser Auseinandersetzung: Wie verlaufen die
Bildungsbiografien von SchülerInnen freier Alternativschulen in Deutschland, vor allem
nachdem sie diese verlassen haben?
Der Frage implizit ist die Hoffnung, dass Vorurteile gegenüber freien Schulen wie etwa, dass
Kinder dort nichts lernen und nicht ausreichend auf das "echte Leben" vorbereitet würden,
empirisch widerlegt oder zumindest entkräftet werden können. Der Standpunkt ist beeinflusst
von schulskeptischen Denkern wie etwa Klaus Holzkamp und (s)einer kritischen Sicht auf
deutsche Regelschulen (vgl. Holzkamp 1990). Kann gezeigt werden, dass aus Menschen nach
allgemeinem Verständnis "etwas wird", obwohl (oder gerade weil?) sie Schulen besucht
haben, die behaupten ohne Zwang und Kontrolle auszukommen? Wie kommen
AlternativschulabsolventInnen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt an und zurecht? Das
Interesse an alternativen Schulkulturen ist schließlich auch jenseits von subjektzentrierten
oder kapitalismuskritischen Perspektiven begründbar: In von Industriesoziologen und Sven
Opitz als "postfordistisch" charakterisierten Lebens- und Arbeitszusammenhängen sind
Kompetenzen wie Selbststeuerungsfähigkeit, Kreativität, Teamfähigkeit und Flexibilität
zunehmend gefragt (vgl. Klingovsky 2013: 06-3f.). Diese Kompetenzen werden aber, wenn
man die entsprechenden schulkritischen Stimmen oder auch die Ergebnisse der PISA-Studien
ernstnimmt, in Regelschulen nicht ausreichend gefördert, während freie Alternativschulen
2 ihrem Selbstverständnis nach genau diese fokussieren (vgl. BFAS 1986; BFAS 2011). Sind
AlternativschulabsolventInnen womöglich – entgegen der Vorbehalte – sogar "besser" auf das
Leben nach der Schule vorbereitet als ihre RegelschulkollegInnen?
Dass damit die Frage nach dem "Erfolg" eines bestimmten Schultyps gestellt wird, ist aus
schulforscherischer Perspektive nicht unproblematisch (vgl. Helsper/Böhme 2008; Ullrich u.a.
2004). Freie Alternativschulen zeichnen sich dadurch aus, dass sie unkonventionelle
Vorstellungen von Leistung und Erfolg praktizieren. Was eine Schule erfolgreich macht, wird
aber ganz unterschiedlich gefasst. Wie kann ein solcher Diskurs operationalisiert werden?
Diese Auseinandersetzung konzentriert sich im Sinne einer ersten Annäherung auf möglichst
neutrale statistische Kenngrößen wie Schulabschlüsse, Schulformen, Ausbildungsgänge und
berufliche Orientierungen. Damit wird der genannten Herausforderung zwar zunächst mehr
oder weniger aus dem Weg gegangen, aber auch versucht, Anregungen für eine sinnvolle
weitere Erforschung zu gewinnen.
Nach einer Gegenstandsbestimmung wird der Forschungsstand bilanziert, um im Anschluss
der Frage nachzugehen, inwiefern freie Alternativschulen eine sozial abgrenzbare Klientel
ansprechen. Schließlich werden vor allem die Bildungsbiografien bzw. Schulkarrieren der
AlternativschülerInnen in den Blick genommen.
2. Freie Alternativschulen: Gegenstandsbestimmungen
2.1 Begriffliche Abgrenzungen und Profil
Privatschulen, Angebotsschulen, staatlich anerkannte Ersatzschulen, Schulen in freier
Trägerschaft,
freie
Schulen,
Reformschulen,
Modellschulen,
Schulversuche,
Alternativschulen: Im Feld jenseits der staatlichen, deutschen Regelschule ist eine
bemerkenswerte begriffliche Vielfalt zu konstatieren. Da keine Einheitlichkeit bei der
Verwendung von Bezeichnungen besteht, sind begriffliche Abgrenzungen unumgänglich für
eine weitere Auseinandersetzung mit dem Thema.
Regelschulen können - laut Wörterbuch Pädagogik – definiert werden als: "Alle Schularten,
die im Schulgesetz eines Bundeslandes vorhanden sind und nicht den Status einer
Angebotsschule, eines Schulversuchs oder einer Privatschule haben" (Schaub/Zenke 2007:
525). Privatschulen sind Schulen in freier, d.h. nicht-staatlicher, Trägerschaft, sie werden als
Ersatzschule bezeichnet, wenn sie "mit vorheriger Genehmigung der Schulbehörde als Ersatz
für öffentliche Schulen errichtet und betrieben werden" dürfen (ebd.: 206). Reformschulen
bzw. reformpädagogische sind Schulen mit innovativen pädagogischen Konzepten, die sich
3 von der Regelschulpädagogik deutlich unterscheiden. Sie können privat oder öffentlich
getragen sein. Staatliche Reformschulen können den Status eines Schulversuchs oder (bei
dauerhafter Anlage) einer Angebotsschule haben.1 Für diese Auseinandersetzung interessieren
nicht die "klassischen" reformpädagogische Ansätze bzw. Schulen wie Montessori, Waldorf,
Jena-Plan oder Freinet (vgl. Hoffmann 2013), sondern eine recht junge2 Sonderform der
reformpädagogischen Schulen: Die sogenannten freien Alternativschulen (FAS).
FAS haben ein bestimmtes Profil, das unter anderem aus einschlägigen Erklärungen des
Bundesverband freier Alternativschulen (BFAS) hervorgeht (BFAS 1986; BFAS 2011). Sie
können demnach (und Maas zufolge (1998: 20)) durch folgende Punkte charakterisiert
werden:
-
überschaubare selbstverwaltete Schulen,
-
Demokratieerfahrungen als zentraler Aspekt im Schulalltag,
-
Verzicht auf so genannte "Zwangsmittel" zur Disziplinierung von Kindern,
-
Verzicht auf feste Schulordnungen: Regeln entstehen mit und durch die LehrerInnen
und SchülerInnen in gemeinsamen, demokratischen Aushandlungsprozessen,
-
Lerninhalte orientieren sich an den Interessen und Erfahrungen der Kinder und werden
mit den LehrerInnen, die meist als "Teamer", "Begleiter" oder "Erwachsene"
bezeichnet werden (Wendeln 2002: 101), abgesprochen und abgestimmt,
-
Lern- und Entwicklungsberichte anstelle von Zensuren und Zeugnissen,
-
unterschiedliche Lernformen (Unterricht in Angebotsform, freies Spiel, ...),
-
hoher Stellenwert sozial-emotionaler und künstlerisch-musischer Lernprozesse,
-
starker Einbezug der Elternschaft.
Der spezielle Schultyp wird von den VertreterInnen selbst als "freie Alternativschule"
bezeichnet, wodurch die Alternativstellung sowohl zur staatlichen Regel-, als auch zu anderen
Reformschultypen deutlich wird (Wendeln 2002: 16). In der Praxis tragen FAS meist die
Bezeichnung "freie Schule".3 Laut BFAS sind die meisten FAS private Schulen in freier
Trägerschaft, einige wenige befinden sich in kommunaler (BFAS o.A.). Privatschulen
1
Aus Platzgründen kann nicht eingehender auf Besonderheiten und weitere Begriffe eingegangen werden. Vgl.
für Angebotsschule (Schaub/Zenke 2007: 30), Ersatzschule (ebd.: 206), Modellschule (ebd.: 438), Privatschule
(ebd.: 511), Schulversuch (ebd.: 587).
2
Siehe 2.2.
3
Die Bezeichnung "freie Schule" kann in die Irre führen, da sich auch nicht-staatliche Schulen als "freie Schulen"
bezeichnen bzw. so bezeichnet werden, die nicht das spezifischen Profil der Alternativschulen aufweisen. Es ist
zu vermuten, dass die Bezeichnung "frei" unterschiedlich weit gefasst wird: In einem allgemeineren Sinn ist
lediglich der schulorganisatorische Status von Schulen in freier (d.h. nicht-staatlicher) Trägerschaft gemeint. Bei
den FAS bezieht sich die Bezeichnung "frei" wohl zusätzlich auf zentrale pädagogische Elemente wie freie
Unterrichtsgestaltung, freies Spiel, freie Zeiteinteilung usw. Außerdem kommen Schulbezeichnungen wie
"demokratische –", "Kinder-", "Bürger-" oder "aktive Schule" vor (Wendeln 2002: 16).
4 erheben Schulgebühren, an der freien Schule Leipzig etwa sind das derzeit 60 Euro im Monat
zzgl. Hortkosten, Essengeld, Mitgliedsbeitrag und weiteren Extrakosten (Freie Schule Leipzig
o.A.). Etwa die Hälfte der rund 100 FAS in Deutschland hatte laut BFAS im Herbst 2014 eine
Primar- und Sekundarstufe I und es gab zwei reine Sekundarstufe-Schulen, alle anderen seien
Grundschulen (BFAS o.A.). Im Übrigen seien alle FAS einzügige Ganztagsschulen, viele
hätten eine Kindertagesstätte vorgeschaltet (ebd.). FAS müssen, so Borchert (1998: 109f.), als
Ersatzschulen die Curricula der staatlichen Schulen nicht übernehmen, sich aber an ihnen
orientieren, wobei Spielräume etwa bzgl. der Lernziele, Methoden, Zeitplanung und
Schwerpunktsetzung bestehen. VertreterInnen der FAS fordern seit jeher alternative Curricula,
die ihrem pädagogischen Profil stärker Rechnung tragen (Wendeln 2002: 94). Die CurriculaFrage ist relevant hinsichtlich der Schulabschlüsse: Im Falle der alternativen Grundschulen
wechseln die SchülerInnen nach vier bis sechs Jahren auf andere Schulen, an denen sie
Abschlüsse erwerben können. Staatlich anerkannte Ersatzschulen mit Sekundarstufe dürfen
"Bildungsempfehlungen
erteilen,
Schulabschlüsse
vergeben
und
Prüfungen
selbst
durchführen. Dabei bestimmt die Schulaufsichtsbehörde die Zusammensetzung der
Prüfungsausschüsse" (Saaleschule für (H)alle o.A.), wohingegen genehmigte Ersatzschulen
nur "das Recht [haben, V.J.], Kinder und Jugendliche zur Erfüllung der Schulpflicht
aufzunehmen" (ebd.), d.h. anerkannte Abschlüsse müssen in diesem Fall an staatlichen
Schulen erworben werden. Der Unterschied dürfte nach einem kurzen Überblick über
Entstehung und Entwicklung der FAS in Deutschland klarer werden, da sich in diesem
Zusammenhang eine Erläuterung der rechtlichen Rahmenbedingungen ergibt.
2.2 Entstehung, Entwicklung und rechtlicher Rahmen
Die deutschen FAS können als Kind der 1968er-Studentenbewegung4 bezeichnet werden
(Hoffmann 2013: 20 und 113ff; Maas 1998: 16ff., Wendeln 2002: 36ff.). Die während der
alternativen Vietnamkongresse (1966-68) in Frankfurt und West-Berlin spontan von der
Bewegung selbst organisierte Kinderbetreuung inspirierte Teile der alternativen Elternschaft
zur Anmietung leerstehender Ladenräume in ihren Städten, um dort ihre Kinder jenseits des
staatlichen Erziehungssystems zu betreuen (Hoffmann 2013: 20 und 114ff.). Damit waren die
ersten Kinderläden in Deutschland geboren. Als Antwort auf die Frage, wie es mit den
4
Die Protestbewegung bezog sich unter anderem auf "gesellschaftskritische Forschungen von Reich, Fromm
und Bernfeld (...), die auf 'den Zusammenhang von gesellschaftlichen Produktionsbedingungen und
Herrschaftsformen einerseits und familiären sowie schulischen Sozialisationsbedingungen andererseits'
verweisen" (Maas 1999 zit. nach: Wendeln 2002: 37f.). Auch die Frankfurter Sozialforscher Horkheimer und
Adorno stellen mit ihren Studien zum autoritären Charakter wichtige Bezugspunkte dar. Für die weiterführende
Lektüre zur Ideengeschichte der 68er-Bewegung ist Felschs "Der lange Sommer der Theorie: Geschichte einer
Revolte 1960-1990" (2015) zu empfehlen.
5 Kinderladenkindern nach dem Kindergartenalter weitergehen soll, wurde – unter Beteiligung
des Adorno-Schülers und späteren Hannoveraner Soziologie-Professors Oscar Negt –
zunächst eine antiautoritäre Schulklasse innerhalb einer Frankfurter Grundschule eingerichtet
("Rödelheimer Projekt"), und schließlich 1972 mit der Glocksee-Schule in Hannover die erste
FAS in Deutschland gegründet (vgl. Negt 2004: 107ff.; Maas 1998: 16, Idel/Ullrich 2008:
363).5 Nach der Eröffnung der Glocksee-Schule entstanden deutschlandweit verschiedene
Gründungsinitiativen nach diesem Modell. Die Glocksee-Schule wurde 1986 anerkannt und
hat heute den Status einer staatlichen Angebotsschule. Viele der nicht-staatlichen FAS hatten
langwierige Probleme mit den Behörden, die häufig in gerichtliche Auseinandersetzungen
mündeten und schließlich bis vor das Bundesverfassungsgericht führten (Borchert 1992:
18ff.), was im Folgenden in einem kurzen Abriss dargestellt wird.
Den rechtlichen Rahmen für Privatschulgründungen gibt das Grundgesetz (Art. 7 Abs. 4 GG)
vor, in dem das Recht auf deren Errichtung verankert ist. Gemäß der jeweiligen
Landesgesetze ist eine Genehmigung der Schule durch die zuständige Schulbehörde
notwendig (ebd. GG), um eine Betriebserlaubnis zu erhalten, denn: "Das gesamte Schulwesen
steht unter Aufsicht des Staates" (Art 7. Abs. 1 GG). Ferner ist grundgesetzlich vorgegeben,
dass Privatschulen dann zuzulassen sind, wenn die zuständige Schulbehörde ein "besonderes
pädagogisches Interesse" anerkennt oder auf Antrag der Eltern als Gemeinschafts-,
Bekenntnis- oder Weltanschauungsschule (Art. 7 Abs. 5 GG). FAS-Initiativen heben in der
Regel auf das "besondere pädagogische Interesse" ab. Bis 1992 entschieden die
Schulbehörden offenbar recht willkürlich über die Anerkennung desselben (Borchert 1998:
84f.), da es bis dato nirgends genauer spezifiziert war. Wurde keine Genehmigung erteilt,
widersprachen die Initiativen dem Urteil in der Regel vor dem Bundesverwaltungsgericht
(ebd.). Im Fall der freien Schule Kreuzberg urteilte dieses jedoch Ende der 1980er-Jahre, dass
die Anerkennung bzw. die Nicht-Anerkennung durch die Schulbehörde zulässig und nicht zu
beanstanden sei (ebd.). Da dies Aus für viele FAS bedeutet hätte, zog die Kreuzberger
Initiative vor das Bundesverfassungsgericht (ebd.: 252ff.) – in diesem Zusammenhang wurde
der Bundesverband der freien Alternativschulen (BFAS) gegründet (ebd.: 84f.). Das
Bundesverfassungsgericht beurteilte den Widerspruch gegen das Urteil schließlich 1992 als
zulässig und spezifizierte das besondere pädagogische Interesse (vgl. ebd.: 89f. und 252ff.),
5
Die konzeptuellen Ursprünge können weit vor dieser Zeit verortet werden: Der russische Schriftsteller Tolstoi
gründete 1849 (s)eine erste alternative Schule für Bauernkinder in Russland, die in einiger Hinsicht den heutigen
FAS stark ähneln (Hoffmann 2013: 20). Laut Hoffmann (ebd.) orientierte sich Tolstoi vor allem an den
pädagogischen Ideen Rousseaus und Montaignes. In Spanien und Polen entstanden zeitgleich verschiedene
alternative Schulversuche mit ähnlichem Profil (ebd.). Obwohl deutsche Alternativschulen von verschiedenen
reformpädagogischen Ansätzen und Vordenkern geprägt sind, können diese Schulen konzeptionell als deren
Vorläufer bezeichnet werden (ebd.).
6 was den Weg für FAS in Deutschland ebnete. Die in den Bundesländern unterschiedlich
geregelte Ersatzschulfinanzierung stellt allerdings bis heute eine Hürde für nicht-staatliche
Schulinitiativen dar: Meist müssen Privatschulen drei bis sechs Jahre ohne finanzielle
Unterstützung zurechtkommen; und auch danach werden Kosten nicht in voller Höhe erstattet
(Borchert 1992: 20). In einigen Bundesländern setzen sich Parteien für eine Veränderung
dieser "restriktive[n] Bezuschussungspolitik" (Borchert 1998: 90) ein (vgl. exemplarisch:
Bündnis 90/Die Grünen KV Sachsen 2014).
Der Anteil der Privatschulen ist nach Angaben des statistischen Bundesamts allgemein
gestiegen (Statistisches Bundesamt 2014), das trifft auch auf die FAS zu. Zur Zeit der
Gründung des BFAS 1988 waren 18 FAS als Mitglieder darin vertreten, zehn Jahre später
waren es 36 (Borchert 1998) und 2008 bereits 50 (Idel/Ullrich 2008: 363). Im September
2014 gab es laut BFAS 90 FAS in Deutschland, die von 6600 SchülerInnen besucht werden,
daneben 6 Gründungsinitiativen (Stand September 2014, BFAS o.A). Auf Anfrage betonte
der BFAS, dass es in Deutschland schätzungsweise noch einmal so viele Schulen gebe, die
von ihrem Profil her zum BFAS passen würden.
Wie gezeigt wurde, handelt es sich bei den FAS um ein junges Phänomen. Die Gruppe der
AlternativschulabsolventInnen war und ist insofern noch relativ klein, was sich in einer sehr
begrenzten Datenlage niederschlägt.
3. Empirische Erkenntnisse
3.1 Forschungsstand und Quellen
Die deutsche Schulforschung beschäftigt sich nicht vorrangig mit Reform- und
Alternativschulen.
Insbesondere
der
Bereich
der
AbsolventInnen-
bzw.
Schülerkarriereforschung ist unterbelichtet (vgl. Idel/Ullrich 2008). Idel und Ullrich
bemerken aber, dass "(...) sich die Forschungslage zu Reform- und Alternativschulen in den
letzten zehn Jahren deutlich verbessert (...)" habe (ebd.: 364). FAS sind innerhalb der
Schulforschung und innerhalb der Reformschulforschung als abgrenzbares Feld gesondert zu
betrachten. In Deutschland und auch international sind FAS bisher kein breit erforschtes Feld
(vgl. Eberhart / Kapelari 2010: 26; Idel/Ullrich 2008: 379; de Haan 1992: 178). Als
AbsolventInnennstudie in diesem Bereich erwähnen Idel und Ullrich (2008) lediglich Ulrike
Köhlers Befragung von Glocksee-AbsolventInnen (vgl. Köhler/Krammling-Jörens 2000).
Zum aktuellen Zeitpunkt liegt keine Untersuchung vor, die Lebensverläufe deutscher
7 AlternativschulabsolventInnen bis in die Berufstätigkeit betrachtet. Dies kann insofern als
Forschungslücke identifiziert werden, was der BFAS auf Anfrage bestätigte.
Die weiteren Ausführungen stützen sich aus den erwähnten Gründen vor allem auf die Studie
von Ulrike Köhler, die 1995 im Rahmen ihrer Dissertation 105 AbsolventInnen der GlockseeSchule aus acht Abschlussjahrgängen (1987-1994) schriftlich befragt, und zusätzlich 75 frei
produzierte Texte ihrer Befragten sowie Schuldokumente analysiert hat (GESIS
Forschungserhebung 2000, Köhler/Krammling-Jöhrens 2000). 6 Aufgrund der mageren
Datenlage wurden zusätzlich Ergebnisse zweier Studien aus Österreich herangezogen:
Fischer-Kowalski u.a. (1995) haben Anfang bis Mitte der 1990er Jahre im Rahmen einer
Totalerhebung alle Wiener AlternativschulabsolventInnen (n = 260) und Franz Eberhart
anlässlich seiner 2007er-Dissertation 128 Ehemalige von 13 verschiedenen FAS aus fünf
österreichischen Bundesländern befragt (n = 128) (Eberhart/Kapelari 2010). 7 Davon
abgesehen wurden Aussagen von bzw. über AlternativschulabsolventInnen aus weiteren
Informationsquellen einbezogen, die sich auf kleinere Beobachtungen stützen. Die
entsprechenden Verweise finden sich an den jeweiligen Stellen im Text.
3.2 Die FAS-Klientel
Es sind bestimmte Menschen, die ihre Kinder nicht auf Regelschulen schicken wollen und
sich für eine FAS entscheiden (Köhler/ Krammling-Jöhrens 2000: 91).
FAS sind offenbar attraktiv für Eltern mit höheren Bildungsabschlüssen. Erstaunlicherweise
kommen drei ForscherInnen unabhängig voneinander (in einem Zeitraum von 15 Jahren und
in zwei unterschiedlichen Ländern) zu dem Ergebnis, dass über 50% der Alternativschuleltern
6
Die Glocksee-Schule kann zwar "mit einem gewissen Recht" (Idel/Ullrich 2008: 363) als erste FAS in
Deutschland bezeichnet werden, allerdings hat sie als Angebotsschule in staatlicher Trägerschaft nicht mit
vergleichbaren finanziellen und rechtlichen Problemen zu kämpfen wie der Großteil der FAS (siehe 2.2). Zudem
vergibt die Schule am Ende der 10. Klasse anerkannte Haupt-, Real- und erweiterte Realschulabschlüsse (vgl.
Köhler/Krammling-Jöhrens 2000: 81ff.), während dies auf den überwiegenden Teil der FAS nicht zutrifft. Meist
bereiten die LehrerInnen ihre SchülerInnen auf externe Prüfungen vor, auf die sie selbst keinen Einfluss haben.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass das einen Einfluss auf Kenngrößen wie etwa die Abschlussverteilung hat.
7
Das österreichische Schulsystem ist dem deutschen von der Gliederung her ähnlich, in Österreich gibt es
jedoch keine Schulpflicht, sondern eine Unterrichtspflicht, der auch in Form von privatem Heimunterricht oder
über den Besuch privater Schulen entsprochen werden kann (vgl. österreichisches Schul- und Unterrichtsgesetz).
Bei letzteren sind Privatschulen mit und ohne Öffentlichkeitsrecht zu unterscheiden, wobei Privatschulen ohne
Öffentlichkeitsrecht etwa mit genehmigten Ersatzschulen in Deutschland zu vergleichen sind. Am Ende jedes
Schuljahres müssen diese SchülerInnen ihre Fähigkeiten an einer öffentlichen Schule überprüfen lassen. Fällt die
Beurteilung positiv aus, dürfen sie weiter die freie Schule besuchen; wenn nicht, müssen sie auf eine öffentliche
wechseln. Privatschulen mit Öffentlichkeitsrecht, die eine öffentliche Schulbezeichnung tragen ("Volksschule"
o.ä.) arbeiten nach vorgegebenem Lehrplan. Privatschulen mit Öffentlichkeitsrecht, aber ohne öffentliche
Bezeichnung arbeiten mit eigenen Lehrplänen, die aber von der Schulverwaltung genehmigt werden müssen.
Laut Eberhart und Kapelari (2010) sind die meisten FAS in Österreich Privatschulen mit Öffentlichkeitsrecht, von
denen viele nach dem Lehrplan der Glocksee-Schule arbeiten. Die Elternbeiträge liegen nach Eberhart (ebd.) bei
ca. 280 Euro im Monat zzgl. Extrakosten, womit sie deutlich mehr als FAS in Deutschland kosten. Diese
Unterschiede müssen bei der Rezeption bedacht werden.
8 Hochschulabschlüsse besitzen (Köhler/Krammling-Jöhrens 2000: 93; Eberhart/Kapelari 2010:
53; Fischer-Kowalski u.a. 1995: 34). Dieser Befund kann insofern als gesichert gelten.
Trennungs- bzw. Scheidungskinder kommen in FAS überdurchschnittlich häufig vor (Köhler
2004: 114; Eberhart/Kapelari 2010: 54; Fischer-Kowalski u.a. 1995: 34). Fischer-Kowalski
u.a. vermuten, dass Alleinerziehende womöglich in der familiären Alternativschule ein
besonderes Unterstützungsangebot sehen (Fischer-Kowalski ebd.). Der Großteil der FASEltern arbeitet in Gesundheits-, Lehr- Sozial- oder Kulturberufen oder ist selbstständig bzw.
freiberuflich tätig (Eberhart/Kapelari 2010: 56; Fischer-Kowalski 1995: 38). Diese Erkenntnis
geht allerdings nur aus den österreichischen Studien hervor, Köhler hat dieses Merkmal nicht
besprochen (vgl. Köhler/Krammling-Jöhrens 2000). Die Alternativschuleltern beziehen zwar
meist Einkommen aus einer Berufstätigkeit, aber in sehr unterschiedlicher Höhe "von der
Sozialhilfe bis zum Professorengehalt" (Köhler 2004: 112; Eberhart/Kapelari 2010: 53).
Die ForscherInnen ordnen die genannten Merkmale unterschiedlichen Milieus bzw. Schichten
zu. Während de Haan (1992: 178) von "Mittelschichtseltern mit höheren Schulabschlüssen"
spricht, spricht Eberhart vom "Selbstverwirklichungsmilieu" (Eberhart/Kapelari 2010: 53)
und Fischer-Kowalski von der "intellektuelle Subkultur" (Fischer-Kowalski u.a. 1995: 38).
Köhler (2004: 112) ordnet die Elternschaft auf Basis übereinstimmender Einschätzungen der
Befragten dem "alternativen Milieu" zu – nach dem Mileu-Modell des Sinus-Instituts 1993.
Dies erscheint passend, denn Eberhart und auch de Haan versuchen sich zwar an einer
eindeutigen Zuordnung, sie will aber nicht so richtig gelingen. Problematisch diesbezüglich
erscheint die Kopplung von homogen hohen Bildungsabschlüssen einerseits und
Einkommensunterschieden andererseits. Bei Köhlers Zuordnung zeigt sich ein homogenes
Bild, zu dem die zuletzt und auch alle weiteren genannten Merkmale passen (vgl. ebd.), was
für eine Differenzierung nach dynamischeren sozialen Milieus statt einkommens- oder
berufsstandspezifischen Klassen und Schichten spricht, an die in folgenden Untersuchungen
angeknüpft werden sollte.
3.3 Schulabschlüsse und Anschlüsse
Die folgenden Ausführungen werden differenziert entsprechend unterschiedlich verlaufender
Alternativschulkarrieren dargestellt: 1. Schulwechsel nach der alternativen Grundschule zu
einer weiterführenden Regelschule, 2. erste Schulabschlüsse, Anschlüsse und zweite
9 Abschlüsse nach zehn Jahren freier Alternativschulzeit und 3. QuereinsteigerInnen und
WechslerInnen,.8
3.3.1 Schulwechsel nach alternativer Grundschule
Kinder, die vier oder sechs Jahre eine alternative Grundschule besucht haben, wechseln im
Anschluss meist auf Schulen, an denen sie die allgemeine Hochschulreife erwerben können,
was ihnen auch meist gelingt. Auch der Übergang gestaltet sich in der Regel relativ
reibungslos. Zu diesen Ergebnissen kommen verschiedene Untersuchungen einvernehmlich
(vgl. BFAS für Freie Schule Charlottenburg e.V. o.A.; de Haan 1992: 180). Defizite kommen,
wenn überhaupt, im Bereich Rechtschreibung vor. Diese zeigen sich nach de Haan aber auch
bei RegelschülerInnen und können normalerweise von den AlternativschülerInnen schnell
und auffallend selbstständig aufgeholt werden (ebd.). Fischer-Kowalski u.a. (1995: 196)
stellen für Österreich fest, dass diese Gruppe "die größten Matura-Chancen [hat, V.J.] und
gleichzeitig die geringste Zahl an Jugendlichen, die unmittelbar nach der Schulpflicht ohne
weitere Ausbildung ins Arbeitsleben übertreten". Dieser Befund könnte darauf hinweisen,
dass sich eine Verlängerung der freien (Spiel-)Zeit über das Kindergartenalter hinaus positiv
auf den Verlauf der Bildungskarriere auswirken kann, ein längerer Besuch einer FAS aber
womöglich geringere Vorteile mit sich bringt. Davon abgesehen, dass für Deutschland bisher
keine vergleichbaren Daten vorliegen, bedürfte es einer tiefergehenden Auseinandersetzung,
um sich einer Erklärung hierfür anzunähern.
3.3.2 Abschlüsse und Anschlüsse nach zehn Jahren Alternativschule
Nach zehn Jahren freier Alternativschulzeit gelingen den AbsolventInnen Übergänge und
Abschlüsse an weiterführenden Schulen überdurchschnittlich gut.
Fast alle AlternativschülerInnen, die bis zur zehnten Klasse eine Alternativschule besuchen,
erwerben einen ersten Schulabschluss, der zum Besuch einer weiterführenden Schule, meist
einer gymnasialen Oberstufe, berechtigt (Köhler/Krammling-Jöhrens 2000: 199f.). Laut
Köhler liegt die Abschlussverteilung über dem Bundesdurchschnitt; sie wird von ihr als "ein
erster Hinweis auf eine gute fachliche Qualifizierung" interpretiert (ebd.). Dabei kann
allerdings, im Anschluss an Untersuchungen zur kulturellen Reproduktion durch die Schule
von Bourdieu (Bourdieu/Passeron 1971), die Frage gestellt werden, inwiefern die
8
Mit der Differenzierung wird Fischer-Kowalski u.a. (1995: 190ff.) gefolgt, die in ihrer Darstellung verschiedene
Gruppen von AlternativschülerInnen unterscheiden: Die "alternativen Nestflüchter" wechseln nach der Primarstufe
zur Regelschule, die "alternativen Nesthocker" besuchen nach der Primarstufe eine alternative Sekundarstufe I
und wechseln danach an weiterführende Schulen und die Gruppe der "Wechsler" erscheint als Quereinsteiger
oder wechselt zwischen den Schulformen hin und her.
10 Abschlussverteilung tatsächlich vorrangig auf das pädagogische Profil der Schule
zurückgeführt werden kann und nicht vor allem auf den hohen Bildungsstand der FASElternschaft. 9 "Die gute Abschlussverteilung ist nicht unabhängig von der GlockseeElternschaft zu sehen", bemerkt auch Köhler (ebd.: 200) und verweist auf die entsprechenden
Bildungsaspirationen, Förderung und Unterstützung durch die Eltern. Allerdings seien "In
jeder Klasse (...) SchülerInnen, deren Familien eine solche Unterstützung nicht geben können
oder wollen. Tatsächlich können am Ende der Glocksee-Schulzeit 20% der AbsolventInnen
einen höheren Schulabschluss als ihre Väter oder Mütter erreichen" (ebd.). Die gute
Abschlussverteilung könnte also durchaus auch auf die besondere pädagogische Praxis
zurückgeführt werden. Allerdings steht eine Überprüfung der Abschlussverteilung von FASAbsolventInnen aus, die Prüfungen an externen Schulen absolvieren müssen, um in Erfahrung
zu bringen, inwiefern dieser Befund allgemein für FAS zutrifft. Darüber hinaus ist die
Differenzierung von Familien- und Schuleffekten in Bezug auf den Schulerfolg eine
Herausforderung, der sich folgende Untersuchungen stellen müssten.
Die große Mehrzahl ehemaliger AlternativschülerInnen besucht nach dem Ende der
Alternativschulzeit eine gymnasiale Oberstufe und schließt diese erfolgreich mit dem Abitur
ab (ebd.: 208ff.). Auch hier ist wieder fraglich, inwiefern dies auf die pädagogische Praxis
zurückgeführt werden kann. Abhilfe könnte etwa eine Untersuchung mit einer entsprechenden
Vergleichsgruppe alternativer Elternschaft in Regelschulen bringen.
FAS-AbsolventInnen verbleiben vergleichsweise lange in schulischen Laufbahnen bevor sie
zur Erwerbstätigkeit bzw. Berufsvorbereitung wechseln. 80% der von Köhler Befragten
befanden sich drei Jahre nach dem Ende der zehnten Klasse noch in Vollzeitschulen: 66% der
AbsolventInnen wechselte zu einer gymnasialen Oberstufe, 25% auf berufsbildende Schulen,
10% besuchten andere Schulen (z.T. im Ausland) und lediglich 2,9% begannen direkt nach
der 10. Klasse eine Ausbildung (ebd.: 208). Die Verteilung unterscheidet sich dabei deutlich
vom damaligen Bundesdurchschnitt: 1990 wählten 35% einen Bildungsgang, der zum Abitur
führt, 50% eine duale Ausbildung und 15% berufsbildende Schulen, Spezialausbildungen,
Förderschulen (ebd.). Köhler (ebd.: 210) über die Ehemaligen, die sich nach der Glocksee für
eine berufsbildende Schule entscheiden: "Der Trend, die zunächst erreichten Abschlüsse
aufzubessern, ist (...) bei ihnen in auffälligem Maße ausgeprägt". Eine Erklärung hierfür
könnte erneut in den Bildungsaspirationen der Elternschaft vermutet werden. Es könnte aber
auch als Hinweis darauf verstanden werden, dass AlternativschulabsolventInnen sich ihre
9
siehe 3.2.
11 Lernfreude erhalten konnten. Eine weitere Möglichkeit wäre der später zu erläuternde Befund
der langen Orientierungsphasen vor dem Berufseinstieg. Womöglich zögern ehemalige
AlternativschülerInnen aber auch (mehr oder weniger bewusst) den Beginn der
Erwerbstätigkeit hinaus, der mit der Einschränkung liebgewonnener Freiheiten einhergehen
würde. Dafür spricht auch der im Vergleich auffällig niedrige Anteil derer, die direkt in das
System der dualen Ausbildungen wechselt. Im Rahmen künftiger Studien könnte diesem
offensichtlichen Alternativschuleffekt nachgegangen werden.
Der Wechsel von einer freien Alternativschule zu einer weiterführenden Regelschule gelingt
meist ohne größere Probleme. Nur zwei der 105 von Köhler befragten wechselten einen
einmal begonnenen Bildungsgang, vier mussten nach dem Wechsel eine Klassenstufe
wiederholen (ebd.: 208). Eberhart stellte für Österreich eine Wiederholungsrate von 7,3%
fest (Eberhart/Kapelari 2010: 73); und 27% der von ihm befragten bezeichneten die
Vorbereitung auf die weiterführenden Schulen als nicht ausreichend (ebd.: 103). Die Studien
zeigen aber auch, dass Rückstande hier, genauso wie bei den Übergängen nach der
Grundschulzeit, meist rasch und selbstständig ausgeglichen werden können (ebd;
Köhler/Krammling-Jöhrens 2000: 206). Am häufigsten wurden Defizite in den Bereichen
Orthographie, Mathematik und Englisch bemerkt (ebd.). Interessant ist die Tatsache, dass die
Befragten in verschiedenen Untersuchungen nicht etwa den stärkeren Leistungsdruck als
größte Umstellungsschwierigkeit angaben, sondern stets den anderen Unterrichtsstil und das
Schüler-Lehrer-Verhältnis (Eberhart / Kapelari 2010: 73, Köhler/Krammling-Jöhrens 2000:
112). Ein Zitat aus der Eberhart-Befragung illustriert diesen "Schulkulturschock" bildhaft:
"Das Unterrichtssystem und die Art, wie die Lehrer mit uns umgingen, haben stark mein Interesse
geschwächt, sogar in den Bereichen, die mich vorher sehr interessiert haben. Ich merke, dass ich nicht
mehr aus eigenem Interesse lerne, sondern hauptsächlich, um mein Ziel, den Abschluss zu erreichen."
(ebd, S. 106)
Das untermauert die eingangs erwähnte Holzkamp'sche Darstellung vom "Lehren als
Lernbehinderung" (Holzkamp 1990) und kann als Hinweis für eine Unterrichtskultur gesehen
werden, die defensiven statt expansiven Lernbegründungen Raum gibt. Letztere werden in
FAS offenbar tatsächlich gefördert. Die häufig erwähnten Schwierigkeiten in den Bereichen
Orthographie und Mathematik sollten ernstgenommen werden. Um dem nachzugehen, wären
Untersuchungen nötig, die sich auf das Deutsch- und Mathematik-Lernen in freien Schulen
konzentrieren.
3.3.3 QuereinsteigerInnen und WechslerInnen
12 Neben den alternativen Eltern bewerben sich auch jene in FAS, die bei ihren Kindern
Schulschwierigkeiten erwarten (Köhler 2004: 113). Diese wechseln meist zu einer FAS, weil
es tatsächlich zu Schwierigkeiten im Regelschulsystem kam. Fischer-Kowalski u.a. (1995:
190f.) beziffern den Anteil dieser QuereinsteigerInnen bzw. WechslerInnen für Österreich auf
23%, von denen ein geringerer Anteil auf weiterführende Gymnasien wechselt und ein
höherer zu einer Lehre oder ohne weitere Ausbildung ins Arbeitsleben (ebd.: 196f.).
Kontinuierliche Schullaufbahnen, ob auf der Regelschule oder einer FAS, führen also – folgt
man den Befunden von Fischer-Kowalski u.a. – eher zu einem hohen Schulabschluss als
diskontinuierliche. Die AutorInnen resümieren, "dass Alternativschulen gescheiterten
RegelschülerInnen zwar Chancen bieten, aber nicht alle Nachteile kompensieren können"
(ebd.: 198). Es ist fraglich, inwiefern diese Daten auf Deutschland übertragbar sind. Bei
folgenden Untersuchungen wäre eine ähnliche Differenzierung der AlternativschülerInnen
diesbezüglich sicher aufschlussreich.
3.4 Berufsorientierung und Ausbildung
FAS-AbsolventInnen wechseln, wie gezeigt wurde, nach der Schulzeit selten schnell oder auf
direktem Weg in eine Berufstätigkeit. Sie verbleiben aber nicht nur lange im Schulsystem, sie
nutzen die Jahre nach der Schule auch für ausgedehnten Orientierungsphasen (KöhlerKrammling-Jöhrens 2000: 210ff.). Berufsorientierte Entscheidungen treffen die meisten
AbsolventInnen ca. im fünften oder sechsten Jahr nach dem Ende der FAS-Zeit, also mit etwa
21/22 Jahren (ebd). Köhler betont allerdings, dass lange Orientierungsphasen ein allgemeiner
Trend seien: Dem Bildungsbericht 1994 folgend kann erst am Ende des zweiten
Lebensjahrzehnts wirklich Auskunft über Bildungsverläufe gegeben werden. Diese
Altersstufe haben die Befragten in keiner der vorliegenden Untersuchungen erreicht
(Köhler/Krammling-Jöhrens 2000: 211). Köhler sieht in der ausgedehnten Orientierungsphase
der Glockseeler ein Zeichen dafür, dass sie einen Beruf suchen, der sie zufriedenstellt (ebd.:
212), was dem alternativen Milieu entsprechen würde. Auch die FAS-AbsolventInnen aus
Österreich geben an, vor allem eine interessante Tätigkeit als wichtig bzgl. der Berufswahl zu
erachten, und/oder eine, die ihren Fähigkeiten entspricht (Eberhart/Kapelari 2010: 110). Der
österreichische Durchschnitt legt neben einer interessanten Tätigkeit vor allem Wert auf gute
Bezahlung, einen sicheren Arbeitsplatz und Aufstiegsmöglichkeiten (ebd.). Der Befund der
langen Orientierungsphase müsste aktualisiert werden. Interessant wäre auch ein Vergleich
der Berufsorientierungsphasen junger Menschen "damals" und heute und eine genauere
13 Untersuchung, inwiefern die Orientierungsphase der FAS-AbsolventInnen tatsächlich deutlich
ausgedehnter ausfällt als im bundesdeutschen Durchschnitt.
Die große Mehrheit der FAS-AbsolventInnen studieren (Köhler 2000: 211). Von den 43
Ehemaligen, die zum Zeitpunkt der Köhler-Studie berufsorientierte Entscheidungen getroffen
hatten, entschieden sich 44% für ein Studium in den unterschiedlichsten Studienrichtungen,
18% begannen Berufsausbildungen in speziellen Schulen, 14% standen in betrieblichen
Ausbildungen, 9% waren erwerbstätig (ebd.). Bezüglich der AbsolventInnen einer freidemokratischen Schule im US-Bundesstaat Massachusetts erklärt Schulleiter Greenberg
(BFAS für Freie Schule Charlottenburg e.V. o.A.: 2) euphorisch, dass "(...) alle (...) Abgänger,
die ihre Bildung auf einem College oder einer Graduate School fortsetzen wollen, das immer keinen einzigen ausgenommen - schaffen, meist an der Schule ihrer Wahl... Was sehen die
Zulassungsleute in diesen Schülern? Warum nehmen sie Sudbury-Valley-Schüler? ... Diese
geübten Profis haben in unseren Schülern fröhliche, aufgeweckte, selbstsichere, kreative
Köpfe erkannt - den Traum jeder Universität...". An Universitäten scheinen FASAbsolventInnen demnach gut anzukommen. Der Befund der niedrigen Ausbildungsquote
wäre eine vertiefende Diskussion und Untersuchung wert. Dass das Studium gegenüber der
Ausbildung so eindeutig bevorzugt wird, ist ein allgemeiner Trend, könnte hier aber zum
Beispiel auch auf die größeren Freiheiten, die womöglich mit einem Studium gegenüber einer
Ausbildung
in
Zusammenhang
gebracht
werden,
begründet
Bildungsaspirationen wären zu prüfen. Genauere Ergebnisse
werden.
Auch
zu den gewählten
Studienfächern bzw. Ausbildungsberufen, zu Einkommen der Erwerbstätigen oder zum
Familienstand liegen zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht vor.
4. Fazit und weiterführende Fragen
Die Bildungsbiographien von AlternativschülerInnen sind sowohl international als auch in
Deutschland nicht gut erforscht. Es liegen nur vereinzelte Studien vor und es sind
Forschungsdesiderate zu verzeichnen. Auf Basis dieses begrenzten Forschungsstandes wurde
gezeigt, dass die Klientel freier Alternativschulen überwiegend dem alternativen (Sinus-)Milieu
zugeordnet werden kann. AbsolventInnen dieser Schulen erwerben meist nach der alternativen
Primar- und/oder Sekundarstufe die allgemeine Hochschulreife an einer öffentlichen Schule.
Auch wenn sie das nicht tun, verbleiben sie vergleichsweise lange in Vollzeitschulen: Statt der
dualen Ausbildung bevorzugen sie in der Regel berufsbildende Schulen, vorrangig um höhere
Schulabschlüsse zu erwerben. Der Übergang von einer FAS zu einer Regelschule gelingt den
FAS-AbsolventInnen in der Regel gut, Nachholbedarf besteht am ehesten in den Bereichen
14 Rechtschreibung und Mathematik. Die Rückstände können die SchülerInnen jedoch mehrheitlich
zeitnah und vor allem selbstständig aufholen. FAS-AbsolventInnen wechseln nach der Schulzeit
selten schnell und auch nicht auf direktem Weg in eine Berufstätigkeit: Sie nutzen die Jahre nach
der Schule häufig als ausgedehnte Orientierungsphase, treffen erste berufsorientierte
Entscheidungen meist im fünften oder sechsten Jahr nach Ende der Sekundarstufe I und revidieren
diese oft noch einmal. Die meisten AlternativschulabsolventInnen entscheiden sich schließlich für
ein Studium, wobei unterschiedlichste Fachrichtungen gewählt werden. Bezüglich der
Biografieverläufe von FAS-AbsolventInnen bis in die Erwerbstätigkeit liegen aktuell keine
Untersuchungen vor.
Diese für die FAS durchaus positiven Ergebnisse müssen vor dem Hintergrund der beschriebenen
sozialen Homogenität betrachtet werden. Auch FAS manifestieren und verstärken Milieueffekte,
so wie es Bourdieu für die Regelschulen gezeigt hat (vgl. Bourdieu/Passeron 1971). Spannend
wäre insofern die Frage, wie die Bildungsbiografien von AlternativschulabsolventInnen verlaufen,
die aus anderen Milieus als dem alternativen stammen. Allerdings ist zu vermuten, dass positive
Effekte – im Anschluss an die Hamburger LAU-Studien (Lehmann 2002) –, wenn nicht auf das
Elternhaus, dann auf das durch Milieumehrheiten bedingte Schulklima zurückgeführt werden
können – solange an FAS ein bestimmtes Milieu vorherrscht und andere. Zudem wäre in
Erfahrung zu bringen, warum FAS nicht attraktiv für Familien aus anderen Milieus sind. Worauf
kann die Homogenität an den FAS zurückgeführt werden? Auch der BFAS hat die Problematik
auf dem Schirm, so lautet etwa das Thema des Fachtages 2015: "Bitte gründlich mischen! Freie
Schulen auf der Suche nach gesellschaftlicher Diversität" (BFAS 2015). Zudem ist die Frage, wie
Milieueffekte von pädagogischen getrennt werden können, um Erfolgsfaktoren der FASPädagogik zu entschlüsseln. Weiterführende Fragen, die bei der Ausarbeitung aufgetreten sind,
wären:
-
Welchen Berufen geht die FAS-Elternschaft in Deutschland nach?
-
Erreichen Kinder, die nach vier oder sechs Jahren alternativer Primarstufe auf eine
Regelschule wechseln in Deutschland höhere Abschlüsse als AbsolventInnen, die zehn
Jahre lang eine alternative Schule besuchen? Und wenn ja: Wie kann dieser Effekt erklärt
werden?
-
Wie stellen sich Abschlussverteilung und weitere Bildungsbiografien von FASAbsolventInnen genehmigter FAS im Gegensatz zu staatlich anerkannten FAS dar?
-
Warum verbleiben AlternativschülerInnen vergleichsweise lange
Kontexten, bevor sie eine erste berufsorientierte Entscheidung treffen?
-
Aus welchen Gründen ziehen FAS-AbsolventInnen schulische Ausbildungen oder
Studium einer direkten Erwerbstätigkeit oder dualen Ausbildung vor?
in
schulischen
15 -
Wie gestaltet sich das Deutsch- und Mathematiklernen an FAS? Wie können anfängliche
Defizite in diesen Bereichen beim Wechsel auf Regelschulen erklärt werden?
Darüber hinaus wären Erhebungen zu Studienfach- bzw. Ausbildungsgangwahl, zu Einkommen
der mittlerweile Erwerbstätigen FAS-AbsolventInnen, Familienstand, Lebenszufriedenheit usw.
wichtig, um die diesbezügliche Forschungslücke zu schließen.
Können KritikerInnen der FAS nun überzeugt werden? Köhlers Urteil fällt eindeutig aus:
"Insgesamt entkräften die guten Abschlussergebnisse (...) den pessimistischen Verdacht, die
Glocksee-Schulbedingungen würden eine gute fachliche Ausbildung der SchülerInnen
verhindern" (Köhler/Krammling-Jöhrens 2000: 201). Es ist aber zu bezweifeln, dass die
vorliegenden Ergebnisse Menschen, die mit Fokus vor allem auf naturwissenschaftlich-technische
Laufbahnen Erfolg an Kriterien wie Schnelligkeit, Effizienz, beruflicher Position, Einkommen
und Beitrag zum Wirtschaftswachstum festmachen, überzeugen werden. Denn obwohl gute
Abschlüsse dominieren, lassen sich FAS-AbsolventInnen offenbar Zeit mit dem Berufseinstieg
und sind nicht daran interessiert, schnellstmöglich zu Leistungsträgern der kapitalistischen
Hochleistungsgesellschaft
zu
werden.
Es
reicht
nicht
aus,
empirische
Daten
von
AlternativschulabsolventInnen mit denen von RegelschulabsolventInnen zu vergleichen, um zu
beurteilen, welche Schule die "bessere" ist. Erfolg definieren unterschiedliche Gesinnungsgruppen
unterschiedlich; FAS verfolgen dabei einen eher unkonventionellen Weg. Die Bezeichnung
"Weltanschauungsschulen" wäre insofern nicht unpassend und es verwundert fast, dass sie bei den
Anerkennungskämpfen mit den Behörden nicht stärker darauf abheben. Fraglich ist, inwiefern
Elemente der FAS auch in Regelschulen sinnvoll eingebracht werden können. In den Studien
finden sich Hinweise, dass FAS die von Holzkamp (1990) so bezeichneten "expansiven
Lernbegründungen" fördern, die ihm zufolge unerlässlich sind, wenn "echtes" und vor allem
nachhaltiges Lernen stattfinden soll. Eine spannende Forschungsfrage wäre, inwiefern das freie
Lernen an FAS tatsächlich nachhaltiger ist als das stundenplanorientierte Lernen der Regelschulen.
Die insbesondere von FAS-Kritikern nicht selten vorgetragene Argumentation, nicht jede Schule
eigne sich für jeden Typ, weswegen nicht behauptet werden könne, dass eine bestimmte
pädagogische Praxis prinzipiell gut für alle sei; schulische Vielfalt sei insofern wichtig und zu
begrüßen, ist schief und jedenfalls so lange nicht zulässig bis staatliche und nicht-staatliche
Schulen zumindest finanziell gleichrangig behandelt werden. Es ist sicher eine steile Hypothese,
dass alle Kinder von der FAS-Pädagogik ausnahmslos profitieren würden. Um zu eruieren,
inwiefern die Regelschule von den FAS zumindest etwas lernen könnte, bedürfte es einer
intensiven, aber sicher lohnenswerten Auseinandersetzung.
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