›› Der Bundes-Gesundheitssurvey 1998 Erfahrungen, Ergebnisse, Perspektiven S55

S55
EDITORIAL
›› Der Bundes-Gesundheitssurvey 1998
B.-M. Bellach
Robert Koch-Institut, Berlin
Erfahrungen, Ergebnisse, Perspektiven
Als Ende 1998 das Sonderheft zum Bundes-Gesundheitssurvey vorgelegt wurde, war die Feldarbeit noch in vollem
Gange. Alle am Survey beteiligten Kooperationspartner stellten in dieser Sonderausgabe „Das Gesundheitswesen“ ihre
Konzeptionen, Erhebungsinstrumente und Ziele der entsprechenden Survey-Module dar. Wenn wir genau ein Jahr später
mit genau denselben Partnern erste Ergebnisse vorstellen, so
ist das aus unserer Sicht ein Erfolg, der eine Reihe von Aspekten umfaßt:
Die Feldarbeit für den Survey wurde erst im März dieses Jahres abgeschlossen. Die sich daran anschließende Phase der
Datenvalidierung und -plausibilitätsprüfung mit den erforderlichen Korrekturarbeiten, Überprüfungen, Um- und Neucodierungen ist zwar letztendlich bei Fertigstellung des geprüften Datensatzes relativ unauffällig, in dem dafür erforderlichen Zeitaufwand aber nicht zu unterschätzen. Die interne
und externe Qualitätskontrolle mit all ihren mühseligen Einzelschritten ist aber eine Investition in die Qualität der dann
zur Verfügung stehenden Daten und in die Solidität der sich
anschließenden Auswertungen.
Wir alle haben voller Ungeduld auf die Freigabe des validierten Datensatzes gewartet und selbst intensiv an der Qualitätskontrolle mitgearbeitet. Der 15. September als der Tag, an
dem der geprüfte Datensatz ins RKI-interne Netz eingestellt
und zur Bearbeitung freigegeben wurde, war der frühestmögliche und ein hart erkämpfter Zeitpunkt. Die Vorstellung,
nunmehr innerhalb von sechs Wochen erste Auswertungsergebnisse in eine publikationsfähige Manuskriptform zu bringen, die sowohl den formalen Ansprüchen des Verlages als
auch den eigenen inhaltlichen Ansprüchen genügt, erschien
fast illusorisch. Wir haben es trotzdem versucht, und wir sind
stolz darauf, es geschafft zu haben.
Warum aber diese Eile? Es gab und gibt Beispiele vergleichbarer Studien, die Jahre gebraucht haben, bis es zu ersten Ergebnispublikationen kam. Selbstverständlich werden wir mit diesen Surveydaten noch Jahre arbeiten wollen, können und
müssen. Es gibt so vielfältige und komplexe Fragestellungen
aus der epidemiologischen Forschung, aus der Gesundheitsökonomie, aus der Methoden- und Begleitforschung, daß die
Mitarbeiter des Robert Koch-Instituts in ihrer internen Forschungsplanung über mehrere Jahre hinweg zu bearbeitende
Projekte bereits definiert haben.
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S55–S56
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Was bei dieser ersten gesamtdeutschen Gesundheitserhebung neu ist, ist der Aspekt der aktuellen Datenlieferung für
die Bundes-Gesundheitsberichterstattung. Das Robert KochInstitut, das seit Januar 1998 zuständig ist für die Gesundheitsberichterstattung des Bundes, hat im Hinblick auf diese
Aufgabe ganz gezielt einen Survey konzipiert, der bestehende
Datenlücken schließen hilft, der Fragen von gesundheitspolitischer und Public-Health-Relevanz beantworten kann und
der vor allem dazu geeignet ist, solide und fundierte Antworten auf Fragen von öffentlichem Interesse zu geben.
Mit dieser Zielstellung haben wir argumentiert in einer Phase,
als es noch gar nicht sicher war, ob sich ein Gesundheitssurvey für die Bundesrepublik Deutschland würde überhaupt finanzieren lassen. Wir haben sehr um die Durchführung dieser
aus unserer Sicht so wichtigen Erhebung gekämpft, gestritten
und verhandelt. Wir wollen uns jetzt nicht zurücklehnen und
uns auf unserem Datenschatz ausruhen. Jetzt werden wir zeigen, wie gut investiert das Geld für den Survey war und ist.
Und wir wollen damit auch weitere gute Argumente dafür
schaffen, daß ein ähnlich effizient konzipierter Kinder- und
Jugendsurvey kein Investitionsrisiko darstellt, sondern dringend notwendig ist, um über den Gesundheitszustand unserer Kinder ebenso gut informiert zu sein wie über den der Erwachsenen.
Diese erste Publikation zu Surveyergebnissen unter dem Logo
der Gesundheitsberichterstattung (man beachte das Titelblatt!) kann natürlich nicht mehr sein als ein allgemeiner
„Rundumschlag“, eine Auswahl ganz spezieller Themen, ohne
auch nur den Anspruch annähernder Vollständigkeit erheben
zu können.
Diese Publikation ist auch nicht zu vergleichen mit einem Gesundheitsbericht; sie verdeutlicht lediglich Vorstufen und zu
berücksichtigende Aspekte künftiger Gesundheitsberichterstattung. Wir sind aber sicher, daß die in diesem Heft zusammengeführten Publikationen Grundlage für weitere und tiefer
gehende Auswertungen sein werden. Die Beschreibung der
Stichprobe, der Responseraten, der Gewichtungen und der Erhebungsmethoden sind hier für alle künftigen Publikationen
zitierfähig verankert. Die Berichte von der Feldarbeit, die
praktischen Erfahrungen mit der Durchführung einer solch
komplexen Erhebung, die Anmerkungen der Kooperationspartner fallen gewöhnlich unter den Tisch, wenn es an die
wissenschaftlichen Publikationen geht, und geraten mit der
Zeit in Vergessenheit. Sie sind dennoch wert, publiziert zu
werden, damit neue Erhebungen ähnlicher Dimension auf
S56 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
diese Erfahrungen zurückgreifen können. So manches Lehrgeld sollte nicht mehrfach gezahlt werden müssen.
Wir haben bei unserem Bundes-Gesundheitssurvey 1998
neue Instrumente erprobt, wie beispielsweise den SF-36
(Short Form 36 Questionnaire). Mit diesem inzwischen international akzeptierten Instrument zur Messung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität haben wir eine neue Normstichprobe für die erwachsene Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland erhoben und beschreiben diese hier anhand
ihrer statistischen Kennwerte. Dies ist ebenso Voraussetzung
für viele weitergehende Auswertungen wie die auch in diesem Heft dargestellte Neuberechnung des Schichtindex für
die aktuelle Surveystichprobe. Damit ermöglichen insbesondere diese beiden Publikationen weiterführende Arbeiten anderer Autoren.
Bei den 1991/92 noch in Ost- und Westdeutschland getrennt
durchgeführten Gesundheitssurveys wurden etliche erwartete, aber auch unerwartete Unterschiede im Gesundheitszustand und im Gesundheitsverhalten der Bevölkerung in den
beiden Teilen Deutschlands festgestellt. Mit unserer neuen
Erhebung in ganz Deutschland können wir zehn Jahre nach
dem Fall der Mauer die Frage nach der Entwicklung dieser
Unterschiede beantworten. Beiträge in diesem Heft befassen
sich unter anderem mit solchen Fragen wie: Ernähren sich
Ostdeutsche noch immer ungesünder als Westdeutsche? Rauchen die Frauen in den neuen Bundesländern noch immer
weniger als ihre Geschlechtsgenossinnen in den alten Bundesländern? Was ist aus den Unterschieden in der körperlichen Aktivität geworden? Sind Ostdeutsche noch immer dikker als Westdeutsche? Sind die Deutschen insgesamt schlanker geworden? Die Liste der Fragen, die da neugierig machen,
läßt sich beliebig fortsetzen, nur ein erster Teil davon wird
hier schon beantwortet werden.
Diese Publikation soll ein Dankeschön sein an alle, die mit
dazu beigetragen haben, daß der Bundes-Gesundheitssurvey
1998 überhaupt möglich wurde. Dank zum einen an das Bundesministerium für Gesundheit (BMG), das die Grundfinanzierung ermöglicht hat, aber auch an das Bundesministerium
für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (BMBF)
und das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit (BMU), die entsprechende Zusatzmodule
mitfinanziert haben. Zum anderen bedanken wir uns bei unseren Kooperationspartnern, wie dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), dem Umweltbundesamt, dem Max-Planck-Institut für Psychiatrie, die ebenso
wie wir mit großem Einsatz darum gekämpft haben, daß die
entsprechenden Zusatzerhebungen durchgeführt werden
konnten.
Wir bedanken uns bei der über Ausschreibung gewonnenen
Institution I+G Gesundheitsforschung München, die die Feldarbeit über mehr als ein Kalenderjahr an verschiedensten Orten der Bundesrepublik realisiert und so manche extreme Belastungsprobe dabei bestanden hat, sowie bei der Firma
Schwertner, Feldorganisation Augsburg, die eine externe Qualitätskontrolle durchgeführt hat, die zäh, kompromißlos, aber
dennoch konstruktiv und vermittelnd war.
Der Dank gilt auch all den Mitarbeitern des Robert Koch-Instituts, die durch ihre Arbeit unermüdlich zum Gelingen des
B.-M. Bellach
Surveys beigetragen haben. Dies sind weit mehr Personen, als
hier als Autoren der Beiträge auftauchen. Dazu gehören die
Fahrer des RKI, die die Blut- und Urinproben ans RKI transportiert und die Utensilien der Studienzentren im Wochenendrhythmus ab- und an anderen Orten wieder aufgebaut haben,
das sind die Mitarbeiter des Zentrallabors, die unter Ableistung vieler Überstunden bis heute damit beschäftigt sind, die
wertvollen Proben fachgerecht aufzubereiten, zu lagern und
zu analysieren. Es sind die Mitarbeiter unserer Verwaltung,
insbesondere des Haushalts- und des Rechtsreferates, die
ohne die mit dem Survey zusammenhängenden zusätzlichen
Arbeiten heute sicherlich einige graue Haare weniger hätten.
Es sind aber auch die Mitarbeiterinnen der Abteilung Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung, die zuverlässig
und akribisch Daten eingegeben, geprüft, ausgewertet und tabellarisch aufbereitet haben. Stellvertretend für diese sei hier
nur Frau Petra Ross genannt, der u.a. die schnelle technische
Fertigstellung dieses Sonderheftes zu verdanken ist.
Last, but not least: Stellen Sie sich vor, es ist Bundes-Gesundheitssurvey und keiner geht hin! Daher sei hier allen Probanden gedankt, die die Prozedur der Surveyerhebung haben
über sich ergehen lassen und mindestens zwei Stunden ihrer
Freizeit geopfert haben, um uns die Informationen zu liefern,
mit denen wir uns jetzt so intensiv beschäftigen. Wir werden
uns bemühen, allen Teilnehmern des Surveys ein Exemplar
dieses Sonderheftes zuzuschicken.
Dr. Bärbel-Maria Bellach
Leiterin der Abteilung für Epidemiologie und
Gesundheitsberichterstattung
Robert Koch-Institut
Postfach 650280
D-13302 Berlin
S57
›› Bundes-Gesundheitssurvey:
Response, Zusammensetzung der
W. Thefeld, H. Stolzenberg, B.-M. Bellach
Robert Koch-Institut, Berlin
Teilnehmer und Non-ResponderAnalyseê
Zusammenfassung: Der erste gesamtdeutsche Gesundheitssurvey wurde vom Oktober 1997 bis zum März 1999 durchgeführt. Im Survey wurden 7124 Personen einer repräsentativen
Stichprobe der 18- bis 79jährigen Wohnbevölkerung befragt
und untersucht. Die Response-Rate betrug 61,4%; 0,4% haben
die Untersuchung nur teilweise mitgemacht. Außerdem haben 16,0% der Non-Responder einen Kurzfragebogen ausgefüllt. Damit ergibt sich ein Anteil von 77,8%, über den – wenn
auch zum Teil nur eingeschränkt – Informationen vorliegen.
Zur Stichprobe gehörten auch in Deutschland lebende Ausländer. Über 15% der Non-Responder konnten für die Studie nicht
gewonnen werden, weil sie persönlich nie erreicht wurden.
Nach den Angaben im Kurzfragebogen unterscheiden sich
Nicht-Teilnehmer von den Teilnehmern in einzelnen Punkten
wie der Schulbildung. Die Unterschiede in der Beantwortung
der wichtigen Frage zum allgemeinen Gesundheitszustand
sind nicht schwerwiegend. Um repräsentative Aussagen für
die 18- bis 79jährige Bevölkerung machen zu können, wurden
Gewichtungsfaktoren berechnet.
Schlüsselwörter: Bundes-Gesundheitssurvey – Response –
Teilnehmer – Non-Responder-Analyse – Repräsentativität
German National Health Interview and Examination Survey:
Response, Composition of Participants, and Analysis of NonRespondents: The first German Health Survey was carried out
from October 1997 to March 1999. In the survey, 7,124 subjects of a representative sample of the residental population
aged between 18 and 79 years were interviewed and medically examined. The response rate was 61.4%; 0.4% of the
sample participated only partly in the study. Moreover, 16.0%
of the non-respondents filled in a short questionnaire. This results in (although partly limited) information from 77.8% of
the sample. The sample also comprises aliens living in Germany. More than 15% of the non-respondents could not be addressed to participate in the study because they were never
reached personally. According to the statements in the short
questionnaire, non-respondents and respondents differ in
particular items such as e.g. education. The differences between the individual answers concerning the important question of the general health status can be classified as negligible.
Weighting factors were calculated to arrive at representative
information on the 18 to 79 year-old population.
Key words: German National Health Interview and Examination Survey – Response – Participants – Analysis of Non-Respondents – Representativeness
Einleitung
Der Bundes-Gesundheitssurvey ist eine gesundheitsbezogene
Befragung und Untersuchung von 18- bis 79jährigen Personen einer repräsentativen Stichprobe der Wohnbevölkerung
in Deutschland. Vorrangiges Ziel des Surveys ist es, Daten für
die Gesundheitsberichterstattung des Bundes und für den
Vergleich im europäischen Rahmen zu erhalten. Bei Heranziehung von Daten älterer Surveys sind Trendaussagen zur Risiko- bzw. Krankheitsverbreitung in der Bevölkerung möglich. Darüber hinaus haben die Daten einen hohen Stellenwert
für die Bearbeitung von Fragestellungen der epidemiologischen Forschung. Eine ausführliche Beschreibung der Aufgaben- und Zielstellung des Bundes-Gesundheitssurveys, seiner
Planung, der Stichprobenziehung und der Erhebungsinstrumente wurde mit der Publikation „Der Bundes-Gesundheitssurvey 1997/98“ in der Zeitschrift „Das Gesundheitswesen“
vorgelegt [Bellach 1998].
Die Feldarbeitsphase, d.h. die Befragungen und medizinischen Untersuchungen in 120 Untersuchungspunkten, verteilt über ganz Deutschland (wobei in 10 Punkten Nacherhebungen stattfanden), begann im Oktober 1997. Die Erhebungen wurden im März 1999 abgeschlossen. Interne und
externe Qualitätssicherungsmaßnahmen begleiteten die gesamte Feldarbeit. Nach Abschluß der Erhebungen wurden die
erhaltenen Daten umfangreichen Qualitäts-, speziell Plausibilitätskontrollen unterworfen, bevor sie im September 1999
zur Auswertung freigegeben wurden. Die nachfolgende Darstellung soll einen Überblick geben über Zahl und Zusammensetzung der Teilnehmer. Die Unterschiede gegenüber der ursprünglichen Stichprobe und gegenüber den mit einem Kurzfragebogen erfaßten Non-Respondern werden aufgezeigt.
Damit sind auch Aussagen zur Repräsentativität der Surveydaten möglich. Die Ausführungen beschränken sich auf den
sogenannten Kernsurvey einschließlich der Arzneimittelerhebung; sie umfassen nicht die anderen zusätzlichen Module
des Bundes-Gesundheitssurveys [vgl. Bellach 1998].
Zahl und Zusammensetzung der Teilnehmer
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S57–S61
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Die Stichprobenziehung für den Bundes-Gesundheitssurvey
geschah unter der Vorgabe, daß es eine Zahl von 120 Untersu-
S58 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
W. Thefeld, H. Stolzenberg, B.-M. Bellach
Fallzahl
14.000
12.000
10.000
8.000
6.000
4.000
2.000
0
Gewichtsmessungen sowie der Urinuntersuchung zusätzlich
bei mindestens zwei der drei Erhebungsblöcke
13.222
100 %
100 %
– Fragebogen – Ärztliches Interview – Blutuntersuchung –
11.601
_
AusgangsBruttozahl
1.621
12,3 %
Neutrale
Ausfälle
=
87,7 %
Bereinigte
Bruttozahl
»
7.124
61,4 %
Teilnehmer
Abb. 1 Stichprobe und Teilnahme beim Bundes-Gesundheitssurvey.
chungspunkten in Deutschland geben sollte. 120 Punkte erscheinen gerade noch geeignet, die Regionalstruktur Deutschlands hinsichtlich Bundesländer und Gemeindegrößenklassen
abzubilden. Zur Auswahl der einzelnen Untersuchungspunkte
wurden alle Gemeinden nach BIK-Gemeindegrößenklasse
und Bundesland geschichtet. Die Ziehung der Gemeinden erfolgte dann mit einer Wahrscheinlichkeit proportional zur
Häufigkeit ihrer Größe. Bei Gemeinden mit bis zu 50000 Einwohnern repräsentieren die Untersuchungspunkte die gesamte Gemeinde. Bei über 50000 Einwohnern wurde eine
zweite Auswahlstufe notwendig: Bei Gemeinden mit 50000
bis 100000 Einwohnern wird innerhalb der Stadt ein Stadtteil
zufällig ausgewählt; bei Städten mit über 100000 Einwohnern entsprechen die Untersuchungspunkte zufällig ausgewählten Wahlbezirken der Stadt, wobei bei sehr großen Städten auch mehrere Wahlbezirke betroffen sein können. In den
ausgewählten Gemeinden wurden dann die Adressen der zukünftigen Probanden durch die Einwohnermeldeämter nach
einem mathematischen Zufallsverfahren für die vorgegebenen Altersklassen gezogen. Ausgeschlossen waren Insassen
von Einrichtungen wie Kasernen, Altersheimen, Heil- und
Pflegeanstalten, Justizvollzugsanstalten usw.
Die Ausgangsstichprobe der Einwohnermelderegister der Gemeinden umfaßte insgesamt 13222 Personen im Alter von 18
bis 79 Jahren (Abb. 1). Von diesen waren 12,3% als neutrale
Ausfälle zu rechnen, d.h. die ausgewählten Personen waren
entweder verstorben, verzogen, unbekannt unter der vorliegenden Adresse oder Ausländer mit unzureichenden Deutschkenntnissen. Von der „bereinigten“ Bruttostichprobe nahmen
7124 Personen, das sind 61,4%, am Survey teil. Als Teilnehmer
wurde definiert, wer außer bei den Blutdruck- und Größe-/
mitgemacht hatte. Die Geschlechts- und Altersverteilung der
Teilnehmer ist in Tab. 1 dargestellt. Hier wird auch der im
Vergleich zur Bevölkerungszahl unproportional höhere Anteil
an Probanden aus den neuen Bundesländern deutlich. Der
disproportionale Ansatz bei Ziehung der Stichprobe wurde
gewählt, um stabile Aussagen bei der Analyse von West-OstUnterschieden erhalten zu können. Unter den Teilnehmern
befinden sich 302 Ausländer, d.h. Personen mit alleiniger
nicht-deutscher Staatsbürgerschaft, nur 23 davon (7,6%) leben in den neuen Bundesländern. 32 Personen haben sowohl
die deutsche als auch eine andere Staatsbürgerschaft.
Response
Die Response-Rate ist bei Männern und Frauen als identisch
anzusehen (61,5% vs. 61,4%). Bei altersspezifischer Betrachtung sind jedoch deutliche Unterschiede zu erkennen. So hat
bei den Männern die Altersgruppe der 20- bis 29jährigen die
niedrigste Response-Rate (56,5%; Frauen: 59,4%), während
bei den Frauen dies auf die Altersklasse der 70- bis 79jährigen
zutrifft (50,4%; Männer: 67,7%). In den neuen Bundesländern
wurde mit 63,9% eine höhere Ausschöpfung als in den alten
Ländern erreicht. In den Großstädten mit mehr als 500000
Einwohnern war die Beteiligung deutlich schlechter.
Die Response ist für die heutige Situation, in der die Bereitschaft zur Teilnahme an solchen Studien immer mehr zurückgeht, als sehr gut zu bezeichnen [Schnell 1997]. Herauszustellen ist außerdem, daß ein hoher Anteil von Non-Respondern
(16,0%) dazugewonnen werden konnte, einen Kurzfragebogen auszufüllen (s. unten). Weiterhin sind noch eingeschränkte Informationen von 42 Personen (0,4%) vorhanden,
die die Untersuchung nur teilweise mitgemacht haben. Werden alle Personen zusammengefaßt über die, wenn auch zum
Teil nur eingeschränkt, Informationen existieren, ergibt sich
ein Anteil von 77,8%. Berücksichtigt werden muß bei der Bewertung der Teilnehmerrate, daß bei der Basis-Bruttozahl für
die Berechnung der Response nur ein sehr eingeengter Kreis
an Personen als qualitätsneutrale Ausfälle ausgeschlossen
wurde (s.u.). Aktuelle Angaben zur Ausschöpfung bei epidemiologischen Studien in Deutschland (allerdings bei Fall-Kontroll-Studien) wurden von Stang (1999) publiziert.
Die Vollständigkeit des Datensatzes der Teilnehmer bezüglich
der einzelnen Erhebungsblöcke sieht wie folgt aus:
Tab. 1 Zahl der Teilnehmer des Bundes-Gesundheitssurveys differenziert nach Geschlecht, Alter und Region (West/Ost)
Altersklasse
(Jahre)
gesamt
Männer
West
Ost
gesamt
Frauen
West
Ost
18–19
20–29
30–39
40–49
50–59
60–69
70–79
gesamt
142
504
767
630
677
495
235
3450
90
348
507
421
455
317
159
2297
52
156
260
209
222
178
76
1153
125
513
788
682
682
541
343
3674
74
361
523
460
435
340
215
2408
51
152
265
222
247
201
128
1266
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S59
Bundes-Gesundheitssurvey
– Ausgefüllter Fragebogen:
– Ärztliches Interview:
– Blut-/Serumanalysen:
n=6974 (97,9%)
n=7099 (99,6%)
n=6757 (94,8%).
Qualitätsneutrale Ausfälle
Die Register der Einwohnermeldeämter geben nicht immer
den aktuellen Stand der Wohnbevölkerung wieder. Bei der
Stichprobenziehung über die Einwohnermeldeämter war
man sich daher bewußt, daß ein Teil der Ausgewählten nicht
mehr unter der vorliegenden Adresse wohnen würde oder
verstorben sein würde. Da die Surveyerhebungen in den Untersuchungsorten außerdem mit einer zum Teil erheblichen
Zeitverschiebung gegenüber der Ziehung stattfanden, sind in
der Zwischenzeit weitere ausgewählte Personen verzogen
oder verstorben. Alle diese Personen sind für die Untersuchung nicht mehr heranziehbar und werden deshalb als
qualitätsneutrale Ausfälle aus der Bruttostichprobe herausgenommen. Das gleiche gilt für Personen, die unter der vorliegenden Adresse unbekannt sind (Mehrzahl wahrscheinlich
gleichfalls verzogen). Auch Ausländer, die aufgrund ihrer
Sprachkenntnisse nicht in der Lage sind, beim Survey mitzumachen, werden als neutrale Ausfälle eingestuft. Welchen
Anteil die einzelnen Gründe bei der Einstufung der neutralen
Ausfälle hatten, ist aus Abb. 2 zu erkennen. Danach sind fast
80% nicht (mehr) unter der angegebenen Adresse erreichbar
gewesen, und 5% waren verstorben. Die Zahl der Ausländer
mit nicht ausreichenden Deutschkenntnissen entspricht etwa
der Zahl von Ausländern, die an der Studie teilnahmen.
nicht deutsch
sprechend
verstorben
47,5%
16,4%
unbekannt
Abb. 2 Zusammensetzung der
qualitätsneutralen
Ausfälle im BundesGesundheitssurvey.
n=1621.
4,9%
31,2%
verzogen
Die Einstufung von gezogenen Personen als neutrale Ausfälle
wurde im Bundes-Gesundheitssurvey sehr restriktiv gehandhabt, verglichen mit anderen Studien. Zum Teil werden bei
diesen Studien auch Personen aus der Stichprobe nachträglich
ausgeschlossen, die bekanntermaßen im Untersuchungszeitraum nicht am Wohnort waren oder trotz intensiver Bemühungen nie erreicht werden konnten. Würden beim BundesGesundheitssurvey auch diese Personen als neutrale Ausfälle
gerechnet werden, so würde sich die Ausschöpfung noch
deutlich besser darstellen. Immerhin sind fast 5% der „bereinigten“ Stichprobe im Survey entsprechend einzuordnen.
Non-Responder-Analyse
2575 Personen der Stichprobe haben in keiner Weise an der
Studie teilgenommen. Die Häufigkeit, mit der bestimmte Begründungen für die Nicht-Teilnahme von den Angesprochenen oder – falls kein Kontakt mit ihnen zustande kam – vom
Untersuchungsteam genannt wurden, ist aus Abb. 3 zu erkennen. Von 42,1% der Non-Responder fehlt allerdings eine entsprechende Information, da sie keine Begründung angaben.
Nie erreicht
Gesundheitliche Gründe
Inhaltliche Gründe
Zeitliche Gründe
Verreist
Datenschutz
Sonstiges
15,4%
10,4%
9,0%
7,7%
5,0%
2,7%
7,7%
Abb. 3 Gründe für die Nicht-Teilnahme im Bundes-Gesundheitssurvey. n=2575 (42,1% ohne Angabe).
Am häufigsten wurde die Ablehnung der Teilnahme gesundheitlich, inhaltlich oder zeitlich begründet. Der Datenschutz
wurde nur von 2,7% der Personen als Begründung genannt.
Für die Aussagekraft der Studie ist es von großer Bedeutung
zu wissen, wie die geschlechts- und altersdifferenzierte Zusammensetzung der nicht teilnehmenden Personen der Stichprobe ist und wie sich diese Personen in bezug auf wichtige
Merkmale (z.B. gesundheitliche Risikofaktoren, allgemeiner
Gesundheitszustand, soziale Schicht) von der Teilnehmerpopulation unterscheiden. Im Bundes-Gesundheitssurvey konnten 1860 Personen, die nicht an der Untersuchung teilgenommen haben, aber keine grundsätzliche Verweigerung ausgesprochen hatten, nachträglich dazu gewonnen werden, einen
Kurzfragebogen zu beantworten. Dabei konnten in den alten
Bundesländern etwa 30% mehr Non-Responder-Fragebogen
erhalten werden als in den neuen Ländern (bei Berücksichtigung der Relationen in der Stichprobe). Die Zusammensetzung der antwortenden Nicht-Teilnehmer ist hinsichtlich des
Geschlechts nahezu identisch mit der der Teilnehmer (Männer: 48,3%; Frauen: 51,7%). In Tab. 2 wird die Altersstruktur
der Nicht-Teilnehmer mit der Altersverteilung der Stichprobe
und der Teilnehmer verglichen. Während bei den Männern
die Altersstruktur vergleichbar ist, liegen bei den Frauen gewisse Abweichungen vor, die vor allem in der höchsten Altersstufe deutlich werden.
Die Auswertung der Kurzfragebogen führt u.a. zu folgenden
Aussagen: Die Schulbildung ist bei den Non-Respondern als
schlechter einzustufen. So haben 50,1% die Hauptschule besucht, bei den Teilnehmern sind es 40,5%. Fachhochschulreife
und Abitur wurden bei den Teilnehmern entsprechend häufiger genannt. Das Rauchverhalten der Nicht-Teilnehmer unterscheidet sich nicht signifikant von dem der Teilnehmer.
Den 28,0% täglichen Rauchern bei den Non-Respondern stehen 26,6% bei den Surveyteilnehmern gegenüber. Das mittlere angegebene Körpergewicht der Non-Responder ist bei
Frauen mit 2 kg deutlich geringer als das der Teilnehmerinnen, bei den männlichen Surveyteilnehmern ist die mittlere
gemessene Körpergröße um 1,5 cm geringer als die mittlere,
von den Non-Respondern angegebene Körpergröße. Hierdurch ergibt sich für Männer und Frauen ein signifikant geringerer BMI (Body-Mass-Index) bei den Nicht-Teilnehmern am
Survey. Dies wäre hinsichtlich der statistischen Repräsentativität der Surveystichprobe bedenklich, wenn nicht Erfahrungswerte zu den Unterschieden zwischen gemessenen und
S60 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
W. Thefeld, H. Stolzenberg, B.-M. Bellach
Tab. 2 Altersstruktur der Brutto-Stichprobe (ohne qualitätsneutrale Ausfälle) des Bundes-Gesundheitssurveys, der Teilnehmer und der Nicht-Teilnehmer, die einen Kurzfragebogen ausgefüllt haben (Anteile in %)
Altersklasse
(Jahre)
Stichprobe
Männer
Teilnehmer
Nicht-Teilnehmer
Stichprobe
Frauen
Teilnehmer
Nicht-Teilnehmer
18–19
20–29
30–39
40–49
50–59
60–69
70–79
3,6
16,1
22,5
18,7
18,9
14,0
6,3
4,1
14,6
22,2
18,3
19,6
14,3
6,8
2,1
17,9
21,2
18,9
17,9
15,5
6,5
3,1
14,6
20,5
17,6
17,7
14,9
11,5
3,4
14,0
21,4
18,6
18,6
14,7
9,3
3,0
15,1
15,7
14,4
16,0
18,4
17,3
subjektiv eingeschätzten Werten für Größe und Gewicht vorlägen. Bei den Nicht-Teilnehmern dürfte die bekannte Beeinflussung der Angaben durch die Wunschvorstellungen der Befragten eine Rolle spielen, während beim Survey die Werte
gemessen wurden [Bergmann 1990].
Zur Einschätzung weiterer möglicher Verzerrungen von Ergebnissen des Bundes-Gesundheitssuveys ist vor allem die
Frage nach dem allgemeinen Gesundheitszustand wichtig.
Abb. 4 zeigt den Vergleich der Selbsteinschätzung von Teilnehmern und Nicht-Teilnehmern. Danach sind Unterschiede
vorhanden; sie sind aber nicht schwerwiegend. Sowohl die
Einstufung „sehr gut“ als auch die Angabe „schlecht“ kommen
bei den Nicht-Teilnehmern häufiger vor. Da diese Selbsteinschätzung des Gesundheitszustandes bekanntermaßen auch
altersabhängig ist, könnten diese Unterschiede durch die unterschiedliche Verteilung der Responder und Non-Responder
auf die Randaltersgruppen bedingt sein. Um dies zu überprüfen, wurden in einem multivariaten logistischen Regressionsmodell für die Wahrscheinlichkeit, „Non-Responder zu sein“,
(getrennt für Männer und Frauen, West und Ost) die Odds Ratios für Alter und die subjektive Einschätzung des Gesundheitszustandes geschätzt. Für keine der Kategorien der subjektiven Einschätzung des Gesundheitszustandes blieb dann
noch ein signifikanter Einfluß erhalten.
14,2%
16,9%
sehr gut
52,1%
45,4%
gut
22,2%
23,8%
zufriedenstellend
weniger gut
schlecht
9,4%
10,1%
2,1%
3,8%
Teilnehmer
Nicht-Teilnehmer
Abb. 4 Einschätzung des allgemeinen Gesundheitszustandes durch
Teilnehmer und Nicht-Teilnehmer des Bundes-Gesundheitssurveys.
n=7099 bzw. 1860.
Weitergehende Untersuchungen der Gruppe der Non-Responder seien späteren Publikationen vorbehalten, insbesondere die Charakterisierung des „typischen“ Non-Responders
kann Ansatzpunkte für eine mögliche Erhöhung der Aus-
schöpfungsraten bei künftigen Bevölkerungserhebungen liefern.
Repräsentativität, Gewichtung
Die Ausgangsstichprobe des Bundes-Gesundheitssurveys ist
als repräsentative Stichprobe der 18- bis 79jährigen Wohnbevölkerung in Deutschland gezogen worden. Wie beschrieben,
stellt die Response-Rate aber bezüglich der Ziehungsmerkmale Bundesland, Gemeindegrößenklasse, Geschlecht und Alter nicht einen konstanten proportionalen Anteil der Stichprobe dar. Aus Tab. 2 ist z.B. zu erkennen, wie weit die Altersstruktur der Teilnehmer von der der Stichprobe aufgrund der
unterschiedlichen Response-Raten in den einzelnen Altersgruppen abweicht.
Für repräsentative Aussagen zur Grundgesamtheit bot es sich
an, die Abweichungen der Netto-Stichprobe hinsichtlich der
Ziehungsmerkmale durch eine Faktorengewichtung auf die
Bevölkerungsstruktur des Jahres 1998 zu korrigieren. Dabei
wird auch der höhere Teilnehmeranteil in den neuen Bundesländern aufgrund der disproportionalen Stichprobenziehung
verrechnet. Diese Gewichtung erfolgte mit Hilfe eines speziellen, von der Fa. Infratest verwendeten Quantum-Gewichtungsprogramms. Jedem Probanden wurde dabei ein Gewichtungsfaktor (mit fünf Nachkommastellen) zugeordnet. Gewichtet wurde auf die Fallzahl, so daß die Summe der
Gewichtungsfaktoren der Fallzahl entspricht. In den Auswertungen des Bundes-Gesundheitssurveys wird dieser Gewichtungsfaktor als w98 bezeichnet. Seine Verwendung erlaubt
sowohl repräsentative Aussagen für die deutsche Bevölkerung 1998 insgesamt als auch einen Ergebnisvergleich für die
alten (West) und neuen (Ost) Bundesländer.
Die Daten des Bundes-Gesundheitssurveys sollen auch genutzt werden, um die zeitliche Entwicklung der Verbreitung
von gesundheitlichen Risiken und Krankheiten in der Bevölkerung aufzuzeigen. Vordaten stehen vom Nationalen Untersuchungssurvey 1990/91 und dem Gesundheitssurvey Ost
1991/92 zur Verfügung, deren Daten in einer gemeinsamen
Datenbank Ost/West 1990/92 vereinigt wurden, da sie mit
vergleichbarer Methodik erhoben worden waren [Hoffmeister 1995]. Um einen Vergleich der Daten von 1998 und 1990/
92 zu ermöglichen, wurde hierfür ebenfalls eine Gewichtung
der Daten des Bundes-Gesundheitssurveys vorgenommen,
die sich auf die Bevölkerungsstruktur des Jahres 1991 stützt.
Der unter der Bezeichnung w9198 geführte Gewichtungsfaktor entspricht in Aufbau und Wirkungsweise der Gewichtungsvariablen weightow der Datenbank Ost/West 1990/92
[Stolzenberg 1995]. Somit sind bei entsprechender Gewich-
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S61
Bundes-Gesundheitssurvey
tung vergleichende Auswertungen (inkl. Ost/West-Vergleiche) sowie Trendanalysen für 1991/1998 möglich, allerdings
nur für die 25- bis 69jährige deutsche Bevölkerung.
Es sollte nicht unerwähnt bleiben, daß durch die Verwendung
der oben genannten Gewichtungsfaktoren nur ein Teil der
komplexen Stichprobenstruktur (mehrstufiges Auswahlverfahren, disproportionale Schichtung, Klumpung usw.) adäquat berücksichtigt wird. So konnten beispielsweise die
Klumpung (Untersuchungspunkte) bzw. Klumpungseffekte
nicht korrigiert werden, zumal auch die verwendeten Statistikpakete SPSS 9 bzw. SAS 6.12 keine geeigneten Prozeduren
hierfür enthalten. Die Folge ist, daß die angegebenen geschätzten Varianzen bzw. Standardfehler zu klein ausfallen
und interferenzstatistische Schlüsse häufig zu fälschlicherweise signifikanten Ergebnissen führen [Lipsmeier 1999]. Die
berichteten Schätzer für Gesundheitsparameter wie das arithmetische Mittel oder Regressionskoeffizienten dürften dagegen nur geringe Verzerrungen aufweisen.
Literatur
1
2
3
4
5
6
7
Bellach BM, Knopf H, Thefeld W (1998). Der Bundes-Gesundheitssurvey 1997/98. Gesundheitswesen 60; Sonderheft 2: 59–
68
Bergmann E, Menzel R, Bergmann KE, Bergmann RL (1990). Verbreitung von Übergewicht in der Bundesrepublik Deutschland.
In: Tätigkeitsbericht des Bundesgesundheitsamtes. MMV Medizin Verlag München 222–224
Hoffmeister H, Bellach BM (Hrsg.) (1995). Die Gesundheit der
Deutschen. RKI-Heft 7: 1–3
Lipsmeier G (1999). Standard oder Fehler? Einige Eigenschaften
von Schätzverfahren bei komplexen Stichprobenplänen und aktuelle Lösungsansätze. ZA-Information 44: 96–117
Schnell R (1997). Nonresponse in Bevölkerungsumfragen. Ausmaß, Entwicklung und Ursachen. Verlag Leske + Budrich, Opladen
Stang A, Ahrens W, Jöckel KH (1999). Control Response Proportions in Population-Based Case-Control Studies in Germany. Epidemiology 10: 181–183
Stolzenberg H (1995). Gesundheitssurvey Ost/West: Dokumentation zum Public Use File OW91, Robert Koch-Institut
W. Thefeld
Robert Koch-Institut
Postfach 650280
D-13302 Berlin
S62
und Ergebnisse der Feldarbeit
›› Ablauf
beim Bundes-Gesundheitssurvey
Zusammenfassung: I+G Gesundheitsforschung war beim Bundes-Gesundheitssurvey für die Stichprobenplanung und -ziehung, die Herstellung der Erhebungsunterlagen einschließlich
Operationshandbuch, die Schulung der Teams, die Feldarbeit
(Datenerhebung) und die Datenaufbereitung (Datenerfassung, Datenprüfung, Grundauswertung) zuständig. Der Artikel berichtet über Ablauf und Ergebnisse der Feldarbeit und
bezieht auch Erfahrungen und Erkenntnisse aus der Feldarbeit
mit ein, die für zukünftige Erhebungen dieser Art von Interesse
sind und deren Umsetzung insgesamt zu einer Verbesserung
der Vorgehensweise bei ähnlichen Projekten beitragen kann.
Schlüsselwörter: Gesundheitssurvey – Datenqualität –
Erhebungstechnik
Procedure and Results of Field Work Connected with the
Federal German Health Survey: ”I + G Gesundheitsforschung“
was responsible for data acquisition and data processing of
the survey, which included the production of the survey documents and the conceptualization and production of the operation manual. Furthermore, the institute's task was sample design and sample drawing. This article reports on the continuity
and the results of the field work and includes experiences and
realisations resulting from the field work. These might be
helpful for similar surveys in the future and contribute to the
improvement of the procedures.
Key words: Health Survey – Quality of Data – Survey Procedure
Einleitung und Überblick
Die Feldzeit für die Befragungen und medizinischen Untersuchungen begann am 20. Oktober 1997 und endete am 13.
März 1999 [s. auch Schroeder et al. 1998]. In dieser Zeit wurden von vier Untersucherteams 130 Standorte bzw. Points in
113 Städten bzw. Gemeinden aufgesucht. Insgesamt waren
13222 Probanden im Alter von 18 bis 79 Jahren aus den Melderegistern der aufgesuchten Gemeinden zufällig ausgewählt
und zur Teilnahme eingeladen worden.
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S62–S67
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
P. Potthoff, E. Schroeder, U. Reis, A. Klamert
I + G Gesundheitsforschung, München
Routenplanung
Um die ursprünglich geplanten 120 Points mit einer Aufenthaltsdauer von einer Woche pro Team und Point im ursprünglich vorgesehenen Zeitrahmen von Oktober 1997 bis
November 1998 (Nacherhebung in 10 Points: Januar bis März
1999) bearbeiten zu können, wurden vier Teams zusammengestellt, von denen drei während der Feldzeit ständig im Einsatz waren, während ein Team jeweils pausierte.
Die Auswahl und Reihenfolge der 1997 bearbeiteten 17 Points
mußte nach dem Eintreffen der Adressen von den Einwohnermeldeämtern ausgerichtet werden, da der Zeitabstand zwischen Auftragserteilung und Beginn der Feldarbeit sehr kurz
angesetzt worden war. Grundsätzlich erfolgte die Routenplanung danach wie folgt: Die 120 ausgewählten und über
Deutschland verteilten Gemeinden bzw. Samplepoints wurden zu je 12 Samplepoints in 10 Regionen zusammengefaßt.
Jede dieser 10 Regionen wurde von jedem der vier Untersucherteams im Abstand von einer Woche aufgesucht und dann
drei Wochen lang (entsprechend drei Points) bearbeitet. Da
jedes Team in der Regel nach drei Wochen Einsatz (d.h. einem
Törn) eine Woche pausierte, waren gleichzeitig immer nur
drei Teams unterwegs. Das vierte Team (Springerteam) kam
dann zum Einsatz, wenn das erste Team pausierte. Es übernahm dabei die Ausstattung (Kfz, Handys, Laptops, Blutdruckmeßgeräte und Waagen, Laboreinrichtung und sonstige Erhebungsunterlagen) des ersten Teams, in der zweiten Woche die
des zweiten Teams, in der dritten Woche die des dritten. Im
Rahmen der Gesamtlaufzeit der Studie wechselte die Rolle
des Springerteams von Törn zu Törn.
Die Routenanordnung innerhalb der Regionen wurde so gewählt, daß insbesondere die Bewegungen des Springerteams
von Point zu Point minimiert wurden. Dagegen wurden die
Regionen so abgearbeitet, daß möglichst weit auseinander
liegende Teile Deutschlands hintereinander aufgesucht wurden. Das führte dazu, daß nach jeweils drei Wochen in einer
Region zum Teil sehr lange Strecken (bis zu 800 km) zwischen
den Points zu überbrücken waren.
Für zukünftige Planungen sollte auf alle Fälle berücksichtigt
werden, daß jedem Team eine komplette eigene Ausrüstung
zur Verfügung gestellt werden kann, um kräftezehrende
Mehrarbeit und Mißstimmungen aufgrund der erforderlichen
Kontrolle bei der Übergabe der Ausrüstungsgegenstände vom
einen zum anderen Team unter den Mitarbeitern zu vermeiden.
Ablauf und Ergebnisse der Feldarbeit beim Bundes-Gesundheitssurvey
Untersucherpersonal
Jedes der vier Teams bestand aus sechs Mitarbeitern:
– 1 Ärztin/Arzt (Teamleiter/in) für Blutdruckmessung, Anthropometrie, Blutentnahme, ärztliches Interview und Arzneimittelanamnese;
– 1 MTA für Blutdruckmessung, Anthropometrie, Probenverarbeitung und -versand;
– 1Ökotrophologin für das Ernährungsinterview;
– 1 Umweltinterviewer/Umweltinterviewerin für Umweltinterview, Umweltprobeneinholung, -dokumentation, -verarbeitung und -versand, Ortsbegehung;
– 1 Zentrumsinterviewer/Zentrumsinterviewerin für Probandenempfang und -betreuung während des Zentrumsaufenthaltes, Probandennachfaßaktion;
– 1 Vorbegeher/Vorbegeherin für persönliche und telefonische Probandenkontakte, Vorbesichtigung der Zentrumsräume, Umzugsorganisation, Hotelorganisation für die
Teammitglieder.
Die Mitarbeiter wurden teils über Arbeitsamt, Stellenanzeigen, Internet neu angeworben, oder es kamen erfahrene Interviewer aus dem Infrateststamm zum Einsatz. Bei der Auswahl wurde darauf geachtet, daß möglichst viele Mitarbeiter
aufgrund ihrer beruflichen Vorerfahrungen auch einen zweiten Arbeitsplatz abdecken konnten (z.B. Ökotrophologin ↔
Umweltinterviewer/in).
Bis einschließlich 6.12.1997 arbeiteten die Teams in unterschiedlicher Zusammensetzung, um allen Mitarbeitern die
Gelegenheit zu geben, sich besser kennenzulernen und die
günstigste Team-Konstellation für die restliche Surveylaufzeit
herauszufinden. Ab 19.1.1998 arbeiteten die Teams in fester
Besetzung.
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S63
gieren zu können. So wurde ein Labornotfallprogramm für
Ärzte vom RKI entwickelt und die MTA in der CAPI-Anwendung unterwiesen. Umweltinterviewer und MTA absolvierten
die Laborschulung sowohl für den Kern- als auch für den Umweltsurvey.
Als zusätzliche Maßnahme wurden die Mitarbeiter des Kernsurveys zu Beginn der Feldarbeit vor Ort durch praktische
Übungen in den Zentrumsbetrieb eingeführt. Diese Einweisung erfolgte durch eine Mitarbeiterin, die über langjährige
Erfahrung aus früheren DHP- und MONICA-Projekten verfügt.
Außerdem unterstützten I+G-Mitarbeiter die jeweiligen
Teams vor ihrer ersten Zentrumseröffnung vor Ort.
Nachrekrutiertes Personal unterzog sich demselben Ausbildungsprogramm bei I+G in München und im RKI-Labor, Berlin, und hospitierte anschließend mindestens zwei Tage in einem erfahrenen Team.
Qualitätskontrollen der Feldarbeit
Kontrollen durch das Team
Folgende Kontrollen wurden im Tageszentrumsbogen dokumentiert:
– tägliche Temperaturmessungen der Räume, Kühl- und Gefrierschränke
– tägliche Überprüfung der Personen- und Laborwaagen mittels Testtaste, Wasserwaage oder Eichgewichten
– wöchentliche Kontrolle der Blutdruckmeßgeräte
Die Erhebungsunterlagen wurden während der Anwesenheit
des Probanden im Zentrum, spätestens aber am Abend auf
Vollständigkeit überprüft.
Personalschulung
Kontrollen durch I+G
Aufgrund von Terminschwierigkeiten der einzelnen an der
Schulung beteiligten Institutionen mußte die Schulung der
Mitarbeiter in Etappen erfolgen.
Die Einsatzleitung überwachte den Zentrumsbetrieb bei 30
Besuchen nach den Vorgaben des Operationshandbuches und
anhand eigener Checklisten. Dabei wurde auch die Arbeit im
Vorfeld mit beurteilt, z.B. die Lage und Eignung der Räumlichkeiten, der Kontakt mit der Presse durch I+G und Vorbegeher
und die daraus resultierenden Veröffentlichungen.
Als Schulungsgrundlage dienten frühere Erfahrungen aus der
Deutschen Herz-Kreislauf-Präventionsstudie (Forschungsverbund DHP 1998) sowie das Operationshandbuch und der von
Prof. Hense, Münster, im Rahmen des Münchner Blutdruckprogramms ausgearbeitete Blutdruckmeßkurs. Neben I+Gwaren auch RKI- und WaBoLu-Mitarbeiter involviert. Als externe Qualitätskontrolle fungierte die Firma Bernhard
Schwertner. Alle Mitarbeiter, die für die Blutdruckmessung
geschult wurden, unterzogen sich einem Hörschärfetest und
vor dem Feldeinsatz einer Referenzmessung mit Prof. Hense
von der Universität Münster.
In den Räumen des Robert-Koch-Instituts, Berlin, fand der
größte Teil der Schulungen statt.
Zusatzschulungen vor dem ersten Einsatz der Teams wurden
in den jeweiligen Zentrumsräumen vorgenommen, um den
Zentrumsablauf unter Feldbedingungen mit Gastprobanden
üben zu können.
Fast alle Mitarbeiter wurden je nach Eignung auch für eine
andere Teamposition ausgebildet, um bei Bedarf flexibel rea-
Soweit möglich, wurde ein Probandendurchlauf beobachtet
und die einzelnen Stationen bzw. Arbeitsplätze in einer
Checkliste dokumentiert. Es wurde besonders geachtet auf
Zentrumsatmosphäre
– den zuvorkommenden Umgang mit dem Probanden
– den Umgang der Mitarbeiter untereinander und damit die
Wirkung auf den Probanden
– das äußere Erscheinungsbild der Mitarbeiter
– Aufklärung und Einweisung des Probanden in den Untersuchungsablauf
Arbeitsvorbereitung
– Aufbau der Meßgeräte nach Vorgaben (Blutdruckmeßgeräte, Waage mit Meßstab), regelmäßig erforderliche Gerätekontrolle
S64 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
– funktionale und hygienische Laboreinrichtung und Blutentnahmeplatz einschließlich notwendiger Abfallentsorgung
– Vorbereitung und Etikettierung der Erhebungsunterlagen
einschließlich Probengefäße
P. Potthoff et al.
Externe Qualitätskontrolle
Schlußfolgerungen aus den Berichten der externen Qualitätskontrolle über deren Besuche wurden sofort nach Erhalt telefonisch oder schriftlich an die Betreffenden weitergegeben
und bei gegebenem Anlaß Nachschulungen vorgenommen.
Untersuchungsablauf
– die Einhaltung der Standards während der Untersuchung
– die sorgfältige Dokumentation mit anschließender Kontrolle auf Vollständigkeit der Unterlagen
Datenschutz
– die räumliche Abschirmung der Probanden voneinander
während der Untersuchungen und Interviews
– Aufklärung der Probanden vor der Untersuchung
– Uneinsehbarkeit der adreßbezogenen Probanden-Unterlagen
Medizinische Messungen
Die Blutdruckmeßqualität wurde bei jedem Besuch durch
Kreuzmessungen überprüft. Außerdem wurden von den Untersuchern Testvideos absolviert. Die anthropometrischen
Messungen wurden durch Nachmessen von I+G-Mitarbeitern
verifiziert. Traten dabei Differenzen auf, wurde eine sofortige
Nachschulung vorgenommen.
Mitarbeitergespräche
Im Anschluß daran folgten Gespräche mit den Mitarbeitern
über Teamprobleme, Verbesserung von Arbeitsabläufen oder
Optimierung der I+G-Vorarbeit und Hilfestellung für die
Teams.
Zu diesem Zweck wurden zusätzlich im Dezember 1997 Mitglieder aller Teams und I+G-Mitarbeiter zum Erfahrungsaustausch ins RKI nach Berlin eingeladen. Ein weiteres Treffen
dieser Art fand in Wiesbaden im Oktober 1998 statt.
Einweisungsgespräche über die Besonderheiten der Nacherhebung in 10 Points erfolgten Anfang 1999 in Düsseldorf und
Eisenach.
In umfangreichen Rundbriefen wurden die Mitarbeiter auf
bisher vorgekommene Fehler oder Neuerungen aufmerksam
gemacht und Hinweise gegeben, die sie in ihrer Arbeit unterstützen sollten.
Erhebungsunterlagen
Fragebogen und andere schriftliche Dokumentationen wurden laufend stichprobenmäßig visuell kontrolliert und die Daten anschließend per Computerprogramm auf Plausibilität
und Vollständigkeit überprüft. Anhand der medizinischen
Meßblätter wurden Endziffernpräferenzen und Mittelwerte
für Blutdruck, Körpergröße und -gewicht, Taillen- und Hüftumfang sowie Puls untersucht. Abweichungen von der Norm
führten zu Nachschulungen bei den entsprechenden Mitarbeitern.
Auswahl der Untersuchungsräume
Gesundheitsämter und Stadt- bzw. Gemeindeverwaltungen
wurden gebeten, bei der Raumbeschaffung behilflich zu sein.
Dem I+G-Anschreiben lag ein Empfehlungsbrief des RKI und
ein Informationsblatt bei.
Aufgrund der Erfahrungen im Feld wurden Räume in den Gesundheitsämtern bevorzugt, da diese die Seriosität der Untersuchungen unterstrichen. Allerdings waren die zuständigen
Gesundheitsämter teilweise bis zu 30 km vom Wohngebiet
der Probanden entfernt, so daß der Anfahrtsweg für die Probanden zu weit gewesen wäre. In diesen Fällen wurden
Räume in anderen kommunalen Einrichtungen gewählt, die
im Stichprobengebiet lagen und möglichst verkehrsgünstig zu
erreichen waren.
Besonders in kleinen Gemeinden oder in den neuen Bundesländern gelang es nicht immer, die gewünschten 4 bis 5
Räume zu organisieren, so daß die Teams mit Trennwänden
improvisieren mußten, um die Intimsphäre der Probanden zu
wahren.
In zwei Points wurden die Untersuchungszentren, in die die
Probanden zuerst eingeladen waren, verlegt, da kurzfristig
vom Vorbegeher noch geeignetere Räume gefunden werden
konnten.
Alle Räume wurden von den Vorbegehern besichtigt, wenn
nötig, waren auch im Vorfeld I+G-Mitarbeiter vor Ort, um die
Räumeauswahl vorzubereiten und die Zentren zu organisieren.
Öffnungszeiten der Untersuchungszentren
Als Öffnungszeiten der Untersuchungszentren wurden angesetzt:
Mo
10:00–20:00 Uhr
Di–Fr 08:00–20:00 Uhr
Sa
08:00–12:00 Uhr
Bei Bedarf wurde die Öffnungszeit des Zentrums aber auch
verlängert. In seltenen Fällen waren Einschränkungen nötig,
wenn die Räume von den Trägern zu bestimmten Zeiten nicht
zur Nutzung freigegeben wurden oder der Materialtransport
bei Umsetzung von Region zu Region über sehr weite Strekken vonstatten gehen mußte.
Folgender Einladungsmodus lag den Probanden-Anschreiben
zugrunde:
Mo von 10:00–19:00, Di–Do von 08:00–19:00 Uhr wurden
Termine in 20minütigem Abstand vergeben. Freitag und
Samstag wurden freigehalten, um den Teams Gelegenheit zu
Hausbesuchen zu geben.
Ablauf und Ergebnisse der Feldarbeit beim Bundes-Gesundheitssurvey
Einbestellung der Probanden und Nachfaßaktionen
Die Erhebungen für den Kern-, Umwelt- und Psychiatriesurvey starteten am 20.10.1997 und endeten für den Hauptteil
mit 120 Points am 28.11.1998. Der Ernährungssurvey begann
zwei Wochen später und wurde vom 3.11.1997 bis
28.11.1998 durchgeführt.
Um die angestrebte Probandenanzahl zu erreichen, fanden
vom 18.1. bis 13.3.1999 Nacherhebungen für den Kern- und
Umweltsurvey sowie den Psychiatriesurvey in 10 Points statt.
In den beiden Berlin-Points erfolgte zusätzlich eine Ernährungsnacherhebung.
Bei diesen Nacherhebungen im ersten Quartal 1999 wurden
in zwei Gemeinden auch die vorher bereits aufgesuchten
Nachbarorte mit einbezogen, die sich im Umkreis von ca. 30
km befanden und somit für die Teams durch Hausbesuche
grundsätzlich noch erreichbar waren.
Für diese Nacherhebungen wurde ein zusätzlicher Interviewer eingesetzt, der die „alten“ Adreßprotokolle aus der ersten Runde mit ausgewählten Ausfallcodes* bearbeitete und
versuchte, diese Probanden doch noch zur Teilnahme zu motivieren. Probanden, die bereits am Kernsurvey, aber nicht an
der Umwelterhebung teilgenommen hatten, wurden ebenfalls erneut angesprochen, um diesen Teil noch nachträglich
zu absolvieren.
Die Nachbearbeitung der „alten“ Probanden gestaltete sich
ausgesprochen schwierig, da der Fahrtweg – behindert durch
die winterlichen Straßenverhältnisse – und damit der Zeitaufwand für die Hausbesuche ziemlich groß war und das Team
während dieser Zeit den regulären Zentrumsbetrieb einstellen mußte. So waren in Berlin z.B. 7 Stichprobengebiete
gleichzeitig zu bearbeiten. Es gab auch Kommunikationsschwierigkeiten unter den Mitarbeitern, da die Terminvergabe über den Vorbegeher, den Zentrumsinterviewer, den Zusatzinterviewer und die I+G-Einsatzzentrale oft ziemlich
kurzfristig laufen mußte und sich dadurch die Termine teilweise überschnitten. Die Tatsache, daß die meisten Nichtteilnehmer zu diesem Zeitpunkt bereits wegen eines Kurzfragebogens kontaktiert worden waren, wirkte sich nur in seltenen
Fällen negativ aus.
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S65
können, starteten dafür der Vorbegeher oder der Interviewer
zuerst allein. Während der Proband den Fragebogen ausfüllte,
wurde dann der Arzt per Handy informiert, so daß er anschließend das ärztliche Interview, Arzneimittelanamnese,
Blutdruckmessung und die Blutentnahme durchführen
konnte, während der Interviewer seine Route zum nächsten
Probanden fortsetzen konnte.
Öffentlichkeitsarbeit/Medienarbeit
Um die Teilnahmebereitschaft in der Bevölkerung zu erhöhen,
wurde die regionale Presse zwei Wochen vor dem jeweiligen
Pointbeginn durch die Einsatzleitung von der bevorstehenden
Untersuchung in Kenntnis gesetzt und um eine entsprechende Veröffentlichung gebeten. Dem Schreiben lag eine
Pressemitteilung des RKI sowie ein Informationsfolder über
Studienziel und Untersuchungsablauf bei. Ab Januar 98 suchten die Vorbegeher zusätzlich persönlich die entsprechenden
Redaktionen auf. Diese Maßnahme führte zu einer Erhöhung
der Veröffentlichungsrate, so daß pro Point meistens zwei bis
drei Presseartikel erschienen. Die Vorbegeher nutzten Kopien
dieser Berichte als Argumentationshilfen bei Probandenkontakten an der Haustüre oder warfen diese mit dem 2. Erinnerungsschreiben in den Briefkasten, wenn der Proband nicht
angetroffen wurde.
Weitere Bekanntmachungen für die Bevölkerung erfolgten
über regionale Rundfunk- oder Fernsehreportagen.
Überregionale Veröffentlichungen, z.B. via Internet und Information des Fachpublikums im „Ärzteblatt“ oder in „Das Gesundheitswesen“ u.a. wurden durch das RKI veranlaßt. Nachdem sich herausgestellt hatte, daß die Leiter der Gesundheitsämter ihr Personal oft nicht über die bevorstehenden
Untersuchungen informiert hatten und bei den Gesundheitsämtern anrufenden Probanden deshalb keine Auskunft erteilt
werden konnte, wurde in die I+G-Anschreiben an die Gesundheitsämter ein entsprechender Passus aufgenommen mit der
Bitte, alle ihre Mitarbeiter, besonders auch die Telefonzentrale, über den Survey zu unterrichten. Zusätzlich wurde zwei
Wochen vor Pointbeginn von der I+G-Einsatzzentrale unter
der jeweiligen offiziellen Amtstelefonnummer nachgefragt,
ob der Surveytermin bekannt ist.
Hausbesuche
10 Tage vor Zentrumsbeginn wurden die zuständigen Polizeiinspektionen durch die Einsatzleitung angeschrieben und
über die Untersuchungen informiert.
Auch bei Hausbesuchen, die zuvor mit den Probanden vereinbart wurden, wurde die Reihenfolge der Untersuchungen –
wie im OP-Handbuch für den normalen Zentrumsablauf vorgesehen – eingehalten. Für die anthropometrischen Messungen wurden eine Hausbesuchswaage und ein Zollstock mit
Winkelbrett verwendet.
Eine systematische Information der niedergelassenen Ärzte
vor Ort konnte aus Zeit- und Aufwandsgründen nicht erfolgen, wäre aber für zukünftige Erhebungen, zumindest in den
kleineren und mittelgroßen Gemeinden, zu empfehlen.
Wenn es der Zentrumsbetrieb zuließ und in den Abendstunden wurden zur Ausschöpfungserhöhung spontane Hausbesuche durchgeführt, d.h, der Besuch wurde beim Probanden
nicht gesondert angekündigt. Um möglichst viele Probanden
hintereinander ohne Zeitverlust für den Arzt kontaktieren zu
* Es wurden nur solche Probanden ausgewählt, die während der ersten Standzeit aus zeitlichen oder sonstigen Gründen verhindert
waren. Verweigerer wurden nicht mehr angesprochen.
Impressionen aus der Feldarbeit
Das komplexe Programm des Gesundheitssurveys stellte
hohe Anforderungen an das Untersuchungspersonal. Ein kurzer Blick auf die Arbeit der Vorbegeher, stellvertretend für das
Erhebungspersonal, soll dies beleuchten. Von deren Ausdauer,
Geschicklichkeit und Menschenkenntnis hängt es ganz wesentlich ab, wie viele Probanden für die Teilnahme an den Untersuchungen gewonnen werden können. Die Vorbegeher
sind die „Vorhut“ des Survey-Teams, sie arbeiten vor Ort ohne
S66 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
Unterstützung der anderen Teammitglieder, die erst Tage
später eintreffen. Jede Woche in einer anderen Gemeinde versuchen sie, an der Haustür die Probanden im persönlichen Gespräch von der Wichtigkeit der Studienteilnahme zu überzeugen. Emotionale Belastungen entstehen oft, wenn Probanden,
die aufgrund mehrfachen Nachfassens verärgert sind, aggressiv reagieren. Schwierigkeiten entstehen auch durch das Fehlen von Straßen-, Hausnummern- oder Namensschildern, so
daß manche Probanden nicht aufgefunden werden können.
Für den enormen Einsatz und das Durchhaltevermögen ist allen Mitgliedern der Untersuchungsteams zu danken, ganz besonders den Vorbegehern, die sicherlich die schwerste Aufgabe hatten.
Den Probanden wurde für ihre Teilnahme kein materieller
Anreiz geboten. Die Mühe und Geduld, die viele von ihnen auf
sich nahmen, spricht für ihre hohe Einschätzung des wissenschaftlichen und gesundheitspolitischen Werts der Studie. In
dünn besiedelten, ländlichen Gegenden nahmen die Probanden zum Teil weite Anfahrtswege in Kauf, teilweise behindert
durch winterliche Straßenverhältnisse oder Überschwemmungen. Zwar versuchte das Team, sie im Zentrum freundlich
zu empfangen und zuvorkommend zu behandeln, trotzdem
konnten sich längere Wartezeiten zwischen den einzelnen
Untersuchungseinheiten ergeben, wenn Probanden längere
Anfahrtszeiten benötigten, als im Terminplan vorgesehen,
oder das Team bei einem Hausbesuch aufgehalten worden
war.
Ergebnisse
Von den 13222 angeschriebenen Adressen erwiesen sich
1621 als sogenannte qualitätsneutrale Ausfälle, d.h., diese
Personen waren entweder inzwischen verstorben oder in eine
andere Stadt umgezogen, oder sie gehörten nicht zur Grundgesamtheit.
Grundgesamtheit war die deutsch sprechende Wohnbevölkerung in Deutschland im Alter von 18 bis 79 Jahren. Da sich die
Adressenauswahl in den Einwohnermeldeämtern auf die gesamte Wohnbevölkerung bezog, waren bei den Adressen Probanden deutscher und anderer Staatsangehörigkeit enthalten.
Ausländer wurden im Adreßprotokoll mit einem „A“ gekennzeichnet. Zielgruppe für den Survey waren aber ausschließlich Bürgerinnen und Bürger, die ausreichend gut deutsch
sprechen konnten, um an der Studie teilnehmen zu können.
Es war die Aufgabe des Vorbegehers, bei den entsprechend
gekennzeichneten Probanden durch telefonische und persönliche Kontakte festzustellen, ob diese Voraussetzung gegeben
war. Dazu fragte er, ob der Proband in seiner häuslichen oder
seiner Arbeitsumgebung regelmäßig deutsch spricht. War
dies der Fall, kam der Proband für die Teilnahme in Frage. Dies
wurde im Adreßprotokoll entsprechend vermerkt. Andernfalls war der Proband als qualitätsneutraler Ausfall einzustufen.
Den ausländischen Probanden wurde durch einen gesondert
in Türkisch, Italienisch, Griechisch, Serbokroatisch und Kroatisch verfaßten Hinweis beim ersten Einladungsschreiben die
telefonische oder persönliche Nachfrage nach ihren Deutschkenntnissen angekündigt.
P. Potthoff et al.
Insgesamt 7124 Probanden nahmen am Erhebungsprogramm
des Kernsurveys und des Arzneimittelsurveys teil, so daß sich
eine Netto-Ausschöpfung, bezogen auf das bereinigte Brutto
von 11601 Fällen, von 61,4% ergab. Bei Nichtteilnehmern
wurde versucht, einen Kurzfragebogen mit den wichtigsten
soziodemographischen Daten einzusetzen. Insgesamt 1860
Kurzfragebogen konnten ausgefüllt werden. Das entspricht
einer Zusatzinformation bei 16% der bereinigten Brutto-Stichprobe.
Erfahrungen für künftige Studien: Wie kann man
Gesundheitssurveys optimieren?
Bei der Durchführung des Bundes-Gesundheitssurveys wurden zahlreiche Erfahrungen gewonnen, aus denen gelernt
werden kann, wie man künftig Gesundheitsheitssurveys optimieren kann.
Ein erster Schritt hierzu ist eine sorgfältige Definition der
Qualitätskriterien, an denen die Ergebnisse eines Surveys gemessen werden sollen [Potthoff, Schneider 1997]. Hierzu sind
in erster Linie zu zählen:
– valide und inhaltlich adäquate Informationen zur Beantwortung der wesentlichen Fragestellung des Surveys
– hoher Grad an Standardisierung der individuellen Befragungen und Untersuchungen
– eine unverzerrte Stichprobe [Gabler, Hoffmeyer-Zlotnik
1997]
– eine umfangreiche Stichprobe
– eine hohe Responsrate [Schnell 1998]
– technische Fehlerfreiheit der erhobenen Daten (z.B. bei Datenübertragungen, Datenerfassung usw.)
Zur Erreichung dieser Qualitätskriterien sind in aller Regel bei
der Durchführung eines Gesundheitssurveys begrenzte Ressourcen vorhanden. Diese Ressourcen sind in erster Linie die
verfügbaren finanziellen Mittel und der verfügbare zeitliche
Rahmen. Bei dem zeitlichen Aufwand wirkt sich als Rahmenbedingung aus, daß zumeist die Erhebungsarbeiten in einem
definierten Zeitraum (vorzugsweise in einer 12-Monats-Periode) abgeschlossen sein müssen. Eine weitere Begrenzung
der zeitlichen Ressourcen ist eine maximal den Probanden
zumutbare Untersuchungszeit und – im vorliegenden Fall –
die begrenzte Aufenthaltsdauer der Untersuchungsteams in
den Gemeinden.
Bei dem komplexen Design des Bundes-Gesundheitssurveys
war es nicht in jeder Phase der Untersuchung möglich, die
Qualität der einzelnen Kriterien gleichzeitig zu maximieren.
Es bestand vielmehr die Aufgabe, die verfügbaren zeitlichen
und finanziellen Ressourcen so zu koordinieren, daß insgesamt eine optimale Surveyqualität unter Berücksichtigung
aller Qualitätskriterien erreicht werden konnte. Es ist unmittelbar einleuchtend, daß beispielsweise eine Verlängerung
der Standzeiten der Untersuchungsteams in den Untersuchungsgemeinden zu einer Verbesserung der Responsrate
hätte führen können, zumal, wenn man die Beteiligung mit
finanziellen Anreizen für die Probanden hätte interessant
machen können. Beschränkungen hierbei waren naturgemäß
die insgesamt geplante Erhebungsperiode sowie die verfügbaren finanziellen Mittel.
Ablauf und Ergebnisse der Feldarbeit beim Bundes-Gesundheitssurvey
Konflikte zwischen den Zielkriterien können sich auch dann
einstellen, wenn z.B. eine Verbesserung der Beteiligungsrate
für alle Altersgruppen der Probanden nur zu Lasten der Verbesserung der Beteiligung bei alten Probanden erreicht werden kann [Koch 1998], beispielsweise wenn die Teams vor der
Entscheidung stehen, Hausbesuche durchzuführen, die den
normalen Zentrumsbetrieb in seinem Ablauf und in dem Probandendurchlauf einschränken würden. Sofern nicht nur die
Maximierung eines einzelnen Qualitätskriteriums, sondern
die Optimierung der Surveyqualität als Ganzes das Ziel ist, ist
eine sorgfältige Balancierung und ein Trade-off zwischen verfügbaren Ressourcen und Qualitätskriterien erforderlich.
situationen im Erhebungsablauf sollen durch ein kontinuierliches Audit-Gremium erfolgen, in dem alle betroffenen
Parteien (wissenschaftliche Projektleitung, Feldinstitut und
externe Qualitätskontrolle) gemeinsam regelmäßig und systematisch ein Monitoring der Erhebungsarbeiten durchführen.
Literatur
1
2
Bei der Durchführung des Bundes-Gesundheitssurveys wurde
dieser Trade-off-Prozeß in vielen Fällen nur spontan, d.h. als
Reaktion auf ad hoc auftretende Problemsituationen, betrieben. Für zukünftige Surveys erscheint es nach den Erfahrungen wünschenswert, hierfür ein kontinuierliches, den Surveyprozeß begleitendes Qualitäts-Audit einzuführen, bei dem
nicht nur die Qualitätsermittlung von technischen Einzelkriterien vorgenommen wird, sondern ein Qualitätsmanagementzyklus nach dem System: Measuring–Managing–Monitoring kontinuierlich und systematisch die Surveyarbeit begleitet.
Daneben erscheint es uns auch erforderlich, bereits bei der
Surveyplanung dem Problem der Ausbalancierung von Qualitätskriterien und Einzelmaßnahmen ausreichend Rechnung
zu tragen. Dieses bedarf in Zukunft sicherlich einer längeren
Vorbereitungsphase und einem gezielteren Feintuning der
einzelnen Erhebungsinstrumente.
Neben diesen eher strategischen Überlegungen wurden im
Laufe der Surveyarbeit eine ganze Reihe von Einzelmaßnahmen z. T. post hoc zur Optimierung der Surveyqualität eingesetzt. Diese Einzelmaßnahmen werden in einem ausführlichen Feldbericht zur Surveyarbeit dokumentiert werden. Wir
wollen an dieser Stelle nur einige hervorheben:
– Optimierung der Routenpläne
– Einführung von gebührenfreien Telefonnummern als Hotline für die Probanden
– Internet-Informationen über den Survey zur Verbesserung
der Öffentlichkeitsarbeit
– Verbesserung der Pressearbeit in den Untersuchungsgemeinden
– bessere Integration der Surveyinstrumente in den Erhebungsablauf in den Untersuchungspoints
– Erhöhung der Flexibilität in der Reihenfolge der Interviewbestandteile und Untersuchungselemente
– Nachschulung der Interviewer
– Einführung von monetären Anreizen für die Befragten
– Verbesserung der Kontaktaufnahme mit den Non-Respondern
Aus den Erfahrungen mit dem Bundes-Gesundheitssurvey
lassen sich folgende allgemeine Schlußfolgerungen ableiten:
– Eine hohe Surveyqualität entsteht nur durch eine Optimierung multipler Qualitätskriterien.
– Mit gegebenen und immer begrenzten Ressourcen ist es
unmöglich, alle Surveykriterien gleichzeitig zu maximieren.
– Strategische Entscheidungen über die Gewichtung der unterschiedlichen Qualitätskriterien in entstehenden Krisen-
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S67
3
4
5
6
Forschungsverbund DHP (Hrsg.) (1998). Die Deutsche HerzKreislauf-Präventionsstudie. Bern Göttingen Toronto Seattle,
Verlag Hans Huber
Gabler S, Hoffmeyer-Zlotnik JHP (Hrsg.) (1997). Stichproben in
der Umfragepraxis. Opladen, Westdeutscher Verlag
Koch A (1998). Wenn „mehr“ nicht gleichbedeutend mit „besser“ ist: Ausschöpfungsquoten und Stichprobenverzerrungen in
allgemeinen Bevölkerungsumfragen. ZUMA-Nachrichten 22:
66–90
Potthoff P, Schneider R (1997). Die Gewinnung von Daten aus
der Bevölkerung. In: Weitkunat R, Haisch J, Kessler M (Hrsg.).
Public Health und Gesundheitspsychologie. Bern/Göttingen/Toronto/Seattle, Verlag Hans Huber, 88–93
Schnell R (1998). Non-Response in Bevölkerungsumfragen –
Ausmaß, Entwicklung und Ursachen. Opladen, Leske + Budrich
Schroeder E, Potthoff P, Reis U, Klamert A (1998). Erhebungsarbeiten im Bundes-Gesundheitssurvey. Gesundheitswesen 60;
1998: Sonderheft 2: 104–107
Dr. Peter Potthoff
I+G Gesundheitsforschung GmbH & Co
Landsberger Straße 338
D-80687 München
S68
Qualitätskontrolle im
›› Externe
Bundes-Gesundheitssurvey:
Konzept und Site-Visits
Zusammenfassung: Den Ergebnissen des Bundes-Gesundheitssurveys kommt eine hohe gesundheitspolitische und
wissenschaftliche Bedeutung zu. Zum Qualitätsmanagementkonzept des Kernsurveys gehörte deshalb ergänzend zur
internen Qualitätssicherung auch eine externe Qualitätskontrolle, die von der Firma Bernhard Schwertner Feldorganisation, Augsburg, durchgeführt wurde. Die externe Qualitätskontrolle umfaßte vertragsgemäß die Bereiche Schulung des
Untersuchungspersonals, Stichprobe und Beteiligung, Feldarbeit
sowie Datenmanagement. Für jeden dieser vier Bereiche wurden von der externen Qualitätskontrolle Kontrollmaßnahmen
und nachgeordnete detaillierte Kataloge mit Prüfkriterien erarbeitet. Ziel war dabei, potentielle und tatsächliche Fehlerquellen zu finden und daraus umgehend Empfehlungen für die
interne Qualitätssicherung abzuleiten. In diesem Beitrag wird
das Konzept der externen Qualitätskontrolle kurz vorgestellt,
und es werden Erfahrungen und Ergebnisse aus dem Bereich
Feldarbeit beschrieben.
Schlüsselwörter: Bundes-Gesundheitssurvey – Qualitätskontrolle – Feldarbeit – Datenmanagement
External Quality Control in the German National Health
Interview and Examination Survey: Concepts and Site Visits:
The results of the German National Health Interview and
Examination Survey will be of great importance for health policy and research. Therefore, internal quality management
was supplemented by an external quality control which was
carried out by a private company (Bernhard Schwertner Feldorganisation, Augsburg). The interviewer training, sampling
and response, field work and data management were included
into the external quality control. For each of these four areas,
measures of control and detailed check-lists were provided by
the external quality control. The aim was to find sources of potential and real errors and to arrive at recommendations for internal quality management. The general concept of external
quality control is briefly presented and experiences and results
from the quality control of the field work are described in the
present paper.
Key words: National Health Survery – Quality Control – Field
Work – Data Management
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S68–S71
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
G. Winkler1, B. Filipiak2, H.W. Hense3, B. Schwertner4
1
Fachhochschule Albstadt-Sigmaringen, Fachbereich Ernährungsund Hygienetechnik, Sigmaringen
2 GSF-Institut für Epidemiologie, Neuherberg
3 Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Institut für
Epidemiologie und Sozialmedizin
4 Firma Bernhard Schwertner Feldorganisation, Augsburg
Einleitung
Das Qualitätsmanagementkonzept des Bundes-Gesundheitssurveys 1997/98 umfaßte zusätzlich zur internen Qualitätssicherung eine kontinuierliche Begutachtung durch eine unabhängige externe Institution.
Die externe Qualitätskontrolle war dabei nach den Vorgaben
des RKI beschränkt auf den Kernsurvey und hatte die Schulung des Untersuchungspersonals, die Durchführung der
Feldarbeit einschließlich Kontrolle der Messungen und der
Fragebogendaten, die Prüfung der Stichprobenziehung und
der Ausschöpfung sowie die Prüfung der Datenübertragung
und die Kontrolle der Datenbank zum Inhalt. Da die Arzneimittelanamnese vom Untersuchungsablauf her in das ärztliche Interview des Kernsurveys integriert war, unterlag sie
ebenfalls der externen Qualitätskontrolle. Der weitere Verlauf
des Arzneimittelsurveys jedoch, wie auch die anderen Module im Bundes-Gesundheitssurvey [siehe Bellach et al. 1998]
waren dagegen nicht Bestandteil einer externen Qualitätskontrolle.
Nach einem beschränkten Ausschreibungsverfahren wurde
die Firma Bernhard Schwertner Feldorganisation, Augsburg,
mit der externen Qualitätskontrolle beauftragt. Sie verfügt
über Erfahrungen in der Organisation und Durchführung von
epidemiologischen Studien vergleichbarer Größenordnung
(z.B. Surveys 1989/90 und 1994/95 im Rahmen des MONICA*
Projektes Region Augsburg) und arbeitete in einigen Bereichen der Qualitätskontrolle des Kernsurveys zusätzlich mit
anerkannten Experten (Frau Dipl.-Stat. Birgit Filipiak, Neuherberg, und Herr Prof. Dr. Hans-Werner Hense, Münster) zusammen.
Konzept und erste Erfahrungen der externen Qualitätskontrolle sind bereits ausführlich beschrieben [Winkler et al.
1998]. Im vorliegenden Beitrag werden deshalb Konzept und
generelle Vorgehensweise nur kurz dargestellt. Erfahrungen
aus den Site-Visits zur Qualitätskontrolle der Feldarbeit und
Ergebnisse der regelmäßigen Prüfung der Meßdaten auf systematische Inter-Untersucher-Differenzen werden am Beispiel Taillen- und Hüftumfangsmessung beschrieben.
* MONICA = Monitoring of trends and determinants in cardiovascular
disease
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S69
Konzept der externen Qualitätskontrolle
Erfahrungen aus den Site-Visits
Für die Durchführung der externen Qualitätskontrolle wurden
Die unangekündigten Site-Visits wurden ausschließlich von
die oben genannten Schwerpunkte zu den vier Bereichen SchuPersonen durchgeführt, die über Erfahrungen in der Durchlung des Untersuchungspersonals
, Stichprobe und Beteiligung
,
führung ähnlicher Erhebungen verfügen. Dabei wurden einerFeldarbeit und Datenmanagementzusammengefaßt und Qualiseits grundlegende Standards, wie z.B. die Ausstattung des
Untersuchungszentrums inkl. des Labors, die internen Artät in Übereinstimmung mit dem RKI und I+G definiert als kontinuierliche Einhaltung allgemein anerkannter wissenschaftlicher beitsabläufe und hier speziell die Reihenfolge der UntersuStandards und Methoden unter besonderer Berücksichtigung der chungsteile, die vorschriftsmäßige Identifikation der ProbanAnforderungen und Vorgaben des Auftraggebers (RKI)
.
den, die datenschutzrechtlich einwandfreie Verwahrung personenbezogener Unterlagen u.ä., und daneben jeweils
In einschlägigen Qualitätsmanagementkonzepten stellt die
schwerpunktmäßig einzelne Untersuchungsteile detailliert
kontinuierliche Kontrolle von Qualität anhand allgemein ananhand von Checklisten (Beispiel siehe Tab. 1) geprüft und
erkannter und exakt definierter Kriterien eine Grundlage dar,
beurteilt.
auf der konkrete Maßnahmen zur Qualitätssicherung ansetzen. Übertragen auf den Bundes-Gesundheitssurvey bedeutet
Insgesamt fanden aufgrund der für die externe Qualitätskondies, daß die Hauptfunktionen der externen Qualitätskontrolle zur Verfügung stehenden Mittel nur insgesamt 25 jetrolle erstens im Erarbeiten und Anwenden von Strategien
weils eintägige Site-Visits statt, die gleichmäßig auf die vier
zum Finden und Aufdecken von potentiellen und realen FehTeams verteilt wurden – d.h. bei einer Feldlaufzeit von über
lern und zweitens im Aufzeigen von Möglichkeiten zur Vereinem Jahr hatte jedes der vier Teams maximal sieben externe
meidung und Reduzierung dieser Fehler unter BerücksichtiKontrollbesuche zu erwarten. Die dabei gewonnenen Eingung der gegebenen Rahmenbedingungen gesehen wurde.
drücke wurden unverzüglich an die interne QualitätsDie Umsetzung der Empfehlungen oblag dem internen Qualisicherung weitergeleitet, die wie von Potthoff et al. (1999)
tätsmanagement, das an anderer Stelle beschrieben ist [Pottbeschrieben, reagierte. Erwartungsgemäß betrafen die Behoff et al., 1999].
anstandungen anfänglich eher Organisatorisches (z.B. Reihenfolge von Untersuchungsteilen), später dagegen mehr und
mehr individuelle Abweichungen vom UntersuchungshandKonkrete Vorgehensweise
buch bei einzelnen Untersuchern, die sich infolge der zunehmenden Routine einschlichen.
In der Praxis wurden von der externen Qualitätskontrolle für
jeden der vier Bereiche Schulung des Untersuchungspersonals
,
Stichprobe und Beteiligung
, Feldarbeit und Datenmanagement Als problematisch erwies sich bei den Site-Visits die Tatsache,
daß trotz der Checklisten nur bestimmte Bereiche „objektiv“
konkrete Prüfmaßnahmen entwickelt und mittels Checklisten
erfaßbar waren (z.B. „harte“ Daten zur Response und zur
oder Prüfkatalogen operationalisiert. Diese Listen und KataMeßgenauigkeit, Feststellen mangelnden Nachfragens nach
loge lagen allen Beteiligten vor und wurden allgemein akzepNährstoffsupplementen oder Kontrazeptiva in der Arzneimittiert, was Transparenz und größtmögliche Objektivität
telanamnese), personen- oder situationsbezogene Bereiche
gewährleisten sollte. Die Checklisten oder Prüfkataloge badagegen mußten naturgemäß „subjektiv“ beurteilt werden
sierten auf den im Operationshandbuch beschriebenen Stan(z.B. direktives Verhalten im Arztinterview, Umgang mit Prodards. Details und Beispiele zu allen vier Kontrollbereichen
banden, Atmosphäre im Untersuchungszentrum etc.). Trotz
wurden bereits veröffentlicht [Winkler et al. 1998]. Die prindieser offensichtlichen Problematik sollen die folgenden
zipielle Vorgehensweise wird hier deshalb lediglich am BeiStichpunkte einige dieser „subjektiven“ Erfahrungen aufzeispiel Feldarbeitnochmals erläutert:
gen:
– Nichtärztliches medizinisches Untersuchungspersonal
Die Datenerhebung im Feld muß den Hauptschwerpunkt des
scheint an Qualitätskontrollen eher gewöhnt zu sein als
Qualitätsmanagements in epidemiologischen Studien darstelärztliches Untersuchungspersonal und war Kontrollen,
len [Haraldsdottir 1993], da hier auftretende Mängel, wie z.B.
Nachschulungen und Verbesserungsvorschlägen gegenzufällige Interview- oder Meßfehler oder systematische Abüber insgesamt aufgeschlossener.
weichungen in der Meßgenauigkeit, bei der Auswertung nicht
– Beim ärztlichen Untersuchungspersonal waren deutliche
kontrolliert werden können und – wie beim Bundes-GesundUnterschiede im Verständnis für und der Anerkennung und
heitssurvey – üblicherweise auch keine Möglichkeit besteht,
Einhaltung von streng standardisierten Vorgehensweisen
sie durch Wiederholungsmessungen eliminieren zu können.
und nichtdirektiven Befragungstechniken erkennbar zwiKonkret wurden zur Kontrolle der laufenden Feldarbeit im
schen Personen mit überwiegend bevölkerungsmediziniBundes-Gesundheitssurvey folgende Maßnahmen kombischer (z.B. Zusatzausbildung in Public Health) oder indiviniert:
dualmedizinischer Vorerfahrung.
– die kontinuierliche Kontrolle der Beteiligung einschließlich
– Bei mehreren Untersuchungsteams und langer Felddauer
der Kategorisierung von Ausfällen und Verweigerern [siehe
sind Supervisionen und regelmäßige Qualitäts-Workshops
dazu Thefeld et al., 1999],
empfehlenswert. Anhand konkret aufgetretener Probleme
– unangekündigte Site-Visits (Feldbesuche) zur Kontrolle des
(z.B. in der Arzneimittelanamnese, bei einzelnen InterUntersuchungsablaufs in den Untersuchungszentren anviewfragen u.a.m.) können möglicherweise auseinanderhand von Prüfprotokollen (teilnehmende Beobachtung und
driftende Vorgehensweise und Lösungen gemeinsam
Teilnahme als „Gast- oder Gefälligkeitsproband“ an kombesprochen, standardisiert und im Operationshandbuch
pletten Untersuchungsdurchläufen) und
fortgeschrieben werden. Alternativ sollten andere Metho– regelmäßige, quartalsweise Prüfung der Qualität der Meßden zum wiederholten Training der standardisierten Erhedaten mittels definierter Analysen der erhobenen Daten.
S70 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
Tab. 1 Checkliste zur
Kontrolle der anthropometrischen Messungen
Körpergröße
Boden sauber, abgedeckt?
Pb1): Schuhe ausgezogen?
Pb: Schwere Kleidung abgelegt?
Pb: Füße in ca. paralleler Stellung?
Pb: Körperhaltung aufrecht?
Pb: Atmung normal?
Pb: Kopfhaltung korrekt
Meßbacken korrekt abgesenkt?
Meßbacken nach Wegtreten des Pb unverändert?
Wert auf 0,1 cm genau abgelesen?
Besondere Vorkommnisse vermerkt?
Größenbestimmung>2,00 m korrekt vorgenommen?
Evtl. aufgetretene besondere Vorkommnisse oder Umstände eingetragen?
Ja
Ja
Ja
Ja
Ja
Ja
Ja
Ja
Ja
Ja
Ja
Ja
Ja
Nein Nein Nein Nein Nein Nein Nein Nein Nein Nein Nein Nein Nein Ja
Ja
Ja
Ja
Ja
Ja
Ja
Nein Nein Nein Nein Nein Nein Nein Ja Nein Ja Nein Ja
Ja
Ja
Ja
Ja
Ja
Ja
Ja
Ja
Ja
Nein Nein Nein Nein Nein Nein Nein Nein Nein Nein Ja
Ja
Ja
Ja
Ja
Nein Nein Nein Nein Nein Entfällt Entfällt Entfällt Körpergewicht
Waage in waagrechtem Stand (Wasserwaage)?
Displayanzeige korrekt?
Gerätenummer der Waage notiert?
Pb: Ohne Schuhe und ohne schwere Kleidung?
Steht Pb auf der Mitte der Platte?
Pb beim Wiegen ruhig stehengeblieben?
Gewicht auf 0,1 kg genau abgelesen und richtig eingetragen?
Evtl. aufgetretene besondere Vorkommnisse oder
Umstände eingetragen?
Entfällt Taillenumfang
Pb: Taillenbereich frei gemacht und Kleidung fixiert?
Pb: Körperhaltung korrekt (Arme seitlich hängend,
Fersen geschlossen, Fußspitzen leicht gespreizt)?
Auf normale Atmung des Pb geachtet?
Maßband an richtiger Stelle angelegt?
Maßband weder zu locker noch zu fest?
Maßband horizontal verlaufend?
Augen der Untersucherin auf Höhe des Maßbandes?
Meßpunkt bei adipösen Probanden ertastet?
Maß auf 0,5 cm genau abgelesen?
Messung bei Schwangeren ab der 13. Schwangerschaftswoche unterlassen?
Falls Taillenumfang nicht gemessen oder besondere Umstände, Sachverhalt notiert?
Entfällt Entfällt Entfällt Hüftumfang
Pb: Körperhaltung korrekt?
Maßband über den größten Umfang angelegt?
Augen der Untersucherin auf Höhe des Maßbandes?
Maßband auf 0,5 cm genau abgelesen?
Besondere Vorkommnisse oder Grund für fehlende Messung eingetragen?
1)
Entfällt Pb=Proband/Probandin
bungsmethodik (z.B. Video-, PC-Übungsprogramme o. ä.)
zum Einsatz kommen.
– Der Einfluß der Rahmenbedingungen in den wechselnden
Untersuchungszentren (z.B. baulicher Zustand, Anzahl der
Räume usw.), die den Arbeitsplatz des Teams darstellten,
auf die Motivation eines Teams und damit letztendlich
seine Gesamtperformance sollte nicht unterschätzt werden.
– Ebenso wirkt sich die materielle Teamausstattung und Logistik aus. So war es beispielsweise für die Teams belastend, daß nicht jedem Team eine komplette Geräteausstattung zur Verfügung stand [siehe dazu auch Potthoff et
al., 1999] und der „Vor-Ort-Support“ durch die Feldleitung
in der ersten Feldphase noch wirkungsvoller hätte sein
können.
Ergebnisse der Prüfung der Meßdaten auf systematische
Untersucherunterschiede
Als wichtigste Ergänzung zu den Site-Visits erwiesen sich regelmäßige Auswertungen ausgewählter Meßdaten hinsichtlich inter-individueller Untersucherunterschiede, mit denen
oftmals „subjektive“ Eindrücke aus den Feldbesuchen (z.B. zu
„straffes“ Messen von Taillen- und Hüftumfang oder Messen
der Taille auf nackter Haut und Messen der Hüfte auf Kleidung durch einzelne Untersucher) „objektiviert“ werden
konnten [Details siehe Winkler et al. 1998]. Tab. 2 zeigt hier
ein Beispiel aus dem dritten Surveyquartal.
In allen vier Surveyquartalen wurden durch das Monitoring
der Meßwerte Inter-Untersucher-Differenzen gefunden, die
anschließend durch gezielte Information oder Nachschulungen seitens der internen Qualitätssicherung korrigiert werden
konnten. Problematisch war in diesem Zusammenhang aller-
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S71
Tab. 2 Untersuchereffekte bei den Messungen des Taillen- und Hüftumfangs: Differenz der adjustierten Mittelwerte1) zum overall-Mittelwert nach
Untersucher (Basis: ungeprüfte Meßdaten des 3. Surveyquartals)
Taillenumfangsmessung
Untersucher
Anzahl
Messung
Diff.
Mittelwert
Std. Error
A
B
C
D
E
F
G
H
I
J
K
L3)
53
241
211
65
276
38
30
31
103
146
44
60
–0,62
–0,48
–2,03
–2,24
–0,95
–0,19
–0,48
–3,17
–3,91
–1,82
–0,52
–0,00
1,45
0,68
0,72
1,31
0,63
1,71
1,92
1,90
1,04
0,87
1,59
1,36
1)
2)
3)
Hüftumfangsmessung
p-Wert2)
Diff.
Mittelwert
Std. Error
p-Wert2)
0,6701
0,4781
0,0053
0,0860
0,1348
0,9118
0,8044
0,0939
0,0002
0,0365
0,7437
0,9992
–0,08
–0,44
–1,47
–2,11
–1,11
–0,17
–0,32
–2,07
–2,25
–1,77
–2,12
–0,23
1,15
0,54
0,58
1,04
0,50
1,36
1,53
1,50
0,82
0,69
1,26
1,08
0,9424
0,4156
0,0108
0,0420
0,0283
0,8977
0,8364
0,1679
0,0063
0,0107
0,0925
0,8348
Adjustiert nach Geschlecht und Alter (Geburtsjahr).
Bei Annahme eines globalen Testniveaus von 1% ergibt sich bei 12 Untersuchern nach der Bonferroni-Adjustierung das multiple Niveau von 0,0008.
Untersucher, die weniger als 25 Messungen durchgeführt haben, wurden unter L zusammengefaßt.
dings die große zeitliche Verzögerung, mit der die Meßdaten
üblicherweise zur Qualitätsanalyse zur Verfügung standen,
was letztendlich unnötige Verzögerungen bei den notwendigen Korrekturen zur Folge hatte.
Ausblick
Unabhängige externe Ergänzungen des internen Qualitätsmanagements werden unseres Wissens bei großen epidemiologischen Studien international seit längerem eingesetzt und
auch in Deutschland in zunehmendem Maße gefordert und
verwirklicht (z.B. Vorgängerstudien des Bundes-Gesundheitssurveys, Greifswald-Studie, KORA-Survey 2000 „Leben und
Gesundheit in der Region Augsburg“). Leider werden Konzepte, Erfahrungen und Ergebnisse aus der Praxis der Qualitätssicherung bisher nur sporadisch veröffentlicht, wie eine
aktuelle medline-Recherche (Stand November 1999) bestätigt. Dies erschwert eine erfahrungs- und praxisorientierte
Weiterentwicklung des Qualitätsmanagements epidemiologischer Studien.
Das vorgestellte Konzept, das hier anhand des Kontrollbereichs Feldarbeit exemplarisch vertieft wurde, hat sich im
Bundes-Gesundheitssurvey – wenn auch mit anfänglichen
Schwierigkeiten – langfristig bewährt und kann unserer Ansicht nach in abgeänderter Form auf andere Studien übertragen und weiterentwickelt werden. Aus heutiger, nachträglicher Sicht ist dringend zu empfehlen, das komplette Qualitätsmanagement bereits in der Pilotphase zu testen und
Kompetenzen, Strukturen und Abläufe detailliert im Operationshandbuch zu fixieren. Als wichtig zum Aufbau einer Vertrauensbasis erwies sich auch die formelle Unterzeichnung
von Geheimhaltungsklauseln durch alle Beteiligten.
Ergebnisse der Datenprüfung
Ursprünglich war geplant, zu drei Zeitpunkten, nämlich am
Anfang, in der Mitte und am Ende der Feldarbeit die eingegebenen Daten zu prüfen. Mit der Prüfung konnte dann jedoch
erst sechs Monate nach Feldbeginn begonnen werden. Eine
möglichst frühzeitige Prüfung hat sich als vorteilhaft erwiesen, da Fehler entdeckt wurden, deren Ursache in fehlerhaf-
ten Eingabemasken begründet waren und die umgehend korrigiert werden konnten. Ebenfalls erreicht wurde eine bessere
Durchsicht der Hauptfragebogen im Zentrum und leserlicher
ausgefüllte Meßbogen. Das Kodierschema lag nicht von Anfang der Studie an für alle Mitarbeiter verbindlich in schriftlicher Form vor, was eberfalls zu Verzögerungen bei der Endabnahme führte. Insgesamt wurden über 37500 nummerische
Felder in der Datenbank (davon 85% von 56 zufällig ausgewählten Teilnehmern) auf Korrektheit der Eingabe und der
Kodierung geprüft. Der Anteil an Fehlern lag hier mit 0,14%
deutlich unter den geforderten 0,2%.
Literatur
1
2
3
4
5
Bellach BM, Knopf H, Thefeld W (1998). Der Bundes-Gesundheitssurvey 1997/98. Gesundheitswesen 60; Sonderheft 2: 59–
68
Haraldsdottir J (1993). Minimizing error in the field: quality
control in dietary surveys. Eur J Clin Nutr 47, Suppl. S2: 19–24
Potthoff P, Schröder E, Reis U, Klamert A (1999). Ablauf und Ergebnisse der Feldarbeit beim Bundes-Gesundheitssurvey. Gesundheitswesen 61; Sonderheft 2: S62–S67
Thefeld W, Stolzenberg H, Bellach BM (1999). Bundes-Gesundheitssurvey. Response, Zusammensetzung der Teilnehmer und
Non-Responder-Analyse. Gesundheitswesen 61; Sonderheft 2:
S57–S61
Winkler G, Filipiak B, Hense HW, Schwertner B (1998). Externe
Qualitätskontrolle im Bundes-Gesundheitssurvey 1997/98: Konzept und erste Erfahrungen. Gesundheitswesen 60; Sonderheft
2: 108–112
Prof. Dr. Gertrud Winkler
Fachhochschule Albstadt-Sigmaringen
Fachbereich Ernährungs- und Hygienetechnik
Anton-Günther-Straße 51
D-72488 Sigmaringen
S72
Herzinfarktgeschehen in der
›› Zum
Bundesrepublik Deutschland:
G. Wiesner, J. Grimm, E. Bittner
Robert Koch-Institut, Berlin
Prävalenz, Inzidenz, Trend, OstWest-Vergleich
Zusammenfassung: Der Bundes-Gesundheitssurvey als deskriptive Querschnittsstudie erlaubt die Erfassung der Postmyokardinfarkt-Fälle, d.h. den Bestand (Prävalenz) an Überlebenden nach dem Ereignis eines Infarktes (nichtletale Myokardinfarkte). Die 18- bis unter 80jährige Wohnbevölkerung
in der Bundesrepublik Deutschland 1998 hat eine LebenszeitPrävalenz an Zuständen nach Herzinfarkt von 2,45%. Die altersspezifischen Lebenszeit-Prävalenzwerte steigen mit zunehmendem Alter bei beiden Geschlechtern deutlich an. Zwischen dem 30. und 59. Lebensjahr kommen auf einen weiblichen Herzinfarktträger mehr als vier männliche; zwischen
dem 60. und 79. Lebensjahr beträgt diese Relation nur noch
etwa 1 zu 1,5. In der 30–<80jährigen Bevölkerung der Bundesrepublik gibt es etwa 1450000 Postmyokardinfarkt-Fälle (Infarktträger). In dem relativ jungen Erwachsenenalter zwischen 30 bis 49 Jahren gibt es ca. 100000 männliche Postmyokardinfarkt-Fälle. Bei der weiblichen Bevölkerung existiert in
diesem Altersbereich eine wesentlich geringere Krankenpopulation. Beim Postmyokardinfarktgeschehen bestehen
1997/98 zwischen den alten und neuen Bundesländern keine
signifikanten Morbiditätsunterschiede. Der Trend der Lebenszeit-Prävalenzraten im Vergleich 1997/98 zu 1990/92 läßt erkennen:
– bei der 25–<70jährigen Bevölkerung in der Bundesrepublik hat die Bestandsmenge an Postmyokardinfarkten abgenommen;
– in den alten Bundesländern sind die Lebenszeit-Prävalenzraten ebenfalls gesunken;
– in den neuen Bundesländern haben sich im gleichen Zeitraum die Prävalenzraten bei beiden Geschlechtern erhöht.
1997/98 ereigneten sich in der Bundesrepublik Deutschland
bezogen auf die 18–<80jährige Bevölkerung in einer vollen
12-Monats-Periode insgesamt etwa 190000 nichtletale Myokardinfarkte (Inzidenzfälle an Überlebenden nach dem Ereignis eines akuten Erst- und/oder akuten Reinfarktes).
Notes on the Myocardial Infarction Scene in the Federal
Republic of Germany: Prevalence, Incidence, Trends,
Comparison between Eastern and Western Germany: The
German National Health Interview and Examination Survey, as
a descriptive cross-sectional study, allows the recording of
post-myocardial infarct cases, e.g. the number (prevalence) of
survivors after an infarct has occurred (non-lethal myocardial
infarcts). The 18 to 79 year old residential population in Germany had a lifetime prevalence of 2.45% for conditions after a
heart attack. The age-specific lifetime prevalence values increase with increasing age for both men and women. Between
the ages of 30 and 59 there are more than 4 male heart attack
victims for every woman; between the ages of 60 and 79 this
relation is only 1 to 1.5. The 30–<80 year old population in
Germany has around 1,450,000 post-myocardial infarct cases
(heart attack victims). There are about 100,000 male post-myocardial infarct cases among relatively young adults between
30 and 49 years of age. There were hardly any cases in the female population in this age group. In regard to post-myocardial infarcts there were no significant morbidity differences
between the eastern and western German states in 1997/98. A
comparison of the lifetime prevalence rates between 1997/98
and 1990/92 shows the following trend:
– the number of post-myocardial infarcts in the German
population 25–<70 years old decreased;
– in Western Germany the lifetime prevalence rates also
declined,
– in Eastern Germany the prevalence rates among both
men and women increased in this period of time.
In the period 1997/98 there were around 190,000 non-lethal myocardial infarcts in the 18 to 79 year old German population in a full 12 month period (incidence cases of survivors after the occurrence of an acute first and/or acute reinfarcts).
Key words: Heart Attack – Prevalence – Trend – Incidence
Non-Lethal Heart Attacks
Schlüsselwörter: Herzinfarkt – Prävalenz – Trend – Inzidenz
an nichtletalen Herzinfarkten
Einführung
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S72–S78
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Koronare Herzkrankheiten sind nach wie vor die Hauptursache der vorzeitigen Sterblichkeit in den industrialisierten Ländern [MONICA Projekt 1987, Jackson 1990, Marques-Vidal et
al. 1997]; in der Bundesrepublik Deutschland entfielen 1996
14,6% der gesamten Sterbefälle im Alter von 35 bis 64 Jahre
auf diese einzelne Krankheitsgruppe. Bei der männlichen Bevölkerung ist hierbei der akute Myokardinfarkt die mit Abstand häufigste Einzeltodesursache gegenüber allen anderen
Beitrag: 346.fm
Ausdruck vom 25.5.00
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S73
Zum Herzinfarktgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland
krankheitsbedingten und nichtnatürlichen Todesursachen.
Nach den zuletzt aktuell verfügbaren Daten der offiziellen Todesursachenstatistik [Statistisches Bundesamt 1999] verstarben 1997 in der Bundesrepublik 45623 Männer an einem
akuten Myokardinfarkt.
Seit Jahren ist im früheren Bundesgebiet eine kontinuierliche
Abnahme der Gesamtmortalität an Herz-Kreislauf-Krankheiten und insbesondere der Sterblichkeit an koronaren Herzkrankheiten zu konstatieren. In den neuen Bundesländern
kam es nach einem anfänglichen Ansteigen der koronaren
Mortalität nach der Wiedervereinigung [Hoffmeister et al.
1993, Wiesner 1995] zu einer Senkung der Herzinfarktsterblichkeit. An dieser Stelle muß beachtet werden, daß ein Teil
der akuten Herzsterbefälle in der offiziellen Todesursachenstatistik unter anderen Positionen erscheint (z.B. Herzinsuffizienz, Diabetes mellitus, Hypertonie, allgemeine Arteriosklerose, Herzsekundentod, Todesfälle mit ungeklärter Ursache).
Die koronare Sterblichkeit wird daher etwas zu niedrig ausgewiesen. Obgleich die koronare Mortalität einschließlich der
Sterblichkeit am akuten Myokardinfarkt abnimmt, ist der
Trend der Inzidenz- und Ereignisraten beim Infarkt nicht eindeutig. Die weibliche Bevölkerung hat wohl eine niedrigere
Herzinfarktsterblichkeit als die männliche Bevölkerung, aber
die Registerdaten der MONICA-Projekte läßt bei den Frauen
eine Zunahme der Inzidenz- und Ereignisraten erkennen
[Marques-Vidal et al. 1997, Keil 1992, Löwel et al. 1995]. Dies
korrespondiert mit dem Trend koronarer Risikofaktoren. Die
Prävalenzrate der Hypertonie, der Anteil der stark Übergewichtigen und der Anteil der Raucherinnen ist im zeitlichen
Vergleich zwischen 1991 und 1998 in der Bundesrepublik
weiter angestiegen, und die HDL-Cholesterinwerte sind im
gleichen Zeitraum gesunken (die HDL-Fraktion des Serumcholesterins hat eine protektive Wirkung gegenüber koronaren Herzkrankheiten) (Daten des Gesundheitswesens 1999).
Im vereinten Deutschland muß nach eigenen Berechnungen
mit mehr als 280000 Herzinfarkten jährlich als Neuzugängen
(Inzidenz) gerechnet werden [Wiesner et al. 1995]. Innerhalb
von 28 Tagen nach Infarktereignis (einschließlich Prä- und
Posthospitalphase) stirbt wahrscheinlich zur Zeit noch mehr
als ein Drittel der Erkrankten (sog. 28-Tage-Letalität). Damit
gehört der Herzinfarkt auch gegenwärtig noch zu den Krankheitsereignissen, die trotz einer Reihe neuer diagnostischer
Methoden und Behandlungsmodalitäten mit einer sehr hohen
Fatalitäts- und Letalitätsrate belastet sind. Das Herzinfarktgeschehen hat demnach einen maßgeblichen Einfluß auf die Gesundheitslage der Bevölkerung in der Bundesrepublik.
ständnis zur Pathogenese koronarer Herzkrankheiten (inkl.
Myokardinfarkt) stark gefördert. Aus den Erkenntnissen
konnten beispielsweise eine Reihe neuer diagnostischer Methoden, Behandlungsmodalitäten und präventiver Praktiken
entwickelt werden. Vornehmlich ging es auch um die Prädiktion koronarer Herzkrankheiten, durch die koronare Risiken
oder asymptomatische Risikoträger aus der „gesunden“ Bevölkerung identifiziert werden konnten. Die prävalenzbezogenen Surveydaten ermöglichen die Erfassung einiger Risiken
des Krankseins am Herzinfarkt selbst. Die mit dem Kranksein
„Herzinfarkt“ assoziierten Merkmale (z.B. soziodemographische Merkmale, andere Krankheiten, Verhalten und Lebensstil, Labor- und Körpermeßgrößen, psychische und genetische
Faktoren, Medikamenteneinnahme) lassen sich einer Beschreibung zuführen. Surveydaten erlauben logischerweise
nur die Erfassung der Postinfarkt-Fälle bzw. der Zustände
nach einem Herzinfarkt, d.h. den Bestand an Überlebenden
nach dem Ereignis eines Infarktes, der durch eine sehr hohe
Letalität und Fatalität charakterisiert ist. Die nichtletalen
Myokardinfarkte werden im Kernsurvey nach folgenden Prozeduren registriert:
– Im Selbstausfüllfragebogen des Probanden durch die Frage
„Welche der folgenden Krankheiten hatten Sie jemals?“
Bei der Angabe „Herzinfarkt“ wurden die Alternativen „Ja“,
„Nein“ und „weiß nicht“ vorgegeben. Die Art der Befragung
bestimmt den Inhalt der epidemiologischen Information.
Erfaßt wird die Menge prävalenter Fälle an Zuständen nach
Herzinfarkt einer 18- bis 79jährigen Wohnbevölkerung
(„Herzinfarktträger“), die im Verlauf der Lebenszeit der
Probanden bis zum Zeitpunkt der Erhebung aufgetreten
sind. Eine Quantifizierung dieser Zustände führt zur Ableitung von alters- und geschlechtsspezifischen LebenszeitPrävalenzraten zu einem betrachteten Zeitpunkt t1.
Prävalenzrate=
Krankenbestand in t1
mittlere Bevölkerung
– Eine nosologische Zuordnung dieser Zustände nach akutem
Myokardinfarkt (AMI), altem Myokardinfarkt, Reinfarkt,
subendokardialem Infarkt, Postmyokardinfarkt-Syndrom
etc. ist nicht möglich.
– Im Erhebungsbogen erfolgte die ärztliche Befragung zu
Krankheiten nach folgendem Modus:
A) Hat ein Arzt jemals eine der folgenden Krankheiten oder
Gesundheitsstörungen beim Probanden festgestellt?
B) Wann ist die Krankheit zuletzt aufgetreten?
Material und Methodik
Aus epidemiologischer Perspektive ist der Bundes-Gesundheitssurvey einer deskriptiven Querschnittsstudie (Beobachtungsstudie) zuzuordnen. Er erlaubt u.a. Aussagen über die
gesundheitliche Situation von Krankenpopulationen – hier
der Herzinfarktpopulation in der Bundesrepublik Deutschland (Prävalenzstudie). Angaben über die zeitliche und räumliche Verteilung und bevölkerungsbezogene strukturelle Differenzen der Herzinfarktpopulation werden ermöglicht. Im
Vordergrund des Interesses von Studien auf der Basis von
Herzinfarktregisterdaten bzw. von prospektiven epidemiologischen Studien steht insbesondere die Quantifizierung des
Risikos, krank zu werden bzw. des Risikos, einen Herzinfarkt
zu erleiden. Diese inzidenzbezogenen Studien haben das Ver-
C) In welchem Lebensalter (Alter in Jahren) ist diese
Krankheit erstmals aufgetreten?
A.
Jemals vom Arzt
festgestellt
Nein
03. Herzinfarkt (Wenn „Ja“, auch
Unterfrage III „Herzinfarkt“
beantworten)
*1 = innerhalb der letzten 4 Wochen
2 = innerhalb der letzten 12 Monate
3 = länger her
4 = weiß nicht
Beitrag: 346.fm
Ausdruck vom 25.5.00
2
B.
Wann ist die Krankheit zuletzt
aufgetreten?*
D.
Erstmals
aufgetreten
Ja
1
1
2
3
4
Im Alter von
S74 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
G. Wiesner, J. Grimm, E. Bittner
Eine weitere Klassifizierung der Postmyokard-Fälle erfolgte
durch den Arzt nach folgendem Muster:
1990/92 und 1997/98 auf Selbstangaben. Alle übrigen Aussagen stützen sich auf Daten der ärztlichen Überprüfung (Erhebungsbogen für die ärztliche Befragung zu Krankheiten).
Unterfrage III – Herzinfarkt
15.
Wie viele Herzinfarkte hatten Sie?
Anzahl:
16.
Geben Sie bitte Ihr Lebensalter an, in dem der erste und der letzte Herzinfarkt
aufgetreten sind (Wenn nur ein Herzinfarkt, bitte bei „Erster Herzinfarkt“ eintragen).
Erster Herzinfarkt mit
17.
t Jahren
Letzter Herzinfarkt mit
Jahren
Haben Sie nach dem letzten Infarkt an einem Nachsorgeverfahren
(Anschlußheilbehandlung) in einer Rehabilitationsklinik teilgenommen?
1
2
ja.........................................
18.
nein....................................
Um verschiedene Kategorien vergleichbar zu machen, wurden die entstandenen Häufigkeiten auf eine gemeinsame Population nach Alter und Geschlecht standardisiert. Für die so
entstandenen Schätzungen der Kategorienhäufigkeiten sind
die Voraussetzungen für die Anwendung statistischer Tests
im strengen Sinne nicht mehr gegeben. Indem aber angenommen wird, daß diese Kategorienhäufigkeiten der Population
entstammen, auf die diese Häufigkeiten standardisiert wurden, erlangt die Anwendung statistischer Tests, insbesondere
des Chiquadrattests, wieder Bedeutung und wird daher zu Interpretationen herangezogen.
Wenn Sie Ihren jetzigen Gesundheitszustand bewerten, empfinden Sie ...
sehr große Angst
große Angst
weniger Angst
keine
Ergebnisse
Angst
1
2
3
4
Damit können u.a. folgende epidemiologische Sachverhalte
einer Klärung zugeführt werden: durchschnittliches Erkrankungsalter beim akuten Myokardinfarkt oder bei Reinfarkten,
Periodenprävalenzraten, Prävalenzraten von Erstinfarkten
oder Reinfarkten, jährliche Prävalenzraten, Schätzungen der
Inzidenzraten nichtletaler Infarkte, Krankheitsdauer – Intervalle beim Infarkt bzw. Länge der infarktfreien Intervalle.
Die Erfassung der überlebten Myokardinfarkte (nichtletale,
akute Infarktereignisse), die innerhalb der letzten 12 Monate
aufgetreten sind, erlaubt die Quantifizierung der Zugänge:
Inzidenzrate=
neue, nichtletale Infarktereignisse t1-t0
mittlere Bevölkerung
Bei den aus Registerdaten berechneten Letalitätsraten handelt es sich in der Regel um Fatalitätsraten. Die Prävalenzdaten des Surveys ermöglichen dagegen die Berechnung der Letalitätsraten (in der deutschsprachigen Fachliteratur werden
die Letalität und die Fatalität häufig verwechselt):
Letalitätsrate=
Gestorbene an der Krankheit (t1-t0)
mittlere Prävalenz in (t1-t0)
Die Fatalität beinhaltet die Anzahl der Gestorbenen einer Zugangsmenge in einem Zeitraum, dividiert durch die Anzahl
der Zugänge in demselben Zeitraum.
Die Validitätsprüfungen der Selbstangabe zu Herzinfarkt legen den Schluß nahe, daß die Daten zum Herzinfarkt im Survey mit einem hohen Maß an Korrektheit und Vollständigkeit
berichtet werden [Bormann et al. 1990]. Dies zeigt auch die
fast vollständige Übereinstimmung der Daten zur Myokardinfarkt-Prävalenz zwischen Selbstangaben und nachfolgender
ärztlicher Überprüfung.
Die Datenbasis des dritten Durchgangs des Nationalen Gesundheitssurveys 1990/91 in den alten Bundesländern und
des Surveys Ost 1991/92 in den neuen Bundesländern basiert
auf Selbstangaben der Probanden. Da im Bundes-Gesundheitssurvey 1998 zusätzlich eine ärztliche Befragung vorgenommen wurde, beruhen Vergleiche zwischen den Perioden
Die 18- bis unter 80jährige Wohnbevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland hat eine Lebenszeit-Prävalenz an Zuständen nach Herzinfarkt von 2,45% (Tab. 1); d.h. auf 100000
der Bevölkerung im Alter von 18- bis unter 80 Jahren kommen etwa 2450 Postmyokardinfarkt-Fälle (Bestandsmenge an
Herzinfarktträgern).
Für diese und alle nachfolgenden Tabellen gilt:
z. g. = zu geringe Besetzung; n.s.=nicht signifikant;
s.+ = signifikant mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von
5%;
s.++ = signifikant mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von
1%;
s.+++ = signifikant mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von
0,1%
Tab. 1 Lebenszeit-Prävalenz an Zuständen nach Herzinfarkt (Erst- und
Reinfarkte); Population an Postmyokardinfarkten je 1 000 der Wohnbevölkerung der Bundesrepublik Deutschland im Alter von 18–<80 Jahren: Bundes-Gesundheitssurvey (ärztliche Befragung) 1998
Altersgruppe
Jahre
gesamt
männlich
weiblich
Chi2
18–29
30–39
40–49
50–59
60–69
70–79
insgesamt
–
2,1
6,2
26,9
59,2
93,6
24,5
–
–
–
–
14,2
40,5
64,2
16,7
z.g.
z.g.
s.+
s.++
s.+++
s.+++
4,1
12,3
39,9
79,9
146,3
32,7
Beim Postmyokardinfarkt existieren zwischen der männlichen und weiblichen Bevölkerung signifikante Morbiditätsunterschiede (p<0,001). Die 18- bis unter 80jährigen Frauen
haben eine annähernd halb so hohe Lebenszeit-Prävalenz gegenüber der gleichaltrigen männlichen Bevölkerung (weibliche Bevölkerung 1,7% vs. männliche Bevölkerung 3,3%). Die
altersspezifischen Lebenszeit-Prävalenzwerte steigen mit zunehmendem Alter bei beiden Geschlechtern deutlich an. Das
Infarktgeschehen spielt in der jüngsten Altersgruppe der 18bis unter 30jährigen sowohl bei der männlichen als auch bei
der weiblichen Bevölkerung kaum eine Rolle; bei der weiblichen Bevölkerung werden die Postmyokardinfarkt-Prävalenz-
Beitrag: 346.fm
Ausdruck vom 25.5.00
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S75
Zum Herzinfarktgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland
Tab. 2 Hochrechnung der Postmyokardinfarkt-Fälle* (Erst- und Reinfarkte) für die 30- bis unter 80jährige Wohnbevölkerung der Bundesrepublik Deutschland 1997/98
Altersgruppe
(Jahre)
mittlere Bevöl- Lebenszeit –
kerung 1997
Prävalenzrate
je 1000 d. Bev.
absolute Zahl
der PostinfarktFälle
männliche Bevölkerung
30–39
40–49
50–59
60–69
70–79
∑
7231854
5746904
5314530
4215954
2067338
24576580
4,1
12,3
39,9
79,9
146,3
38,7
29651
70687
212050
336855
302452
951659
Beim Postmyokardinfarktgeschehen bestehen zwischen den
alten und neuen Bundesländern keine signifikanten Morbiditätsunterschiede (Tab. 3).
weibliche Bevölkerung
30–39
40–49
50–59
60–69
70–79
∑
insgesamt
6769397
5570229
5272664
4606312
3736215
25954817
50531397
–
–
14,2
40,5
64,2
19,3
28,7
In Tab. 2 wurde eine Hochrechnung der absoluten Zahl der
Postmyokardinfarkt-Fälle für die Bundesrepublik Deutschland 1997/98 vorgenommen. Danach muß bei der 30–
<80jährigen Bevölkerung mit etwa 1,45 Millionen Postmyokardinfarkt-Fällen (Herzinfarktträgern) gerechnet werden.
Zwischen dem 30. und 59. Lebensjahr kommen auf einen
weiblichen Herzinfarktträger mehr als vier männliche; zwischen dem 60. und 79. Lebensjahr beträgt diese Relation nur
noch etwa 1 zu 1,5. In dem relativ jungen Erwachsenenalter
zwischen 30 und 49 Jahren gibt es ca. 100000 männliche
Postmyokardinfarkt-Fälle. Bei der weiblichen Bevölkerung
existiert in diesem Altersbereich eine wesentlich geringere
Krankenpopulation.
74872
186556
239865
501293
1452988
* Menge prävalenter Postinfarkt-Fälle (alle Zustände nach Herzinfarkt, unabhängig, ob nach akutem Myokardinfarkt, altem Myokardinfarkt, Erstinfarkt,
Reinfarkt=Menge der Überlebenden nach dem Ereignis Myokardinfarkt
zum Zeitpunkt der Erhebung)
werte erst relevant bei den 50jährigen und älteren Frauen –
als relativ seltenes Ereignis im jüngsten Altersbereich entzieht sich hier der Infarkt einer Erfassung im Rahmen der
Stichprobengröße eines Surveys. In der Altersklasse der 70bis 79jährigen betagten Männer hingegen findet sich mit
14,6% (auf 100.000 der 70–<80jährigen Männer entfallen ca.
14600 Herzinfarktträger; d.h. mehr als jeder 7. Mann in dieser Altersklasse hat im Verlauf seines Lebens bereits einen Infarkt erlitten) der höchste Prävalenzwert (die über 80jährige
Bevölkerung wurde im Bundes-Gesundheitssurvey nicht erfaßt). Im Altersbereich zwischen 30 und 60 Jahren nimmt bei
der männlichen Bevölkerung der Bestand an Zuständen nach
Herzinfarkt von einer 10-Jahres-Altersklasse zur folgenden
um etwa das 3fache zu. Der Herzinfarkt ist eine relativ häufige Krankheit im mittleren männlichen Lebensalter (d.h. bereits im sog. „Leistungsalter“). Im höheren Erwachsenenalter
tritt er bei beiden Geschlechtern relativ häufig auf. Die weiblichen Lebenszeit-Prävalenzraten erreichen mit einer zeitlichen Verzögerung von etwa 10 Lebensjahren ungefähr das Niveau der männlichen Prävalenzraten.
Die 18–<80jährige männliche Bevölkerung in den alten Bundesländern hat eine etwas niedrigere Lebenszeit-Prävalenzrate mit 3,2% versus 3,6% (mit Ausnahme der 40–<50jährigen
Männer, wo die entsprechende altersspezifische Prävalenzrate im Westen höher ist), die weibliche Bevölkerung in den
alten Bundesländern hingegen eine etwas höhere LebenszeitPrävalenzrate mit 1,8% versus 1,4%. Die geringfügig höhere
Prävalenz der 18–<80jährigen weiblichen Bevölkerung im
Westen wird einzig durch die relativ hohe altersspezifische
Prävalenzrate der Frauen im Alter von 50 bis unter 60 Jahren
verursacht. In den folgenden nächsthöheren Altersgruppen
haben die ostdeutschen Frauen höhere Prävalenzraten. Der
Trend der Lebenszeit-Prävalenzraten im Vergleich 1997/98 zu
1990/92 läßt folgendes erkennen (Tab. 4).
– bei der 25–<70jährigen Bevölkerung in der Bundesrepublik
Deutschland hat insgesamt die Bestandsmenge an Postmyokardinfarkten abgenommen (p<0,01). Dabei zeichnet
sich ein gegenläufiger Trend ab – im jüngeren Erwachsenenalter der 30- bis unter 50jährigen Männer ist eine
leichte Zunahme der Prävalenzraten zu beobachten. Im höheren Erwachsenenalter der 50 bis unter 70jährigen Männer ist dagegen eine deutliche Abnahme der Prävalenzraten festzustellen.
Der Trend der Lebenszeit-Prävalenzraten in der Bundesrepublik insgesamt wird fast ausschließlich bestimmt durch
den Entwicklungsverlauf der Prävalenzraten in den alten
Bundesländern.
Tab. 3 Lebenszeit-Prävalenz an Zuständen nach Herzinfarkt (Erst-und Reinfarkte); im Ost-West-Vergleich; Population an Postmyokardinfarkten je
100 der Wohnbevölkerung in den alten und in den neuen Bundesländern im Alter von 18–<80 Jahren: Bundes-Gesundheitssurvey (ärztliche Befragung) 1998
Alters-Gruppe (Jahre)
18–29
30–39
40–49
50–59
60–69
70–79
insgesamt
männlich
West
–
0,4
1,3
3,7
7,7
14,1
3,2
Ost
West-OstAbweichung*
–
0,6
0,8
5,2
9,2
17,1
3,6
–
–0,2
+0,5
–1,5
–1,5
–3,0
–0,4
Chi2
weiblich
West
Ost
n.s.
–
–
–
1,6
1,4
6,4
1,8
–
–
–
0,7
2,9
6,6
1,4
* + höhere Prävalenzwerte im Westen; – niedrigere Prävalenzwerte im Westen
Beitrag: 346.fm
Ausdruck vom 25.5.00
West-OstAbweichung*
+0,9
–1,5
–0,2
+0,4
Chi2
n.s.
S76 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
G. Wiesner, J. Grimm, E. Bittner
Tab. 4 Trend der Lebenszeit-Prävalenzraten (%) an Postmyokardinfarkten der 25–<70jährigen deutschen Bevölkerung; Bundesrepublik Deutschland, alte und neue Bundesländer 1990/92 und 1997/98 (Selbstangaben)
Altersgruppe (Jahre)
Bundesrepublik Deutschland
1990/92 1997/98 Chi2
alte Bundesländer
1990/92
1997/98
0,15
0,43
1,12
5,85
13,74
3,83
–
s.++
0,19
0,42
1,40
6,80
14,84
4,34
–
0,43
2,06
3,71
7,33
2,55
–
–
0,70
1,37
4,56
1,37
–
–
–
n.s.
–
–
0,76
1,53
5,70
1,66
–
–
–
1,46
4,20
1,18
Chi2
neue Bundesländer
1990/92 1997/98 Chi2
s.+++
–
0,47
–
2,25
8,88
1,87
–
0,55
0,91
5,07
10,13
2,90
n.s.
n.s.
–
–
0,44
0,80
–
0,27
–
–
–
0,79
3,50
0,84
n.s.
männliche Krankenpopulation
25–29
30–39
40–49
50–59
60–69
însgesamt
0,45
1,82
4,00
7,85
2,62
weibliche Krankenpopulation
25–29
30–39
40–49
50–59
60–69
insgesamt
1,31
4,06
1,11
In den alten Bundesländern sind in der Periode von 1990/92
zu 1997/98 bei der männlichen 25–<70jährigen Bevölkerung
die Lebenszeit-Prävalenzraten an Postmyokardinfarkten signifikant gesunken (p<0,001). Diese Abnahme der Bestandsmenge an Herzinfarktträgern ist für die älteren Altersklassen
zutreffend, ausgenommen wiederum die jüngeren Altersklassen der 30–<50jährigen Männer. Im Unterschied zu den alten
Bundesländern haben sich in den neuen Bundesländern im
gleichen Zeitraum die Prävalenzraten bei der männlichen und
weiblichen Bevölkerung erhöht (n.s.). Während im Ost-WestVergleich 1990/92 die 25–<70jährigen Männer in den neuen
Bundesländern nur etwa eine halb so hohe Prävalenz an Postmyokardinfarkten hatten gegenüber den alten Bundesländern
(1,9% versus 4,3%), liegt nunmehr die Prävalenzrate im Westen bei den Männern um 0,3% der Bevölkerung höher. 1990/
92 wiesen die 25- bis 69jährigen Frauen in den neuen Bundesländern eine deutlich niedrigere Prävalenz auf gegenüber
den gleichaltrigen Frauen in den alten Bundesländern (0,3%
versus 1,7%). Obwohl sich dieser Morbiditätsunterschied zwischen West und Ost 1997/98 erheblich reduziert hat, ist die
Prävalenzrate der Frauen im Westen weiterhin noch um 0,4%
der Bevölkerung höher gegenüber den ostdeutschen Frauen.
1997/98 ereigneten sich in der Bundesrepublik Deutschland
bezogen auf die 18–<80jährige Bevölkerung in einer vollen
12-Monatsperiode insgesamt etwa 190000 nichtletale Myokardinfarkte (Inzidenzfälle an Überlebenden nach dem Ereignis eines akuten Erst- und/oder akuten Reinfarktes); davon
entfallen annähernd 103000 Zugänge an akuten Infarktereignissen auf die männliche Bevölkerung und 87000 auf die
weibliche Bevölkerung. Die jährliche Inzidenzrate an nichtletalen Myokardinfarkten beträgt demnach pro 100000 der
männlichen Bevölkerung im Alter von 18–<80 Jahren etwa
330 akute Infarktereignisse; bei der gleichaltrigen weiblichen
Bevölkerung sind es etwa 270 akute Myokardinfarktereignisse. Die Inzidenzrate ist bei der männlichen Bevölkerung in
den neuen Bundesländern etwa um die Hälfte höher als in
den alten Bundesländern (450 akute Infarktereignisse versus
300 akute Infarktereignisse je 100000 der männlichen Bevölkerung im Alter von 18 bis unter 80 Jahren).
Diskussion
In der Bundesrepublik Deutschland gibt es 1997/98 etwa
1450000 Infarktträger (bezogen auf die 30- bis unter
80jährige Bevölkerung), die ihren ersten Herzinfarkt (akuter
oder alter Myokardinfarkt) und/oder Reinfarkt/e überlebt haben. Der Bundes-Gesundheitssurvey ist eine geeignete Datenquelle, die für die Bundesrepublik Informationen zur Zahl der
Überlebenden nach Herzinfarkt (Prävalenz der Postmyokardinfarkte) liefert. Prävalenzdaten sind von grundlegender Bedeutung, um beispielsweise den Verlauf nach überlebtem Infarkt zu bewerten oder den therapeutischen und rehabilitativen Versorgungsaufwand zu erfassen. Das Überleben des
schwerwiegenden Ereignisses „Infarkt“ ist wiederum mit Modifikationen im Verhalten und Lebensstil, Lebensqualität, Gesundheitsparametern etc. verbunden, die bei einem Vergleich
von Infarktträgern und Nicht-Infarktträgern offenkundig werden können. Die Postmyokardinfarktpopulation stellt gesundheitlich eine hochgefährdete Bevölkerungsgruppe dar, deren
Gefährdung einer Quantifizierung zugeführt werden kann
und Rückschlüsse für eine wissenschaftlich „legitimierte“ Risikofaktorenmodifikation im Rahmen der medizinischen Versorgung zuläßt. Der überlebte Herzinfarkt stellt in der Regel
für die Betroffenen einen gravierenden Einschnitt für die weitere Lebensführung dar: Fast alle Herzinfarktträger werden
lebenslang arzneimittelpflichtig. Rund 40 Prozent der Herzinfarktträger (etwa 580000 der Postmyokardinfarkt-Fälle im
Alter von 30–<80 Jahren) klagen bereits im ersten Halbjahr
nach dem Infarkt erneut über Beschwerden. Ein Fünftel der
Herzinfarktträger (demnach ca. 290000 Infarktträger) leidet
unter einer Postinfarktdepression. Bei 10 Prozent der Herzinfarktträger (ca. 145000 Postmyokardinfarkt-Fälle) entwickelt
sich im weiteren Verlauf eine Herzinsuffizienz, bei 2,5 Prozent der Infarktträger kann dies wiederum Anlaß für eine Bypass-Operation sein [Gesundheitsbericht 1998, Badura et al.
1987, Löwel et al. 1994, Herman et al. 1993, Ladwig et al.
1994, Löwel 1997, Badura et al. 1995]. Die Ausbildung einer
linksventrikulären Insuffizienz ist der aussagekräftigste unabhängige prädiktive Parameter für die Fatalität innerhalb eines
Jahres nach dem Infarkt. Nach Korrektur für Alter, Geschlecht,
Diabetes und Ausbildung einer Q-Welle verstarben Patienten
Beitrag: 346.fm
Ausdruck vom 25.5.00
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S77
Zum Herzinfarktgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland
mit linksventrikulärer Insuffizienz fast fünfmal so häufig wie
Patienten ohne diesen Befund [Barakat et al. 1999]. Andererseits sollen Personen [Engel et al. 1997], die ihren inzidenten
Herzinfarkt im Alter von 60–74 Jahren erlitten haben, unabhängig vom Überlebensjahr größtenteils mit ihrem Gesundheitszustand zumindest zufrieden sein (drei Viertel der
männlichen Befragten und zwei Drittel der weiblichen Befragten). Ein längeres Überleben nach einem Herzinfarkt soll
demnach nicht generell mit einer verminderten Lebensqualität verbunden sein. Dabei ist zu beachten, daß ältere Menschen vermehrt zu einer positiven Bewertung ihres Gesundheitszustandes neigen. Immerhin wurde von 20% der Herzinfarkt-Patienten im Alter zwischen 25 und 74 Jahren ein Jahr
nach dem Auftreten des Infarktes das subjektive Befinden als
schlecht bzw. sehr schlecht eingestuft. Im Vordergrund der
Beschwerden stand eine stark belastende Wetterfühligkeit,
Reizbarkeit und Müdigkeit (Löwel et al. 1994). Bei der Lebenszeit-Prävalenz kommen im Alter von 18 bis unter 80 Jahren
auf etwa einen Herzinfarkt bei den Frauen zwei Herzinfarkte
bei den Männern. Es bestehen zwischen Männern und Frauen
in der Inzidenz, Fatalität, Letalität und Prävalenz große Diskrepanzen. Die Geschlechtsdifferenzen sind am ausgeprägtesten in den jüngeren Altergruppen und verringern sich mit
zunehmenden Alter [Löwel et al. 1990, Löwel et al. 1992,
Orencia et al. 1993, Barth et al. 1996]. Jüngere Frauen erleiden
wohl deutlich weniger Herzinfarkte als Männer, beim Auftreten eines Myokardinfarktes haben sie eine viel höhere Fatalität und Letalität [Orencia et al. 1993, Gomez-Merin et al.
1987]. Insbesondere die beobachtete höhere prähospitale Fatalität bei Frauen im Vergleich zu Männern könnte auf eine
Unterschätzung der Problematik eines akuten Myokardinfarktes hinweisen und zu einer Nichtbeachtung oder Fehldeutung der damit verbundenen Symptome führen [Willich et al.
1993]. Auch die Tatsache, daß Frauen häufiger allein leben
und dies auch beim akuten Einsetzen der Symptome, könnte
die bestehenden Unterschiede mit erklären [Härtel et al.
1991, Malcolm et al. 1989]. Die schlechtere gesundheitliche
Ausgangssituation der weiblichen im Vergleich zu den männlichen Patienten wird ebenfalls diskutiert [Löwel et al. 1995,
Brezinka 1993, Fiebach et al. 1990]. Die These einer gezielten
medizinischen Unterversorgung von Frauen gegenüber Männern konnte bislang nicht überzeugend belegt werden.
Ebenso sind auch die pathophysiologischen Ursachen für die
vorhandenen Geschlechtsunterschiede bei der Letalität und
Fatalität bisher ungeklärt. Ältere Herzinfarktpatienten werden in der Regel weniger intensiv behandelt als jüngere Patienten. Dieses Verhalten geht auf zum Teil falsche Vorstellungen über die Prognose von älteren Infarktpatienten zurück. Offensichtlich wird die klinische Entscheidung am
meisten durch das Alter und weniger durch das Geschlecht
beeinflußt [Barakat et al. 1999]. Im Ost-West-Vergleich sind
die Prävalenzwerte von 1990/92 zu 1997/98 bei beiden Geschlechtern in den alten Bundesländern gesunken und in den
neuen Bundesländern gestiegen. Diese gegenläufige Entwicklung führte zu einem beachtlichen Abbau der Morbiditätsunterschiede beim Herzinfarkt zwischen Ost und West. In den
neuen Bundesländern ist in den letzten Jahren eine deutliche
Abnahme der koronaren Sterblichkeit zu verzeichnen (siehe
Abb. 1), die zu einem verbesserten Überleben nach dem akuten Infarktereignis geführt haben könnte (dies erklärt auch
den Anstieg der Prävalenzwerte).
Standardisierte Mortalitätsrate*
pro 100 000 Einwohner; 1997
männliche Bevölkerung
Prozentuale Abnahme
der Sterblichkeit
1997 zu 1993
0
-2
-4
-6
-8
-10
-12
-14
-16
-18
Koronare Herzkrankheiten
(ICD/9: 410-414
alte Bundesländer
neue Bundesländer
Davon:
Akuter Myokardinfarkt (AMI)
(ICD/9: 410)
alte Bundesländer
neue Bundesländer
0
100
200
300
400
weibliche Bevölkerung
0
-2
-4
-6
-8
-10
-12
-14
-16
-18
0
-2
-4
-6
-8
-10
-12
-14
-16
-18
Koronare Herzkrankheiten
(ICD/9: 410-414
alte Bundesländer
neue Bundesländer
Davon:
Akuter Myokardinfarkt (AMI)
(ICD/9: 410)
alte Bundesländer
neue Bundesländer
0
100
200
300
400
*Altersstandardisiert auf gesamtdeutsche Bevölkerung
0
-2
-4
-6
-8
-10
-12
-14
-16
-18
Abb. 1 Sterblichkeit an koronaren Herzkrankheiten (ICD’9: 410–414)
und am akuten Myokardinfarkt (ICD’9: 410) in den alten und neuen
Bundesländern (einschließlich Ost-Berlin); 1997.
In den alten Bundesländern ist es wahrscheinlich bei der
männlichen Bevölkerung zu einem Rückgang der Infarktinzidenz bei koronaren Herzkrankheiten infolge einer effektiveren medikamentösen und invasiven Therapie [Löwel et al.
1995] gekommen. Als mögliche Ursachen für die noch bestehenden Unterschiede zwischen Ost und West kommen die
„klassischen“ Risikofaktoren [Hüttner 1995, Hoffmeister et al.
1993, Junge 1995], sozioökonomische Bedingungen [Wiesner
et al. 1998] und die medizinische Versorgung in Frage, während genetische Faktoren eine geringere und administrative
Aspekte kaum noch eine Rolle spielen dürften.
Literatur
1
2
3
Badura B, Grande G, Janßen H, Schott T (1995). Qualitätsforschung im Gesundheitswesen – Vergleich ambulanter und stationärer kardiologischer Rehabilitation. Juventa, WeinheimMünchen
Badura B, Kaufhold G, Lehmann H, Pfaff H, Schott T, Waltz M
(1987). Leben mit dem Herzinfarkt. Eine sozialepidemiologische
Studie. Springer, Berlin, Heidelberg
Barakat K et al. (1999). How should age affect management of
acute myocardial infarction? A prospective cohort study. Lancet
353: 9157, 955–959
Beitrag: 346.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S78 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
4
G. Wiesner, J. Grimm, E. Bittner
Barth W, Löwel H, Lewis M, Classen E, Herman B, Quietzsch D,
Greiser E, Keil U, Heinemann L, Voigt G, Brasche S, Böthig S
(1996). Coronary Heart Disease Mortality, Morbidity, and Case
Fatality in Five East and West German Cities 1985–1989. J. Clin.
Epidemiol. 49: 1277–1284
5 Bormann C, Hoeltz J, Hoffmeister H, Klaes L, Kreuter H, Lopez H,
Stolzenberg H, Weilandt C (1990). Subjektive Morbidität. bgaSchriften 4/1990, MMV Medizin Verlag, München
6 Brezinka V (1995). Ungleichheiten bei Diagnostik und Behandlung von Frauen mit koronarer Herzkrankheit. Eine Übersicht. Z.
Kardiol. 84: 99–104
7 Daten des Gesundheitswesens (1999). Der Bundesminister für
Gesundheit (Hrsg). Ausgabe 1999 (Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit Bd. 122 Nomos Verlagsgesellschaft,
Baden-Baden
8 Engel S, Kleinle-Mayer A, Löwel H (1997). Mortalität und funktionelle Einschränkungen bei chronisch Kranken: Ergebnisse einer Follow-up-Studie an älteren Patienten nach Herzinfarkt. Gesundheitswesen, Sonderheft 1: 26–33
9 Fiebach NH, Viscoli CM, Horwitz RI (1990). Differences between
women and men in survival after myocardial infarction. JAMA
263: 1092–1096
10 Gesundheitsbericht für Deutschland (1998). Gesundheitsberichterstattung des Bundes/Statistisches Bundesamt. MetzlerPoeschel, Stuttgart
11 Gomez-Marin O, Folsom AR, Kottke TE, Wu S, Jacobs DR, Gillum
RF, Edlavitch SA, Blackburn H (1987). Improvement in long-term
survival among patients hospitalized with acute myocardial infarction, 1970 to 1980. N. Engl. J. Med. 316: 1351–1359
12 Härtel U, Löwel H, Hörmann A (1991). Familienstand und Überleben nach Herzinfarkt. Münch. Med. Wschr. 133: 464–468
13 Herman B, Stüdemann G, Greiser E (1993). Trends in Acute Myocardial Infarction: Mortality, Morbidity and Medical Care in the
City of Bremen: Results of the MONICA-Bremen Acute Coronary
Event Register, 1985 to 1988. Annals of Epidemiology 3: 62–68
14 Hoffmeister H, Stolzenberg H, Thefeld W (1995). Cholesterin,
HDL-Cholesterin. In: Hoffmeister H, Bellach BM (Hrsg.). Die Gesundheit der Deutschen. RKI-Heft 7/1995, Robert-Koch-Institut
Berlin
15 Hoffmeister H, Wiesner G (1993). Akuter Herzinfarkt-dramatischer Sterblichkeitsanstieg in den neuen Bundesländern? Bundesgesundhbl. 36: 130
16 Hüttner H (1995). Größe, Gewicht, Übergewicht. In: Hoffmeister
H, Bellach BM (Hrsg.). Die Gesundheit der Deutschen. RKI-Heft
7/1995, Robert-Koch-Institut Berlin
17 Jackson G (1990). Koronare Herzkrankheiten. Deutscher ÄrzteVerlag, Köln
18 Junge B (1995). Tabakkonsum. In: Hoffmeister H, Bellach BM
(Hrsg.). Die Gesundheit der Deutschen. RKI-Heft 7/1995, RobertKoch-Institut Berlin
19 Keil U (1992). Rückgang der Mortalität an Herz-Kreislauf-Erkrankungen im süddeutschen Raum. Hängt dies mit Präventionsmaßnahmen zusammen? In: Krasemann EO (Hrsg.). Prävention von Herz-Kreislauferkrankungen – Ein Irrweg? 7. Wedeler
Gespräch zur Sozialmedizin, Wedel
20 Ladwig KH, Röll G, Breithardt G, Budde T, Borggrefe M (1994).
Post-Infarction Depression and Incomplete Recovary 6 Months
after Acute Myocardial Infarction. Lancet 343: 20–33
21 Löwel H (1997). Langzeitprognose nach Herzinfarkt: Ergebnisse
des Augsburger Herzinfarktregisters. DBI Der Bay. Int. 17 (1997)
2. Sonderausgabe „35. Bay. Internisten-Kongreß“. 17: 78–80
22 Löwel H, Janku D, Eberle E, Lewis M, Hörmann A, Koenig W, Gostomzyk J, Keil U (1990). MONICA Project Region Augsburg.
Data-Book Coronary Event Register, Form 01: Coronary Events
1985. Report 39/90, GSF-Institut of Epidemiology, Neuherberg
23 Löwel H, Janku D, Lewis M, Hörmann A, Gostomzyk J, Keil U
(1992). MONICA Projekt Region Augsburg. Data-Book Coronary
Event Register, Form 01: Coronary Events 1989. Report 21/92,
GSF-Institut of Epidemiology, Neuherberg
24 Löwel H, Lewin M, Keil U, Hörmann A, Bolte H-D, Willich S, Gostomzyk J (1995). Zeitliche Trends von Herzinfarktmorbidität, mortalität, 28-Tage-Letalität und medizinische Versorgung. Z.
Kardiol . 84: 596–605
25 Löwel H, Lewis M, Härtel U, Hörmann A (1994). Herzinfarkt-Patienten ein Jahr nach dem Ereignis. Münch. med. Wschr. 136:
29–34
26 Malcolm JA, Dobson AJ (1989). Marriage is associated with a lower risk of ischaemic heart disease in men. Med. J. Aust. 151:
185–188
27 Marques-Vidal P, Ferrières J, Metzger MH, Cambou JP, Filipiak B,
Löwel H, Keil U (1997). Trends in coronary heart disease morbidity and mortality and acute coronary care and case fatality
from 1985–1989 in southern Germany and south-western
France. European Heart Journal 18: 816–821
28 Marrugat J, Sala J, Masiá R, Pawesi M, Sanz G, Valk K, Molina L,
Serés L, Elosua R, for the RESCATE Investigators (1998). Mortality Differences Between Men and Woman Following First Myocardial Infarction. JAMA 280: 1405–1409
29 Orencia A, Kent B, Jawn BP, Kottke TE (1993). Effect of Gender on
Long-term Outcom of Angina Pectoris and Myocardial Infarction/Sudden Unexpected Death. JAMA 269: 2392–2397
30 Statistisches Bundesamt Wiesbaden (1999). Sterbefälle nach Todesursachen in Deutschland. 2. korrigierte Neuauflage. Fachserie 12, Reihe 4, Wiesbaden
31 The Principal Investigators of the MONICA Project. (1987).
WHO-MONICA Project: geographic variation in mortality from
cardiovascular diseases- baseline data on selected population
characteristics and cardiovascular mortality. World Health Stat.
Q. 40: 171–184
32 Wiesner G (1995). Akuter Myokardinfarkt. In: Casper W, Wiesner G, Bergmann KE (Hrsg.). Mortalität und Todesursachen in
Deutschland. RKI-Heft 10/95, Robert-Koch-Institut Berlin
33 Wiesner G, Todzy-Wolff I, Grimm J (1998). Krankheit und soziale
Schicht. In: Ahrens W, Bellach BM, Jöckel KH. Meßung soziodemographischer Merkmale in der Epidemiologie. RKI-Schriften 1/
98, Robert-Koch-Institut, MMV Medizin-Verl., München
34 Wiesner G, Todzy-Wolff I, Hoffmeister H (1995). Herzinfarkt. In:
Hoffmeister H, Bellach BM (Hrsg.). Die Gesundheit der Deutschen. RKI-Heft 7/1995, Robert-Koch-Institut Berlin
35 Willich SN, Löwel H, Lewis M, Arntz R, Schubert F, Schröder R
and the TRIMM Study Group (1993). Unexplained gender differences in clinical symptoms of acute myocardial infarction. J.
Am. Col. Cardiol. 21: Suppl. A 238
G. Wiesner
Robert Koch-Institut
Postfach 650280
D-13302 Berlin
Beitrag: 346.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S79
MORBIDITÄT
Prävalenz, Inzidenz,
›› Schlaganfall:
Trend, Ost-West-Vergleich
G. Wiesner, J. Grimm, E. Bittner
Robert Koch-Institut, Berlin
Erste Ergebnisse aus dem BundesGesundheitssurvey 1998
Zusammenfassung: Die Prävalenz von Überlebenden nach einem Schlaganfall ist abhängig von der Inzidenz und der Fatalität, wobei die Inzidenz und die Fatalität von unterschiedlichen
Faktoren beeinflußt werden. Im Rahmen eines Surveys können nur die leichteren Fälle von Zuständen nach einem Schlaganfall erfaßt werden. Die Prävalenzangaben spiegeln deshalb
nur die weniger schwerwiegenden, rehabilitierten oder rehabilitierbaren Schlaganfälle wider. Trotz dieser unterrepräsentierten Erfassung der Schlaganfälle wird eine Unterschätzung
der Schlaganfallproblematik in der Bundesrepublik Deutschland erkennbar. Während man bisher von 440000 bis 500000
Schlaganfällen in der Bundesrepublik ausgeht, ergab die
Hochrechnung aus den Daten des Bundes-Gesundheitssurveys etwa 945000 Personen (nur Schlaganfälle mit „leichteren“ motorischen, sensorischen und kognitiven Ausfällen und
Einschränkungen, die eine Beteiligung am Survey erlauben).
Die Lebenszeit-Prävalenzrate der 18– unter 80jährigen weiblichen Bevölkerung ist gegenüber der gleichaltrigen männlichen Bevölkerung etwas höher (nicht signifikant). Eine relativ
hohe Prävalenzrate haben die 50– unter 60jährigen Männer.
Mit Zunahme des Alters steigen die entsprechenden altersspezifischen Prävalenzraten an. Zwischen den alten und neuen
Bundesländern existieren keine signifikanten Morbiditätsunterschiede; bei der männlichen Bevölkerung liegen die Prävalenzwerte im Osten etwas höher, bei der weiblichen Bevölkerung sind hingegen die Prävalenzwerte im Westen höher. Der
Trend der Lebenszeit-Prävalenzraten im Vergleich von 1997/
98 zu 1990/92 läßt folgendes erkennen:
– bei der 25– unter 70jährigen männlichen Bevölkerung in
der Bundesrepublik hat die Bestandsmenge an Zuständen nach Schlaganfall signifikant abgenommen, bei der
weiblichen Bevölkerung leicht zugenommen (nicht signifikant);
– in den alten Bundesländern sind bei den Männern die
Prävalenzwerte insgesamt ebenfalls signifikant gesunken,
bei der weiblichen Bevölkerung leicht gestiegen (nicht signifikant);
– in den neuen Bundesländern haben sich im gleichen Zeitraum im Unterschied zu den alten Bundesländern die
Prävalenzraten der männlichen Bevölkerung etwas erhöht, bei der weiblichen hingegen fast halbiert.
Die Krankenpopulation der „leichteren“ Zustände nach
Schlaganfall ist gekennzeichnet zu 32,8% mit Sensibilitätsstörungen, zu 32,1% mit Gehbehinderungen, zu 31,3% mit Lähmungen, zu 28,8% mit Konzentrationsstörungen, zu 20,5%
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S79–S84
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
mit Sprachstörungen, zu 17,1% mit kognitiven Störungen und
zu 3,1% mit Bewußtseinsstörungen.
Schlüsselwörter: Schlaganfall – Prävalenz – Trend – Krankheitsfolgen von nicht-letalen „leichten“ Schlaganfällen
Stroke: Incidence, Prevalence, Trends, Comparison between
Eastern and Western Germany: The prevalence of survival after a stroke is dependent on the incidence and the fatality rate,
whereby the incidence and the fatality rate are influenced by
different factors. A survey can only include the minor cases of
post-stroke conditions. The prevalence figures thus only reflect the less serious or rehabilitated strokes. Despite this underrepresentation of strokes in the survey we can observe an
underestimation of the stroke problem in Germany. Whereas
we previously assumed 440,000 to 500,000 strokes in Germany, the projection from the data of the German National
Health Interview and Examination Survey amounted to
around 945,000 cases (only strokes with „minor“ motor, sensory and cognitive losses and restrictions which allow a participation in the survey). The lifetime prevalence rate of the 18–
<80 year old female population is somewhat higher than the
male population of the same age (n.s.). The 50 to <60 year old
men have a relatively high prevalence rate. The corresponding
age specific prevalence rates increase with increasing age.
There are no significant differences in morbidity between the
former East and West German states, the prevalence rates of
men are somewhat higher in the East and those of women in
the West. We can see the following trends in a comparison of
the lifetime prevalence rates between 1997/98 and 1990/92:
– the number of post-stroke conditions among German
men 25–<70 years old declined significantly, among
women they increased slightly (n.s.);
– the prevalence as a whole also declined significantly
among men in western Germany, among women they
increased slightly (n.s.)
– in contrast to former West Germany the prevalence rates
among men in eastern Germany increased slightly,
among women they were almost cut in half.
32.8% of the population with „minor“ post-stroke conditions is characterized by sensory disruptions, 32.1% by impairments when walking, 31.3% by paralyses, 20.5% by speech impairments, 17.1% by cognitive disorders and 3.1% by disturbances of consciousness.
Key words: Stroke – Prevalence – Trend – Illnesses Resulting
from Non-Lethal „Minor“ Strokes
Beitrag: 345.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S80 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
G. Wiesner, J. Grimm, E. Bittner
Einführung
Der Schlaganfall ist die dritthäufigste Todesursache nach den
koronaren Herzkrankheiten und den bösartigen Neubildungen [Warlow et al. 1996]. Er ist folglich die verbreitetste lebensbedrohliche neurologische Störung, und die daraus resultierenden Krankheitsfolgen sind die bedeutendste Einzelursache für schwerwiegende und ernsthafte körperliche und
geistige Behinderungen der Bevölkerungen in der westlichen
Welt [Martin et al. 1988]. Für die Volkskrankheit „Schlaganfall“ existiert eine verwirrende medizinische Terminologie
aufgrund der vielseitigen heterogenen Krankheitsbilder, der
unterschiedlichen Pathophysiologie und Ätiologie und der
differentialdiagnostischen Problemstellungen [Wiesner et al.
1995]. Die zusammenführende Bezeichnung „Schlaganfall“ ist
unter praktischen Gesichtspunkten plausibel, da die wichtigsten klinischen Manifestationen der einzelnen Typen und
Subtypen ähnlich sind und in der Regel ähnliche Anforderungen an das Versorgungssystem stellen. Der Begriff umschreibt
einen charakteristischen Symptomenkomplex plötzlich einsetzender Funktionsausfälle, die auf Hirndurchblutungsstörungen zurückgehen. Nach der Definition der WHO [Aho et al.
1980] werden als „Schlaganfall“ Krankheitsbilder bezeichnet,
bei denen sich „die klinischen Zeichen einer fokalen (oder globalen) Störung zerebraler Funktionen rasch bemerkbar machen, mindestens 24 Stunden anhalten oder zum Tode führen
und offensichtlich nicht auf andere als vaskuläre Ursachen zurückgeführt werden können“. Damit können die meisten Fälle
von Subarachnoidalblutungen, intrazerebralen Blutungen sowie zerebrale Ischämien in die Definition eingeschlossen,
transiente ischämische Attacken sowie subdurale Blutungen
dagegen ausgeschlossen werden. Der ischämische zerebrale
Insult ist mit ca. 70% bis 80% häufigste Ursache eines Schlaganfalls [Sudlow et al. 1997]. Hier wird der apoplektische Insult durch eine fokale Durchblutungsminderung im Versorgungsgebiet einer Hirnarterie ausgelöst.
Der Schlaganfall zeichnet sich durch eine sehr hohe Letalität
und Fatalität aus – von etwa 50% der unter 65jährigen Patienten, die nach 5 Jahren verstorben sind, stirbt die Hälfte bereits innerhalb der ersten 30 Tage [Weinfeld 1981, Baum et al.
1998, Warlow et al. 1996]. Die Letalitätsraten sind bei Erstinsulten niedriger als bei Reinsulten [Tuomilehto et al. 1992].
Die Letalität hängt auch vom Typ des Schlaganfalls ab. Beim
ischämischen zerebralen Insult beträgt die Letalität nur ca. ein
Drittel derjenigen der intrazerebralen Blutung [Bamford et al.
1990]. Neben der hohen Letalität sind die Folgen, die sich aus
der Schädigung des Gehirns ergeben, kurz- und langfristig
häufig gravierend. Motorische, sensible, sensorische und kognitive Ausfälle und Einschränkungen stehen dabei im Vordergrund. Aus klinischer Sicht soll in den letzten Jahren ein entscheidender Wandel in der Einstellung gegenüber der Behandlung des Schlaganfalls eingetreten sein. Therapeutischer
Nihilismus und Aktionismus sei danach beim Schlaganfall
nicht mehr anzutreffen. Das akute Management des Schlaganfalls erfordert innerhalb kürzester Zeit die Einweisung des
betroffenen Patienten in ein geeignetes Zentrum (neurologische Kompetenz, Computertomographien, Ultraschallverfahren). Nach rascher Sicherung der Diagnose und nach Ausschluß von intrazerebralen Blutungen und eventuell bereits
entwickelten zerebralen Infarkten, müssen sofort therapeutische Strategien zur Wiederherstellung der Gewebedurchblutung (evtl. Lysetherapie, gegebenenfalls Gefäßdesobliteration,
medikamentöse Durchblutungsverbesserung) und zur Vermeidung von sekundären biochemischen Veränderungen
eingeleitet werden (eventuell Kalziumantagonisten und
Glutamatrezeptorantagonisten). Auch Maßnahmen zur Verbesserung der Allgemeinsituation der meist multimorbiden
Patienten (z.B. Blutdruckstabilisierung, Behebung metabolischer Entgleisungen, Stabilisierung der Herzfunktion und der
Sauerstoffversorgung) können notwendig werden. Nur wenn
diese therapeutischen Maßnahmen innerhalb der ersten Stunden nach Einsetzen der akuten Symptomatik eingeleitet werden, kann der Verlauf nach Schlaganfall günstig beeinflußt
werden. Inwieweit die neue Therapiestrategie auch zu einer
Senkung der Fatalitätsraten führen, müssen die Daten von bevölkerungsbezogenen Schlaganfallregistern erweisen.
Material und Methodik
Die Surveydaten erlauben nur die Erfassung der überlebten
Schlaganfall-Fälle. Die mit dem Schlaganfallereignis verbundenen organischen Funktionseinbußen (z.B. Einschränkungen
des Bewußtseins, der sensomotorischen Funktionen, der
Sprache, höherer Hirnfunktionen – wie Orientierungs- und
Erkennungsleistungen) können eine Beteiligung am Survey
von vornherein ausschließen. Somit werden mit der Surveymethode nur die leichteren Verlaufsformen von nicht-letalen
Schlaganfallereignissen erfaßt. Die prävalenten Fälle mit einer
schweren Schädigung des Gehirns können auf diese Weise
keiner Quantifizierung unterzogen werden. Die schwerwiegenden bzw. sehr ernsthaften Krankheitsverläufe der apoplektischen Insulte werden höchstwahrscheinlich eine extrem hohe Fatalität/Letalität haben, so daß ihr Anteil, gemessen an der Höhe der Lebenszeit-Prävalenz, niedrig sein muß.
Während bei einer Erfassung der inzidenten Fälle durch ein
Schlaganfallregister auch die letalen Ereignisse registriert
werden können, sind bei den prävalenten Fällen die letalen
Fälle nicht enthalten. Darüber hinaus erfordert die Erfassung
der Prävalenz eine relativ große Bevölkerungsmenge als Bezugsgröße, um möglichst vollständig alle Schlaganfälle einer
definierten Periode überblicken zu können. Mit einer Nettostichprobe von 7124 Personen sind hier Grenzen gesetzt.
Weiterhin entzieht sich unserer Kenntnis, um welchen
Schlaganfalltyp es sich gehandelt hat. Ob sich ein Schlaganfall
real ereignet hat, wird durch eine ärztliche Überprüfung der
Selbstangaben gesichert. Eine weitere Charakterisierung der
Schlaganfälle erfolgte durch den Arzt nach folgendem Muster
(siehe Unterfrage V).
Wichtig sind Informationen über die mit dem Schlaganfall
verbundenen Behinderungen. Die schlaganfallspezifischen
Behinderungen werden in der Regel noch durch andere Einschränkungen/Funktionseinbußen überlappt, da es sich meist
um multimorbide Krankheitsbilder handelt (z.B. Hirnstammsyndrome, Demenz, Osteoarthritis). Von praktischem Interesse ist daher die Gesamtheit der Behinderungen und Einschränkungen. Weitere Hinweise zu Material und Methodik
siehe im Beitrag „Zum Herzinfarktgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland“ im vorliegenden Heft.
Ergebnisse
Die 18- bis unter 80jährige Wohnbevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland hat eine Lebenszeit-Prävalenz an Zu-
Beitrag: 345.fm
Ausdruck vom 25.5.00
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S81
Schlaganfall: Prävalenz, Inzidenz, Trend, Ost-West-Vergleich
Unterfrage V – Schlaganfall
24.
Wie viele Schlaganfälle erlitten Sie?
25.
Geben Sie bitte Ihr Lebensalter an, in dem sich der erste und der letzte
Schlaganfall
ereignet haben (Wenn nur ein Schlaganfall, bitte bei „Erster Schlaganfall“ eintragen).
26.
Haben Sie nach dem letzten Schlaganfall an einem Nachsorgeverfahren
(Anschlußheilbehandlung) in einer Rehabilitationsklinik teilgenommen?
Anzahl:
Erster Schlaganfall mit
Jahren
Letzter Schlaganfall mit
Jahren
2
1
Ja.............................................
27.
Nein...........................................
An welchen Folgen nach dem Schlaganfall leiden Sie heute noch?
Mehrfachantwortennmöglich!
28.
1.
Lähmungen..................................................................................... 1
2.
Sensibilitätsstörungen...................................................................
3.
Sprachstörungen.......................................................................... . 1
4.
Bewußtseinsstörungen................................................................... 1
5.
Denkstörungen............................................................................. .. 1
1
6.
Konzentrationsstörungen.............................................................
1
7.
Gehbehinderungen.....................................................................
1
8.
Keine...........................................................................................
1
Fühlen Sie sich isoliert, allein gelassen?
1
Ja.....................................................
29.
2
Nein.................................................
Wie groß ist Ihr Interesse bzw. Ihre Anteilnahme an Ihrer Umgebung (Familienangehörige, Bekannte, Nachbarn usw.)?
Groß................................................
1....
Weniger groß.................................
2...
Gering..................................... .......
3...
ständen nach Schlaganfall (leichte Verlaufsform) von 1,63%
(Tab. 1); d.h., auf 100000 der Bevölkerung im Alter von 18 bis
unter 80 Jahren kommen etwa 1630 Schlaganfall-Fälle (Bestandsmenge an Schlaganfällen ohne schwerwiegende Bewußtseinsstörungen bzw. Schädigung des Gehirns).
Für alle nachfolgenden Tabellen gilt:
z. g. = zu geringe Besetzung; n. s.=nicht signifikant;
s.+ = signifikant mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von
5%;
s.++ = signifikant mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von
1%;
s.+++ = signifikant mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von
0,1%
Tab. 1 Lebenszeit-Prävalenz* an Zuständen nach Schlaganfall (ohne
Beachtung der Schlaganfallheterogenität), Population an Zuständen
nach Apoplexia cerebri je 1000 der Wohnbevölkerung der Bundesrepublik Deutschland im Alter von 18–<80 Jahren: Bundes-Gesundheitssurvey (ärztliche Befragung) 1998
Altersgruppe gesamt
Jahre
männlich
weiblich
Chi2
18–29
30–39
40–49
50–59
60–69
70–79
insgesamt
–
0,8
3,2
19,7
32,8
84,1
15,2
2,6
3,0
2,4
4,8
36,0
74,8
17,3
z.g.
z.g.
z.g.
s.+
n.s.
n.s.
n.s.
1,3
1,9
2,8
12,2
34,5
78,1
16,3
* Bestandsmenge der überlebten Schlaganfälle (nichtletale Schlaganfallereignisse); prävalente Fälle mit noch ausreichender kognitiver und kommunikativer Kompetenz im Rahmen einer Surveyerhebung
Zwischen der männlichen und weiblichen Bevölkerung ergeben sich keine signifikanten Morbiditätsunterschiede; die
weibliche Bevölkerung hat gegenüber der männlichen Bevölkerung eine etwas höhere Prävalenzrate (17,3 versus 15,3 je
1000 der Wohnbevölkerung). Die altersspezifischen Lebenszeit-Prävalenzwerte steigen mit zunehmendem Alter bei beiden Geschlechtern steil an. Auffällig ist die relativ hohe Prävalenzrate der 50–<60jährigen Männer gegenüber den gleichaltrigen Frauen (p<0,01). Nach dem 50. Lebensjahr steigen die
Prävalenzwerte fast sprunghaft an. In der Altersklasse der 70–
<80jährigen Männer und Frauen finden sich mit 8,4% bzw.
7,5% (auf 100000 der Wohnbevölkerung entfallen ca. 8400
bzw. 7500 prävalente Fälle an Schlaganfällen) die höchsten
Prävalenzwerte. Da die über 80jährige Bevölkerung im Bundes-Gesundheitssurvey nicht erfaßt wurde, ist davon auszugehen, daß nach dem 80. Lebensjahr noch höhere Prävalenzwerte vorliegen. In allen Altersklassen bestehen zwischen
Männern und Frauen (mit Ausnahme der 50–<60jährigen)
keine gravierenden Morbiditätsunterschiede.
In Tab. 2 wurde eine Hochrechnung der absoluten Zahl der
Schlaganfall-Fälle (unter Ausschluß der schwerwiegenden
Verlaufsformen zum Zeitpunkt der Erhebung) für die Bundesrepublik Deutschland 1997/98 vorgenommen. Die Hochrechnung ergab etwa 945000 Schlaganfall-Fälle (bezogen auf die
30–<80jährige Bevölkerung). In dem relativ jungen Erwachsenenalter zwischen 30 und 50 Jahren sind in der Bundesrepublik etwa 58000 Schlaganfälle (leichte Verlaufsformen) zu
verzeichnen. Beim Schlaganfallgeschehen ergeben sich zwischen den alten und neuen Bundesländern 1997/98 keine signifikanten Morbiditätsunterschiede (Tab. 3).
Die 18–<80jährige männliche Bevölkerung in den alten Bundesländern hat eine etwas niedrigere Lebenszeit-Prävalenzrate mit 1,4% versus 2,1% (mit Ausnahme der 50–<60jährigen
Männer, bei denen die entsprechende altersspezifische Prävalenzrate im Westen höher ist); die weibliche Bevölkerung in
den alten Bundesländern hat hingegen eine etwas höhere Lebenszeit-Prävalenzrate mit 1,9% versus 1,1%. Die höhere
Prävalenzrate der 18–<80jährigen weiblichen Bevölkerung
im Westen wird sowohl durch die jüngeren (18–<40 Jahre)
als auch älteren Frauen (60–<80 Jahre) verursacht. Der Trend
der Lebenszeit-Prävalenzraten im Vergleich 1997/98 zu 1990/
92 läßt folgendes erkennen (Tab. 4).
– bei der 25–<70jährigen männlichen Bevölkerung in der
Bundesrepublik Deutschland hat insgesamt die Bestandsmenge an Schlaganfällen abgenommen (p<0,01); bei der
weiblichen Bevölkerung zugenommen (n. s.);
– in den alten Bundesländern sind die Prävalenzwerte insgesamt ebenfalls signifikant gesunken; bei der weiblichen Bevölkerung leicht gestiegen (n. s.);
– in den neuen Bundesländern haben sich im gleichen Zeitraum im Unterschied zu den alten Bundesländern die
Prävalenzraten der männlichen Bevölkerung etwas erhöht,
bei der weiblichen Bevölkerung hingegen fast halbiert.
Die Krankenpopulation der Zustände nach Schlaganfall (leichtere Verlaufsformen) ist gekennzeichnet zu 32,8% mit Sensibilitätsstörungen, zu 32,1% mit Gehbehinderungen, zu 31,3%
mit Lähmungen, zu 28,8% mit Konzentrationsstörungen, zu
17,1% mit kognitiven Störungen und zu 3,1 mit Bewußtseinsstörungen.
Beitrag: 345.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S82 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
G. Wiesner, J. Grimm, E. Bittner
Tab. 2 Hochrechnung der nichtletalen Apoplexia cerebri-Fälle* für die 30- bis unter 80jährige Wohnbevölkerung der Bundesrepublik Deutschland
1997/98
Altersgruppe (Jahre)
mittlere Bevölkerung1997
Lebenszeit Prävalenzrate je 1000 d. Bev.
absolute Zahl der Zustände nach
Schlaganfall
männliche Bevölkerung
30–39
40–49
50–59
60–69
70–79
∑
7231854
5746904
5314530
4215954
2067338
24576580
0,8
3,2
19,7
32,8
84,1
17,9
5785
18390
104696
138283
173863
441017
weibliche Bevölkerung
30–39
40–49
50–59
60–69
70–79
∑
insgesamt
6769397
5570229
5272664
4606312
3736215
25954817
50531397
3,0
2,4
4,8
36,0
74,8
19,4
18,7
20308
13369
25309
165827
279469
504289
945299
* Menge prävalenter Schlaganfall-Fälle mit noch ausreichender kognitiver und kommunikativer Kompetenz im Rahmen einer Surveyerhebung (Menge der Überlebenden nach dem Ereignis Schlaganfall zum Zeitpunkt der Erhebung)
1997/98 ereigneten sich in der Bundesrepublik Deutschland,
bezogen auf die 18–<80jährige Bevölkerung, in einer vollen
12-Monats-Periode insgesamt etwa 230000 nicht-letale
Schlaganfälle (Inzidenzfälle an Überlebenden nach dem Ereignis eines „leichten“ akuten Erst- und/oder akuten Reinsultes);
davon entfallen annähernd 124000 Zugänge an akuten apoplektischen Insulten auf die männliche Bevölkerung und etwa
106000 auf die weibliche Bevölkerung. Die jährliche Inzidenzrate an nichtletalen apoplektischen Insulten beträgt
demnach pro 100000 der männlichen Bevölkerung im Alter
von 18–<80 Jahren etwa 400 akute Schlaganfallereignisse;
bei der gleichaltrigen weiblichen Bevölkerung sind es etwa
330 akute Schlaganfallereignisse (Abb. 1).
Diskussion
Obwohl die Schlaganfallmortalität in vielen Ländern in den
letzten 50 Jahren abgenommen hat, hauptsächlich in den
westeuropäischen Ländern und in Japan, ist sie in einigen
Ländern Osteuropas erneut angestiegen [Bonita et al. 1990].
Ob es sich hierbei um veränderte Prozeduren in der Todesursachendokumentation handelt oder um reale Veränderungen
in der Inzidenz oder der Fatalität, bleibt unklar. Die Messung
der Schlaganfallinzidenz gestaltet sich schwierig, noch mehr
die Verfolgung der Inzidenz über die Zeit. So scheint in Rochester, Minnesota, die Inzidenz abgenommen zu haben [Brown
et al. 1996], in Sibirien [Feigin et al. 1995], in der ehemaligen
DDR in den 80er Jahren und Schweden [Terent 1988] aber angestiegen und in Neuseeland [Bonita et al. 1993] unverändert
geblieben zu sein. Wo sich die Inzidenzraten verändert haben,
sind dafür eher Umgebungsfaktoren als genetische Faktoren
verantwortlich zu machen [Warlow 1998]. Die Abnahme der
Inzidenz wird in enger Verbindung mit der medizinischen
Versorgung der Hypertonie [Bonita et al. 1989] und der TIA
(transistorische ischämische Attacke) [Warlow 1998] gebracht. Auch die Erfassung der Prävalenz gestaltet sich
schwierig (siehe Material und Methodik). Zuverlässige Angaben zur Prävalenz liegen kaum vor. Die Prävalenzrate wurde
für Rheinland-Pfalz auf 675 je 100000 geschätzt, was in bezug
auf die alten Bundesländer einem Wert von 545 entsprechen
würde [Häussler et al. 1994, Häussler 1994]. Danach soll es in
Deutschland etwa 440000 Personen geben, die in den letzten
fünf Jahren mindestens einen Schlaganfall durchgemacht haben und noch mehr oder weniger unter den Folgen leiden.
Nach Mauritz (1997) liegt die Zahl der prävalenten Fälle in der
Bundesrepublik bei etwa 500000. In internationalen Studien
schwankt die Prävalenz zwischen 518 und 800 je 100000 der
Bevölkerung. Diese Prävalenzwerte signalisieren eine Unter-
Tab. 3 Lebenszeit-Prävalenz an Zuständen nach Schlaganfall (ohne Beachtung der Schlaganfallheterogenität); Population an Zuständen nach
Apoplexia cerebri je 100 der Wohnbevölkerung in den alten und in den neuen Bundesländern im Alter von 18–<80 Jahren: Bundes-Gesundheitssurvey (ärztliche Befragung) 1998
West
Altersgruppe (Jahre)
männlich
18–29
30–39
40–49
50–59
60–69
70–79
Insgesamt
–
–
0,4
2,3
2,5
6,7
1,4
Ost
West-OstAbweichung*
Chi2
West
Ost
West-OstAbweichung*
–
–
0,5
1,1
1,0
6,0
1,1
+0,3
+0,4
–0,3
–0,8
+3,3
+1,8
+0,8
Chi2
weiblich
–
0,4
0,5
0,8
6,5
13,4
2,1
–0,4
–0,1
+1,5
–4,0
–6,7
–0,7
n. s
* + höhere Prävalenzwerte im Westen; – niedrigere Prävalenzwerte im Westen
Beitrag: 345.fm
Ausdruck vom 25.5.00
0,3
0,4
0,2
0,3
4,3
7,8
1,9
n. s.
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S83
Schlaganfall: Prävalenz, Inzidenz, Trend, Ost-West-Vergleich
Tab. 4 Trend der Lebenszeit-Prävalenzraten* (%) an Zuständen nach Schlaganfall der 25–<70jährigen deutschen Bevölkerung; Bundesrepublik
Deutschland, alte und neue Bundesländer 1990/92 und 1997/98 (Selbstangaben)
männliche Krankenpopulation
Altersgruppe (Jahre)
Bundesrepublik Deutschland
1990/92
1997/98 Chi2
alte Bundesländer
1990/92 1997/98 Chi2
neue Bundesländer
1990/92
1997/98
Chi2
25–29
30–39
40–49
50–59
60–69
insgesamt
–
0,23
0,61
2,25
5,23
1,51
–
0,21
0,58
2,42
5,93
1,67
–
0,30
0,73
1,59
2,13
0,90
n. s.
–
0,08
0,33
1,69
2,92
0,93
s. +
–
–
0,33
1,90
2,36
0,88
s. +
–
0,37
0,33
0,92
5,38
1,11
weibliche Krankenpopulation
25–29
30–39
40–49
50–59
60–69
insgesamt
Bundesrepublik Deutschland
1990/92
1997/98 Chi2
alte Bundesländer
1990/92 1997/98 Chi2
neue Bundesländer
1990/92
1997/98
Chi2
–
0,09
–
1,57
2,41
0,86
–
0,12
–
1,90
1,98
0,86
–
–
–
0,38
4,14
0,88
z. g.
0,54
0,41
0,33
0,34
3,04
0,92
n. s.
0,68
0,53
0,29
0,28
3,46
1,04
n. s.
–
–
0,52
0,56
1,32
0,48
* Bestandsmenge der überlebten Schlaganfälle (nichtletale Schlaganfallereignisse); prävalente Fälle mit noch ausreichender kommunikativer Kompetenz im Rahmen eines Surveys
20
Prävalenz
n. s.
15
10
5
0
männlich
je 1000 der 18–<80jährigen Bevölkerung
je 1000 der 18–<80jährigen Bevölkerung
schätzung der Schlaganfallproblematik auf Bevölkerungsebene. Allein die Zahl der prävalenten Fälle von leichteren
Verlaufsformen liegt in der Bundesrepublik bei etwa 945000.
Bei den leichteren Verlaufsformen können im allgemeinen
gestörte Funktionen zumindest teilweise wiederhergestellt
werden oder durch Ersatzstrategien ausgeglichen werden.
Man kann aber davon ausgehen, daß ein Erkrankter nach einem Schlaganfall mindestens 5 Jahre betreut werden muß.
Bezogen auf alle Verlaufsformen eines Schlaganfalls bleiben
etwa 30% der Betroffenen dauerhaft invalide und auf Pflege
angewiesen. Nur ein Drittel erreicht nach dem Insult wieder
die volle berufliche und soziale Rehabilitation [Wiebers et al.
1990]. Die Höhe der Prävalenz läßt das Nachfragepotential an
eine spezialisierte kurative und rehabilitative Versorgung er-
5
kennen. Nach Schätzungen der neuen Krankheitskostenrechnung liegen die direkten Kosten zur Behandlung zerebrovaskulärer Erkrankungen 1994 bei knapp 12,2 Milliarden DM
[Gesundheitsbericht 1998]. In Schottland lagen die Kosten je
Schlaganfall nach Angaben des National Health Service 1988
bei etwa 6000 Pfund (ungefähr 18300 DM), aber in diese Berechnung gingen nur die Krankenhaus- und Hausarztkosten
ein [Isard et al. 1992]. Nach Berechnungen in den USA (nach
den Preisen von 1990) liegen die Gesamtkosten (direkte und
indirekte Kosten) je Schlaganfall bei etwa 213000 DM [Taylor
et al. 1996]. Allein diese Zahlen lassen die große Bedeutung
des Schlaganfallgeschehens im Vergleich zu anderen schweren Erkrankungen erkennen.
Inzidenz*
n. s.
4
3
2
1
0
männlich
weiblich
(n=124000) (n=106000)
n - Zahl der inzidenten
Fälle
weiblich
(n=474000)
(n=554000)
n - Zahl der prävalenten Fälle
n. s. - nicht signifikant
* Zugänge an nichtletalen Schlaganfällen
Beitrag: 345.fm
Ausdruck vom 25.5.00
Abb. 1 Prävalenz und Inzidenz an Schlaganfällen der 18–<80jährigen Wohnbevölkerung;
Bundesrepublik Deutschland 1998.
Lebenszeit-Prävalenz an Zuständen nach
Schlaganfall (ohne schwerwiegende Bewußtseinsstörungen bzw. Schädigung des Gehirns)
und Zugänge an nicht letalen Schlaganfallereignissen der 18–<80jährigen Wohnbevölkerung – Bundesrepublik Deutschland
1998.
S84 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
G. Wiesner, J. Grimm, E. Bittner
22
Literatur
1
Aho K, Harmsen P et al. (1980). Cerebrovascular disease in the
community: Results of a WHO colaborative study. Bulletin of the
World Health Organization 58: 113–130
2 Bamford J, Sandercock P et al. (1990). A prospective study of
acute cerebrovascular disease in the community: the Oxfordshire Community Stroke Project 1981–86. 2. Incidence, case
fatality rates and overall outcome at one year of cerebral infarction, primary intracerebral and subarachnoidal haemorrhage.
Journal of Neurology, Neurosurgery and Psychiatry 53: 16–22
3 Baum HM, Robins M (1981). Survival and Prevalence. Stroke 12:
Suppl. 1, 59–68
4 Bonita R, Beaglehole R (1989). Increased treatment of hypertension does not explain the decline in stroke mortality in the United States 1979–1980 . Hypertension 13: 69–73
5 Bonita R, Broad JB, Beaglehole R (1993) Changes in stroke incidence and case-fatality in Auckland, New Zealand, 1981–1991.
Lancet 342: 1470–1473
6 Bonita R, Stewart A, Beaglehole R (1990). International trends in
stroke mortality: 1970–1985. Stroke 21: 989–992
7 Brown RD, Whisnant JP, Sicks JD, O`Fallon WM, Wiebers DO
(1996). Stroke incidence, prevalence, and survival: secular
trends in Rochester, Minnesota, through 1989. Stroke 27: 373–
380
8 Feigin VL, Wiebers DO, Whisnant JP, O`Fallon M (1995). Stroke
incidence and 30-day case-fatality rates in Novisibirsk, Russia,
1982 through 1992. Stroke 26: 924–929
9 Gesundheitsbericht für Deutschland (1998). Gesundheitsberichterstattung des Bundes/Statistisches Bundesamt . MetzlerPoeschel, Stuttgart
10 Häussler B (1994). Schlaganfallepidemiologie . IGES-Papier Nr.
94–67. Institut für Gesundheits- und Sozialforschung, Berlin
11 Häussler B, Mall W (1994). Schlaganfallversorgung in Rheinland-Pfalz . Teil I: Bestandsaufnahme und Versorgungsstruktur.
In: Schriftenreihe „Gesundheitswesen/Gesundheitsberichterstattung“ des Ministeriums für Arbeit, Soziales, Familie und Gesundheit des Landes Rheinland-Pfalz, Mainz
12 Isard PA, Forbes JF (1992). The cost of stroke to the National Health Service in Scotland. Cerebrovasc. Dis. 2: 47–50
13 Martin J, Meltzer H, Elliot D (1988). OPCS survey of disability in
Great Britain Report I: the prevalence of disability among adults.
Office of Population Censuses and Surveys: Her Majesty´s Stationery Office, London
14 Mauritz KH (1997). Rehabilitation nach Schlaganfall. Klinikarzt
26: 314–319
15 Sudlow CLM, Warlow CP, for the International Incidence Collaboration (1997). Comparable studies on the incidence of stroke
and ist pathological types: results from international collaboration. Stroke 28: 491–499
16 Taylor TN, Davis PH, Torner JC, Holmes J, Meyer JW, Jacobson MF
(1996). Lifetime cost of stroke in the United States. 27: 1459–
1466
17 Terent A (1988). Increasing incidence of stroke among Swedish
women. Stroke 19: 598–603
18 Tuomilehto J, Sarti C et al. (1992). The FINMONICA stroke register. Community-based stroke registration and analysis of
stroke incidence in Finland, 1983–1985. American Journal of
Epidemiology 135: 1259–1270
19 Warlow CP (1998). Epidemiology of stroke. Stroke 352: 1–4
20 Warlow CP, Dennis MS, van Gijn J et al.(1996). Stroke: a practical
guide to management – Blackwell Scientific, Oxford
21 Warlow CP, Dennis MS, van Gijn J et al. (1996). Reducing the
burden of stroke and improving the public health. In: Warlow,
CP, Dennis, MS, van Gijn, J, et al. (eds.). Stroke. A practical guide
to management. Blackwell Science Ltd., Oxford
Weinfeld FD (1991). The national survey of stroke. Stroke 12:
Suppl. 1, No. 2
23 Wiebers DO, Meissner I (1990). Epidemiology of stroke . Current
Opinion in Neurology and Neurosurgery 3: 39–45
24 Wiesner G, Todzy-Wolff I, Hoffmeister H (1995). Schlaganfall
(Zerebraler/Apoplektischer Insult) und Durchblutungsstörungen
des Gehirns. In: Hoffmeister H, Bellach BM (Hrsg.). Die Gesundheit der Deutschen. RKI-Heft 7/1995, Robert-Koch-Institut Berlin
G. Wiesner
Robert Koch-Institut
Postfach 650280
D-13302 Berlin
Beitrag: 345.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S85
MORBIDITÄT
des Diabetes mellitus in
›› Prävalenz
der erwachsenen Bevölkerung
W. Thefeld
Robert Koch-Institut, Berlin
Deutschlands
Zusammenfassung: Im Bundes-Gesundheitssurvey, einer Befragung und Untersuchung von 7124 Personen einer repräsentativen Stichprobe der 18- bis 79jährigen Wohnbevölkerung in
Deutschland, wurden die Teilnehmer sowohl mit einem Selbstausfüllfragebogen als auch anschließend durch einen Arzt nach
ihren bisherigen Krankheiten gefragt. Unter Zugrundelegung
der Ergebnisse der ärztlichen Befragung ergibt sich eine Diabetesprävalenz von 4,7% für Männer und 5,6% für Frauen in der
untersuchten Altersgruppe. Die Befundhäufigkeit steigt mit
dem Alter steil an. Nahezu jede fünfte Frau im Alter von 70 bis
79 Jahren hat nach den vorliegenden Daten einen Diabetes mellitus. Die Krankheit ist in den neuen Bundesländern deutlich
häufiger als in den alten Ländern. Etwa ein Viertel der Diabetiker
benutzt Insulin, weit über 40% werden mit oralen Antidiabetika
therapiert. Bei etwa der Hälfte der nicht medikamentös behandelten Diabetiker wurde aus Sicht der befragenden Ärzte keine
Diät eingehalten (ca. 15%). Der Anteil an unerkannten Diabetikern in der betrachteten Population wird aufgrund von Blutund Urinmeßwerten (Serum- und Uringlukose, Fructosamin,
HbA1c) auf etwa 1% geschätzt.
Schlüsselwörter: Bundes-Gesundheitssurvey – Diabetes mellitus – Prävalenz – Therapie – Blutanalysen
Prevalence of Diabetes Mellitus among Adults in Germany: In
the German National Health Interview and Examination Survey 7,124 subjects of a representative sample of the 18 to 79
year old population having their residence in Germany were
interviewed and medically examined. Using a self-administered questionnaire as well as a subsequent personal interview by a physician, the participants were questioned regarding past and present diseases. Based on the data of the physicians’ interviews, the prevalence rate for diabetes was 4.7%
for men and 5.6% for women in the examined age-group.
There is a strong increase of the prevalence with age. According to the present data nearly every fifth woman in the age
range from 70 to 79 years is suffering from diabetes mellitus.
The disease is much more frequent in the new federal states
(former GDR) than in the old ones (former West Germany).
About one fourth of the diabetics uses insulin, far more than
40% are on oral antidiabetics. According to the interrogation
of the physicians, about half of the diabetics not using any
drugs are not even on a diet (ca. 15%). The portion of undetected diabetics in the examined population is estimated to be
about 1% considering the values of blood and urine parameters (glucose in serum and urine, fructosamine, HbA1c).
Key words: National Health Examination Survey – Diabetes
Mellitus – Prevalence – Therapy – Blood Analyses
Problemstellung
Die Krankheit Diabetes mellitus wurde schon im Altertum in
ägyptischen Papyri beschrieben. Erst jedoch die moderne
Lebens- und Ernährungsweise in den Industrieländern, die bei
Einschränkung der körperlichen Aktivität zu einem deutlichen Anstieg an Übergewichtigen in der Allgemeinbevölkerung führte, ließen den Diabetes zu einer Volkskrankheit
werden. Trotz der verbesserten diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten bedeutet die Krankheit für die Betroffenen eine erhebliche Einschränkung der Lebensqualität; die
Lebenserwartung ist weiterhin gegenüber Nichtdiabetikern
geringer [Magnusson 1997, Schneider 1993, Standl 1998,
Stiegler 1998, Trautner 1997]. Während bei Patienten mit
einem Diabetes Typ 1 die mikroangiopathischen Komplikationen im Vordergrund stehen (Retinopathie, Nephropathie,
Neuropathie), sind es beim Typ 2 vor allem Auswirkungen
einer Makroangiopathie (koronare Herzkrankheiten, Schlaganfall, periphere vaskuläre Krankheiten).
In der DDR gab es ein Diabetes-Register, das recht valide Aussagen über die Verbreitung der Krankheit liefern konnte [Michaelis 1991]. Nach der Wiedervereinigung ist man auf
(grobe) Schätzungen hinsichtlich der Prävalenz angewiesen,
wie es auch schon vorher für die alten Bundesländer zutraf.
Derzeit wird für Deutschland häufig die Zahl von mindestens
vier Millionen Diabetikern genannt, wovon etwa 90% Typ-2Diabetiker sein werden. Diese Angabe beruht auf Schätzungen, die aus unterschiedlichen, meist älteren Datenquellen resultieren [siehe z.B. Hauner 1998]. Quellen für diesbezügliche
Schätzungen sind:
– Daten von Versicherungsträgern, speziell Krankenkassen
– Ergebnisse von Früherkennungsaktionen
– Ergebnisse von Bevölkerungsbefragungen und -untersuchungen (Surveys)
– Angaben aus Klinik oder Praxis
– Verbrauchs-/Umsatzzahlen blutzuckersenkender Arzneimittel
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S85–S89
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Beitrag: 351.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S86 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
W. Thefeld
Beispiele siehe Hauner 1992, Mehnert 1968, Palitzsch 1999,
Papoz 1993.
Alle Serumanalysen wurden im Zentrallabor des Robert KochInstituts durchgeführt (Leitung: Dr. W. Thierfelder).
Mortalitätsdaten sind ungeeignet für diesen Zweck, da in den
Totenscheinen meist nur die zum Tode führenden Sekundärkrankheiten ohne Hinweis auf die Primärkrankheit Diabetes
vermerkt werden.
Die Daten des Nationalen Untersuchungssurveys 1990/91, der
Teil der Deutschen Herz-Kreislauf-Präventionsstudie (DHP)
[Kreuter 1995] war, und der Gesundheitssurvey Ost 1991/92
liefern Aussagen für Gesamtdeutschland für den Zeitraum
1990/92. Da beide methodisch vergleichbar durchgeführt
wurden, hat man diese Daten in einer Ost/West-Datenbank
1990/92 vereinigt. Da auch die eigenanamnestische Angabe
beim Bundes-Gesundheitssurvey weitgehend vergleichbar erhoben wurde, bieten sich Trendanalysen an (1990/92–1998).
Mit dem Bundes-Gesundheitssurvey 1998 [Bellach 1998], in
dem 7124 Personen einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe zu ihrer Gesundheit befragt und untersucht wurden,
stehen jetzt aktuelle Daten zur Verfügung, die eine Abschätzung über die Verbreitung des Diabetes in der 18- bis
79jährigen Wohnbevölkerung in Deutschland erlauben.
Durch einen Vergleich dieser Daten mit den Ergebnissen des
Nationalen Untersuchungssurveys 1990/91 (alte Bundesländer) und des Gesundheitssurveys Ost 1991/92 (neue Bundesländer) [Wiesner 1995] sollte die Prävalenzentwicklung in
den letzten sieben bis acht Jahren beurteilt werden können.
Die Berechnungen erfolgten mit dem Statistik-Programmpaket SPSS 9.0.1 für Windows. Um repräsentative Aussagen für
die jeweils betrachtete Bevölkerungsgruppe zu erhalten, wurden die Daten des Bundes-Gesundheitssurveys entsprechend
der Bevölkerungsstruktur des Jahres 1998 bzw. 1991 (für den
Vergleich mit den Daten der Ost/West-Datenbank) gewichtet.
Datenmaterial
Ergebnisse
Die Basis für die Prävalenzberechnungen stellen die Daten der
7124 Teilnehmer des Bundes-Gesundheitssurveys im Alter
von 18 bis 79 Jahren dar. Nähere Informationen zum Survey
sind aus der Publikation „Der Bundes-Gesundheitssurvey
1997/98“ zu erhalten [Bellach 1998]. Über die Stichprobe und
die Teilnehmer gibt der Artikel „Response, Zusammensetzung
der Teilnehmer und Non-Responder-Analyse“ in diesem Heft
genauere Auskunft [Thefeld 1999].
Prävalenz bekannter Diabetiker
Im einzelnen stehen im Survey folgende Daten zur Charakterisierung der Diabetiker und ihrer Behandlung zur Verfügung:
– Selbstanamnestische Angabe zum Diabetes mellitus
Frage: Hatten Sie jemals a) Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus) mit Insulinbehandlung bzw. b) ohne Insulinbehandlung
– Absicherung des Befundes durch ärztliche Nachbefragung
– ärztliche Abfrage der derzeitigen Therapie (Diät, Art der
Medikation)
– Serummeßwerte: Glukose, Glykämie-Langzeitindikatoren
HbA1c und Fructosamin
Bestimmungsmethoden
Glukose: GOD-PAP-Methode, Fa. Merck, Analysensystem
MEGA
HbA1c: HPLC-System DIAMAT, Fa. BioRad, RECIPE – ClinRep
Fructosamin: Nitrotetrazolium-Blau-Methode, Fa. Roche, Analysensystem EPOS
– Glukose im Urin
Bestimmungsmethode: Teststreifen Combur 9, Fa. Boehringer
Mannheim
Entsprechend den selbstanamnestischen Angaben haben 5,0%
der 18- bis 79jährigen Männer und 5,5% der gleichaltrigen
Frauen einen Diabetes mellitus. Die Selbstangaben wurden in
einem Arztgespräch mit den Probanden auf ihre Validität geprüft. Die daraus resultierenden Angaben sind in Tab. 1 dargestellt. Danach sind 4,7% der 18- bis 79jährigen Männer und
5,6% der Frauen von der Krankheit betroffen. Die Befundhäufigkeit steigt erwartungsgemäß mit dem Alter steil an, wobei
der Anstieg im hohen Alter bei den Männern abflacht. Dadurch liegt in der Altersgruppe der 70- bis 79jährigen die
Prävalenz bei den Frauen höher als bei den Männern. Fast
jede fünfte Frau hat in dieser Altersgruppe einen Diabetes. Die
Diabetesprävalenz in den neuen Bundesländern ist bei beiden
Geschlechtern deutlich gegenüber der in den alten Ländern
erhöht.
Am häufigsten wird ein mit oralen Antidiabetika behandelter
Diabetes in der 18- bis 79jährigen Bevölkerungsgruppe festgestellt (Männer: 2,2%; Frauen: 2,4%), während insulinbehandelte Diabetiker einen Anteil von 1,1% (Männer) bzw. 1,4%
(Frauen) in der betrachteten Gruppe ausmachen. Den Anteil
der einzelnen Behandlungsformen bei den als Diabetiker eingestuften Surveyteilnehmern gibt Tab. 2 wieder. Danach werden deutlich über 40% mit oralen Antidiabetika behandelt,
eventuell in Kombination mit diätetischen Maßnahmen. Etwa
ein Viertel der Diabetiker benutzt Insulin. Der Anteil an Patienten, die diätetisch behandelt werden, ist mit ca. 15% gering.
Tab. 1 Prävalenzzahlen zum Diabetes mellitus [%] aufgrund der Angaben der 18- bis 79jährigen Teilnehmer des Bundes-Gesundheitssurveys bei
der ärztlichen Befragung. N=7099, gewichtet entsprechend der Bevölkerungsstruktur des Jahres 1998
Altersklasse
(Jahre)
gesamt
Männer
West
Ost
gesamt
Frauen
West
Ost
18–39
40–49
50–59
60–69
70–79
Gesamt
0,6
1,2
8,0
12,9
13,0
4,7
0,5
1,4
7,4
11,2
11,3
4,3
1,1
0,4
10,2
19,9
22,0
6,5
1,3
2,6
2,8
11,4
19,4
5,6
1,4
2,5
2,1
10,4
18,0
5,2
0,5
2,7
5,4
15,0
25,1
6,9
Beitrag: 351.fm
Ausdruck vom 25.5.00
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S87
Prävalenz des Diabetes mellitus in der erwachsenen Bevölkerung Deutschlands
Tab. 2 Anteil der Behandlungsformen (%) bei den im Bundes-Gesundheitssurvey vom befragenden Arzt als Diabetiker eingestuften 18- bis
79jährigen Teilnehmern. N=369, gewichtet entsprechend der Bevölkerungsstruktur des Jahres 1998
Behandlung
Insulin auch kombiniert
orale Antidiabetika*
Diät
keine Behandlung
gesamt
Männer
West
Ost
gesamt
Frauen
West
Ost
24,5
46,0
12,9
16,6
21,8
47,9
12,9
17,4
31,5
41,0
13,1
14,4
24,6
43,4
17,3
14,7
25,9
41,6
17,5
15,0
20,7
48,7
16,8
13,8
* auch mit Diät
Er ist in Verbindung mit den Diabetikern zu sehen, die aus
Sicht des befragenden Arztes keine Therapie durchführen.
Prävalenz unerkannter Diabetiker
Die Daten des Surveys erlauben auch Schätzungen über bisher unerkannte Diabetiker. In Tab. 3 ist die Häufigkeit angegeben, mit der bestimmte erhöhte bzw. pathologische Meßwerte im Serum und Urin in der untersuchten Bevölkerungsgruppe vorkommen, die auf eine gestörte Glukosetoleranz
bzw. einen Diabetes hinweisen. Die Kriterien für die Einstufung „mindestens 2 Werte erhöht“ wurden so gewählt, daß
bei deren Erfüllung eine Störung oder Krankheit wahrscheinlich ist. Sind alle vier Meßgrößen erhöht, so kann der Befund
als (nahezu) gesichert gelten. Aus den Daten der Tab. 3 läßt
sich abschätzen, daß ein Anteil von etwa 1% unerkannter Diabetiker in der untersuchten Population zu erwarten ist, wobei
erhöhte Meßwerte in den neuen Bundesländern etwas häufiger auftreten.
Entwicklung der Diabetesprävalenz über die Zeit
Die Diabetesprävalenz aufgrund der Selbstangaben der Teilnehmer des Nationalen Untersuchungssurveys 1990/91 und
des Gesundheitssurveys Ost 1991/92 (Ost/West-Datenbank
1990/92) betrug für die 25- bis 69jährigen deutschen Männer
5,0% und für die gleichaltrigen Frauen 4,7%. Um einen Vergleich der Werte des Zeitraums 1990/92 mit den Daten des
Surveys 1998 zu ermöglichen, wurden letztere auf die Stichprobe und die Bevölkerungsstruktur des Jahres 1991 umgerechnet (gewichtet). Es ergeben sich dann für 1998 Prävalenzwerte von 4,3% für Männer und 3,8% für Frauen. Entgegen den
derzeitigen Erkenntnissen der Diabetologen weisen die Ergebnisse auf eine Abnahme der Krankheitshäufigkeit bei den
25- bis 69jährigen hin.
Diskussion
Zur Abschätzung der Diabetesprävalenz können Befragungen
und Untersuchungen an Bevölkerungsstichproben (Surveys)
einen wichtigen Beitrag leisten. Im Gegensatz zu den anderen,
derzeit in Deutschland verfügbaren Datenquellen lassen sie
weitgehend repräsentative Aussagen zu. Werden die selbstanamnestischen Angaben der Surveyteilnehmer durch eine
nachgehende ärztliche Befragung abgesichert, wie es im Bundes-Gesundheitssurvey geschehen ist, so sind die resultierenden Ergebnisse als recht valide einzustufen. Die Daten können
Auskunft geben über die Geschlechts- und Altersstruktur der
Diabetikerpopulation und der eingesetzten Therapien. Eine
korrekte Typisierung der Diabetiker ist mit den vorliegenden
Informationen allerdings nicht möglich. Aufgrund der geringen Fallzahlen werden die Angaben in den unteren Altersgruppen instabil sein, und es ist generell zu unterstellen, daß
die tatsächliche Prävalenz eher unterschätzt wird. Patienten,
die sich in ständiger ärztlicher Behandlung befinden, werden
seltener an einer Bevölkerungsuntersuchung teilnehmen, außerdem werden Patienten nicht erfaßt, die zur Teilnahme
körperlich nicht in der Lage sind oder sich in stationärer Behandlung befinden. Die Einschätzung, daß – mit den vorgenannten Einschränkungen – die Daten des Bundes-Gesundheitssurveys als plausibel anzusehen sind, wird unterstützt
durch die Ergebnisse, die sich beim Vergleich zwischen der
mit dem Gesundheitssurvey für die neuen Bundesländer festgestellten Morbidität und den Daten des Diabetes-Registers
der DDR (Stand: 31.12.1987) [Michaelis 1991] ergeben. So liegen die aktuellen Prävalenzwerte im höheren Alter bei beiden
Geschlechtern annähernd vergleichbar oder höher als die entsprechenden Registerdaten.
Mit Ausnahme einer kürzlich veröffentlichten epidemiologischen Studie, in der auf der Basis von HbA1c-Analysenwerten
die Prävalenz des Diabetes in Deutschland für die Jahre 1993
bis 1996 geschätzt wurde [Palitzsch 1999], sind uns keine aktuellen repräsentativen Untersuchungen zur Diabetespräva-
Tab. 3 Anteil von Personen (%) im Bundes-Gesundheitssurvey, die nicht als Diabetiker bekannt sind, bei denen aber erhöhte bzw. pathologische
Meßwerte hinsichtlich des Kohlenhydratstoffwechsels vorliegen. N=5275, gewichtet entsprechend der Bevölkerungsstruktur des Jahres 1998
erhöhte bzw.
patholog. Meßwerte
mindestens 2 Werte 1)
mindestens 3 Werte 2)
4 Werte 3)
1)
2)
3)
gesamt
Männer
West
Ost
gesamt
Frauen
West
Ost
2,1
0,8
0,4
2,0
0,8
0,4
2,8
1,0
0,6
2,0
0,6
0,2
1,8
0,6
0,3
2,7
0,4
–
Serumglukose ≥126mg/100ml und HbA1c>6,1% oder HbA1c>6,1% und Glukose im Urin ≥50mg/100ml
mindestens 3 der nachstehenden Befunde: Serumglukose ≥126mg/100ml, Fructosamin (eiweißkorrigiert)>285 μmol/l, HbA1c>6,1%,
Glukose im Urin ≥50mg/100ml
Serumglukose ≥126mg/100ml, Fructosamin (eiweißkorrigiert)>285 μmol/l, HbA1c>6,1%, Glukose im Urin ≥50mg/100ml
Beitrag: 351.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S88 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
W. Thefeld
lenz bekannt. Mit den Befragungs- bzw. Untersuchungsergebnissen des Bundes-Gesundheitssurveys können jetzt Daten
für das Jahr 1998 vorgestellt werden. In dem im Gesundheitssurvey betrachteten Altersbereich der 18- bis 79jährigen haben 5,6% der Frauen und 4,7% der Männer einen Diabetes
mellitus angegeben (Tab. 1). Die Frauen weisen also eine höhere Krankheitshäufigkeit auf. Dies ist begründet in der sehr
hohen Prävalenz bei den 70- bis 79jährigen Frauen. Dieser Altersgruppe wird auch allgemein das Morbiditätsmaximum
zugeordnet [Michaelis 1991, Hauner 1992]. Nahezu jede
fünfte Frau hat in diesem Alter einen Diabetes, während bei
den Männern dieser Altersgruppe nur 13% betroffen sind. Die
bekannte sprunghafte Prävalenzzunahme im Alter tritt nach
den Surveydaten allerdings bei den Männern früher auf als
bei den Frauen. Auffallend ist der ausgeprägte Unterschied
zwischen den neuen und alten Bundesländern. Die Bevölkerung in den neuen Bundesländern weist eine deutlich höhere
Morbidität als die der alten Länder auf. Dieser Befund ist nur
bedingt durch eine eventuell bessere Erkennung der Diabetiker in der DDR zu erklären. Die im Survey durchgeführten
Blutanalysen auf Glukose und HbA1c unterstützen klar die
festgestellten Unterschiede.
Eine Hochrechnung der Prävalenzen und damit der Diabetikerzahl auf die deutsche Gesamtbevölkerung wurde nicht
vorgenommen, da die Diabetiker im Alter von über 80 Jahren
nicht erfaßt wurden und deren Zahl im Gegensatz zur Situation bei den unter 18jährigen schwer abzuschätzen ist.
Aus Tab. 2 ist zu erkennen, wie die 369 Diabetiker, die in der
Population des Surveys nach ärztlicher Befragung identifiziert
wurden, ihre Krankheit behandeln. Etwa ein Viertel aller Diabetiker wird mit Insulin, allein oder in Kombination mit oralen Antidiabetika bzw. Diät, behandelt, wobei deutliche Unterschiede zwischen den Männern in Ost und West existieren
(32% vs. 22%). Der Prozentsatz scheint relativ hoch zu sein
verglichen mit älteren Angaben; das therapeutische Vorgehen
hat sich allerdings auch zwischenzeitlich etwas geändert. 46%
der Männer und 43% der Frauen gaben eine Therapie mit oralen Antidiabetika an (allein oder kombiniert mit Diät). Dieser
Prozentsatz entspricht etwa dem Wert, der sich auch aus dem
Diabetes-Register der DDR ergibt (43%) [Michaelis 1991].
Nicht ganz ein Drittel der erfaßten Diabetiker erhalten keine
medikamentöse Therapie. Zu einem vergleichbaren Anteil
kam Hauner bei der Sichtung von Daten einer Stichprobe
AOK-Versicherter des Jahres 1988 in Dortmund (1992). Erschreckend ist der Befund, daß bei etwa der Hälfte der nicht
medikamentös Behandelten im Survey aus Sicht des befragenden Arztes auch keine diätetische Behandlung vorlag.
In den 60er Jahren wurde das Verhältnis von bekannten zu
unentdeckten Diabetikern in der Bevölkerung noch mit einem
Verhältnis von 1 (bis 2) : 1 angegeben [Mehnert 1968, Neumann 1969]. Seitdem hat sich der Anteil unerkannter Diabetiker durch das Netz der Vorsorgeuntersuchungen deutlich verringert. Jeder manifeste Diabetiker, der nicht rechtzeitig erkannt wird, bleibt aber eine Person zuviel. Mit Hilfe der
Surveydaten läßt sich der Anteil unerkannter Diabetiker grob
abschätzen. Es werden die Meßwerte Serumglukose, Fructosamin (eiweißkorrigiert), HbA1c und Glukose im Urin zur Einstufung herangezogen. Für die Serumglukose wurde als
Grenzwert 126 mg/100 ml gewählt entsprechend der neuen
Klassifikation der American Diabetes Association bzw. der
WHO [Alberti 1998], wobei allerdings nur ein Nüchtern-Zeitabstand von mindestens drei Stunden vorausgesetzt wurde.
Alle anderen Bewertungsgrenzen entsprechen den methodenspezifischen Referenzwerten.
Ein erhöhtes HbA1c mit entweder erhöhter Serumglukose
oder auffälligem Uringlukosebefund liegt bei 2% der Teilnehmer des Surveys vor (Tab. 3). Bei diesen Personen ist die
Wahrscheinlichkeit des Vorliegens einer Kohlenhydratstoffwechselstörung bzw. eines Diabetes recht hoch. Beim Auftreten einer 3er-Befund-Kombination ist der Verdacht wesentlich erhärtet; bei gleichzeitigem Vorliegen aller vier Befunde
kann der Verdacht als bestätigt gelten (Tab. 3). Die letztere
Bedingung erfüllen noch 0,4% der Männer und 0,2% der
Frauen. Querschnittsstudien wie der Gesundheitssurvey erlauben leider nur sehr eingeschränkt definitve Diagnosen, da
eine nachgehende Diagnostik nicht möglich ist. Über die
Schwere der festgestellten Befunde kann im Einzelfall aufgezeigt werden, daß es sich um echte Krankheitsfälle handelt.
So hatten z.B. 20 Personen (0,4%) Serumglukosewerte über
200mg/100ml (mindestens drei Stunden nüchtern) bei
gleichzeitiger pathologischer Veränderung der anderen Meßwerte, darunter waren 11 Personen mit Glukosewerten über
280mg/100ml. Bei kritischer Beurteilung der vorliegenden
Daten wird der Anteil unerkannter Diabetiker in der untersuchten Population auf etwa 1% geschätzt.
Nach den selbstanamnestischen Angaben der Teilnehmer der
Surveys 1990/92 und des Bundes-Gesundheitssurveys 1998
hat die Diabetesprävalenz in den letzten sieben bis acht Jahren bei den 25- bis 69jährigen Männern um 0,7% und bei den
Frauen um 0,9% abgenommen. Dieses Ergebnis muß angezweifelt werden aufgrund der bisherigen Erkenntnisse, die in
der Mehrzahl auf eine Zunahme weisen, keinesfalls aber auf
eine Abnahme. Auch die in den Surveys bestimmten Serumglukosewerte stützen das Ergebnis nicht: Erhöhte Serumglukosewerte (≥ 126 mg/100 ml nach mindestens drei Stunden
Nüchternheit) haben in der betrachteten Population zu- und
nicht abgenommen. Obwohl die selbstanamnestischen Angaben durch inhaltlich vergleichbare Fragen erhoben wurden,
die in den Selbstausfüll-Fragebogen der Surveys enthalten
waren, muß vermutet werden, daß das unplausible Ergebnis
im methodischen Vorgehen seine Ursache haben muß. Einen
Hinweis darauf liefert die schon von Bormann et al. (1990)
und Wiesner (1995) gemachte Feststellung, daß aufgrund der
Therapieangaben (z.B. weit über 50% nicht behandelte Diabetiker im Nationalen Untersuchungssurvey 1990/91) die Gültigkeit eines Teils der Selbstangaben in den Nationalen Surveys bezweifelt werden muß. Dies könnte bedeuten, daß sich
fälschlicherweise zu viele Probanden als Diabetiker eingestuft
haben. Andererseits war beim Bundes-Gesundheitssurvey
den Teilnehmern beim Ausfüllen des Fragebogens bewußt,
daß sie danach von einem Arzt ausführlich zu ihrer Krankheit
befragt werden. Unter diesen Bedingungen haben sie ihre
Antwort eventuell genauer überlegt, was zu einer niedrigeren
Zahl von Fällen geführt haben könnte. Fest steht, daß die
Selbstangabe der Teilnehmer im Bundes-Gesundheitssurvey
von den befragenden Ärzten mehrheitlich als plausibel angesehen wurde. Abweichungen bezüglich der Diabetesprävalenz zwischen Selbstangabe und ärztlicher Beurteilung liegen
bei 0,3% (Männer) und 0,1% (Frauen).
Beitrag: 351.fm
Ausdruck vom 25.5.00
Prävalenz des Diabetes mellitus in der erwachsenen Bevölkerung Deutschlands
W. Thefeld
Literatur
1
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S89
Alberti KGMM, Zimmet PZ for the WHO Consultation (1998). Definition, Diagnosis and Classification of Diabetes Mellitus and its
Complications. Part 1: Diagnosis and Classification of Diabetes
Mellitus. Provisional Report of a WHO Consultation. Diabetic
Medicine 15: 539–553
2 Bellach BM, Knopf H, Thefeld W (1998). Der Bundes-Gesundheitssurvey 1997/98. Gesundheitswesen 60: Sonderheft 2, S59–
S68
3 Bormann C, Hoeltz J, Hoffmeister H, Klaes L, Kreuter H, Lopez H,
Stolzenberg H, Weilandt C (1990). Subjektive Morbidität. MMV
Medizin Verlag München. bga-Schrift, 89–100
4 Hauner H (1998). Verbreitung des Diabetes mellitus in Deutschland. Dtsch Med Wschr 123: 777–782
5 Hauner H, v. Ferber L, Köster I (1992). Schätzung der Diabeteshäufigkeit in der Bundesrepublik Deutschland anhand von Krankenkassendaten. Dtsch med Wschr 117: 645–650
6 Kreuter H, Klaes L, Hoffmeister H, Laaser U (1995). Prävention
von Herz-Kreislaufkrankheiten. Ergebnisse und Konsequenzen
der Deutschen Herz-Kreislauf-Präventionsstudie. Juventa Verlag
Weinheim und München
7 Magnusson K, Sawicki PT (1997). Die Bedeutung der Stoffwechselkontrolle bei Diabetes mellitus. Versicherungsmedizin 49: 4–
8
8 Mehnert H, Sewering H, Reichstein W, Vogt H (1968). Früherfassung von Diabetikern in München. Dtsch med Wschr 93: 2044–
2050
9 Michaelis D, Jutzi E (1991). Epidemiologie des Diabetes mellitus
in der Bevölkerung der ehemaligen DDR: Alters- und geschlechtsspezifische Inzidenz- und Prävalenztrends im Zeitraum 1960–1987. Z Klin Med 46: 59–64
10 Neumann G (1969). Reihenuntersuchung auf Diabetes. Bericht
über eine Aktion in Stuttgart 1966/1968. Med Welt 46: 2525–
2531
11 Palitzsch KD, Nusser J, Arndt H, Enger I, Zietz B, Hügl S, Cuk A,
Schäffler A, Büttner R, Frick E, Rath H, Schölmerich J, die Diabetomobil-Studiengruppe (1999). Die Prävalenz des Diabetes mellitus wird in Deutschland deutlich unterschätzt – eine bundesweite epidemiologische Studie auf der Basis einer HbA1c-Analyse. Diab Stoffw 8: 189–200
12 Papoz L, EURODIAB Subarea C Study Group (1993). Utilization of
Drug Sales Data for the Epidemiology of Chronic Diseases: The
Example of Diabetes. Epidemiology 4: 421–427
13 Schneider H, Lischinski M, Jutzi E (1993). Überlebenszeit von
Diabetikern im 30-Jahres-Follow-up innerhalb einer geschlossenen Population. Z ärztl Fortbild 87: 323–327
14 Standl
E (1998). Overview of the Management of
Type 2 Diabetes. Diabetes Metab Rev 14: S13–S17
15 Stiegler H, Standl E, Frank S, Mendler G (1998). Failure of reducing lower extremity amputations in diabetic patients: results of
two subsequent population based surveys 1990 and 1995 in
Germany. VASA 27: 10–14
16 Thefeld W, Stolzenberg H, Bellach BM (1999). Bundes-Gesundheitssurvey: Response, Zusammensetzung der Teilnehmer und
Non-Responder-Analyse. Gesundheitswesen 61: Sonderheft 2:
S57–S61
17 Trautner C, Plum F, Icks A, Berger M, Haastert B (1997). Incidence of blindness in relation to diabetes: A population-based
study. Diabetes Care 20: 1147–1153
18 Wiesner G, Hoffmeister H, Todzy-Wolff I (1995). Diabetes mellitus. In: Hoffmeister H, Bellach BM (Hrsg.). Die Gesundheit der
Deutschen. RKI-Heft 39–43
Robert Koch-Institut
Postfach 650280
D-13302 Berlin
Beitrag: 351.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S90 MORBIDITÄT
in Deutschland –
›› Blutdruck
Zustandsbeschreibung und Trends
Zusammenfassung: Die im Rahmen des Bundes-Gesundheitssurveys durchgeführten Blutdruckmessungen ergaben im
Mittel höhere Werte bei Männern im Vergleich zu Frauen sowie höhere Werte in den neuen Bundesländern im Vergleich
zu den alten. Insgesamt stieg der Blutdruck mit zunehmendem Lebensalter an. Die Hypertonieprävalenz lag bei Männern
mit knapp 30% höher als bei Frauen (26,9%) und im Osten jeweils höher als im Westen. In der zeitlichen Entwicklung zeigt
sich bei einem Vergleich mit den Daten des Gesundheitssurveys Ost-West 1991 ein Anstieg der Hypertonieprävalenz im
Westen und eine Abnahme im Osten. Damit scheint sich eine
Annäherung der Werte der beiden Regionen auf hohem Niveau zu vollziehen.
Schlüsselwörter: Blutdruck – Hypertonus – Bundes-Gesundheitssurvey – Prävalenz – Trends
Blood Pressure in Germany – Update Review of State and
Trends: The blood pressure measurements performed in the
course of the German National Health Interview and Examination Survey 1998 showed higher levels in men compared to
women and higher levels in the Eastern part of Germany as
compared to the West. Generally, blood pressure increased
with age. The prevalence of hypertension was higher in men,
reaching almost 30%, as compared to women (26.9%), and
higher in the East compared to the West. A comparison of data
of 1998 and data of the Health Examination Survey East-West
1991 reveals an increase in the incidence of hypertension in
the West and a decrease in the East. This seems to imply a convergence of the two regions on a high level.
Key words: Blood Pressure – Hypertension – German National
Health Interview and Examination Survey – Prevalence –
Trends
Einführung
Der krankhaft erhöhte Blutdruck (Hypertonie) gehört zu den
etablierten Risikofaktoren u.a. für Schlaganfall, Herzinfarkt,
Herzinsuffizienz, periphere arterielle Verschlußkrankheit und
Niereninsuffizienz. Damit stellt die Bluthochdruckkrankheit
eine wichtige vermeidbare Ursache für Invalidität und vorzeitige Todesfälle dar. Man unterscheidet im wesentlichen die
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S90–S93
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
M. Thamm
Robert Koch-Institut, Berlin
primäre, auch essentielle oder idiopathische Hypertonie von
der sekundären, auf eine spezifische Ursache zurückzuführende Hypertonie. Zu den blutdruckbeeinflussenden Faktoren
gehören u.a. Übergewicht, körperliche Aktivität, Alkoholaufnahme, Zigarettenkonsum und die Kochsalzaufnahme [Stamler et al. 1997, Trials of Hypertension Prevention Collaborative
Research Group 1997, Pouliot et al. 1994, Whelton et al. 1996,
U.S. Department of Health and Human Services 1996, Paffenberger et al. 1993, Kokkinos et al. 1995, Elliot et al. 1996,
Greenberg et al. 1987]. Die sekundären Hypertonien haben
alle eine hormonelle bzw. eine renale Genese und machen
nur ca. 10% der Hypertoniefälle aus. Dennoch darf eine Ursachenforschung nicht vernachlässigt werden, da in diesen Fällen immerhin eine Kausaltherapie, und damit eine Heilung,
möglich ist. Die Behandlung der Hypertonie ist heute weitgehend standardisiert und folgt bestimmten, nach Schweregrad
und begleitenden Risikofaktoren abgestuften Therapieschemata.
Methoden
Im Bundes-Gesundheitssurvey 1998 (BGS) [Bellach et al.
1998] wurde neben der Erfassung anderer Risikofaktoren bei
7101 Personen der Blutdruck gemessen. Aus Gründen der
Vergleichbarkeit mit früheren Erhebungen wurden Oberarmmessungen am sitzenden Probanden vorgenommen. Die
Meßgeräte entsprachen ebenfalls den bei früheren Untersuchungen eingesetzten Geräten mit Quecksilbersäule. Um eine
möglichst hohe Genauigkeit der Messung sicherzustellen,
wurde großer Wert auf eine intensive Schulung der Untersucher gelegt (analog WHO-MONICA), sowie laufende Qualitätskontrollen in den sample points durchgeführt. Außerdem
wurden vom Hersteller besonders genaue Meßgeräte geliefert, die abweichend von der Norm DIN/EN 1060, die Meßtoleranzen von ±3 mm Hg zuläßt, eine maximale Abweichung
von +1,8 mm Hg aufwiesen. Es wurden jeweils drei voneinander unabhängige Messungen durchgeführt, mit dazwischenliegenden Pausen von mindestens drei Minuten. Der in den
folgenden Analysen verwendete systolische und diastolische
Blutdruck wird errechnet aus dem jeweiligen Mittelwert der
zweiten und der dritten Blutdruckmessung. Bei der Bildung
der einzelnen Blutdruckklassen wurden in leicht modifizierter Form die aktuellen Definitionen der WHO zugrunde gelegt
[Chalmers 1999]:
– keine Hypertonie: Systole <140 mm Hg und Diastole <90
mm Hg
– grenzwertige Hypertonie: Systole ≥ 140 bis ≤ 149 mm Hg
und /oder Diastole ≥ 90 bis ≤ 94 mm Hg
Beitrag: 355.fm
Ausdruck vom 25.5.00
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S91
Blutdruck in Deutschland – Zustandsbeschreibung und Trends
Tab. 1 Mittlere Blutdruckwerte und Standardabweichung nach Altersklassen, Geschlecht und West/Ost
Altersklasse
(Jahre)
(mm Hg)
Männer
gesamt
West
Ost
Frauen
gesamt
West
Ost
18–19
Systole
Diastole
125 (12)
72 (11)
125 (12)
72 (11)
125 (26)
73 (10)
117 (11)
71 (10)
116 (12)
70 (9)
120 (10)
72 (11)
20–29
Systole
Diastole
129 (12)
78 (10)
128 (11)
78 (10)
131 (12)
80 (10)
119 (12)
75 (10)
119 (12)
74 (10)
120 (11)
76 (9)
30–39
Systole
Diastole
130 (13)
84 (10)
129 (13)
84 (10)
133 (13)
85 (10)
122 (14)
78 (10)
121 (14)
77 (10)
124 (15)
79 (10)
40–49
Systole
Diastole
135 (17)
88(11)
133 (16)
88 (11)
141 (18)
92 (12)
130 (18)
82 (11)
129 (18)
82 (11)
133 (20)
84 (11)
50–59
Systole
Diastole
143 (19)
89 (11)
142 (19)
89 (11)
146 (20)
90 (11)
143 (21)
86 (11)
142 (22)
86 (11)
146 (20)
88 (10)
60–69
Systole
Diastole
150 (22)
88(11)
150 (22)
88 (11)
148 (21)
86 (10)
153 (22)
86 (11)
153 (22)
86 (11)
151 (23)
86 (12)
70–79
Systole
Diastole
153 (23)
83 (12)
152 (24)
83 (11)
157 (20)
85 (12)
155 (23)
83 (12)
154 (22)
83 (12)
160 (25)
84 (13)
gesamt
Systole
Diastole
137 (19)
85 (12)
137 (19)
85 (12)
140 (19)
86 (12)
135 (23)
81 (12)
135 (23)
81 (12)
137 (23)
82 (12)
gewichtet (W98)
– Hypertonie: Systole >149 mm Hg und/oder Diastole >94
mm Hg
– kontrollierte Hypertonie:blutdrucksenkende Medikation
und Systole ≤149 mm Hg und Diastole ≤ 94 mm Hg
Da bei jeder Erhebung mit einer Stichprobe von Freiwilligen
mit einer gewissen Abweichung von der Normalbevölkerung
zu rechnen ist, wurden die Daten, die die Grundlage für die
Prävalenz- und Trendberechnungen bilden, gewichtet. Für die
Prävalenzen wurde das Gewicht W98 und für die Trends das
Gewicht W9198 verwendet. Die Daten des Gesundheitssurveys Ost-West 1991 wurden mit Weight OW gewichtet. Die
Stichprobe sowie die Gewichtungsverfahren sind an anderer
Stelle ausführlich beschrieben [Thefeld et al. 1999].
Ergebnisse
Sowohl der systolische als auch der diastolische Blutdruck liegen im Mittel bei Männern höher als bei Frauen (Tab. 1). Dieser Unterschied bleibt auch nach Kontrolle für das Alter hochsignifikant. Bei Betrachtung der einzelnen Altersklassen zeigt
sich im Mittel ein ausgeprägter Anstieg des Blutdrucks mit
zunehmendem Lebensalter, bei einem leichten Rückgang des
diastolischen Wertes in den höchsten Altersklassen. Aus früheren Erhebungen ist ebenfalls bekannt, daß der Blutdruck in
den neuen Bundesländern höher ist als in den alten [Hoffmeister 1995, Bellach 1996]. Diese Beobachtung wird auch durch
die Daten des Bundes-Gesundheitssurveys gestützt. Hier liegt
im Ostteil Deutschlands der systolische Blutdruck bei Männern im Mittel um 3 mm Hg höher als im Westen, bzw. der
diastolische Wert weist eine Differenz von 1 mm Hg auf. Bei
Frauen beträgt dieser Ost-West-Unterschied 2 mm Hg für den
systolischen, und 1mm Hg für den diastolischen Blutdruck.
Die Blutdruckdifferenz zwischen alten und neuen Bundesländern ist in annähernd allen Altersklassen zu beobachten, was
darauf hindeutet, daß bei diesem Phänomen andere Ursachen
als das Alter eine Rolle spielen. Zu diesen anderen Ursachen
gehört zweifellos der Body-Mass-Index (BMI) [Trials of Hypertension Prevention Collaborative Research Group 1997,
Pouliot 1994]. Erste Auswertungen der Daten des BGS ergaben eine hochsignifikante positive Korrelation zwischen BMI
und Blutdruck. Vor dem Hintergrund, daß im Osten 20,9% der
Männer stark übergewichtig sind (BMI ≥30 kg/m2), im Westen jedoch nur 18,2%, und von den Frauen im Osten immerhin annähernd ein Viertel (24,5%) unter starkem Übergewicht
leiden, im Westen jedoch nur 21%, ergibt sich hier ein Erklärungsansatz für die beobachteten Ost-West-Unterschiede.
Knapp 17% der Studienteilnehmer geben an, täglich oder
mehrmals wöchentlich blutdrucksenkende Medikamente
einzunehmen. Auch dabei zeigen sich deutliche Unterschiede
zwischen Männern und Frauen sowie zwischen alten und
neuen Bundesländern. Im Westen sind 12,8% der Männer
(Frauen 17,6%) regelmäßige Anwender von blutdrucksenkenden Medikamenten, im Osten sind es 18,5% der Männer und
22,5% der Frauen. In Tab. 2 sind die in Tab. 1 beschriebenen
Werte unter Ausschluß der regelmäßigen Anwender blutdrucksenkender Medikamente dargestellt. Es läßt sich dabei
eine geringe Abnahme der mittleren Blutdruckwerte, speziell
in den höheren Altersklassen, feststellen. Dies deutet darauf
hin, daß die betroffenen Personen ihre blutdrucksenkenden
Medikamente zu Recht einnehmen und daß die Anwender
trotz Therapie noch überdurchschnittlich hohe Blutdruckwerte aufweisen.
Aussagekräftiger als die Darstellung der Mittelwerte ist die
Einteilung in Blutdruckklassen. Hierzu wurden, wie oben beschrieben, die Grenzwerte der WHO von 1998 zugrunde gelegt. Die Modifikation besteht in einer Vergröberung der Klassen sowie der Einführung des Terms „kontrollierte Hypertonie“ für Anwender blutdrucksenkender Medikamente ohne
manifeste hypertone Blutdruckwerte. Die Ergebnisse sind in
Tab. 3 dargestellt. Von den Männern ist nur knapp die Hälfte
als normoton einzustufen, bei den Frauen sind es immerhin
fast 58%. 29,7% der Männer sind eindeutig als hyperton zu betrachten, verglichen mit 26,9% der Frauen. Die in den vorangegangenen Tabellen beschriebenen Unterschiede der Blutdruckmittelwerte zwischen West und Ost bilden sich auch bei
Beitrag: 355.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S92 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
M. Thamm
Tab. 2 Mittlere Blutdruckwerte und Standardabweichung nach Altersklassen, Geschlecht und West/Ost unter Auschluß regelmäßiger Anwender
blutdrucksenkender Medikamente
Altersklasse
(Jahre)
(mm Hg)
Männer
gesamt
West
Ost
Frauen
gesamt
West
Ost
18–19
Systole
Diastole
125 (12)
72 (11)
125 (12)
72 (11)
125 (12)
73 (10)
117 (11)
70 (10)
116 (12)
70 (9)
120 (10)
71 (11)
20–29
Systole
Diastole
129 (11)
78 (10)
128 (11)
78 (10)
130 (11)
80 (10)
119 (12)
74 (10)
119 (12)
74 (10)
120 (11)
75 (9)
30–39
Systole
Diastole
129 (13)
84 (10)
129 (13)
84 (10)
131 (13)
84 (9)
121 (14)
78 (10)
121 (13)
77 (10)
124 (15)
79 (10)
40–49
Systole
Diastole
133 (16)
88 (10)
132 (15)
87 (10)
140 (17)
91 (11)
127 (16)
81 (10)
127 (16)
81 (10)
129 (18)
82 (10)
50–59
Systole
Diastole
141 (18)
89 (10)
140 (18)
88 (10)
144 (19)
90 (10)
138 (19)
85 (10)
137 (19)
84 (10)
141 (18)
87 (9)
60–69
Systole
Diastole
145 (22)
86 (11)
146 (22)
86 (11)
144 (19)
85 (9)
147 (21)
84 (11)
148 (21)
84 (10)
146 (24)
86 (12)
70–79
Systole
Diastole
151 (23)
83 (12)
151 (24)
83 (12)
151 (21)
84 (12)
150 (22)
82 (11)
150 (21)
83 (11)
152 (27)
80 (11)
gesamt
Systole
Diastole
135 (17)
84 (11)
134 (17)
84 (11)
137 (17)
85 (11)
130 (20)
80 (11)
129 (20)
79 (11)
131 (20)
81 (11)
gewichtet (W98)
Tab. 3 Blutdruckklassen nach WHO 1998 (%), modifiziert. Bundes-Gesundheitssurvey 98 – gewichtet (W98)
Blutdruckklassen
Männer
gesamt
West
Ost
Frauen
gesamt
West
Ost
normoton
borderline
hyperton
kontr.hyperton
49,7
15,8
29,7
4,8
51,5
15,5
28,5
4,5
42,6
16,8
34,5
6,1
57,9
9,3
26,9
5,9
59,1
9,3
26,1
5,5
53,3
9,1
30,1
7,5
normoton: Systole <140 mm Hg und Diastole <90 mm Hg
borderline: Systole ≥140 bis ≤149 mm Hg und/oder Diastole ≥90 bis ≤94 mm Hg
hyperton: Systole >149 mm Hg und/oder Diastole >94 mm Hg
kontr. hyperton: blutdrucksenkende Medikation und Systole ≤149 mm Hg und Diastole ≤ 94 mm Hg
Tab. 4 Prävalenzen (in %) einzelner Blutdruckklassen, nach WHO 1998, modifiziert.
Gesundheitssurvey Ost-West 90/92 – gewichtet (Weight OW)
Blutdruckklassen
Männer
gesamt
West
Ost
Frauen
gesamt
West
Ost
normoton
borderline
hyperton
kontr. hyperton
45,9
17,6
28,4
4,4
53,4
17,0
24,9
4,6
34,7
19,9
41,8
3,5
59,3
12,4
23,1
5,1
61,9
11,9
21,8
4,4
49,8
14,5
27,8
7,8
Bundes-Gesundheitssurvey – gewichtet (W91/98)
Blutdruckklassen
gesamt
Männer
West
Ost
gesamt
Frauen
West
Ost
normoton
borderline
hyperton
kontr. hyperton
46,5
19,5
30,1
3,9
48,6
19,4
28,6
3,4
38,6
19,6
35,9
5,9
56,4
12,1
27,0
4,5
57,5
12,0
26,4
4,1
52,5
12,3
29,4
5,8
normoton: Systole <140 mm Hg und Diastole <90 mm Hg
borderline: Systole ≥140 bis ≤149 mm Hg und/oder Diastole ≥90 bis ≤94 mm Hg
hyperton: Systole >149 mm Hg und/oder Diastole >94 mm Hg
kontr. hyperton: blutdrucksenkende Medikation und Systole ≤149 mm Hg und Diastole ≤ 94 mm Hg
den Blutdruckklassen ab. So weisen im Westen 28,5%, im
Osten 34,5% der Männer hypertone Blutdruckwerte auf. Bei
den Frauen liegen die Prozentsätze bei 26,1 im Westen und
30,1 im Osten.
Um die zeitliche Entwicklung in der Prävalenz der Hypertonie
beurteilen zu können, wurde ein Vergleich mit den Daten des
Gesundheitssurveys Ost-West 1991 durchgeführt. Hierfür
wurden die aktuellen Daten des Bundes-Gesundheitssurveys
Beitrag: 355.fm
Ausdruck vom 25.5.00
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S93
Blutdruck in Deutschland – Zustandsbeschreibung und Trends
mit dem für derartige Vergleiche entwickelten Gewicht W91/
98 gewichtet. Durch diese andere Gewichtung ergeben sich
Unterschiede zu den in Tab. 3 dargestellten Daten, die aber lediglich auf einer anderen Standardisierung beruhen. Tab. 4
zeigt den zeitlichen Trend zwischen den beiden genannten
Erhebungen bezüglich der Blutdruckklassen. Zunächst fällt
auf, daß sich der Anteil der Hypertoniker bei Männern und
Frauen erhöht hat. Differenziert man zwischen West und Ost,
dann ergibt sich sowohl bei Männern als auch bei Frauen ein
Anstieg der Hypertonieprävalenz im Westen sowie bei Frauen
im Osten. Bei Männern im Osten, wo 1990/92 noch eine Hypertonieprävalenz von 41,8% zu verzeichnen war, ist dieser
sehr hohe Wert bis 1998 auf 34,9% zurückgegangen. Da die
Prävalenz der kontrollierten Hypertonie aber nur von 3,5% auf
5,9% zunahm, scheint die medikamentöse Intervention nicht
ausschlaggebend für diese Entwicklung zu sein. Welche Faktoren im einzelnen die beobachteten Trends beeinflussen,
muß in weiteren Analysen untersucht werden.
Diskussion
Hypertonie ist ein durch Verhaltensmodifikation und/oder
medikamentöse Intervention in der Regel beeinflußbarer Risikofaktor für eine Vielzahl von Erkrankungen des Gefäßsystems. Die Therapiekonzepte sind in den vergangenen Jahren
dahingehend modifiziert worden, daß heutzutage früher und
konsequenter interveniert wird, um Langzeitschäden zu verhindern oder hinauszuzögern. Daß in der aktuellen Erhebung
dennoch eine Prävalenz der Hypertonie von knapp 30% bei
Männern und mehr als 26% bei Frauen ermittelt wurde, ist
unbefriedigend. Hinzu kommt die Beobachtung, daß der Anteil der Hypertoniker im Osten zwar absinkt, der im Westen
jedoch zunimmt, so daß im wesentlichen eine Angleichung
auf hohem Niveau stattzufinden scheint. Die Frage muß gestellt werden, ob die bisherigen Maßnahmen zur Senkung der
Hypertonieprävalenz ausreichen.
Literatur
1
Bellach BM (1996). Die Gesundheit der Deutschen. Band. 2. RKIHefte 15/96
2 Bellach BM, Knopf H, Thefeld W (1998). Der Bundes-Gesundheitssurvey 1997/98. Gesundheitswesen 60; Suppl 2: 59–68
3 Chalmers J et al. (1999). WHO-ISH Hypertension Guidelines
Committee. 1999 World Health Organization – International Society of Hypertension Guidelines for the Management of Hypertension. J Hypertens 17: 151–185
4 Elliot P, Stamler J, Nichols R, et al. (1996) for the Intersalt Cooperative Research Group. Intersalt revisited: further analyses of 24
hour sodum excretion and blood pressure whithin and across
populations. BMJ 312: 1249–1253
5 Greenberg G, Thompson SG, Brennan PJ (1987). The relationship
between smoking and the response to antihypertensive treatment in mild hypertensives in the Medical Research Council´s
trial of treatment. Int J Epidemiol 16: 25–30
6 Hoffmeister H, Bellach BM (1995). Die Gesundheit der Deutschen. Ein Ost-West-Vergleich von Gesundheitsdaten. RKI-Hefte
7/95
7 Kokkinos PF, Narayan P, Colleran JA et al. (1995). Effects of regular exercise on blood pressure and left ventricular hypertrophy
on African-American men with severe hypertension. N Engl J
Med 333: 1462–1467
8 National Institutes of Health (1997). The Sixth Report of the Joint
National Committee on Prevention, Detection, Evaluation and
Treatment of High Blood Pressure. NIH Publication No. 98–4080,
November 1997
9 Paffenbarger RS Jr, Hyde RT, Wing AL, Lee IM, Jung DL, Kampert
JB (1993). The association of changes in physical-activity level
and other lifestyle characteristics with mortality among men. N
Engl J Med 328: 538–545
10 Pouliot MC, Després JP, Lemieux S et al. (1994). Waist circumference and abdominal sagittal diameter: best simple anthropometric indexes of abdominal visceral adipose tissue accumulation and related cardiovascular risk in men and woman. Am J
Cardio 73: 460–468
11 Stamler J, Caggiula AW, Grandits GA (1997). Relation of Body
mass and alcohol, nutrient, fiber, and caffeine intake to blood
pressure in the special intervention and usual care groups in the
Multiple Risk Factor Intervention Trial. Am Clin Nutr 65 (suppl):
338S–365S
12 Thefeld W, Stolzenberg H, Bellach BM (1999). Bundes-Gesundheitssurvey: Response, Zusammensetzung der Teilnehmer, NonResponder-Analyse. Gesundheitswesen 61: Sonderheft 2: S57–S61
13 Trials of Hypertension Prevention Collaborative Research Group
(1997). Effects of wight loss and sodium reduction intervention
on blood pressure and hypertension incidence in overweight
people with high normal blood presure: the Trials of Hypertention Prevention, phase II. Arch Intern Med 157: 657–667
14 U. S. Department of Health and Human Services (1996). Physical
Activity and Health: A Report of the Surgeon General. Atlanta,
GA: Centers for Disease Control and Prevention and Health Promotion, National Center for Cronic Disease Prevention and
Health Promotion
15 Whelton PK, Applegate WB, Ettinger WH et al. (1996). Efficacy of
weight loss and reduced sodium intake in the Trial of Nonpharmacologic Intervention in the Elderly (TONE) [abstract]. Circulation 94 (suppl): I–178
M. Thamm
Robert Koch-Institut
Postfach 650280
D-13302 Berlin
Beitrag: 355.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S94 MORBIDITÄT
in
›› Heuschnupfenprävalenz
Deutschland – Ost-West-Vergleich
E. Hermann-Kunz
Robert Koch-Institut, Berlin
und zeitlicher Trend
Zusammenfassung: Mehrere Studien bei Kindern und Erwachsenen haben in den letzten Jahren eine Prävalenzzunahme bei
atopischen Erkrankungen in Ost- und Westdeutschland gezeigt. Die beobachtete Allergiehäufigkeit war im Osten jedoch
deutlich geringer als im Westen. Anhand der Daten des Bundes-Gesundheitssurveys 1998 und der Gesundheitssurveys
von 1990/92 wurde untersucht, ob sich auch auf der Basis repräsentativer Bevölkerungsstichproben eine Zunahme der Erkrankungshäufigkeit bestätigen läßt und ob die beschriebenen Ost-West-Unterschiede nach wie vor bestehen. In einem
Selbstausfüllfragebogen gaben die Studienteilnehmer an, ob
sie jemals Heuschnupfen hatten. Zusätzlich wurden sie in einem ärztlichen Interview gefragt, ob ein Arzt jemals die Diagnose Heuschnupfen gestellt hat. Die Fragebogendaten wurden nur im Vergleich mit den früheren Nationalen Surveys zur
Berechnung des zeitlichen Trends verwendet. Den Fragebogen füllten 6974 Personen aus und 7099 nahmen an der ärztlichen Befragung teil. Insgesamt gaben 15% der Studienteilnehmer an, daß ein Arzt bei ihnen Heuschnupfen diagnostiziert
hat. Deutliche Prävalenzunterschiede zwischen Ost- und
Westdeutschland sind noch nachweisbar: Im Osten leiden
11% und im Westen 17% an Heuschnupfen. In beiden Teilen
des Landes sinkt die Prävalenz mit steigendem Alter. Die höchsten Krankheitsraten wurden bei 20- bis 29- und bei 30- bis
39jährigen gefunden. Auf den Fragebogendaten basierend,
stieg die Morbidität zwischen 1990/92 und 1998 von rund 10%
auf 17% an. Insgesamt ist die relative Prävalenzzunahme in
Ost- und Westdeutschland vergleichbar. Erhebliche Unterschiede zeigen sich jedoch bei einer Berücksichtigung von Alter und Geschlecht. Bei jüngeren Frauen aus Ostdeutschland
ist der Prävalenzanstieg wesentlich höher, bei Frauen ab dem
40. Lebensjahr dagegen niedriger als bei westdeutschen
Frauen. Bei Männern ist dieses Muster nicht festzustellen.
Schlüsselwörter: Heuschnupfen – Prävalenz – Ost-WestDeutschland – zeitlicher Trend
Prevalence of Hay Fever in Germany – Comparison between
Eastern and Western Germany and Time Trends: In recent
years several studies in children and adults have shown an increase in prevalence of atopic diseases in East and West Germany. The observed frequency of allergic diseases, however,
was significantly lower in the East compared to the West. Using data of the German National Health Interview and Examination Survey 1998 and of National Surveys from 1990/92 it
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S94–S99
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
was examined, whether the reported increase in prevalence
could be confirmed for the total population and whether the
differences between East and West are still present. In a selfadministered questionnaire, study participants were asked
whether they have ever had hay fever. Additionally, in a physician's interview, subjects were asked whether a physician had
ever diagnosed hay fever. The questionnaire data were used in
comparison with the previous national surveys for the calculation of time trends. A total of 6974 persons filled in the questionnaire and 7099 persons took part in the interview. Physician-diagnosed hay fever was reported by 15% of the total
study population. Clear differences in the prevalence rates
between East and West Germany are still existing; 11% in the
East and 17% in the West suffer from hay fever. In both parts of
the country prevalence decreases with increasing age. The
highest rates were found among those aged 20–29 and 30–39
years. Based on the questionnaire data the morbidity rose
from about 10% in 1990/92 to 17% in 1998. The overall relative increase is quite comparable in East and West Germany.
Stratification by age and gender shows considerable differences. In young women from East Germany the increase in
prevalence is substantially higher and in women aged 40 years
or older much lower than in West German women. In men this
pattern has not been observed.
Key words: Hay Fever – Prevalence – East-West-Germany –
Time Trends
Einleitung
Allergische Erkrankungen sind in Deutschland wie in anderen
westlichen Industrienationen zu einem gesundheitlichen Problem geworden. Nach Schätzungen leidet bereits jeder dritte
Deutsche an einer Allergie [Fath 1999]. Dabei stellt die allergische Rhinokonjunktivitis, also der Heuschnupfen, die bekannteste allergische Krankheit überhaupt dar. Das klinische Bild
des Heuschnupfens ist gekennzeichnet durch einen starken
Juckreiz in der Nase, anfallsweise Niesattacken und wäßrigen
Fließschnupfen sowie tränende, juckende Augen. Die Nasenschleimhäute schwellen an, der Geruchssinn ist eingeschränkt
und das Geschmacksempfinden gestört. Die Patienten leiden
unter einem Kopfdruckgefühl und allgemeiner Abgeschlagenheit. Die Nasennebenhöhlen können ebenfalls betroffen sein,
häufig kann eine Schwellung der Schleimhäute bis zur totalen
Verschattung der Nasennebenhöhlen beobachtet werden
[Wönne 1992, Brüser 1998]. Jede allergische Rhinitis oder Rhinokonjunktivitis sollte ernst genommen werden, nicht nur we-
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S95
Heuschnupfenprävalenz in Deutschland
gen der z.T. erheblichen Verminderung der Lebensqualität bei
Betroffenen, sondern vor allem wegen der Gefahr des sogenannten „Etagenwechsels“. Unter dem Begriff „Etagenwechsel“
versteht man das Übergreifen der Beschwerden von den oberen auf die tieferen Atemwege, also vom Nasen-Rachen-Raum
auf die Bronchien. Die Folge dieses Überganges ist die Entwicklung eines allergischen Asthmas bronchiale. Bei etwa 30 bis
40% aller Heuschnupfen-Patienten tritt dieses Etagenphänomen auf, und die Betroffenen leiden an asthmatischen Beschwerden. Bei einer Reihe von Erkrankten geht die anfänglich
nur saisonal auftretende Symptomatik im weiteren Verlauf in
ein ganzjähriges, schweres Krankheitsbild über.
Allgemein wird davon ausgegangen, daß die Prävalenz von
atopischen Erkrankungen, wie Asthma bronchiale, atopische
Dermatitis und Heuschnupfen, in den letzten Jahrzehnten
deutlich zugenommen hat. Auskünfte über die Höhe der Erkrankungsraten und über die zeitliche Entwicklung der Heuschnupfenprävalenz insgesamt sowie Antworten auf die Fragen, ob und in welcher Höhe ein Ost-West-Unterschied nach
wie vor besteht, können durch die nachfolgend beschriebenen ersten Auswertungsergebnisse des Bundes-Gesundheitssurveys gegeben werden.
Material und Methode
Die Erfassung der Heuschnupfenprävalenz erfolgte im Bundes-Gesundheitssurvey 1998 [Bellach 1998] durch zwei unterschiedliche Methoden. In einem Selbstausfüllfragebogen
wurden die Studienteilnehmer danach gefragt, ob sie jemals
„Heuschnupfen, allergische Bindehautentzündung (allergische Rhinitis, allergische Konjunktivitis)“ gehabt haben. In einem zusätzlich von einem Arzt durchgeführten Interview
wurde bei den Probanden u.a. erfragt, ob ein Arzt jemals die
Diagnose „Heuschnupfen, allergische Bindehautentzündung“
gestellt hat, ob ein Allergietest erfolgte und wenn ja, bei welcher Substanz eine positive Reaktion festzustellen war. Insgesamt füllten 6974 Studienteilnehmer den Fragebogen aus, an
der ärztlichen Befragung nahmen 7099 Personen teil.
Ausgewertet wurden in erster Linie die Ergebnisse des ärztlichen Interviews. Berücksichtigt wurden hierbei neben der
Einteilung in Ost- und Westdeutschland die Gliederungsmerkmale Geschlecht, Alter, Wohnortgröße und soziale
20%
18%
16%
14%
12%
10%
8%
6%
4%
2%
0%
Schichtzugehörigkeit. Um die Auswertungsergebnisse auf die
deutsche Wohnbevölkerung generalisieren zu können, wurde
bis auf wenige, extra gekennzeichnete Ausnahmen bei den
Datenanalysen ein Gewichtungsfaktor verwendet [Thefeld
1999].
Zur Untersuchung der zeitlichen Entwicklung der Heuschnupfenprävalenz wurden die Daten des Bundes-Gesundheitssurveys mit den Daten des Gesundheitssurveys West von
1990/91 und des Gesundheitssurveys Ost von 1991/92 verglichen. Auch diese Auswertungen wurden gewichtet durchgeführt. Der Gewichtungsfaktor unterscheidet sich jedoch insofern von dem erstgenannten, als in den Untersuchungen von
1990/92 keine Ausländer, sondern nur die deutsche Bevölkerung berücksichtigt wurde und der Altersbereich der Studienteilnehmer eingeschränkter war. Für die vergleichenden Betrachtungen der Surveydaten konnten aus diesem Grund nur
die Altergruppen der 25- bis 69jährigen Probanden herangezogen werden. Da in den Studien von 1990/91 und 1991/92
keine Befragung durch einen Arzt stattfand, wurden zur Untersuchung der zeitlichen Prävalenzentwicklung die Selbstangaben der Studienteilnehmer aus dem Fragebogen verwendet, alle anderen Auswertungen basieren auf den Ergebnissen
des ärztlichen Interviews. Die Datenanalysen wurden mit der
Statistik-Software SAS Version 6.12 durchgeführt. Prävalenzunterschiede wurden mit Hilfe des chi²-Tests auf
Signifikanz geprüft.
Ergebnisse
Heuschnupfenprävalenz nach Region, Geschlecht und Alter
Repräsentative Aussagen zur Häufigkeit von Allergien in der
Bundesrepublik Deutschland konnten erstmals auf der Datenbasis des Nationalen Gesundheitssurveys der Deutschen
Herz-Kreislauf-Präventionsstudie (1990/91) und des Gesundheitssurveys Ost (1991/92) gemacht werden. Insbesondere
beim Heuschnupfen sowie bei den Sensibilisierungsraten auf
Inhalationsallergene zeigte sich hier ein deutlicher Ost-WestUnterschied [Bellach 1995, Nicolai 1997, Wiesner 1995]. Auch
auf der Basis des Bundes-Gesundheitssurveys 1998 läßt sich
eine signifikante West-Ost-Differenz nachweisen. Insgesamt
wurde bei 15% der deutschen Wohnbevölkerung die Diagnose
„Heuschnupfen“ gestellt.
Abb. 1 Heuschnupfenprävalenz
15,4%
Deutschland
Gesamt West Ost
16,6%
14,4%
15,5%
17,5%
11,3%
10,7%
Männer und
Frauen
16,3%
10,1%
Männer
Frauen
S96 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
E. Hermann-Kunz
Rund 17% der westdeutschen, aber nur 11% (p≤0,001) der
ostdeutschen Studienteilnehmer gaben an, daß sie jemals von
einem Arzt die Diagnose Heuschnupfen erhielten (Abb. 1).
Dieser West-Ost-Gradient ist bei beiden Geschlechtern feststellbar, wobei Frauen insgesamt eine etwas höhere Prävalenz
aufweisen (Männer 14% – Frauen 16% (p≤0,05)). Mit zunehmendem Alter nimmt bei Frauen und Männern in Ost- und
Westdeutschland die Häufigkeit einer Heuschnupfenerkrankung ab (Abb. 2). Die höchsten Prävalenzraten sind in den
Altersgruppen der 20- bis 29- und der 30- bis 39jährigen zu
finden. Mit Ausnahme der 60- bis 69jährigen Männer überwiegen in allen Altersgruppen die prozentualen Erkrankungszahlen bei westdeutschen Probanden. Die Ost-West-Differenz
nimmt bei Männern ab dem 50. Lebensjahr deutlich ab, sie
beträgt z.B. 9 Prozentpunkte in der Altersgruppe 30–39 Jahre
und nur knapp 3 bei den 50–59jährigen. Im Gegensatz dazu
erhöht sich der Ost-West-Unterschied bei Frauen mit zunehmendem Alter, die Differenz beträgt bei 20- bis 29jährigen
rund 7, bei 50- bis 59jährigen dagegen 9 Prozentpunkte; am
geringsten ist der Ost-West-Unterschied mit 2,5 Prozentpunkten bei den Frauen in der Altersklasse 40 bis 49 Jahre.
Bei 50% aller von Heuschnupfen betroffenen Studienteilnehmer ist die Erkrankung erstmals bis zum Alter von 22 Jahren
aufgetreten, und 90% erkrankten bis zum Alter von 46 Jahren.
Ein Vergleich beider Geschlechter zeigte, daß das Alter der
Erstmanifestation bei Männern in Ost- und Westdeutschland
24%
22%
20%
18%
16%
14%
12%
10%
8%
6%
4%
2%
0%
Männer
Zeitlicher Trend der Heuschnupfenprävalenz
Internationale Studien aus den letzten 20 Jahren unterstützen
die Annahme, daß die Prävalenz allergischer Erkrankungen
zunimmt [Burr 1993, Nowak 1991, Schultz-Larsen 1992,
Sibbald 1993]. Hinweise auf einen Prävalenzanstieg liegen
ebenfalls aus den drei Untersuchungswellen des Nationalen
Gesundheitssurveys der Deutschen Herz-Kreislauf-Präventionsstudie (DHP) von 1984 bis 1991 vor. Die auf den Eigenangaben basierenden kumulativen Prävalenzraten stiegen z.B.
bei Heuschnupfen von 7 auf 11% bzw. 10% (Männer bzw.
Frauen [Wiesner 1995]). Auch die neuen Auswertungen auf
der Basis des Bundes-Gesundheitssurveys zeigen eine deutliche Zunahme der Krankheitshäufigkeit. Nach den Selbstangaben der Studienteilnehmer ist die Heuschnupfenprävalenz
zwischen 1990/92 und 1998 von rund 10 auf 17% gestiegen
(Tab. 1). Der Krankheitsanstieg ist insgesamt mit 8 Prozentpunkten im Westen etwas höher als im Osten (6 Prozentpunkte). Die deutlichste Zunahme ist bei westdeutschen
Frauen (10 Prozentpunkte) zu verzeichnen, bei ostdeutschen
Frauen ist die Prävalenz um 7 Prozentpunkte und bei Männern um 5 bzw. 6 Prozentpunkte (West bzw. Ost) gestiegen.
Eine Zunahme der Erkrankungshäufigkeit ist in allen AltersAbb. 2 Heuschnupfenprävalenz bei Männern
und Frauen nach Alter.
Deutschland
West
Ost
20–29 30–39 40–49 50–59 60–69 70–79
niedriger ist als bei Frauen. Der Medianwert liegt bei Männern bei 19 und 17 Jahren (West – Ost), bei Frauen dagegen
bei 25 und 26 Jahren (West – Ost).
Frauen
20–29 30–39 40–49 50–59 60–69 70–79
Alter in Jahren
22%
20%
18%
16%
14%
12%
10%
8%
6%
4%
2%
0%
Abb. 3 Heuschnupfenprävalenz nach sozialer
Schichtzugehörigkeit bei Männern und
Frauen.
Deutschland
West Ost
Männer
untere
Frauen
mittlere
obere
soziale Schicht
untere
mittlere
obere
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S97
Heuschnupfenprävalenz in Deutschland
Tab. 1 Vergleich der Heuschnupfenprävalenz nach den Fragebogendaten der Gesundheitssurveys 1990/92 (n=7427) und 1998 (n= 6961)
(Angaben in Prozent)
Deutschland gesamt
1990/92 1998 Differenz
Westdeutschland
1990/92
1998
Männer und Frauen
insgesamt
25–29
30–39
40–49
50–59
60–69
9,6
16,0
13,2
7,9
6,8
5,2
16,9
23,9
20,9
15,8
13,0
12,0
7,3
7,9
7,7
7,9
6,2
6,8
10,6
17,8
15,0
8,7
7,1
5,7
18,2
25,2
22,6
17,2
14,1
13,0
7,6
7,4
7,6
8,5
7,0
7,3
5,9
9,0
6,6
5,1
5,6
3,5
11,9
18,7
14,8
10,4
8,9
7,5
6,0
9,7
8,2
5,3
3,3
4,0
Männer
insgesamt
25–29
30–39
40–49
50–59
60–69
10,2
17,0
13,8
8,5
5,8
6,8
15,4
23,3
21,6
13,7
8,3
10,3
5,2
6,3
7,8
5,2
2,5
3,5
11,3
18,8
15,9
9,4
5,9
7,4
16,4
25,3
23,8
15,1
8,4
10,1
5,1
6,5
7,9
5,7
2,5
2,7
6,2
10,0
6,8
4,8
5,4
4,1
11,2
15,8
13,9
8,4
7,7
11,4
5,0
5,8
7,1
3,6
2,3
7,3
Frauen
insgesamt
25–29
30–39
40–49
50–59
60–69
9,0
14,8
12,5
7,4
7,8
4,1
18,3
24,5
20,1
17,9
17,7
13,1
9,3
9,7
7,6
10,5
9,9
9,0
9,9
16,6
14,2
7,9
8,4
4,4
19,9
25,2
21,4
19,4
19,8
15,2
10,0
8,6
7,2
11,5
11,4
10,8
5,6
7,9
6,4
5,3
5,7
3,1
12,5
21,9
15,7
12,3
10,1
4,8
6,9
14,0
9,3
7,0
4,4
1,7
klassen festzustellen. Am geringsten ist die Prävalenzzunahme mit 1,7 Prozentpunkten bei den 60- bis 69jährigen
ostdeutschen Frauen, bei den westdeutschen Probandinnen
dagegen ist auch in dieser Altersgruppe die Zunahme mit
rund 11 Prozentpunkten erstaunlich hoch.
Heuschnupfenprävalenz nach sozialer Schicht und
Gemeindegröße
Im Gegensatz zu den meisten Zivilisationskrankheiten, die einen Prävalenzgipfel bei Personen aus der unteren sozioökonomischen Schicht aufweisen, steigt bei Heuschnupfen sowie
bei Allergien allgemein mit zunehmendem sozialen Status
das Erkrankungsrisiko. Nach den Ergebnissen der ärztlichen
Befragung haben in der Bundesrepublik 11% aller Studienteilnehmer aus der unteren sozialen Schicht einen Heuschnupfen, in der mittleren sozialen Schicht sind es bereits 16% und
in der oberen Schicht 19%. Im Ost-West-Vergleich zeigt sich,
daß in Westdeutschland der Unterschied zwischen den sozialen Schichten etwa vergleichbar mit dem Ergebnis der
Bundesrepublik insgesamt ist, die Prävalenzzahlen betragen
12%, 17% und 21% (untere, mittlere und obere soziale
Schicht), während in Ostdeutschland die Krankheitshäufigkeiten bei Angehörigen der mittleren und oberen sozialen
Schicht keine Unterschiede aufweisen, sie betragen bei beiden Gruppen 12%. In der unteren sozialen Schicht ist dagegen
auch in Ostdeutschland mit 7% eine deutlich niedrigere
Prävalenz zu verzeichnen. Eine differenziertere Betrachtung
unter Berücksichtigung des Geschlechts läßt erkennen, daß
mit Ausnahme der ostdeutschen Frauen bei allen Gruppen
das Krankheitsrisiko mit der Zugehörigkeit zur mittleren und
oberen sozialen Schicht ansteigt. Bei ostdeutschen Frauen ist
die Prävalenz dagegen in der mittleren sozialen Schicht am
höchsten (Abb. 3).
Differenz
Ostdeutschland
1990/92 1998
Differenz
Nach den Auswertungen der Gesundheitssurveys von 1990/
92 war die Prävalenz von Inhalationsallergien bzw. die diesbezüglichen Sensibilisierungsraten in Großstädten höher als
in eher ländlichen Regionen [Thefeld 1996]. Die Daten des
Bundes-Gesundheitssurveys zeigen ebenfalls Prävalenzunterschiede in Abhängigkeit von der Wohnortgröße. In Gemeinden bzw. Kleinstädten mit einer Einwohnerzahl unter 20000
wurden sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland die geringsten Erkrankungszahlen für Heuschnupfen gefunden
(Abb. 4). Dieser Unterschied war bei Frauen und Männern
nachweisbar. Ob sich diese Differenz auch bei gleichzeitiger
Berücksichtigung der sozialen Schichtzugehörigkeit und anderer möglicher Konfounder darstellt, muß in weiteren Datenanalysen überprüft werden.
Allergietest-Ergebnisse bei Probanden mit Heuschnupfen
Bei der ärztlichen Befragung gaben insgesamt rund 73% aller
Studienteilnehmer mit Heuschnupfen an, daß bei ihnen ein
Allergietest durchgeführt wurde. Bei westdeutschen Frauen
ist der Anteil getesteter Heuschnupfenpatienten mit 78% am
höchsten, bei westdeutschen Männern mit 60% am niedrigsten (Tab. 2). Aus der Literatur ist bekannt, daß eine allergische Rhinokonjunktivitis in erster Linie durch folgende Inhalationsallergene hervorgerufen wird: Gräser-, Baum- und
Kräuterpollen, Ausscheidungen von Hausstaubmilben, Schimmelpilze und Tierepithelien, z.B. von Hund und Katze. Auch in
der vorliegenden Studienpopulation scheinen die genannten
Allergene maßgeblich an der Heuschnupfenentstehung beteiligt zu sein. Etwa 80% aller getesteten Heuschnupfenkranken
gaben eine positive Testreaktion auf Pollen an. Am zweithäufigsten wurden mit ca. 41% Hausstaub bzw. Hausstaubmilben
genannt, gefolgt von Tierepithelien, auf die 33% aller Betroffenen reagierten. Lebensmittel wurden von 20% und Schimmelpilze von 13% der getesteten Heuschnupfen-Allergiker genannt.
S98 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
Deutschland
West Ost
20
20
00
. 00
0–
>1
<1
00
00
0
0
00
00
00
00
0
. 00
00
Abb. 4 Heuschnupfenprävalenz nach
Gemeindegrößenklassen.
Frauen
0–
>1
<1
<2
00
00
00
00
0
Männer
<2
22%
20%
18%
16%
14%
12%
10%
8%
6%
4%
2%
0%
E. Hermann-Kunz
Gemeindegrößenklassen nach Anzahl der Einwohner
Gemeinsames Auftreten von Heuschnupfen mit anderen
allergischen Erkrankungen
kommen bei Frauen deutlich häufiger vor als bei Männern
(Tab. 3).
Bei der ärztlichen Befragung gaben insgesamt 57% der Heuschnupfenprobanden an, zusätzlich auch an mindestens einer
anderen Allergie zu leiden. Der West-Ost-Vergleich zeigt, daß
der Anteil der betrachteten Personen mit mindestens einer
weiteren allergischen Erkrankung im Westen höher ist als im
Osten (60% vs. 50%) und bei Frauen höher als bei Männern
(66% vs. 46%) (Tab. 3). Die meisten Probanden, ca. 27%, leiden
zusätzlich an einem allergischen Kontaktekzem, wobei
Frauen im Vergleich zu Männern mehr als doppelt so oft betroffen sind. Den zweiten Platz bei den Nennungen nehmen
mit 21% die Nahrungsmittelallergien ein, gefolgt von Urtikaria, die bei 17% der Erkrankten gemeinsam mit Heuschnupfen
auftritt. Auch die letztgenannten Krankheitskombinationen
Diskussion
Die Heuschnupfenprävalenz ist in der deutschen Wohnbevölkerung relativ hoch, etwa jeder siebte Erwachsene ist betroffen. Auffällig ist nach wie vor ein signifikanter Ost-West-Unterschied. Ein ärztlich diagnostizierter Heuschnupfen wird in
Westdeutschland von 17% und in Ostdeutschland von 11% aller Probanden angegeben. Erste repräsentative Untersuchungen auf der Basis des Nationalen Gesundheitssurveys der DHP
und des Gesundheitssurveys Ost zeigten bereits eine deutliche Ost-West-Differenz: 11% der westdeutschen, aber nur 6%
der ostdeutschen Probanden gaben z.B. an, an Heuschnupfen
zu leiden. Geringere Prävalenzen für Ostdeutschland wurden
Tab. 2 Ergebnisse der Allergietests bei Studienteilnehmern mit Heuschnupfen (n=1040) (Angaben in Prozent)*
Test durchgeführt
Blütenstaub (Pollen)
Hausstaub (Milben)
Epithelien (z.B. Hund/Katze)
Lebensmittel
Schimmelpilze
andere Substanzen
keine Substanz
weiß nicht
Deutschland
gesamt
West
Ost
Deutschland gesamt
Männer
Frauen
Männer
West Ost
Frauen
West
Ost
72,5
79,3
40,5
33,2
20,2
12,7
21,1
6,1
2,9
65,2
78,8
35,2
29,7
13,9
12,1
18,2
7,3
3,6
68,4
80,3
37,2
25,9
15,6
9,1
14,7
5,9
2,5
60,0
79,9
38,6
25,6
17,3
7,9
13,8
6,3
2,8
78,1
79,1
44,5
40,6
25,4
16,7
28,1
5,4
2,7
74,8
79,5
41,9
34,1
21,9
12,9
21,9
5,8
2,7
75,9
78,6
42,9
38,5
23,5
15,4
25,8
6,2
3,2
71,0
81,8
31,8
27,3
9,1
13,6
18,2
4,6
1,5
69,2
76,8
37,4
31,3
17,2
11,1
18,2
9,1
5,1
* ungewichtet berechnet
Tab. 3 Gemeinsames Auftreten von Heuschnupfen (n =1040) mit anderen allergischen Erkrankungen (Angaben in Prozent)*
Heuschnupfen
mit
Deutschland
gesamt
West
Ost
Deutschland gesamt
Männer
Frauen
Männer
West Ost
Frauen
West
Ost
allergischem Kontaktekzem
Nahrungsmittelallergie
Urtikaria
Neurodermitis
sonst. Allergie
mind. 1 der o.g. Erkrankungen
mind. 2 der o.g. Erkrankungen
27,4
20,7
16,7
8,3
27,0
57,1
27,3
22,0
14,2
11,5
7,5
22,9
49,8
19,4
15,8
14,5
10,0
6,2
22,9
46,4
16,9
16,8
15,4
11,5
5,3
24,6
48,9
18,7
38,5
28,9
24,2
11,2
31,5
68,3
39,2
32,2
16,1
16,1
6,3
27,3
58,7
28,9
* ungewichtet berechnet
28,6
22,7
18,4
8,5
28,3
59,5
29,9
36,9
25,7
22,2
10,0
30,4
65,9
35,8
12,7
11,8
5,5
9,1
17,3
38,2
10,9
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S99
Heuschnupfenprävalenz in Deutschland
auch in einigen regionalen Untersuchungen von Kindern und
Erwachsenen nachgewiesen [Heinrich 1995, von Mutius
1992, Nicolai 1996]. So wurde z.B. in einer 1995 veröffentlichten Publikation des European Community Respiratory Health
Surveys eine Punktprävalenz von Heuschnupfen bei Erwachsenen von 13% in Erfurt und von 23% in Hamburg berichtet.
Untersuchungen bei 9- bis 11jährigen Kindern in München
und Leipzig ergaben kumulative Prävalenzen von 9 und 7%
(West vs. Ost) bei Asthma und 9 vs. 3% bei Heuschnupfen.
Die Auswertungen zur zeitlichen Entwicklung bestätigen die
Annahme, daß die Heuschnupfenprävalenz ansteigt. In der
westdeutschen Bevölkerung konnte bereits anhand der drei
Untersuchungswellen der DHP (s. unter Zeitlicher Trend) eine
Morbiditätszunahme aufgezeigt werden. Erste Hinweise auf
eine Zunahme der Krankheitshäufigkeit in Ostdeutschland
lieferte z.B. eine Untersuchung von Kindern in Leipzig [von
Mutius 1998]: Zwischen 1991/92 und 1995/96 ist die Prävalenz von Heuschnupfen bei 9- bis 11jährigen Kindern von 2,3
auf 5,1% und die Sensibilisierungsrate (Prick-Test) von 19,3
auf 26,7% gestiegen.
Die hier dargestellten vergleichenden Auswertungen repräsentativer Bevölkerungsstichproben von 1990/92 und 1998
ergaben, daß die Prävalenz bei 25- bis 69jährigen Deutschen
insgesamt von 10 auf 17% gestiegen ist. Der Anstieg in Ostdeutschland ist etwas geringer als in Westdeutschland. Eine
Betrachtung nach Altersgruppen und Geschlecht zeigt bei
Männern vergleichbare oder etwas geringere Anstiegsraten
im Osten, nur bei den 60- bis 69jährigen ist die Zunahme
überraschenderweise in Ostdeutschland höher. Bei ostdeutschen Frauen ist ab dem 40. Lebensjahr ein deutlich geringerer Prävalenzanstieg zu verzeichnen als bei den westdeutschen Probandinnen. Bei jüngeren Frauen ist das Verhältnis
umgekehrt, hier ist die Zunahme der Krankheitshäufigkeit im
Osten höher. Der Prävalenzverlauf bei jüngeren Frauen
könnte ein Indiz dafür sein, daß mit der Angleichung der Lebensverhältnisse leider auch die Morbiditätszahlen langsam
ein vergleichbares Niveau erreichen, wie dies bei 25- bis
29jährigen Frauen schon aufzuzeigen ist (Prävalenz bei westdeutschen Frauen 25%, bei ostdeutschen Frauen 22%).
In weiterführenden Auswertungen ist vorgesehen, Faktoren
zu identifizieren und zu quantifizieren, die einen Einfluß auf
den Ost-West-Unterschied haben, und Einflußgrößen zu untersuchen, die mit dem Prävalenzanstieg in Zusammenhang
stehen.
Literatur
1
Bellach BM, Thefeld W, Dortschy R (1995). Disposition für Inhalationsallergien. In: Die Gesundheit der Deutschen. RKI-Hefte 7:
78–87
2 Bellach BM, Knopf H, Thefeld W (1998). Der Bundes-Gesundheitssurvey 1997/98. Gesundheitswesen 60, Sonderheft 2: S59–
S68
3 Brüser E (1998). Allergien. Das Immunsystem auf Abwegen. Stiftung Warentest Berlin (Hrsg.)
4 Burr ML (1993). The epidemiology of asthma. In: Burr ML ed.
Epidemiology of Clinical Allergy. Basel: Karger AG, 80–102
5 Fath R (1999). Allergieursachen zu klären ist vorrangig. Ärzte
Zeitung 156: 2
6 Heinrich J, Nowak D, Beck E et al (1995). Die Verbreitung von
Asthma und Atemwegssymptomen bei Erwachsenen in Erfurt
und Hamburg. Erste Ergebnisse der deutschen Zentren des EC
Respiratory Health Survey. Informatik, Biometrie und Epidemiologie in Medizin und Biologie 26: 297–307
7 Nicolai T, Bellach BM, von Mutius E, Thefeld W, Hoffmeister H
(1997). Increased prevalence of sensitization against aeroallergens in adults in West compared with East Germany. Clinical
and Experimental Allergy 27: 886–92
8 Nicolai T, Von Mutius E (1996). Respiratory hypersensitivity and
environmental factors: East and West Germany. Toxicology Letters 86: 105–113
9 Nowak D, Claussen M, Berger J, Magnussen H (1991). Weltweite
Zunahme des Asthma bronchiale. Deutsches Ärzteblatt 88:
B1951–1955
10 Schultz-Larsen F, Hanifin JM (1992). Secular change in the occurrence of atopic dermatitis. Acta Derm Venereol 176 (Suppl):
7–12
11 Sibbald B (1993). The epidemiology of allergic rhinitis. In: Burr
ML (ed.). Epidemiology of Clinical Allergy. Basel: Karger AG, 61–
79
12 Thefeld W, Stolzenberg H, Bellach BM (1999). Bundes-Gesundheitssurvey: Response, Zusammensetzung der Teilnehmer, NonResponder-Analyse. Gesundheitswesen 61 (im Druck)
13 Thefeld W, Bergmann K, Hermann-Kunz E et al. (1996). Wohnortgröße und Gesundheit: Stadt-/Landunterschiede. In: Bellach
BM (Hrsg.). Die Gesundheit der Deutschen. Bd. 2. RKI-Heft 15
Bd. 2: 1–15
14 Von Mutius E, Fritzsch C, Weiland SK, Röll G, Magnussen H
(1992). Prevalence of asthma and allergic disorders among
children in united Germany: a descriptive comparison. BMJ 305:
1395–1399
15 Von Mutius E, Weiland SK, Fritzsch C, Duhme H, Keil U (1998).
Increasing prevalence of hay fever and atopy among children in
Leipzig, East Germany. Lancet 351: 862–866
16 Wiesner G, Todzy-Wolf I (1995). Heuschnupfen. In: Die Gesundheit der Deutschen. RKI-Hefte 7: 71–77
17 Wönne R (1992). Heuschnupfen ist die bekannteste allergische
Krankheit überhaupt. Ärzte Zeitung/Forschung und Praxis 139:
11–14
Edelgard Hermann-Kunz
Robert Koch-Institut
Postfach 650280
D-13302 Berlin
S100 MORBIDITÄT
allergischer Krankheiten
›› Häufigkeit
in Ost- und Westdeutschland
Zusammenfassung: Nach den Daten des Bundes-Gesundheitssurveys 1998 konnten zwischen Ost- und Westdeutschland
bemerkenswerte Unterschiede bei der Prävalenz von Heuschnupfen beobachtet werden. Mehrere Studien mit Kindern
und Erwachsenen ergaben auch bei anderen Allergieformen
und bei den Sensibilisierungsraten eine erhebliche Ost-WestDifferenz. Das Ziel dieser Untersuchung bestand darin, herauszufinden, ob sich in einer repräsentativen Stichprobe der
erwachsenen deutschen Bevölkerung Unterschiede in der
Häufigkeit von Asthma, Neurodermitis, Nahrungsmittelallergien, Urtikaria, allergischem Kontaktekzem und „sonstigen
Allergien“ feststellen lassen. Die Berechnungen basieren auf
den Daten des ärztlichen Interviews, in dem Studienteilnehmer gefragt wurden, ob ein Arzt jemals eine der oben erwähnten Krankheiten diagnostiziert hat. Bei allen allergischen
Krankheiten wurde in West-, verglichen mit Ostdeutschland,
eine höhere Prävalenz beobachtet, und Frauen aus beiden Teilen des Landes haben höhere Morbiditätsraten als Männer.
Mindestens eine ärztlich diagnostizierte Allergie wurde von
40% aller Studienteilnehmer berichtet, wobei in Ostdeutschland rund 30% und im Westen 43% an einer allergischen
Krankheit leiden. Bei Frauen beträgt die Prävalenz insgesamt
47% und bei Männern 33%. Extrem hohe Allergieraten weisen
westdeutsche Frauen im Alter von 30 bis 39 Jahren auf (62%).
Obwohl die Häufigkeit allergischer Krankheiten mit steigendem Alter sinkt, konnten erstaunlich hohe Morbiditätsraten
auch in der höchsten Altersgruppe gefunden werden. Die
Prävalenz bei Studienteilnehmern im Alter von 70 bis 79 Jahren beträgt 25%. Deutliche Ost-West-Unterschiede sind in dieser Altersgruppe ebenfalls festzustellen (West 27% und Ost
14%).
Schlüsselwörter: Asthma bronchiale – Neurodermitis – Nahrungsmittelallergie – Urtikaria – Allergisches Kontaktekzem –
Prävalenz – Ost- und Westdeutschland
Prevalence of Allergic Diseases in East and West Germany: Using data of the German National Health Interview and Examination Survey 1998, a remarkable difference in the prevalence
of hay fever between East and West Germany has been observed. Several studies in children and adults have also shown
a considerable East-West divergence in other allergic diseases
and in sensitisation rates. The aim of this investigation was to
examine whether in a representative sample of the adult German population East-West differences in the frequency of
E. Hermann-Kunz
Robert Koch-Institut, Berlin
asthma, atopic dermatitis, food allergy, urticaria, contact dermatitis and „other allergies“ can be found. The calculations
base on data of a physician’s interview in which study participants were asked whether a physician had ever diagnosed one
of the above mentioned diseases. A higher prevalence of all allergic diseases has been observed in West compared to East
Germany and women from both parts of the country have
higher morbidity rates than men. At least one physician-diagnosed allergy was reported by 40% of the study participants,
whereas in East Germany about 30% and in the West 43% suffer from an allergic disease. The prevalence in women is 47%
and in men 33%. Extremely high allergy rates were found
among West German women at the age of 30–39 years (62%).
Although the frequency of allergies decreases with increasing
age, considerably high morbidity rates were ascertained even
in the oldest age groups. The prevalence in participants aged
70–79 years amounts to 25%. Clear differences between East
and West could be demonstrated in this age group, too (West
27% and East 14%).
Key words: Asthma bronchiale – Atopic Dermatitis – Food
Allergy – Urticaria – Contact Dermatitis – East and West Germany
Einleitung
Nach den Ergebnissen mehrerer epidemiologischer Studien
sind die Dispositionsraten für Inhalationsallergien und die
Prävalenz manifester allergischer Erkrankungen bei Kindern
und Erwachsenen in der westdeutschen Bevölkerung deutlich
höher als in Ostdeutschland [Bellach et al. 1995, Heinrich et
al. 1995, Nicolai et al. 1997, von Mutius et al. 1992, von Mutius et al. 1998, Wiesner et al. 1995a–c]. Die Gründe für diesen
Ost-West-Gradienten sind bisher nicht bekannt. Als Einflußgrößen diskutiert werden in der wissenschaftlichen Literatur
verschiedene Umweltfaktoren und Lebensbedingungen (z.B.
geringerer Kraftfahrzeugverkehr, Besuch einer Kinderkrippe,
weniger Ein-Kind-Familien). Ob mit der allmählichen Angleichung der Lebensverhältnisse auch eine Angleichung der Allergie-Häufigkeit einhergeht, wurde anhand der Prävalenzen
unterschiedlicher allergischer oder teilweise allergisch bedingter Krankheiten untersucht. Ausgewertet wurden die Angaben zu Asthma bronchiale, Heuschnupfen, Neurodermitis,
Urtikaria, allergischem Kontaktekzem, Nahrungsmittelallergien sowie zu dem Sammelbegriff „sonstige Allergien“.
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S100–S105
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Beitrag: 369.fm
Ausdruck vom 25.5.00
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S101
Häufigkeit allergischer Krankheiten in Ost- und Westdeutschland
Der Heuschnupfen gehört zu den klassischen ImmunglobulinE-(IgE)-vermittelten Typ-I-Sofortreaktionen [Haynes et al.
1989]. Hervorgerufen wird diese allergische Reaktion in der
Regel durch eine Exposition mit Inhalationsallergenen wie
Baum-, Gräser- und Kräuterpollen, Tierepithelien, Schimmelpilzen oder Ausscheidungen von Hausstaubmilben. Beim
Asthma bronchiale handelt es sich, ätiologisch betrachtet, um
eine heterogene Erkrankung. Allen Krankheitsformen liegt
eine unspezifische erhöhte Reizbarkeit des Tracheobronchialbaumes zugrunde, die anfallsweise auftretenden Bronchospasmen können jedoch durch eine Vielzahl von Stimuli ausgelöst werden. Neben dem allergisch bedingten Asthma sind
beispielsweise durch pharmakologische, infektiöse, anstrengungsinduzierte und emotionelle Einflüsse verursachte Anfälle von Atemwegsobstruktionen bekannt [McFadden 1989].
Eine klare Einteilung in die verschiedenen Asthmaformen ist
in der Praxis oft nicht möglich, da die Bronchialreaktion bei
vielen Patienten durch mehr als eine Gruppe von Reizen ausgelöst werden kann. Die atopische Dermatitis ist eine Entzündung der Epidermis und Dermis, die immer mit einem starken
Juckreiz einhergeht. Der Juckreiz kann u.a. durch Wolle,
Staub, Waschmittel, Seifen, Änderungen der Zimmertemperatur und körperlichen oder seelischen Streß ausgelöst werden
[Fitzpatrick et al. 1993]. Die Rolle des Immunglobulins E bei
der Entstehung einer atopischen Dermatitis ist bisher nicht
eindeutig geklärt, nur bei einem Teil der Patienten ist eine zugrundeliegende Allergie nachweisbar. Die Urtikaria oder Nesselsucht besteht aus flüchtigen, meist stark juckenden papulösen Quaddeln, die durch unterschiedliche Faktoren hervorgerufen werden können. Bekannt sind IgE-vermittelte
Formen sowie Manifestationen, die z.B. durch physikalische
Reize wie Kälte, Wärme, Sonnenlicht oder Druck ausgelöst
werden. In vielen Fällen ist es jedoch nicht möglich, die Ursache der Urtikaria zu klären. Beim Kontaktekzem, auch Kontaktdermatitis genannt, liegt eine exogene Entzündung der
Haut vor, die mit Jucken und Brennen einhergeht. Dem klinischen Syndrom liegen unterschiedliche Auslösemechanismen
zugrunde. Es kann sich beispielsweise um eine toxisch-irritative Kontaktdermatitis oder eine allergische Reaktion handeln. Das allergische Kontaktekzem ist eine durch Sensibilisierung auf z.B. chemische Stoffe hervorgerufene Abwehrreaktion der Haut. Pathophysiologisch betrachtet, handelt es
sich um ein klassisches Beispiel einer Typ-IV-Reaktion, einer
Überempfindlichkeitsreaktion vom verzögerten Typ [Fitzpatrick et al. 1993]. Mit dem Begriff Nahrungsmittelallergien
werden in der Bevölkerung häufig sehr unterschiedliche Beschwerdebilder bezeichnet, die vermeintlich oder tatsächlich
mit dem Verzehr von Lebensmitteln im Zusammenhang stehen. In vielen Fällen stellen diese Beschwerden jedoch keine
Allergie im eigentlichen Sinn dar, da es sich nicht um immunologische Reaktionen handelt. So fallen, medizinisch betrachtet, Unverträglichkeiten (z.B. Fett), Intoleranzen (z.B.
Laktosemangel), Intoxikationen (z.B. Pilzgifte, Staphylokokkus-Toxine), pseudoallergische Reaktionen (z.B. Nahrungsmitteladditiva) oder pharmakologische Nahrungsmittelreaktionen (z.B. Koffein, Histamin) nicht unter die Bezeichnung
einer Nahrungsmittelallergie [Helbing 1994]. Bei den immunologisch bedingten Reaktionen handelt es sich in der Regel
um IgE-vermittelte Typ-I-Reaktionen. Andere immunologische Auslösemechanismen, z.B. Reaktionen vom Typ III,
welche mit Immunkomplexen aus präzipitierenden IgG-Antikörpern und Antigenen einhergehen, oder zelluläre Immunantworten vom Typ IV gelten als noch nicht eindeutig bewie-
sen [Wüthrich 1995]. Das klinische Erscheinungsbild einer
Nahrungsmittelallergie ist vielfältig, es reicht von urtikariellen Reaktionen, morbilliformen Erythemen, NeurodermitisSchüben bis zu respiratorischen, gastrointestinalen oder
kardialen Symptomen. Sehr häufig leiden die Patienten auch
unter dem sogenannten „oral allergy syndrome“ [Helbing
1994, Pearl 1997], bei dem es sich um ein oropharyngeales
Beschwerdebild mit lokalem Juckreiz, Paraesthesien und/oder
Schwellungen von den Lippen bis zum Larynx handelt.
Material und Methode
Im Bundes-Gesundheitssurvey 1998 wurde die Morbidität
mit Hilfe eines Selbstausfüllfragebogens und zusätzlich durch
ein ärztliches Interview erfaßt [Bellach et al. 1998]. Die nachfolgend dargestellten Datenanalysen basieren auf den Ergebnissen der ärztlichen Befragung. Erhoben wurde hierbei u.a.,
ob ein Arzt jemals Asthma bronchiale, Heuschnupfen, allergisches Kontaktekzem, Neurodermitis, Nahrungsmittelallergie, allergische Hautquaddeln (Urtikaria) oder sonstige Allergien festgestellt hat. An den ärztlichen Interviews nahmen
insgesamt 7099 Probanden im Alter von 18 bis 79 Jahren teil.
Bei den Auswertungen wurde die Einteilung in West- und
Ostdeutschland berücktsichtigt sowie die Gliederungsmerkmale Geschlecht, Alter und soziale Schichtzugehörigkeit. In
die multivariaten Analysen wurde zusätzlich die Wohnortgröße als potentieller Einflußfaktor aufgenommen. Basierend
auf der Einwohnerzahl, sind drei Kategorien der Wohnortgröße gebildet worden: 1=weniger als 20 000 Einwohner,
2=20 000 bis unter 100 000 und 3=100 000 oder mehr Einwohner. Um weitgehend repräsentative Ergebnisse für die erwachsene Wohnbevölkerung zu erhalten, wurde bei allen
Prävalenzberechnungen ein Gewichtungsfaktor verwendet.
Durch diesen Gewichtungsfaktor wird die realisierte Nettostichprobe an die entsprechende Sollverteilung bezüglich Alter, Geschlecht, Bundesland und Gemeindegrößenklasse angepaßt [Thefeld et al. 1999]. Die Datenanalysen wurden mit
der Statistik-Software SAS Version 6.12 durchgeführt.
Ergebnisse
Prävalenz von Heuschnupfen, Asthma bronchiale,
Neurodermitis, Urtikaria, Lebensmittelallergie, allergischem
Kontaktekzem und sonstigen Allergien nach Region und
Geschlecht
Nach den Auswertungen des Bundes-Gesundheitssurveys gehört Heuschnupfen erwartungsgemäß zu den häufigsten allergischen Erkrankungen des Erwachsenenalters. Die Prävalenz
beträgt insgesamt 15%. Abgesehen von dem Sammelbegriff
„sonstige Allergien“ weist der Heuschnupfen mit ca. 6 Prozentpunkten die größte Ost-West-Differenz auf, in Westdeutschland liegt die Häufigkeit bei rund 17% und in Ostdeutschland bei 11% (Tab. 1). Männer in beiden Teilen des
Landes erkranken etwas seltener an Heuschnupfen als
Frauen. Die Frage, ob ein Arzt jemals Asthma bronchiale festgestellt hat, wurde von knapp 6% aller interviewten Personen
positiv beantwortet. Eine statistisch signifikante Differenz
zwischen West- und Ostdeutschland wurde hier ebenfalls berechnet, der Unterschied beträgt jedoch nur 2 Prozentpunkte
(West 6% – Ost 4%). Frauen nannten Asthma etwas häufiger
als Männer. Die Prävalenz beträgt bei Männern 5% und bei
Beitrag: 369.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S102 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
E. Hermann-Kunz
Tab. 1 Prävalenz allergischer Erkrankungen in Ost- und Westdeutschland (in Prozent)
Deutschland
gesamt West
Ost
Heuschnupfen
15,4
16,6
10,7
***
14,4
16,3
*
15,5
10,1
***
17,5
11,3
***
allerg. Kontaktekzem
14,8
15,7
11,4
***
7,9
21,4
***
8,6
5,2
**
22,4
17,2
**
Urtikaria
7,8
8,4
5,2
***
4,8
10,6
***
5,3
2,7
**
11,4
7,5
**
Nahrungsmittelallergie
5,6
6,3
3,3
***
3,6
7,6
***
4,0
2,1
*
8,4
4,4
***
Asthma
5,6
6,1
3,7
***
5,0
6,2
*
5,4
3,5
*
6,8
3,9
**
Neurodermitis
3,4
3,6
2,6
ns
2,7
4,2
***
2,5
3,2
ns
4,7
2,1
**
15,1
16,6
8,9
***
11,9
18,1
***
13,3
6,3
***
19,7
11,4
***
sonstige Allergien
gesamt
Männer Frauen
Männer
West Ost
Frauen
West Ost
***=p≤ 0,001; **=p≤0,01; *=p≤0,05; ns=p>0,05 (Chi²-Test)
Frauen 6%. An Neurodermitis leiden ca. 3% der Befragten.
Frauen haben eine etwas höhere Morbidität als Männer. Signifikante Ost-West-Unterschiede sind nur bei den weiblichen Studienteilnehmern nachzuweisen. Probandinnen aus
dem Westen haben eine Prävalenz von ca. 5% und Teilnehmerinnen aus dem Osten von 2%. Eine Urtikaria manifestiert sich
bei rund 8% der erwachsenen Bundesbürger. Deutliche Unterschiede zwischen West und Ost (8% vs. 5%) und zwischen
Frauen und Männern (Frauen 11% – Männer 5%) lassen sich
auch hier aufzeigen. Fast 6% der Studienteilnehmer berichteten, daß ein Arzt bei ihnen schon jemals eine Nahrungsmittelallergie diagnostiziert hat. Wie bei den anderen Allergieformen ist die Prävalenz im Westen höher als im Osten, und
Frauen aus beiden Teilen des Landes sind häufiger betroffen
als Männer (Westdeutschland: Frauen ca. 8% – Männer 4%;
Ostdeutschland: Frauen ca. 4% – Männer 2%). Allergische Kontaktekzeme und sonstige Allergien wurden insgesamt mit einer
Häufigkeit genannt, die den Erkrankungszahlen bei Heuschnupfen entspricht (ca. 15%). Im Westen gaben rund 16%
und im Osten 11% der Bevölkerung ein ärztlich diagnostiziertes allergisches Kontaktekzem an. Die Erkrankungsrate ist bei
Frauen fast dreimal so hoch wie bei Männern (Männer ca. 8%,
Frauen 21%). Statistisch signifikante Ost-West-Unterschiede
sind auch bei den „sonstigen Allergien“ festzustellen. Westdeutsche haben, verglichen mit ostdeutschen Studienteilnehmern, die „sonstigen Allergien“ fast doppelt so häufig angegeben (West: 17%, Ost: 9%). Die Prävalenz dieser Kategorie ist
bei Frauen ebenfalls höher als bei Männern (18 vs. 12%).
Prävalenz von mindestens einer allergischen Krankheit nach
Region, Geschlecht und Alter
Die Zusammenfassung und gemeinsame Auswertung aller erfragten Allergien ergibt eine Lebenszeitprävalenz von 40%,
d.h., bei jedem 2. bis 3. Bundesbürger hat ein Arzt schon jemals eine allergische Krankheit diagnostiziert (Abb. 1). Auch
60%
55%
50%
45%
40%
35%
30%
25%
20%
15%
10%
5%
0%
Deutschland
Gesamt West
40,1%
Ost
47,3% 50,2%
42,8%
29,4%
32,5%
35,8%
35%
22,7%
Männer und Frauen
Männer
Frauen
Abb. 1 Prävalenz mindestens einer allergischen Krankheit.
die Prävalenz von zwei oder mehr Allergien ist mit 17% noch
erstaunlich hoch.
Wie nach den Auswertungsergebnissen der einzelnen allergisch bedingten Krankheiten zu erwarten war, ist die Prävalenz mindestens einer Allergie in Ostdeutschland niedriger als
in Westdeutschland. Im Westen haben 43% und im Osten 29%
der Probanden eine ärztlich bestätigte Allergie angegeben.
Ebenfalls übereinstimmend mit den Auswertungsergebnissen
der einzelnen Allergieformen zeigt eine nach Geschlecht differenzierte Betrachtung, daß die Morbiditätsrate bei Frauen
deutlich höher ist als bei Männern. Insgesamt hatten 47% der
weiblichen und rund 33% der männlichen Studienteilnehmer
schon jemals eine allergische Erkrankung (Abb. 1). Die OstWest-Differenz beträgt bei Frauen 14 und bei Männern 12
Prozentpunkte.
Die höchste Prävalenz ist bei 20- bis 29- und 30- bis
39jährigen zu verzeichnen (Tab. 2). Auffallend häufig sind 30
bis 39 Jahre alte westdeutsche Frauen betroffen. Die Lebens-
Tab. 2 Prävalenz mindestens einer Allergie nach Alter und Geschlecht (in Prozent)
Alter in
Jahren
Deutschland
gesamt
West
Ost
Männer
gesamt
West
Ost
Frauen
gesamt
West
Ost
18–19
20–29
30–39
40–49
50–59
60–69
70–79
43,9
48,1
47,7
40,0
38,4
32,7
24,6
45,1
50,9
50,9
43,2
40,9
34,7
26,9
40,7
37,0
34,1
27,8
28,4
24,9
14,2
38,3
43,0
37,8
30,2
27,1
27,0
20,3
38,8
46,6
40,6
33,7
28,9
28,6
21,4
37,1
29,3
26,3
17,1
19,8
20,4
15,0
49,9
53,5
57,9
50,0
49,4
37,9
27,0
51,7
55,3
61,7
52,9
52,7
40,3
30,0
44,7
45,7
42,3
38,8
36,6
28,8
13,8
Beitrag: 369.fm
Ausdruck vom 25.5.00
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S103
Häufigkeit allergischer Krankheiten in Ost- und Westdeutschland
Tab. 3 Alter bei der Erstmanifestation allergischer Erkrankungen
Heuschnupfen
allerg. Kontaktekzem
Urtikaria
Nahrungsmittelallergie
Asthma
Neurodermitis
Männer West
Männer Ost
Mittelwert
90.
Median Perz.
Mittelwert
23
32
30
27
19
31
29
24
42
53
51
48
28
22
28
18
56
48
Frauen West
Median
90.
Perz.
Mittelwert
22
30
35
23
17
25
35
21
48
60
60
45
27
20
22
15
57
42
Frauen Ost
Median
90.
Perz.
Mittelwert
Median
90.
Perz.
27
28
31
30
25
24
29
28
50
52
56
54
27
29
32
30
26
27
30
30
42
53
52
54
28
21
27
19
55
44
32
12
30
10
55
33
zeitprävalenz beträgt in dieser Gruppe 62%. Mit zunehmendem Alter sinkt in beiden Teilen des Landes die Krankheitshäufigkeit. Die niedrigsten Erkrankungsraten sind bei weiblichen und männlichen Probanden im Alter von 70 bis 79
Jahren zu finden. Das Morbiditätsniveau ist jedoch auch in
dieser Altersgruppe noch bemerkenswert hoch, es liegt im
Westen bei 21 und 30%, im Osten bei 15 und 14% (Männer –
Frauen).
bei Nahrungsmittelallergien und bei der Urtikaria mit steigendem sozialen Status auch höhere Erkrankungszahlen festgestellt. Die Prävalenz der „sonstigen Allergien“ steigt nur bei
westdeutschen Studienteilnehmern mit der sozialen Schichtzugehörigkeit deutlich an. In Ostdeutschland sind die Krankheitszahlen zwar bei Angehörigen der unteren sozialen
Schicht am niedrigsten, zwischen der Mittel- und Oberschicht
ist dagegen kein Unterschied nachweisbar.
Erstmalig aufgetreten sind die erfragten allergischen Krankheiten bei 50% aller Betroffenen bis zum 30. Lebensjahr
(Tab. 3). Nur die Neurodermitis und bei Männern auch der
Heuschnupfen weisen einen Medianwert unter 20 Jahren bei
der Erstmanifestation auf.
Aus früheren Untersuchungen ist bekannt, daß Personen aus
der unteren sozialen Schicht eher in ländlichen Regionen
wohnen, die Oberschicht dagegen in Großstädten häufiger
vertreten ist [Thefeld et al. 1996]. Auch die Daten des BundesGesundheitssurveys 1998 lassen einen Zusammenhang zwischen Wohnortgröße und sozialer Schichtzugehörigkeit vermuten. In Ostdeutschland leben 59% aller Studienteilnehmer
aus der unteren sozialen Schicht in Gemeinden/Städten mit
weniger als 20 000 Einwohnern, in Großstädten mit mindestens 100 000 Einwohnern sind es nur 25%. In Westdeutschland ist der Unterschied zwar etwas geringer, aber dennoch
sehr deutlich: In eher ländlichen Regionen leben 41% und in
Großstädten 29% der Probanden aus der unteren sozialen
Schicht. Aufgrund der Zusammenhänge zwischen Wohnortgröße und sozialem Status kann nicht ausgeschlossen werden, daß Prävalenzunterschiede, die mit der sozialen Schichtzugehörigkeit einhergehen, möglicherweise auch durch Faktoren, die mit der Gemeindegröße zusammenhängen,
verursacht werden. In einem multiplen logistischen Regressionsmodell wurde deshalb der Einfluß beider Variablen bei
gleichzeitiger Adjustierung auf Alter, Geschlecht und Region
(Ost- und Westdeutschland) untersucht.
Prävalenz nach sozialer Schichtzugehörigkeit
Aus der Literatur ist bei verschiedenen Krankheiten des allergischen Formenkreises bekannt, daß die Prävalenz mit zunehmendem sozialen Status ansteigt. Die Auswertungen des Bundes-Gesundheitssurveys ergeben je nach Allergieform ein unterschiedliches Bild. Bei allergischer Rhinokonjunktivitis ist
nach den deskriptiven Datenanalysen ein deutlicher Zusammenhang zwischen sozialer Schichtzugehörigkeit und Krankheitshäufigkeit anzunehmen. Mit zunehmendem sozioökonomischen Status steigt die Morbidität von 11% in der Unterschicht auf 16 und 19% in der mittleren und oberen Schicht.
Wie Tab. 4 zeigt, läßt sich bei Asthma bronchiale keine entsprechende Tendenz aufzeigen. Auch bei der Neurodermitis
und dem allergischen Kontaktekzem ist ein klarer Gradient
zwischen den sozialen Schichten nicht zu erkennen. Westdeutsche Probanden aus der unteren sozialen Schicht haben
zwar bei beiden Krankheiten eine niedrigere Prävalenz als
Teilnehmer mit einem höheren sozialen Status, zwischen der
mittleren und oberen Schicht ist jedoch kein Unterschied erkennbar. In Ostdeutschland ist bei Neurodermitis und beim
allergischen Kontaktekzem die Prävalenz in der mittleren sozialen Schicht am höchsten. Im Westen und im Osten werden
Tab. 5 zeigt, daß das Erkrankungsrisiko bei allen erfragten Allergieformen mit Ausnahme von Asthma bronchiale mit zunehmendem sozialen Status ansteigt (die Kodierung der Variablen „soziale Schichtzugehörigkeit“ lautet: 1=Unterschicht,
2=Mittelschicht, 3=Oberschicht). Die Risikoerhöhung ist
beim Kontaktekzem mit 13% am niedrigsten, bei den anderen
Tab. 4 Prävalenz allergischer Krankheiten nach sozialer Schichtzugehörigkeit (in Prozent)
Heuschnupfen
Asthma bronchiale
Neurodermitis
allerg. Kontaktekzem
Nahrungsmittelallergie
Urtikaria
sonst. Allergien
Deutschland gesamt
untere mittlere
obere
Westdeutschland
untere
mittlere
obere
Ostdeutschland
untere
mittlere
obere
11,1
6,0
2,3
13,2
4,4
4,8
12,3
12,2
6,2
2,4
14,0
4,8
5,3
14,3
20,8
6,9
4,1
15,6
8,6
10,0
19,1
7,3
5,0
1,7
10,6
2,9
3,1
5,1
12,3
3,0
1,0
10,8
3,5
7,3
10,5
16,2
5,5
4,0
16,0
5,5
8,6
15,9
19,3
6,2
3,5
14,8
7,7
9,6
17,6
17,2
6,0
4,1
17,0
6,1
9,3
17,4
Beitrag: 369.fm
Ausdruck vom 25.5.00
12,2
3,5
3,6
12,1
3,2
5,6
10,4
S104 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
E. Hermann-Kunz
Tab. 5 Einfluß der sozialen Schichtzugehörigkeit und der Wohnortgröße auf das Risiko einer allergischen Erkrankung*
Heuschnupfen
Asthma bronchiale
Neurodermitis
allerg. Kontaktekzem
Nahrungsmittelallergie
Urtikaria
sonst. Allergien
Soziale Schicht
Odds Ratio
95%-Konfidenzintervall
Wohnortgröße
Odds Ratio
95%-Konfidenzintervall
1,37
0,97
1,29
1,13
1,33
1,44
1,26
1,24–1,52
0,83–1,14
1,05–1,58
1,02–1,26
1,13–1,57
1,26–1,66
1,14–1,40
1,14
1,09
1,07
1,11
1,25
1,19
1,17
1,05–1,24
0,96–1,23
0,91–1,25
1,02–1,20
1,10–1,42
1,07–1,34
1,08–1,27
* Multiple logistische Regression, adjustiert auf Alter, Geschlecht und Region (Ost-/Westdeutschland)
Allergien wurden relative Risiken (approximiert durch die
Odds Ratios) von 1,26 bis 1,44 berechnet. Auch der vermutete
Einfluß der Wohnortgröße konnte – außer bei Asthma bronchiale und Neurodermitis – bestätigt werden. Die relativen
Risiken, die für die Wohnortgröße berechnet wurden, sind im
Vergleich zu den Risiken, die mit der sozialen Schicht zusammenhängen, jedoch geringer.
Diskussion
Alle in der ärztlichen Befragung erfaßten Krankheiten des allergischen Formenkreises treten in Westdeutschland häufiger
auf als in Ostdeutschland, und die Erkrankungsrate ist bei
Frauen aus beiden Teilen des Landes signifikant höher als bei
Männern. Jede zweite westdeutsche und jede dritte ostdeutsche Frau hat eine ärztlich bestätigte Allergie angegeben.
Männer sind zwar im Vergleich zu Frauen deutlich seltener
betroffen, das Morbiditätsniveau ist aber dennoch mit 35 und
23% (West – Ost) extrem hoch. Ob sich eine allmähliche Angleichung der Prävalenz zwischen Ost- und Westdeutschland
abzeichnet, kann auf der Basis dieser Querschnittszahlen
nicht beantwortet werden. Die große Differenz zwischen Ost
und West bei den meisten allergischen Krankheiten scheint
dagegen zu sprechen. Eine altersdifferenzierte Betrachtung
der Erkrankungsraten zeigt allerdings bei den weiblichen Studienteilnehmern bis zum 30. Lebensjahr wesentlich geringere
Ost-West-Unterschiede als bei älteren Probandinnen. So beträgt die Ost-West-Differenz z.B. bei 20- bis 29jährigen knapp
10 dagegen bei 30- bis 39jährigen 19 Prozentpunkte. Ob dieses altersspezifische Prävalenzmuster ein Indiz für eine Angleichung darstellt, kann erst durch Folgeuntersuchungen valide beurteilt werden, insbesondere da sich bei männlichen
Studienteilnehmern eine eher umgekehrte Altersverteilung
ergibt. Die Ost-West-Differenz ist bei jüngeren Männern bis
zum 50. Lebensjahr deutlich größer als bei älteren.
Da die Häufigkeitsangaben auf Befragungen der Studienteilnehmer beruhen, kann nicht ausgeschlossen werden, daß unterschiedliche subjektive Einschätzungen und Bewertungen
einen Einfluß auf das Antwortverhalten hatten. Dabei muß es
sich nicht um „falsche“ Antworten handeln, sondern eine
stärkere Beachtung von möglicherweise allergischen Beschwerden kann zu einer höheren ärztlichen Inanspruchnahme führen und damit die Wahrscheinlichkeit einer entsprechenden Diagnosestellung erhöhen. Ein Teil der OstWest-Unterschiede und ebenso der Unterschiede zwischen
Frauen und Männern könnte somit darauf zurückzuführen
sein, daß in den Gruppen mit höheren Erkrankungsraten ein
größeres „Allergiebewusstsein“ oder eine stärkere Beachtung
allergischer Beschwerden vorherrscht. Ob die berechneten
Morbiditätsraten eine Überschätzung der wahren Prävalenz –
hervorgerufen durch das Antwortverhalten „allergiebewußter“ Probanden – oder eine Unterschätzung – z.B. verursacht
durch das Ignorieren allergischer Symptome bei weniger „allergiebewußten“ Studienteilnehmern – darstellt, kann auf der
Grundlage der beschriebenen Daten nicht beantwortet werden. Eine Objektivierung der Befragungsdaten läßt sich bei einigen Allergieformen durch die Auswertung der Immunglobulin-E-Werte erreichen, was für die nächsten Phasen der Datenanalysen geplant ist. Aber selbst bei Heranziehen der
niedrigsten Prävalenzzahlen, beispielsweise der Morbiditätsraten bei Männern (Tab. 2), ist es gerechtfertigt, Allergien zu
den „Volkskrankheiten“ zu zählen, denen in beiden Teilen
Deutschlands eine große gesundheitspolitische Bedeutung
zukommt.
Literatur
1
Bellach BM, Thefeld W, Dortschy R (1995). Disposition für Inhalationsallergien. In: Die Gesundheit der Deutschen. RKI-Heft 7:
78–87
2 Bellach BM, Knopf H, Thefeld W (1998). Der Bundes-Gesundheitssurvey 1997/98. Gesundheitswesen 60; Sonderheft 2: 59–
68
3 Fitzpatrick TB, Johnson RA, Polano KM, Suurmond D, Wolff K
(1993) Synopsis und Atlas der klinischen Dermatologie. Nürnberg: McGraw-Hill Medizin 16–22
4 Haynes BF, Fauci AS (1989). Einführung in die klassische Immunologie. In: Harrison, Prinzipien der Inneren Medizin. Bd. 1. Basel: Schwabe & Co 392–402
5 Heinrich J, Nowak D, Beck E et al. (1995). Die Verbreitung von
Asthma und Atemwegssymptomen bei Erwachsenen in Erfurt
und Hamburg; Erste Ergebnisse der deutschen Zentren des EC
Respiratory Health Survey. Informatik, Biometrie und Epidemiologie in Medizin und Biologie 26: 297–307
6 Helbling A (1994). Nahrungsmittelallergie. Therapeutische Umschau 51: 31–7
7 McFadden ER (1989). Asthma. In: Harrison, Prinzipien der Inneren Medizin. Bd. 1. Basel: Schwabe & Co 1254–60
8 Nicolai T, Bellach BM, von Mutius E, Thefeld W, Hoffmeister H
(1997). Increased prevalence of sensitization against aeroallergens in adults in West compared with East Germany. Clinical
and Experimental Allergy 27: 886–92
9 Pearl ER (1997). Food Allergy. Lippincott's Primary Care Practice
1: 154–67
10 Thefeld W, Stolzenberg H, Bellach BM (1999). Bundes-Gesundheitssurvey: Response, Zusammensetzung der Teilnehmer und
Non-Responder-Analyse. Gesundheitswesen 61; Sonderheft 2:
S57–S61
Beitrag: 369.fm
Ausdruck vom 25.5.00
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S105
Häufigkeit allergischer Krankheiten in Ost- und Westdeutschland
11
Thefeld W, Bergmann K, Hermann-Kunz E et al. (1996). Wohnortgröße und Gesundheit: Stadt-/Landunterschiede. In: B-M Bellach [Hrsg.]. Die Gesundheit der Deutschen. Bd. 2. RKI-Heft 15:
1–15
12 Von Mutius E, Weiland SK, Fritzsch C, Duhme H, Keil U (1998).
Increasing prevalence of hay fever and atopy among children in
Leipzig, East Germany. Lancet 351: 862–866
13 Von Mutius E, Fritzsch C, Weiland SK, Röll G, Magnussen H
(1992). Prevalence of asthma and allergic disorders among
children in united Germany: a descriptive comparison. BMJ 305:
1395–1399
14 Wiesner G, Todzy-Wolf (1995a). Allergische Krankheiten. In: Die
Gesundheit der Deutschen. RKI-Heft 7: 88–100
15 Wiesner G, Todzy-Wolf (1995b). Asthma bronchiale. In: Die Gesundheit der Deutschen. RKI-Heft 7: 57–70
16 Wiesner G, Todzy-Wolf (1995c). Heuschnupfen. In: Die Gesundheit der Deutschen. RKI-Heft 7: 71–77
17 Wüthrich B (1995). Zur Nahrungsmittelallergie. Hautarzt 46:
73–75
Edelgard Hermann-Kunz
Robert Koch-Institut
Postfach 650280
D-13302 Berlin
Beitrag: 369.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S106 MORBIDITÄT
und Erkrankungen bei
›› Impfstatus
Fernreisenden
D. Altmann, T. Breuer, G. Rasch
Robert Koch-Institut, Berlin
Zusammenfassung: Jährlich begeben sich mehrere Millionen
Bundesbürger auf Reisen ins außereuropäische Ausland. Wie
sich die Bundesbürger unter reisemedizinischen Gesichtspunkten auf solche Fernreisen vorbereiten bzw. auf solchen
Reisen erkranken, ist wenig erforscht. Von den im Bundes-Gesundheitssurvey befragten Personen unternahmen innerhalb
der letzten drei Jahre 11% Fernreisen nach Afrika, Asien, Südoder Mittelamerika. Der Anteil der Fernreisenden bei den 20bis 59jährigen war höher als in den anderen Altersklassen,
Männer reisten häufiger als Frauen. Die Fernreisenden besaßen einen besseren Impfschutz gegen Tetanus und Poliomyelitis als Personen, die keine Fernreisen unternommen hatten.
Bei Reisen in Endemiegebiete für Malaria bzw. Gelbfieber waren ca. 30% der Fernreisenden durch Prophylaxe bzw. Impfung geschützt. Allgemeine gesundheitliche Probleme im Zusammenhang mit einer Fernreise wurden von 28% der Befragten angegeben, wobei es sich zum ganz überwiegenden Anteil
um leichte Diarrhöen handelte.
Problemstellung
Schlüsselwörter: Fernreisen – Impfschutz – Prophylaxe
Die Fragen sind angelehnt an eine 1996 vom Robert-Koch-Institut in Zusammenarbeit mit mehreren Fluggesellschaften
durchgeführten Befragung von Fernreisenden [Tiemann,
Grote, Grote 1998].
Vaccination Status and Diseases in Overseas Travellers: Millions of German citizens travel outside Europe every year. How
they prepare themselves for these travels from a medical
viewpoint, or whether they fall ill during these travels is inadequately researched. The German National Health Interview
and Examination Survey showed that 11% of the people questioned travelled to Africa, Asia, South or Central America
within the last three years. The highest proportion of these
travellers was in the 20–59 year age group. Men travelled
more frequently than women. The travellers also had better
vaccination coverage against tetanus and polio compared to
those who had not travelled. 30% of the travellers to endemic
areas for malaria had received malaria prophylaxis and 30%
who travelled to endemic areas for yellow fever were protected by vaccination. 28% of those questioned said they experienced general health problems related to their travel,
mostly due to mild diarrhea.
Key words: Travel Associated Diseases – Vaccination Coverage – Prophylaxis
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S106–S109
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Fernreisen in Länder mit endemisch auftretenden Infektionskrankheiten sind mit einem nicht zu verachtenden Gesundheitsrisiko behaftet. Bei kontinuierlichem Anstieg in den letzten Jahren ist derzeit für die Bundesrepublik jährlich von über
4 Millionen interkontinentalen Reisen (ohne Nordamerika)
auszugehen. Erstmalig sind bei der Untersuchung einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe in Deutschland auch Fragen zu Fernreisen gestellt worden. Die Fragen deckten drei
Fragenkomplexe ab: demographische und reisetypische Hintergrundinformationen, den Impfstatus vor Antritt der Reise
für ausgewählte Erkrankungen und Informationen zur durchgeführten Malariaprophylaxe sowie Fragen zu gesundheitlichen Problemen und Erkrankungen im Zusammenhang mit
einem Auslandsaufenthalt.
Material und Methoden
Als „Fernreisende“ werden im folgenden Personen bezeichnet, die innerhalb der letzten drei Jahre mindestens eine Reise
nach Asien (ohne Türkei), Afrika, Süd- oder Mittelamerika unternommen haben. Von der Gesamtstichprobe des BundesGesundheitssurveys (n=7124) waren das 750 Personen. Im
weiteren werden Prozentangaben nach durchgeführter
Gewichtung [Thefeld, Stolzenberg, Bellach 1999] angegeben.
Bei den von Reisenden ergriffenen Vorsorgemaßnahmen
wurde der Impfschutz gegen bestimmte Erkrankungen sowie
die Malaria-Prophylaxe näher untersucht. Die WHO und die
Ständige Impfkommission (STIKO) am RKI empfehlen für fast
alle angegebenen Reiseländer aus diesen Regionen generell
die Impfung gegen Tetanus, Diphtherie und Hepatitis A sowie
Poliomyelitis für Asien und Afrika. Da es sich außer für
Hepatitis A um allgemein empfohlene Grundimpfungen in
Deutschland handelt, wurden diese Angaben zum Impfstatus
für alle Fernreisenden untersucht. Bei Gelbfieber und Malaria
ist die Situation anders, hier ist es nur sinnvoll, für bestimmte
Gebiete Vorsorgemaßnahmen zu treffen. Gelbfieber-Impfung
und Malaria-Prophylaxe werden nur für einige Länder, oft nur
für einige Landesteile und zu speziellen Jahreszeiten, empfohlen. Deshalb wurden hier in die Analyse auch nur Probanden
einbezogen, die als Reiseziel ein Land angegeben haben, in
dem Gelbfieber endemisch auftritt bzw. Probanden die Län-
Beitrag: 353.fm
Ausdruck vom 25.5.00
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S107
Impfstatus und Erkrankungen bei Fernreisenden
der bereist haben, für die von der WHO (International travel
and health, 1995) eine Chemoprophylaxe empfohlen wird.
Im Bundes-Gesundheitssurvey wurden Informationen zu
Impfungen an zwei Stellen erfragt, zum einen in einem speziellen Teil, der nur von den Fernreisenden auszufüllen war,
zum anderen sind im Erhebungsbogen für die ärztliche Befragung alle Probanden zu Impfungen in den letzten 10 Jahren
befragt worden. Für die Analyse wurden die beiden Informationen zur Impfung (Tetanus, Polio, Gelbfieber) zusammengefaßt. Personen mit sich widersprechenden Angaben wurden
in der Analyse ausgeschlossen (Tetanus: 22%, Polio: 20%,
Gelbfieber: 8%). Für die Einschätzung des Impfschutzes gegen
Hepatitis A konnte nur die Beantwortung im Fernreisebogen
benutzt werden, da im ärztlichen Befragungsbogen nicht zwischen Hepatitis A und B unterschieden wurde.
bzw. Süd- und Mittelamerika reisten, ist im Westen höher als
im Osten, während der Anteil der Personen, die nach Afrika
reisten, im Osten wesentlich höher ist als im Westen (Tab. 1).
Der große Unterschied bei den Afrikareisen ist aber vor allem
durch die hohe Reisefrequenz der Ostdeutschen in das Reiseland Tunesien erklärt. 55% der Afrikareisenden aus Ostdeutschland besuchten Tunesien, während der Anteil aus den
alten Bundesländern nur 28% betrug.
Für den Vergleich zweier relativer Häufigkeiten wurde die
Testgröße Z [Sachs 1992, S. 440 ff.] mit den gewichteten Anteilswerten und den ungewichteten Fallzahlen verwendet.
Ergebnisse
Insgesamt führten 11% der Befragten eine Fernreise im Sinne
der oben aufgeführten Definition durch. Bezüglich der Altersund Geschlechtsverteilung unterschieden sich die Fernreisenden von den Nichtreisenden. Männer reisten häufiger als
Frauen; während bei den Männern der Anteil der Fernreisenden 12% betrug, lag dieser Anteil bei den Frauen bei 9%. In der
Abb. 1 sind die Anteile der Fernreisenden in den einzelnen Altersklassen dargestellt, am höchsten sind diese Anteile bei
Personen im Alter zwischen 20 und 59 Jahren. Unterschiede
zwischen Ost und West konnten hier nicht festgestellt werden.
Abb. 2 Reiseziele der Fernreisenden.
Tab. 1 Reiseziele im West/Ost-Vergleich (Angaben in %)
Gesamt
West
Ost
Afrika
Süd- und Mittelamerika
Asien
36,3
30,6
63,2
31,9
33,8
22,8
31,9
35,6
14,0
Bei den Fernreisenden sind Individualreisende (ohne vorherige Buchung der Unterkünfte) wesentlich seltener als Pauschalreisende, die 75% ausmachten. Der Anteil der Pauschalreisenden war bei den nach Afrika Reisenden mit 87% am
höchsten, gefolgt von den Reisenden nach Süd- und Mittelamerika (73%) und nach Asien (63%).
Eine interessante Fragestellung ist die nach den ergriffenen
Vorsorgemaßnahmen, wie ein bestehender Impfschutz und
eine durchgeführte Malaria-Prophylaxe.
Tetanus
Insgesamt waren die Fernreisenden mit einem Impfanteil von
76% aktuell besser gegen Tetanus geschützt als die NichtFernreisenden mit 59% (p<0,001). Den entsprechenden Vergleich nach Altersgruppen zeigt die Abb. 3.
Abb. 1 Anteil der Fernreisenden in der Altersklasse.
Die meisten Fernreisenden waren in den letzten drei Jahren
nur einmal verreist (57%), 21% zweimal, 14% dreimal. Mehr
als viermal waren nur 2% der Fernreisenden unterwegs.
Für die Untersuchungen der Reiseziele wurde das im Fragebogen angegebene Land der letzten Fernreise verwendet. Bei
den Fernreisenden waren die drei Regionen Afrika (36%), Südund Mittelamerika (32%) sowie Asien (32%) als Reiseziele annähernd gleichmäßig verteilt. Die am häufigsten bereisten
Länder dieser Regionen sind in der Abb. 2 hervorgehoben. Bei
den Reisezielen zeigten sich allerdings Unterschiede zwischen West und Ost. Der Anteil der Personen, die nach Asien
Poliomyelitis
Bei Poliomyelitis war dieser Unterschied noch deutlicher ausgeprägt. Die Fernreisenden hatten hier einen aktuellen Impfschutz von 51% gegenüber 27% bei den Nichtreisenden. Der
Vergleich nach Altersklassen ist in Abb. 4 dargestellt.
Für Diphtherie konnte der Vergleich hier nicht angestellt werden, da sich die Aussagen zum Impfschutz der Fernreisenden
im Fernreisebogen und im ärztlichen Befragungsbogen in der
Hälfte der Fälle widersprachen.
Beitrag: 353.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S108 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
100%
D. Altmann, T. Breuer, G. Rasch
Anteil der Geimpften
Fernreisende Nichtreisende
80%
60%
40%
20%
0%
18-19
20-29*
30-39***
40-49
50-59***
Alter in Jahren
60-69***
70-79
Abb. 3 Vergleich zwischen Fernreisenden und Nichtreisenden bezüglich ihrer Angaben zum Impfschutz gegen Tetanus nach Altersgruppen.
Statistische Signifikanz: * p<0,05 ** p<0,01 *** p<0,001.
Reiseassoziierte Erkrankungen
Für die Gruppe der Fernreisenden in oben definiertem Sinne
scheinen schwere reiseassoziierte Erkrankungen keine große
Rolle zu spielen. Auf die Frage: „Hatten Sie im Zusammenhang
mit einem Fernreiseaufenthalt gesundheitliche Probleme?“
antworteten 28% der Befragten mit „ja“. Eine Durchfallerkrankung gaben 21% an, drei Viertel davon waren nur leicht erkrankt. Spezifische Infektionserkrankungen wie Typhus, Paratyphus, Ruhr, Cholera und Geschlechtskrankheiten traten bei
der Stichprobe überhaupt nicht auf, nur ein einziger Malariafall war angegeben.
Diskussion
Nach der hier vorliegenden repräsentativen Untersuchung
haben 11% der Befragten in den letzten drei Jahren mindestens eine Fernreise nach Afrika, Asien, Süd- oder Mittelamerika durchgeführt.
Auffällig war der höhere Anteil an fernreisenden Männern. Ob
dieser Unterschied durch einen höheren Anteil an beruflich
bedingten Reisen zu erklären ist, bleibt dahingestellt, da eine
Differenzierung zwischen beruflich bedingten Reisen und Reisen aus anderen Gründen nicht erfragt wurde.
Die hier vorliegende Untersuchung zeigt zum Teil erhebliche
Unterschiede zwischen Fernreisezielen der Bevölkerung aus
Ost- bzw. Westdeutschland. In künftige Präventionsstrategien
muß dieses Ergebnis mit einbezogen werden.
Abb. 4 Vergleich zwischen Fernreisenden und Nichtreisenden bezüglich ihrer Angaben zum Impfschutz gegen Poliomyelitis nach Altersgruppen.
Hepatitis A
Es gaben 38,5% der Fernreisenden an, einen Impfschutz (aktive und passive Immunisierung nicht differenziert) gegen
Hepatitis A zu besitzen, zwischen den verschiedenen Altersklassen sind keine Unterschiede erkennbar.
Gelbfieber
Der Impfschutz gegen Gelbfieber wurde nur für Probanden
untersucht, die angaben, daß ihr letztes Reiseziel ein Endemiegebiet für Gelbfieber war (10% der Fernreisenden). Nur
31% (95% Konfidenzintervall: [20%, 41%]) dieser Probanden
gaben an, gegen Gelbfieber geimpft zu sein.
Malaria
Da nur Informationen zum Reiseland vorliegen, nicht zu konkreten Landesteilen, die bereist wurden, und die Jahreszeit
der Reise nicht erfragt wurde, konnte nur eine sehr grobe Einteilung des Risikos bzgl. Malaria vorgenommen werden. Länder, für die von der WHO (International travel and health,
1995) eine Chemoprophylaxe empfohlen wurde, haben wir
als Risikogebiete betrachtet. Von den in ein Risikogebiet gereisten Personen haben 33% eine Malaria-Prophylaxe begonnen, 31% haben die Medikamente auch noch nach der Reise
weiter eingenommen.
Im Vergleich zu den Nichtreisenden ist ein deutlich höherer
Anteil der Fernreisenden gegen Tetanus und Poliomyelitis geimpft. Dies zeigt, daß im Erwachsenenalter eine anstehende
Fernreise ein wichtiger Anknüpfungspunkt ist, bestehende
Impflücken auch für die zu Hause erforderlichen Basisimpfungen zu schließen. Im Vergleich zu Tetanus und Poliomyelitis besteht für Hepatitis A ein wesentlich geringerer Schutz
bei Fernreisenden. Diese Impfung gehört allerdings nicht zu
den allgemein empfohlenen Grundimpfungen.
Ein bestehender Impfschutz gegen Gelbfieber bzw. eine Malariaprophylaxe wurde nur von ca. einem Drittel der Fernreisenden in entsprechende Endemiegebiete angegeben. Die geringe Zahl läßt sich u. U. darauf zurückführen, daß bei der
Analyse nur ein landesweites Risiko verwendet werden
konnte. Dennoch kann man daraus schließen, daß insgesamt
ein zu geringer Teil der Reisenden in Endemiegebiete korrekt
gegen Gelbfieber geimpft ist bzw. eine korrekte Malariaprophylaxe durchführt. Hierfür sprechen auch die jährlich über
1000 gemeldeten Malariafälle in Deutschland.
Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Durchführung
einer Fernreise einen positiven Effekt auf die Durchimpfungsrate gegen Tetanus und Polio hat. Eine Malariaprophylaxe
scheint nur von einem kleineren Teil der Fernreisenden in
Endemiegebiete durchgeführt zu werden. Schwere reiseassoziierte Erkrankungen können auf Fernreisen erworben und
auf diese Weise nach Deutschland eingeschleppt werden.
Zahlenmäßig spielen diese Erkrankungen jedoch nur eine
sehr untergeordnete Rolle, während leichte Verläufe reiseassoziierter Diarrhöen ganz im Vordergrund stehen.
Beitrag: 353.fm
Ausdruck vom 25.5.00
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S109
Impfstatus und Erkrankungen bei Fernreisenden
D. Altmann, T. Breuer
Literatur
1
2
3
4
5
6
7
8
Bellach B (1996). Die Gesundheit der Deutschen. RKI-Heft 15/
1996, Robert Koch-Institut Berlin
Hammer K, Rothkopf-Ischebeck M, Meixner M (1997). Aktuelle
Impfstatuserhebung für Tetanus, Diphtherie und Poliomyelitis
bei Erwachsenen. InfFo I/97: 35–37
Impfempfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) am
RKI (1998). Epidemiologisches Bulletin 15/98, Robert Koch-Institut
Nothdurft HD, Wachinger W (1999). Infektionsprophylaxe von
Reisenden vor Fernreisen. Ergebnisse einer Umfrage von Reisenden am Münchener Flughafen. Immunologie & Impfen 1.99: 29–
31
Rothkopf-Ischebeck M (1995). Die Deutschen sind impfwillig:
Repräsentative Bevölkerungsumfrage zum Impfverhalten Erwachsener. InfFo IV/95: 17–19
Sachs L (1992). Angewandte Statistik. 7. Auflage, Springer-Verlag
Thefeld W, Stolzenberg H, Bellach BM. Bundes-Gesundheitssurvey: Response, Zusammensetzung der Teilnehmer, Non-Responder-Analyse. Gesundheitswesen 61 (1999); Sonderheft 2:
S57–S61
Tiemann F, Grote H, Grote S (1998). Impfschutz und Infektionsprophylaxe bei Fernreisenden. Eine schriftliche Befragung von
Fernreisenden auf dem Rückflug aus ausgewählten Reisegebieten. InfFo II/98: 18–23
Robert Koch-Institut
Postfach 650280
D-13302 Berlin
WHO International travel and health (1995). Vaccination
Requirements and Health Advice
Beitrag: 353.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S110 MORBIDITÄT
Prävalenz von Antikörpern
›› Die
gegen Hepatitis-A-, Hepatitis-B- und
Hepatitis-C-Viren in der deutschen
Bevölkerung
Zusammenfassung: Im Rahmen des Bundes-Gesundheitssurveys 1998 wurde eine für die neuen und die alten Bundesländer repräsentative Stichprobe auf die Prävalenz von HepatitisA-, Hepatitis-B- und Hepatitis-C-Infektionen untersucht. Das
Laborprogramm umfaßte die Bestimmung von Anti-HAV,
Anti-HBc, Anti-HBs, HBsAg, Anti-HCV und Hepatitis-C-VirusRNA. Die Prävalenzrate für Anti-HAV betrug 46,5% mit einer
eindeutigen Altersabhängigkeit. Für Hepatitis B wurde in den
alten Bundesländern eine Durchseuchungsrate von 7,7%, in
den neuen Bundesländern von 4,3% ermittelt. Das entspricht
einer Gesamtprävalenzrate von 7,0%. Die HBsAg-Trägerrate
betrug 0,6%. Für Antikörper des Hepatitis C-Virus wurde eine
Prävalenz von 0,4% gefunden.
Schlüsselwörter: Antikörper – Hepatitis A – Hepatitis B – Hepatitis C – Prävalenz – Seroepidemiologische Studie –
Deutschland
Prevalence of Antibodies Against Hepatitis A, B and C Viruses
among the German Population: Representative random samples were tested for hepatitis A, hepatitis B and hepatitis C infections within the framework of the German National Health
Interview and Examination Survey. The laboratory parameters
included determination of anti-HAV, anti-HBc, anti-HBs,
HbsAg, anti-HCV and hepatitis C virus RNA. The prevalence
rate for anti-HAV was 46.5% with a definate age-dependence.
The infection rates for hepatitis B of 7.7% in former West Germany and of 4.3% in former East Germany were obtained. This
is equivalent to a total of 7% prevalence rate. The HbsAg carrier rate was 0.6%. Hepatitis C virus antibodies showed a prevalence rate of 0.4%.
Key words: Anitbodies – Hepatitis A – Hepatitis B – Hepatitis C
– Prevalence – Seroepidemiologic Study – Germany
W. Thierfelder2, H. Meisel1, E. Schreier2, R. Dortschy2
1
2
Humboldt-Universität Berlin, Charité
Robert Koch-Institut, Berlin
mäß dem Bundesseuchengesetz die Hepatitiden z.Z. als Hepatitis A, Hepatitis B und „übrige, nicht bestimmbare Formen“
gemeldet.
Die registrierten Meldedaten können lediglich Hinweise zur
Krankheitsinzidenz und ihrer zeitlichen Entwicklung liefern.
Aussagen zur Prävalenz der Hepatitiden auf der Basis von
Meldedaten sind aber aus mehreren Gründen mit hohen Unsicherheiten behaftet. So muß davon ausgegangen werden,
daß die Mehrzahl der asymptomatisch verlaufenden Fälle
nicht erfaßt wird. Weiterhin werden nicht alle diagnostizierten Fälle von den Ärzten auch tatsächlich gemeldet. Grundvoraussetzung für eine Berechnung der Prävalenzen aus gemeldeten Fällen wären über Jahre konstante Inzidenzraten.
So nahm jedoch bei der Hepatitis A die Inzidenzrate bis 1990
stetig ab, blieb bis 1995 nahezu konstant und ging seitdem
weiter zurück. Bei der Hepatitis B gab es seit 1990 einen leichten Wiederanstieg, der sich 1997 nicht fortsetzte. Hepatitis C,
bisher unter „übrige Formen der Hepatitis“ klassifiziert, wird
inzwischen von 9 Bundesländern gesondert erfaßt. Hier liegt
der Verdacht nahe, daß gezielte Untersuchungen bei Risikogruppen stattfanden, in denen bereits chronische Erkrankungen vermehrt registriert wurden [Epid. Bull. 1999].
Prävalenzraten sind unverzichtbar, weil sie auch Aussagen
zur Populationsimmunität geben, mit deren Hilfe bei den
impfpräventablen Erkrankungen, der Hepatitis A und der Hepatitis B, geeignete Strategien abgeleitet werden können. Mit
weit größerer Sicherheit als durch Schätzungen aus Meldedaten sind Aussagen zur Gesamtprävalenz von Hepatitis A, Hepatitis B und Hepatitis C in der deutschen Bevölkerung durch
Bestimmung von hepatitisspezifischen Meßgrößen in Proben,
die aus einer repräsentativen Stichprobe stammen, zu gewinnen.
Material und Methoden
Problemstellung
Virusbedingte Lebererkrankungen zählen weltweit zu den
wichtigsten Infektionskrankheiten. Gesundheitspolitisch problematisch stellen sich insbesondere die Hepatitis B und die
Hepatitis C wegen ihres hohen Anteils an chronischen Verlaufsformen und ihrem möglichen Übergang zum Leberzellkarzinom dar. In der Bundesrepublik Deutschland werden ge-
Aus der Grundgesamtheit des Bundes-Gesundheitssurveys
wurden 6748 Teilnehmer (2298 aus den neuen, 4450 aus den
alten Bundesländern) auf serologische Marker der Hepatitis A,
Hepatitis B und Hepatitis C untersucht. Die Untersuchten
setzten sich aus 3275 Männern und 3473 Frauen zusammen.
Von vornherein waren bei Planung der Bruttostichprobe Personen aus Kasernen, Altersheimen, Krankenhäusern, Heilund Pflegeanstalten sowie Justizvollzugsanstalten ausgeschlossen [Bellach 1998].
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S110–S114
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Beitrag: 354.fm
Ausdruck vom 25.5.00
Die Prävalenz von Antikörpern gegen Hepatitis-A-, Hepatitis-B- und Hepatitis C-Viren Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S111
Hepatitis A
Antikörper gegen das Hepatitis-A-Virus (Anti-HAV) wurden
qualitativ mit dem HAVAB-Mikropartikel-Enzymimmunoassay auf dem AxSYM (Abbott) bestimmt. Der Test weist sowohl
frühe (IgM) als auch späte (IgG) Antikörper nach. Proben mit
einem S/CO (Probenwert/Grenzwert) von 0,000 bis 1,000 galten als reaktiv = positiv, Proben mit einem S/CO von 1,001 bis
3,000 galten als nicht reaktiv = negativ.
Hepatitis B
Jede Probe wurde zunächst auf Antikörper gegen das Hepatitis-B-Core-Antigen (Anti-HBc) und auf Antikörper gegen das
Hepatitis-B-Oberflächenantigen (Anti-HBs) getestet. Anti-HBc
wurde qualitativ mit dem CORE-Mikropartikel-Enzymimmunoassay auf dem AxSYM (Abbott) nachgewiesen. Proben
mit S/CO-Werten von 0,000 bis 1,000 galten als reaktiv, mit S/
CO-Werten von 1,001 bis 3,000 als nicht reaktiv = negativ.
Anti-HBs wurde quantitativ mit dem AUSAB-MikropartikelEnzymimmunoassay auf dem AxSYM (Abbott) bestimmt.
Werte unterhalb 10 U/l wurden entsprechend den STIKOEmpfehlungen als negativ eingestuft. Bei der Ergebniskonstellation Anti-HBc-positiv und Anti-HBs-positiv galt die Person
als Hepatitis-B-exponiert mit Immunität.
Anti-HBc-positive, Anti-HBs-negative Proben wurden mit
dem Mikropartikel-Enzymimmunoassay (Abbott) auf HBsAg
untersucht. Werte mit einem S/N (Probenwert/Mittelwert des
Index-Kalibrators) gleich oder größer 2,00 galten als reaktiv =
positiv. Werte mit einem S/N<2,00 waren negativ. Probanden
mit der Testkonstellation Anti-HBc-positiv, HBsAg-positiv
wurden als Hepatitis-B-Träger klassifiziert.
War eine Probe ausschließlich Anti-HBc-reaktiv, wurde der
Test zweimal wiederholt. Bei negativen Testergebnissen in
der Wiederholung galt die Probe als Anti-HBc-negativ. Waren
beide Bestimmungen auch in der Wiederholung reaktiv,
wurde mit dem Enzymimmunoassay eines anderen Herstellers (Sorin) ein weiterer Test zur Bestätigung durchgeführt.
Nur wenn auch diese Untersuchung ein positives Testergebnis hatte, wurde der Proband als Hepatitis-B-exponiert eingestuft.
Personen, die Anti-HBc-negativ, aber Anti-HBs-positiv (>10
IU/l) waren, wurden als mit hoher Wahrscheinlichkeit Hepatitis-B-Geimpfte klassifiziert.
Hepatitis C
Die Eingangstestung auf Antikörper gegen das Hepatitis-C-Virus erfolgte mit einem Mikropartikel-Enzymimmunoassay
(Abbott) auf dem AxSYM. Bis zur Ablösung durch den HCV_3
(Test der 3. Generation) kam der HCV (Test der 2. Generation)
zur Anwendung.
Proben mit einem S/CO < 0,8 galten als nicht reaktiv = negativ
und wurden nicht weiter getestet. Bei allen Seren mit einem
S/CO≥0,8 wurden die Testungen mit dem HCV_3 wiederholt.
War das Ergebnis dann „nicht reaktiv“ (S/CO < 0,8), wurde der
HCV_3-Test wiederholt. Wurde dabei das negative Ergebnis
reproduziert, galt die Probe als endgültig Anti-HCV-negativ
und wurde nicht weiter untersucht.
In der Wiederholung mit S/CO≥0,8 gemessene Proben wurden mit Anti-HCV-Tests der 3. Generation anderer Hersteller
nachuntersucht. Zum Einsatz kamen der ORTHO™ HCV ELISA
(Ortho Diagnostic Systems) mit einem Grenzbereich von
0,85–1,15, der COBAS® CORE Anti-HCV EIA (Roche Diagnostic
Systems) mit einem Grenzbereich von 0,8–1,0 und der MONOLISA Anti-HCV (Sanofi Diagnostics Pasteur) mit einem
Grenzbereich von 0,9–1,1. Testergebnisse unterhalb der angegebenen Grenzbereiche galten als negativ. Darüber hinaus
wurden diese Seren mit einer kommerziellen PCR (HCV Cobas
Amplicor, Roche Diagnostic Systems) oder einer in-house-PCR
auf Virus-RNA getestet.
PCR-Positive wurden als Hepatitis-C-infiziert eingestuft.
Wurde das Anti-HCV-reaktive Ergebnis mit den Tests der anderen Hersteller durch eindeutige Assay-Ratios (>2,0) bestätigt, wurde die Probe als Anti-HCV-positiv klassifiziert. Bei
widersprüchlichen Testergebnissen zwischen den Immunoassays wurde ein RIBA (Ortho Diagnostic Systems) durchgeführt. Waren damit in der Probe mindestens 2 Antigenbanden
nachweisbar, lautete die Gesamtbeurteilung „Anti-HCV-positiv“. War jeweils nur 1 Antigenbande detektierbar, wurde das
Ergebnis insgesamt als „unklar“ eingestuft.
Die statistischen Untersuchungen erfolgten mittels eines
SPSS-Programmpakets. Die gewichteten Daten erlauben in
den Auswertungen keine Wiedergabe von Absolutzahlen.
Dargestellt wurden die Prävalenzraten für die gesamte
Bundesrepublik, die Geschlechts- und Altersverteilung und
eine getrennte Auswertung für die alten und die neuen Bundesländer.
Ergebnisse
Hepatitis A
Die Testergebnisse auf Antikörper gegen das Hepatitis-A-Virus sind in Tab. 1 aufgeführt. Für die Bundesrepublik ergibt
sich eine Anti-HAV-Prävalenzrate von 46,5%. In den alten
Bundesländern waren 45,1% Anti-HAV-positiv, in den neuen
Bundesländern 51,8%. Bei Männern wurden insgesamt weniger Hepatitis-A-Antikörper (44,1%) als bei Frauen nachgewiesen (48,7%). In allen Altersgruppen findet man einen Anstieg
des Anteils der Anti-HAV-Positiven mit dem Lebensalter. Bei
den 70- bis 79jährigen wird eine Durchseuchung von fast 90%
erreicht. In den Altersgruppen bis 29 Jahre findet man in den
alten Bundesländern einen höheren Anteil Anti-HAV-Positiver als in den neuen Bundesländern. Dieses Verhältnis kehrt
sich in den Altersgruppen 30–59 Jahre um. Eine Angleichung
findet in den Gruppen ab 60 Jahren statt.
Hepatitis B
Die Prävalenzraten für die untersuchten Marker der Hepatitis
B sind in Tab. 2 aufgeführt. Hepatitis-B-exponiert, d.h. AntiHBc-positiv, mit oder ohne Nachweis von Anti-HBs und HBsAg, waren 7,0% der untersuchten Population. In den alten
Bundesländern waren 7,7% der Probanden Anti-HBc-positiv,
in den neuen Bundesländern 4,3%. Der Anteil der Probanden
mit akuter oder chronischer Hepatitis B (Anti-HBc- und HBsAg-positiv) belief sich auf insgesamt 0,6%. Auch hier war die
Prävalenzrate mit 0,6% in den alten Bundesländern höher als
in den neuen Bundesländern (0,4%).
Beitrag: 354.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S112 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
W. Thierfelder et al
Tab. 1 Antikörperprävalenz gegen Hepatitis A in Deutschland (gewichtet)
10-Jahres-Altersklassen
18–19 Jahre 20–29 Jahre
30–39 Jahre 40–49 Jahre 50–59 Jahre
60–69 Jahre
70–79 Jahre
gesamt
gesamt Anti-HAV
positiv
negativ
7,0%
93,0%
15,4%
84,6%
20,5%
79,5%
40,8%
59,2%
64,1%
35,9%
83,0%
17,0%
89,2%
10,8%
46,5%
53,5%
West
Anti-HAV
positiv
negativ
8,5%
91,5%
16,6%
83,4%
17,6%
82,4%
37,1%
62,9%
62,0%
38,0%
82,9%
17,1%
89,0%
11,0%
45,1%
54,9%
Ost
Anti-HAV
positiv
negativ
3,1%
96,9%
10,4%
89,6%
32,3%
67,7%
54,3%
45,7%
72,2%
27,8%
83,4%
16,6%
90,4%
9,6%
51,8%
48,2%
Männer Anti-HAV
positiv
negativ
9,1%
90,9%
16,0%
84,0%
21,7%
78,3%
36,9%
63,1%
62,9%
37,1%
82,8%
17,2%
88,3%
11,7%
44,1%
55,9%
Frauen
positiv
negativ
4,8%
95,2%
14,7%
85,3%
19,2%
80,8%
44,7%
55,3%
65,3%
34,7%
83,3%
16,7%
89,8%
10,2%
48,7%
51,3%
Anti-HAV
Bei Männern lag der Anteil der Anti-HBc-Positiven mit 7,4%
etwas höher als bei den Frauen (6,7%). Bezogen auf den positiven Anti-HBc-Test waren jedoch 12,7% der Männer und nur
3,6% der Frauen HBsAg-positiv. Eine Immunität nach Hepatitis-B-Exposition wurde bei 79,8% der Anti-HBc-Positiven
nachgewiesen. Männer hatten mit 71,7% die geringere Immunitätsrate als Frauen mit 88,3%. Im Vergleich alte Bundesländer/neue Bundesländer wiesen HBsAg-Trägerschaft (8,0%
bzw. 10,0% der Anti-HBc-positiven) und Immunität (80,1%
bzw. 78,2% der Anti-HBc-Positiven) dagegen kaum Unterschiede auf. Insgesamt war bei 12% der Stichprobe nur AntiHBc allein nachweisbar.
In den Altersgruppen bis 39 Jahre wurde ein leichter Anstieg
der Anti-HBc-Prävalenzraten gefunden, der sich dann in den
höheren Altersgruppen stärker ausprägte. Das Maximum lag
in der Gruppe der 70–79jährigen bei 16,8%.
Ausschließlich Anti-HBs-positiv und damit mit hoher Wahrscheinlichkeit geimpft gegen Hepatitis B waren 5,1% der Getesteten. In den alten Bundesländern lag der Anteil bei 5,6% in
den neuen bei 3,2%. Bei Frauen waren 6,8%, bei Männern 3,3%
isoliert Anti-HBs-positiv.
Hepatitis C
Die Prävalenz von Anti-HCV in der deutschen Bevölkerung
betrug 0,4%. Davon waren 83,7% in der PCR positiv. 7 PCR-negative Proben waren zwar Anti-HCV-reaktiv, konnten aber
mit dem RIBA nicht eindeutig klassifiziert werden. Diese 0,1%
Tab. 2 Serologische Marker der Hepatitis B in Deutschland (gewichtet)
10-Jahres-Altersklassen
18–19 Jahre 20–29 Jahre 30–39 Jahre
gesamt
40–49 Jahre
50–59 Jahre
60–69 Jahre 70–79 Jahre
gesamt
Anti-HBc positiv
negativ
Anti-HBs positiv
negativ
HBsAg
positiv
negativ
1,6%
98,4%
11,4%
88,6%
0,4%
99,6%
3,3%
96,7%
11,4%
88,6%
0,2%
99,8%
3,7%
96,3%
9,9%
90,1%
0,6%
99,4%
7,2%
92,8%
10,7%
89,3%
0,9%
99,1%
8,1%
91,9%
8,9%
91,1%
0,7%
99,3%
8,9%
91,1%
8,2%
91,8%
0,4%
99,6%
16,8%
83,2%
14,9%
85,1%
0,4%
99,6%
7,0%
93,0%
10,4%
89,6%
0,6%
99,4%
West
Anti-HBc positiv
negativ
Anti-HBs positiv
negativ
HBsAg
positiv
negativ
1,7%
98,3%
12,2%
87,8%
0,6%
99,4%
4,1%
95,9%
12,8%
87,2%
0,3%
99,7%
3,7%
96,3%
10,5%
89,5%
0,6%
99,4%
8,4%
91,6%
12,1%
87,9%
1,0%
99,0%
9,1%
90,9%
10,3%
89,7%
0,7%
99,3%
9,3%
90,7%
8,6%
91,4%
0,5%
99,5%
17,6%
82,4%
15,6%
84,4%
0,4%
99,6%
7,7%
92,3%
11,4%
88,6%
0,6%
99,4%
Ost
Anti-HBc positiv
negativ
Anti-HBs positiv
negativ
HBsAg
positiv
negativ
1,3%
98,7%
9,4%
90,6%
0,3%
99,7%
5,5%
94,5%
100,0%
100,0%
3,3%
96,7%
7,5%
92,5%
0,4%
99,6%
3,0%
97,0%
5,6%
94,4%
0,6%
99,4%
4,2%
95,8%
3,6%
96,4%
0,8%
99,2%
7,2%
92,8%
6,6%
93,4%
0,2%
99,8%
13,0%
87,0%
11,7%
88,3%
0,5%
99,5%
4,3%
95,7%
6,4%
93,6%
0,4%
99,6%
Männer
Anti-HBc positiv
negativ
Anti-HBs positiv
negativ
HBsAg
positiv
negativ
2,4%
97,6%
8,8%
91,2%
0,8%
99,2%
4,3%
95,7%
8,8%
91,2%
0,5%
99,5%
4,0%
96,0%
7,0%
93,0%
1,2%
98,8%
7,8%
92,2%
9,2%
90,8%
1,4%
98,6%
10,3%
89,7%
7,8%
92,2%
1,3%
98,7%
7,4%
92,6%
6,2%
93,8%
0,3%
99,7%
18,3%
81,7%
14,8%
85,2%
0,3%
99,7%
7,4%
92,6%
8,4%
91,6%
0,9%
99,1%
Frauen
Anti-HBc positiv
negativ
Anti-HBs positiv
negativ
HBsAg
positiv
negativ
0,7%
99,3%
14,2%
85,8%
2,4%
97,6%
14,1%
85,9%
3,3%
96,7%
12,9%
87,1%
100,0%
100,0%
100,0%
6,6%
93,4%
12,2%
87,8%
0,4%
99,6%
5,9%
94,1%
10,0%
90,0%
0,2%
99,8%
10,2%
89,8%
9,9%
90,1%
0,5%
99,5%
16,0%
84,0%
14,9%
85,1%
0,5%
99,5%
6,7%
93,3%
12,3%
87,7%
0,2%
99,8%
Beitrag: 354.fm
Ausdruck vom 25.5.00
Die Prävalenz von Antikörpern gegen Hepatitis-A-, Hepatitis-B- und Hepatitis C-Viren Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S113
(gewichtete Größe) wurden als „unklar“ eingestuft. In den alten Bundesländern fand sich Anti-HCV ab der Altersgruppe
20–29 Jahre, in den neuen Bundesländern ab den 40–
49jährigen. Bei Frauen in den alten Bundesländern wurden
Antikörper ab der Altersgruppe 30–39 Jahre, bei Frauen in den
neuen Bundesländern ab der Gruppe 40–49 Jahre gefunden.
Diskussion
Die gewonnenen Daten sollten nur soweit durch Risikogruppen belastet sein, wie es ihrem Anteil im Regelfall an der normalen Wohnbevölkerung entspricht. Ausgeschlossen von der
Studie waren die Insassen von Kasernen, Altersheimen, Krankenhäusern, Heil- und Pflegeanstalten und Justizvollzugsanstalten. Es ist davon auszugehen, daß durch Einbeziehung von
Hochrisikogruppen bei den 3 Hepatitis-Formen insgesamt höhere Prävalenzraten ermittelt worden wären. Die Vergleiche
der Ergebnisse mit anderen Erhebungen fallen schwer, da in
den meisten Studien nur spezielle Bevölkerungsteile und Risikogruppen untersucht wurden.
Das Risiko, in den westlichen Industriestaaten an einer Hepatitis A zu erkranken, ist aufgrund des hohen hygienischen
Standards relativ gering. Einem höheren Risiko unterliegen
einige Berufsgruppen wie Krankenhauspersonal [Abb 1994]
oder Arbeiter in Kläranlagen [Frölich 1993]. Risikobehaftet
sind vor allem Reisende in Hepatitis-A-Endemiegebiete
[Nothdurft 1994]. Die Daten zur Hepatitis-A-Antikörperprävalenz resultieren nicht nur aus einem Kontakt mit dem
Virus. In den jüngeren Altersgruppen dürfte ein höherer Teil
der Antikörperträger aus Hepatitis-A-Impfungen resultieren
als bei den älteren Jahrgängen. In den höheren Altersklassen
spiegeln sich die Epidemien der Kriegs- und Nachkriegsjahre
mit ihren sehr hohen Prävalenzen wider. Dafür spricht auch,
daß hier die Prävalenzraten in den neuen und den alten Bundesländern in derselben Größenordnung liegen. Die Daten
zeigen, daß die Durchseuchung mit dem Alter zunimmt und
in der höchsten Gruppe fast 90% erreicht. Das unterstreicht
die lebenslang anhaltende Immunität nach einer Hepatitis-AInfektion.
Die Gesamtprävalenz an Anti-HAV ist in Deutschland mit
46,5% größenordnungsmäßig vergleichbar mit der in Nachbarländern. Bei in der Schweiz erhobenen Daten an Personen,
die eine Reise planten, waren 11,8% (30–39 Jahre), 21,4% (40–
49 Jahre) und 49% (>50 Jahre) Anti-HAV-positiv [Studer
1993). Blutspender in Österreich vor Einführung der aktiven
Immunisierung waren zu 7% (18–30 Jahre), 20% (31–40 Jahre
und 57% (41–50 Jahre) Anti-HAV-positiv [Prodinger 1994].
Eine belgische Studie wies eine Prävalenzrate von 51,3% aus
[Beutels 1998].
Zur Erhebung der Hepatitis-B-relevanten Labordaten wurde
in der Studie eine Testkombination aus Anti-HBc, Anti-HBs
und HBsAg eingesetzt. Anti-HBc tritt im Verlauf einer Hepatitis-B-Infektion meist kurz nach dem HBsAg auf und bleibt in
der Regel jahrzehntelang bestehen. Daher eignet sich dieser
Marker sehr gut zur Beschreibung einer Durchseuchung. Die
Kombination mit Anti-HBs führt zu Aussagen über die Immunität nach Hepatitis-B-Infektion, wobei auch das isolierte Auftreten von Anti-HBc eine durchgemachte Erkrankung bedeuten kann. Ein positives Anti-HBs ohne weitere Marker spricht
für eine Hepatitis-B-Immunisierung. Akute und chronische
Hepatitiden werden durch die Testung aller Anti-HBc-positiver Proben auf HBsAg erkannt. Die Wahrscheinlichkeit, im
Rahmen einer Querschnittstudie auf Probanden in der Inkubationsphase zu treffen, innerhalb der zunächst HBsAg, HBVDNA und vereinzelt HBeAg, aber nicht Anti-HBc detektierbar
wird, ist äußerst gering. Daher wurde auf die Testung jeder
Probe auf HBsAg verzichtet. Das von HBsAg und Anti-HBs isolierte Auftreten von Anti-HBc ist offenbar abhängig von dem
untersuchten Klientel. Bezogen auf die Gesamtzahl der AntiHBc-positiven zeigten 12% davon keine weiteren der getesteten Hepatitis-B-Marker. Das entspricht einer Prävalenzrate
von 0,84% in der gesamten Stichprobe und stimmt mit den
bisher in Deutschland beobachteten 0,8% [Neifer 1997] gut
überein. Bei schwedischen Blutspendern sind 1% „nur-AntiHBc-positiv“ [Joller-Jemelka 1994]. Der Anteil „nur-Anti-HBcPositiver“, gemessen an der Anzahl aller Personen mit HBVMarkern, wird für Deutschland mit 8% angegeben. Risikogruppen, wie Strafgefangene in Deutschland, wiesen 19,2%
auf. Diese Konstellation scheint besonders oft bei einer gleichzeitigen Infektion mit dem HCV vorzukommen [Neifer 1997].
Daten zur Prävalenz der Hepatitis B in der deutschen Gesamtbevölkerung beruhen überwiegend auf Schätzungen. Der Anteil der HBsAg-Träger variiert dabei von 0,3% bis 0,8% [Gesundheitsbericht 1998]. Die gefundene HBsAg-Prävalenzrate
von 0,6% ordnet sich gut in diesen Bereich ein. Im Rahmen der
Nationalen Gesundheitssurveys 1990–1992 wurden aus einer
repräsentativen Bevölkerungsstichprobe 6,1% Anti-HBc-positive Befunde erhoben [Thefeld 1994]. Die statistische Signifikanz dieser Differenz zur aktuellen Studie ist noch nicht überprüft worden. Weitere Vergleichsdaten für Deutschland existieren nur für Risikogruppen mit in der Regel hohen
Prävalenzen [Gesundheitsbericht 1998] für spezielle Berufsgruppen [Kralj 1998] und für Niedrigprävalenz-Gruppen wie
Blutspender [Glueck 1997].
Die in der Literatur für einige Länder gefundene erhöhte
Prävalenz bei Männern gegenüber Frauen [Resina 1992, Hart
1993] konnte bestätigt werden. Die deutlich geringere Anzahl
gemeldeter Neuerkrankungen in den neuen Bundesländern
im Vergleich zu den alten Bundesländern [Epid. Bull. 1999]
spiegelt sich auch in dem deutlichen Unterschied der Prävalenzraten wider. Die bisher eingeleiteten Hepatitis-B-Impfmaßnahmen lassen sich im Altersgang bei den „Nur Anti-HBsPositiven“ ablesen. Die höchsten Impfraten zeigt jeweils die
jüngste Altersgruppe. Bis zur Gruppe der 50–59jährigen findet man Geimpfte in den alten Bundesländern etwa doppelt
so häufig, da hier offenbar Schutzimpfungen früher und umfangreicher eingesetzt haben.
Die geschätzte Durchseuchung mit Hepatitis C liegt in
Deutschland unter 0,5% [Epid. Bull. 1999]. Damit fügt sich das
Studienergebnis mit einer Prävalenzrate von 0,4% gut in diese
Größenordnung ein. Der Anteil von 83,7% PCR-Positiven unter
den Anti-HCV-Trägern liegt etwas höher als z.B. bei intravenös Drogenabhängigen mit 76% [Stark 1995]. Diese Differenz
könnte durch die hohen Unterschiede in der Grundgesamtheit der Getesteten in beiden Gruppen bedingt sein. Die
Prävalenzen sind besonders bei der Hepatitis C abhängig von
dem Untersuchungsklientel. So werden für Blutspender 0,12%
Anti-HCV-Positive angegeben [Koerner 1998]. Bei Hämophilen wurden 87,5%, bei intravenös Drogenabhängigen 78,9%,
bei Polytransfundierten 18,4%, bei Transplantierten 16,8%, bei
Beitrag: 354.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S114 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
W. Thierfelder et al
Dialysepatienten 8,1%, bei Prostituierten 1,4% und bei Krankenhauspersonal 0,8% Anti-HCV-Positive gefunden [Weber
1995].
Die Frage nach der Alters-, Geschlechts- und Ost/West-Verteilung von HCV-Infektionen wird mit diesem Bundes-Gesundheitssurvey letztendlich nicht zu beantworten sein. Damit bei
der ermittelten Prävalenzrate von 0,4% alle Felder mit einer
ausreichend hohen zu erwartenden Fallzahl besetzt werden
(Erwartungswert mindestens 5 Fälle), müßte die Stichprobe
mindestens viermal so groß sein.
Der Ausschluß von bestimmten Risikogruppen aus der Stichprobe reflektiert besonders bei der Hepatitis B und der Hepatitis C das Bild einer „bereinigten“ Bevölkerung. Weitere Auswertungen der Fragebogendaten könnten Aufschluß darüber
geben, wie hoch der Anteil der Hepatitis-Risikogruppen in
dieser Studie tatsächlich ist. Möglicherweise müßten durch
anteilige Einbeziehung dieser Gruppen die in dieser Studie
gefundenen Ergebnisse um etwa 0,1–0,2% höher liegen.
Literatur
1
Abb J (1994). Prävalenz von Hepatitis-A-Virus-Antikörpern bei
Krankenhauspersonal. Gesundheitswesen 56: 377–379
2 Bellach B, Knopf H, Thefeld W (1998). Der Bundes-Gesundheitssurvey 1997/1998. Gesundheitswesen 60: Sonderheft 2 S59–S68
3 Beutels M, Van Damme P, Vrancks R, Meheus A (1998). The shift
in prevalence of hepatitis A immunity in Flanders, Belgium. Acta
Gastroenterol. Belgica 61: 4–7
4 Epid. Bull. (1999). Zur Situation bei wichtigen Infektionskrankheiten im Jahr 1998, Teil 2: Virushepatitiden. 17/99: 119–124
5 Frölich J, Zeller I (1993). Hepatitis-A-Infektionsrisiko bei den
Mitarbeitern einer großen Kläranlagenbetreibergenossenschaft.
Arbeitsmedizin Sozialmedizin Präventivmedizin 28: 503–505
6 Glueck D, Maurer C, Kubaneck B (1997). Studie des Berufsverbands Deutscher Transfusionsmediziner zur Epidemiologie von
HIV- und Hepatitisinfektionen bei Blutspendern. Beiträge zur Infusionstherapie und Transfusionsmedizin 34: 1–4
7 Hart G (1993). Factors associated with hepatitis B infection. International Journ. of STD and AIDS 4: 102–106
8 Hepatitis-B in. Gesundheitsbericht für Deutschland (ed. Statistisches Bundesamt Wiesbaden, 1998) 274–275
9 Joller-Jemelka H, Wicki A, Grob P (1994) Detection of HBs antigen in „anti-HBc alone“ positive sera. J. Hepatol. 21: 269–272
10 Koerner K, Cardoso M, Dengler T, Kerowgan M, Kubanek B
(1998). Estimated risk of transmission of hepatitis C virus by
blood transfusion. Vox Sang. 74: 213–216
11 Kralj N, Hofmann F, Michaelis M, Berthold H (1998). Zur gegenwärtigen Hepatitis-B-Epidemiologie in Deutschland. Gesundheitswesen 60: 450–455
12 Neifer S, Molz B, Sucker U, Kreuzpaintner E, Weinberger K, Jilg
W (1997) Hoher Prozentsatz isoliert anti-HBc-positiver Personen unter Strafgefangenen. Gesundheitswesen 59: 409–412
13 Nothdurft HD, Loescher T (1994). Folgen importierter Tropenkrankheiten in Deutschland. Versicherungsmedizin 46: 135–
137
14 Prodinger WM, Larcher C, Solder BM, Geissler D, Dierich MP
(1994) Hepatitis-A in western Austria – the epidemiologic situation before the introduction of active immunization. Infection
22: 53–55
15 Resina RA, Zawati FZ, Grandal DC (1992). Prevalencia de marcodores serologicos del virus de la hepatitis B en poblacion extrahospitalaria de la ciudad de Vigo. Atencion Primaria 10:
1028–1029
16 Stark K, Schreier E, Mueller R, Wirth D, Driesel G, Bienzle U
(1995). Prevalence and determinants of anti-HCV seropositivity
and of HCV genotype among intravenous drug users in Berlin.
Scand. J. Infec. Dis. 27: 331–337
17 Studer S, Joller-Jemelka HI, Steffen R, Grob PJ (1993). Prevalence
of hepatitis A antibodies in Swiss travellers. Eur. J. Epidemiol. 9:
50–54
18 Thefeld W, Seher Ch, Dortschy R (1994). Hepatitis-B-Durchseuchung in der deutschen Bevölkerung. Bundesgesundheitsbl. 37:
374–377
19 Weber B, Rabenau H, Berger A, Scheuermann EH, Staszewski S,
Kreuz W, Scharrer I, Schoeppe W, Doerr HW (1995). Seroprevalence of HCV, HAV, HBV, HDV HCMV and HIV in high risk
groups/Frankfurt a.M., Germany. Zbl. Bakteriol. 282: 102–112
W. Thierfelder
Robert Koch-Institut
Postfach 650280
D-13302 Berlin
Beitrag: 354.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S115
RISIKOFAKTOREN, GESUNDHEITSVERHALTEN, LEBENSWEISE
›› Körpermaße und Übergewicht
K. E. Bergmann, G. B. M. Mensink
Robert Koch-Institut, Berlin
Zusammenfassung: Anhand der Daten von 7124 Frauen und
Männern des Bundes-Gesundheitssurveys 1998 im Alter zwischen 18 und 79 Jahren und Daten der Nationalen Untersuchungssurveys 1990/92 wurden Entwicklungen der Körpermaße und des Übergewichts untersucht. Bezüglich der Körpermaße der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland ist
festzuhalten, daß die Menschen in westlichen Bundesländern
etwas größer sind als in östlichen. Gemessen am Body-MassIndex (BMI) sind Übergewicht und Adipositas bei Männern und
Frauen in Deutschland sehr verbreitet. Übergewicht (BMI
≥ 25 kg/m²) kommt insgesamt bei 52% (westdeutsche Frauen)
bis 67% (westdeutsche Männer) der Bevölkerung vor, starkes
Übergewicht oder Adipositas (BMI ≥ 30 kg/m2) ist mit 18% unter den westdeutschen Männern am geringsten und mit
24,5% unter den ostdeutschen Frauen am höchsten. In den
östlichen Bundesländern findet man Adipositas nach wie vor
häufiger als in den westlichen. Was den Trend betrifft, so hat
die Verbreitung von Adipositas im zurückliegenden Jahrzehnt
bei ostdeutschen Männern um 5,9% und bei westdeutschen
Männern um 11,5% zugenommen. Bei westdeutschen Frauen
ist sie noch einmal um etwa 6,4% angestiegen. Bei ostdeutschen Frauen ist die Verbreitung von Adipositas zwar um 6,3%
zurückgegangen, kommt dort aber wesentlich häufiger vor
als im Westen. Adipositas ist ein Schlüsselproblem moderner
Zivilisationskrankheiten; die Verbreitung und der insgesamt
ungünstige Trend müssen als alarmierend angesehen werden.
Schlüsselwörter: Übergewicht – Adipositas – Body-Mass-Index – Waist-to-hip-ratio
Anthropometric Data and Overweight: In the German National Health Interview and Examination Survey 1998 several
anthropometric data were obtained from 7124 men and
women, aged 18–79 years. These data were analysed and
compared with 1990/92 survey data. On average, people from
the Western part of Germany are somewhat taller than those
from the Eastern part, the differences being smallest in the
youngest age group. With the use of the Body Mass Index
(BMI) as the criterion, the prevalence of overweight (BMI > 25
kg/m2) ranges from 52% for West German women to 67% for
West German men, and of obesity (BMI ≤ 30 kg/m2) from 18%
for West German men to 24.5% for East German women. Generally, overweight is more prevalent in the East than in the
West. In the male population, aged 25–69 years, the prevalence of obesity increased by 5.9% in the East and by 11.5% in
the West during the last decade. Among females the prevalence of obesity increased by 6.4% in the West, but decreased
by 6.3% in the East. Still obesity is more prevalent among East
German females. Since obesity is a key health risk, these recent German prevalence figures are alarming.
Key words: Overweight – Obesity – Body Mass Index – Waistto-hip-ratio
Vorbemerkungen
Körpermaße sind wichtige Indikatoren für den Gesundheitszustand einer Bevölkerung. Die End- oder Erwachsenengröße
ist im allgemeinen im 3. Jahrzehnt erreicht. Weil auf das
Wachstum zahlreiche Faktoren wie Ernährung, allgemeine
Lebensbedingungen und Krankheiten Einfluß nehmen, ist es
ein globaler Indikator der gesundheitlichen Lage des Kindesund Jugendalters [Bergmann 1977, Bergmann 1986, Bielicki
1986]. Für die Körpergröße gibt es einen sogenannten säkularen Trend: Die Menschen am Anfang dieses Jahrhunderts waren durchschnittlich etwa 20 cm kleiner als jetzt an seinem
Ende. Dafür sind vor allem das pränatale Wachstum und das
in den ersten Lebensjahren verantwortlich und damit die Ernährung, die Häufigkeit und Schwere von Krankheiten und
die psychosozialen Lebensbedingungen in der Kindheit [Ravelli 1976, Bergmann 1984, van Wieringen 1986]. Nach
Eveleth (1986) spielen für das Wachstum genetische und ethnische Faktoren eine nachrangige Rolle, so daß regionale Unterschiede innerhalb eines Landes oder neuerlich noch erkennbare säkulare Trends auf Unterschiede in den Lebensbedingungen hinweisen.
Der Body Mass Index (BMI) ist eine Orientierungsgröße für
die Körperfülle und wird zur Beurteilung überhöhter Fettmasse, also Adipositas, herangezogen [Bellach 1996, Bergmann 1984, Bergmann 1989]. Der BMI wird errechnet, indem
man das Körpergewicht (in kg) durch die Körpergröße (in Metern, quadriert) teilt. Der BMI wird aber auch durch den Körperbau und die Muskelmasse beeinflußt und ist deshalb als
einziges Kriterium für Adipositas nur begrenzt aussagefähig
[Bouchard 1994]. International ist der BMI gut etabliert
[Dwyer 1996], weil er leicht und exakt zu bestimmen und
über Raum und Zeit gut zu vergleichen ist.
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S115–S120
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Beitrag: 357.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S116 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
K. E. Bergmann, G. B. M. Mensink
Methoden
Der Bundes-Gesundheitssurvey 1998 [Thefeld 1999] schloß
auch die Ermittlung von Körpermaßen ein. Für die Messung
der Körpergröße und des Gewichts trugen die Teilnehmer
keine Schuhe und waren nur leicht bekleidet. Die Körpergröße wurde auf 0,1 cm und das Gewicht auf 0,1 kg genau abgelesen. Bei der Messung des Taillen- und Hüftumfangs trugen die Personen leichte, eng am Körper anliegende Bekleidung. Sie standen dabei in aufrechter und entspannter
Haltung. Der Taillenumfang wurde an der schmalsten Stelle
zwischen der letzten Rippe und der höchsten Stelle des Darmbeinkammes gemessen, der Hüftumfang an der Stelle mit
dem größten Umfang zwischen der höchsten Stelle des Darmbeinkammes und dem Schritt. Beide Maße wurden auf 0,5 cm
genau abgelesen. Der Body Mass Index wurde lt. Formel Körpergewicht in kg : Körpergröße in m² errechnet. Für die
Prävalenzberechnungen wurden folgende Bereiche gewählt:
Body Mass Index <20, 20–<25, 25–<30, ≥30 kg/m². Die sogenannte Waist-to-hip-ratio (WHR, Taille/Hüft-Ratio) wurde als
Quotient des Taillen- und des Hüftumfangs errechnet. Diese
Ratio ist ein Maß für die Körperfettverteilung, und vor allem
der androide Fettverteilungstyp (Apfelform) geht im Gegensatz zum gynoiden Fettverteilungstyp (Birnenform) mit einem deutlich höheren Herzinfarkt-Risiko einher. Männer mit
einem Wert der WHR >1 und Frauen mit >0,85 gelten als besonders gefährdet.
Die Auswertungen erfolgten mit einer Gewichtung, um die
Daten anzugleichen an den Bevölkerungsaufbau in Deutschland 1998 unter Verwendung des statistischen Softwarepaketes SAS Version 6.12.
Ergebnisse und Diskussion
Die maximale Körpergröße ist bei Männern und Frauen in Ost
und West im dritten Lebensjahrzehnt erreicht und geht danach allmählich zurück, um im Altersbereich 70 bis 79 Jahre
die niedrigsten Werte zu erreichen. Die niedrigeren Werte im
höheren Lebensalter sind durch zwei Faktoren zu erklären:
– Der säkulare Trend spielt hierbei eine Rolle [van Wieringen
1986], indem Menschen, die Jahrzehnte früher, z.B. in der
Zeit zwischen 1920 und 1930, geboren wurden, noch nicht
die Endgröße erreicht haben können, die man bei Personen
der Geburtsjahrgänge 1970 bis 1980 beobachten kann.
– Mit zunehmendem Alter verringert sich die Knochenmasse
[Cooper 1993], die ihr Maximum im 3. Lebensjahrzehnt erreicht. Dadurch kommt es zu einer Verkürzung der Wirbelsäule.
Wie groß der relative Beitrag dieser beiden Faktoren für den
beobachteten Körpergrößenunterschied von 8 bis 9 cm zwischen der jüngsten und der höchsten Altersgruppe tatsächlich
ist, läßt sich aufgrund der vorliegenden Daten nicht entscheiden.
Körpergewicht
Das Körpergewicht ist am niedrigsten bei 18- bis 19jährigen
Personen, und zwar sowohl bei Männern als auch bei Frauen.
Im 3. Lebensjahrzehnt steigt es um 4 bis 6 kg an, um danach
kontinuierlich weiter zuzunehmen. Das höchste durchschnittliche Körpergewicht haben Männer im Alter zwischen
40 und 49 Jahren mit 86 kg; es liegt fast 12 kg über dem Gewicht der 18- bis 19jährigen. Frauen haben im Altersbereich
zwischen 60 und 69 Jahren mit 73,8 kg das höchste Durchschnittsgewicht; es liegt um knapp 12 kg über dem der 18- bis
19jährigen Frauen.
Body-Mass-Index
Körpergröße
Tab. 1 und 2 geben einen Überblick über die standardisiert gemessenen Körpermaße und die daraus abgeleiteten Indikatoren für die Körperfülle nach Alter und Geschlecht. Es handelt
sich um gewichtete Mittelwerte und Standardabweichungen,
die es erlauben, Zusammenhänge mit dem Alter, dem Geschlecht und der Herkunft aus Deutschland-Ost und -West zu
beurteilen.
Bei 18- bis 19jährigen Männern und Frauen ist der BMI am
niedrigsten. Er steigt sowohl bei Männern als auch bei Frauen
mit dem Alter allmählich an, um bei 60- bis 69jährigen den
höchsten Wert zu erreichen. Die Durchschnittswerte des BMI
sind bei Männern und Frauen in Ostdeutschland geringfügig
höher als im Westen. Die Unterschiede in den einzelnen Altersgruppen gehen in verschiedene Richtungen.
Tab. 1 Körpermeßwerte und abgeleitete Indikatoren für Übergewicht, nach Alter und Geschlecht, gewichtete Mittelwerte (Standardabweichung)
Altersklassen
18–19
20–29
30–39
40–49
50–59
60–69
70–79
gesamt
86,0 (13,3)
176,9 (6,7)
27,5 (3,7)
98,2 (10,1)
105,9 (6,7)
92,6 (5,5)
85,7 (13,0)
174,7 (6,4)
28,0 (3,8)
100,8 (10,4)
106,5 (7,3)
94,5 (5,5)
83,4 (12,6)
80,6 (12,0)
172,2 (6,4) 170,2 (6,1)
28,1 (3,8)
27,8 (3,4)
102,1 (10,1) 102,0 (9,6)
106,8 (7,3) 106,4 (7,3)
95,5 (5,6)
95,8 (5,8)
83,6 (13,1)
176,2 (7,3)
26,9 (3,9)
96,4 (11,4)
105,4 (7,2)
91,3 (6,9)
70,2 (14,0)
163,8 (6,1)
26,2 (5,0)
84,2 (12,3)
105,2 (10,6)
79,8 (5,9)
72,8 (14,5)
162,4 (5,8)
27,6 (5,3)
88,4 (12,6)
107,4 (10,6)
82,1 (6,0)
73,8 (13,9)
159,8 (5,9)
29,0 (5,5)
92,9 (12,2)
109,8 (11,1)
84,6 (6,1)
70,1 (13,8)
163,3 (6,9)
26,3 (5,2)
85,0 (13,1)
105,5 (10,6)
80,3 (6,9)
Männer
Körpergewicht (kg)
74,3 (11,7) 80,6 (12,8) 84,2 (13,0)
Körpergröße (cm)
178,1 (6,4) 179,7 (7,1) 178,5 (7,1)
Body-Mass-Index (kg/m²) 23,4 (3,8) 25,0 (3,6) 26,4 (3,8)
Taillenumfang (cm)
82,8 (9,3) 88,1 (9,9) 93,8 (10,3)
Hüftumfang (cm)
101,1 (8,0) 103,5 (6,9) 104,8 (7,0)
Waist-to-hip-ratio (*100) 81,7 (4,7) 85,0 (5,7) 89,4 (5,9)
Frauen
Körpergewicht (kg)
61,9 (11,0) 66,0 (12,9) 68,6 (13,4)
Körpergröße (cm)
165,4 (6,6) 166,7 (6,4) 166,3 (6,5)
Body-Mass-Index (kg/m²) 22,6 (3,6) 23,7 (4,2) 24,8 (4,7)
Taillenumfang (cm)
73,9 (8,4) 76,5 (10,1) 80,0 (11,2)
Hüftumfang (cm)
98,8 (8,6) 101,4 (9,4) 103,2 (9,8)
Waist-to-hip-ratio (*100) 74,8 (4,8) 75,3 (5,5) 77,3 (5,7)
Beitrag: 357.fm
Ausdruck vom 25.5.00
70,6 (11,8)
158,3 (6,2)
28,1 (4,3)
92,7 (10,6)
108,5 (9,2)
85,4 (6,1)
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S117
Körpermaße und Übergewicht
Tab. 2 Körpermeßwerte und abgeleitete Indikatoren für Übergewicht, nach Alter, Geschlecht und Ost/West-Zugehörigkeit,
gewichtete Mittelwerte (Standardabweichung)
Altersklassen
18–19
20–29
30–39
40–49
50–59
60–69
70–79
gesamt
Deutschland West
Männer
Körpergewicht (kg)
74,9 (11,4)
Körpergröße (cm)
178,3 (6,4)
Body-Mass-Index (kg/m²)
23,6 (3,7)
Taillenumfang (cm)
83,1 (8,9)
Hüftumfang (cm)
101,6 (8,0)
Waist-to-hip-ratio (*100)
81,7 (4,6)
80,9 (12,8) 84,7 (13,0) 85,5 (12,7) 85,8 (13,4) 83,3 (12,1) 80,8 (12,1) 83,7 (13,0)
179,7 (7,2) 178,8 (6,9) 177,2 (6,7) 174,8 (6,5) 172,4 (6,2) 170,4 (6,2) 176,4 (7,3)
25,0 (3,6) 26,5 (3,8) 27,2 (3,5) 28,0 (3,9) 28,0 (3,7) 27,8 (3,5) 26,9 (3,9)
88,2 (9,9) 93,8 (10,4) 97,6 (9,7) 100,7 (10,4) 101,9 (9,9) 101,9 (9,7) 96,3 (11,3)
103,7 (6,9) 105,0 (7,0) 105,7 (6,5) 106,5 (7,6) 106,7 (7,0) 106,4 (7,5) 105,4 (7,2)
84,9 (5,5) 89,2 (6,0) 92,3 (5,5) 94,5 (5,2) 95,4 (5,5) 95,8 (6,0) 91,2 (6,9)
Frauen
Körpergewicht (kg)
61,5 (9,6)
Körpergröße (cm)
165,4 (6,5)
Body-Mass-Index (kg/m²)
22,5 (3,2)
Taillenumfang (cm)
74,0 (7,5)
Hüftumfang (cm)
98,6 (7,9)
Waist-to-hip-ratio (*100)
75,1 (4,7)
66,0 (13,0) 68,8 (13,5) 70,3 (14,2) 72,3 (14,5) 73,9 (14,2) 70,4 (11,9) 70,0 (13,8)
166,7 (6,5) 166,6 (6,6) 164,0 (6,1) 162,5 (5,8) 160,0 (6,1) 158,7 (6,0) 163,5 (6,9)
23,8 (4,2) 24,8 (4,7) 26,1 (5,1) 27,4 (5,3) 28,9 (5,6) 27,9 (4,3) 26,3 (5,2)
76,5 (10,1) 79,9 (11,0) 84,0 (12,4) 87,8 (12,6) 92,6 (12,2) 91,8 (10,5) 84,7 (12,9)
101,4 (9,3) 103,2 (9,6) 105,0 (10,8) 106,8 (10,5) 109,7 (11,2) 108,3 (9,2) 105,4 (10,5)
75,4 (5,7) 77,2 (5,5) 79,8 (5,9) 82,0 (6,0) 84,3 (5,9) 84,8 (5,8) 80,2 (6,7)
Deutschland Ost
Männer
Körpergewicht (kg)
72,5 (12,6)
Körpergröße (cm)
177,7 (6,5)
Body-Mass-Index (kg/m²)
23,0 (4,0)
Taillenumfang (cm)
81,9 (10,6)
Hüftumfang (cm)
99,7 (7,9)
Waist-to-hip-ratio (*100)
81,9 (5,1)
79,6 (12,7) 82,2 (12,6) 87,9 (15,0) 85,1 (11,5) 83,9 (14,2) 79,7 (11,7) 83,1 (13,5)
179,4 (6,6) 177,4 (7,8) 176,1 (6,6) 174,2 (5,8) 171,6 (7,0) 169,3 (5,9) 175,6 (7,3)
24,7 (3,7) 26,1 (3,7) 28,3 (4,3) 28,1 (3,4) 28,5 (4,2) 27,7 (3,1) 27,0 (4,1)
87,8 (10,0) 93,8 (9,9) 100,3 (10,9) 101,0 (10,3) 102,7 (11,1) 102,2 (9,1) 96,6 (11,9)
102,7 (6,7) 103,8 (7,0) 106,6 (7,6) 106,5 (6,3) 107,3 (8,1) 106,2 (6,4) 105,1 (7,4)
85,4 (6,5) 90,2 (5,7) 93,9 (5,4) 94,7 (6,5) 95,6 (6,0) 96,2 (4,9) 91,7 (7,2)
Frauen
Körpergewicht (kg)
63,1 (14,6)
Körpergröße (cm)
165,3 (7,1)
Body-Mass-Index (kg/m²) 23,0 (4,4)
Taillenumfang (cm)
73,4 (10,7)
Hüftumfang (cm)
99,1 (10,7)
Waist-to-hip-ratio (*100) 73,9 (4,9)
65,8 (12,9) 67,7 (13,1) 70,0 (13,1) 74,8 (14,6) 73,6 (12,7) 71,5 (11,6) 70,3 (13,5)
166,6 (6,2) 165,2 (6,1) 162,9 (5,7) 161,6 (5,9) 159,1 (5,0) 156,5 (6,7) 162,4 (6,7)
23,7 (4,3) 24,8 (4,6) 26,4 (4,7) 28,6 (5,2) 29,1 (4,9) 29,1 (4,5) 26,7 (5,2)
76,5 (10,3) 80,5 (12,4) 85,1 (12,1) 90,8 (12,6) 94,4 (11,9) 96,3 (10,1) 86,4 (13,7)
101,5 (9,6) 103,1 (10,6) 106,2 (10,0) 109,5 (10,7) 110,1 (10,5) 109,2 (8,9) 106,2 (10,7)
75,2 (4,7) 77,9 (6,4) 79,9 (5,9) 82,7 (6,2) 85,7 (6,5) 88,2 (6,4) 81,0 (7,4)
Taillenumfang (cm), Hüftumfang (cm) und Waist-to-hip-ratio
(WHR)
Diese Werte sind bezüglich des Merkmals „Übergewicht“ und
„Adipositas“ ebenfalls aussagekräftig [Caray 1996]. In Tab. 1
und 2 ist zu erkennen, daß der Hüftumfang bei Männern im
Laufe des Lebens durchschnittlich um 5 bis 7 cm, bei Frauen
um etwa 10 cm zunimmt. Der Taillenumfang (Bauchumfang)
steigt bei Männern und Frauen sogar um durchschnittlich 19
bis 20 cm an. Die höchsten Werte werden bei beiden Geschlechtern im Alter zwischen 60 und 69 Jahren erreicht. Sowohl Männer als auch Frauen scheinen in diesem Alter am
stärksten von Adipositas betroffen zu sein. Die komplexen
Grenzwertbetrachtungen bleiben einer gesonderten Publikation vorbehalten.
Vergleiche zwischen ost- und westdeutschen Bundesländern
Körpergröße und -gewicht sowie die Verbreitung von Adipositas unterschieden sich nachweislich bei den Surveys 1990/
92 [Bellach 1996] zwischen den alten und neuen Bundesländern. Die Daten des Gesundheitssurveys 1998 erlauben ebenfalls einen Vergleich zwischen diesen beiden Regionen
Deutschlands mit ihrer unterschiedlichen Entwicklung nach
1945.
Was die Körpergröße betrifft, so sind sowohl Frauen als auch
Männer aus den westlichen Bundesländern durchschnittlich
rund einen Zentimeter größer als in den östlichen. Diese Unterschiede findet man praktisch in allen Altersklassen. Sie
sind am größten in der Altersgruppe der 70- bis 79jährigen
und betragen dort für Männer 0,9 und für Frauen durchschnittlich 2,2 cm. Bei den 18- bis 19jährigen sind die westdeutschen Männer 0,6 cm und die Frauen nur noch 0,1 cm
größer als die ostdeutschen. In der nachwachsenden Generation scheinen sich die Unterschiede also allmählich auszugleichen.
Die durchschnittlichen Unterschiede beim Körpergewicht sind
relativ gering und nicht so konsistent wie die der Körpergröße. So sind die Durchschnittsgewichte westdeutscher
Männer 0,6 kg höher und die westdeutscher Frauen 0,3 kg
niedriger als die ostdeutscher. In den einzelnen Altersgruppen bestehen ebenfalls geringe Unterschiede; sie gehen in
unterschiedliche Richtungen.
Ähnlich wie bei den Durchschnittswerten des BMI bestehen
auch für die Mittelwerte der WHR nur geringfügige Unterschiede zwischen Ost und West. Insgesamt sind danach die
Männer und Frauen im Westen etwas schlanker. Die alters-
Beitrag: 357.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S118 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
50%
West Ost
Männer
K. E. Bergmann, G. B. M. Mensink
Frauen
40%
30%
20%
Tab. 3 Body-Mass-Index-Klassen nach Geschlecht und Ost/West-Zugehörigkeit
BMI-Wert
Männer
West
Ost
Frauen
West
Ost
< 20 kg/m²
20–<25 kg/m²
25–<30 kg/m²
30–<40 kg/m²
≥ 40 kg/m²
1,9
31,3
48,7
17,6
0,7
6,8
41,1
31,1
19,3
1,8
5,7
37,4
32,4
23,1
1,4
2,8
31,1
45,1
20,5
0,4
10%
0%
18–19 20–29 30–39 40–49 50–59 60–69 70–79
18–19 20–29 30–39 40–49 50–59 60–69 70–79
Altersklassen
Abb. 1 Prävalenz von Adipositas (BMI≥30).
spezifischen Werte variieren geringfügig in unterschiedlichen
Richtungen.
Übergewicht und Adipositas
Übergewicht und besonders starkes Übergewicht (Adipositas)
sind Schlüsselprobleme der Zivilisationskrankheiten in
westlichen Industrienationen [Dwyer 1996, Kannel 1983].
Übergewicht und Adipositas begünstigen die Entwicklung
von Hyperinsulinismus und Typ-II-Diabetes, von Bluthochdruck, Hyperlipoproteinämie, kardio- und zerebrovaskulären
Erkrankungen, Arthrose und anderen degenerativen Krankheiten [Bergmann 1985, Manson 1990, Pi-Sunyer 1991, Shinton 1995, Sjöström 1992]. Adipositas verkürzt die Lebenserwartung [Allison 1999, Garfinkel 1986, Hoffmans 1989, Manson 1987], beeinträchtigt die Lebensqualität [Schneider 1996,
Stunkard 1992] und kann damit und mit ihren Folgekrankheiten einem langen und erfüllten Leben im Weg stehen. In
Deutschland verursacht Adipositas mit ihren Folgekrankheiten Kosten in Höhe von mehr als 21 Milliarden DM pro Jahr
[Schneider 1996, Colditz 1992, Henke 1997]. Meist ist Adipositas auch mit Bewegungsmangel verbunden, einem wahrscheinlich eigenständigen Risikofaktor für degenerative Gefäßkrankheiten [Wei 1999, Paffenbarger 1978].
Der BMI hat eine reziproke Beziehung zur Lebenserwartung
[Allison 1999, Andres 1985, Manson 1987]. Er wird deshalb
auch zur Schätzung des Idealgewichts, d.h. des größenspezifischen Gewichts mit der höchsten Lebenserwartung,
herangezogen. Die aus der Beziehung zwischen BMI und
60%
1991 1998
50%
40%
Männer
30%
Frauen
20%
10%
0%
25-<30
>30
BMI
25-<30
>30
Abb. 2 Übergewicht/Adipositas in den westlichen Bundesländern.
Vergleich zwischen 1991 und 1998.
Lebenserwartung abgeleiteten Werte für das Idealgewicht
unterscheiden sich zwischen Männern und Frauen und sind
altersabhängig [Andres 1985]. Weltweit ließen sich bisher allgemein akzeptierte, größenbezogene Idealgewichte nicht verbindlich vereinbaren [Blackburn 1994]. Deshalb werden zur
Beurteilung von BMI-Werten grobe Kriterien verwendet: 25
kg/m2 ist der Grenzwert, von dem an man Personen als übergewichtig bezeichnet. Im Bereich zwischen 25 und 30 kg/m2
spricht man nur von Übergewicht, oberhalb von 30 kg/m2 von
Adipositas und bei mehr als 40 kg/m2 von extremer Adipositas. Die Verbreitung von gesundheitsrelevantem Übergewicht
ist in Deutschland seit mehreren Jahrzehnten sehr hoch
[Bergmann 1988, Weber 1990].
Tab. 3 faßt die BMI-Werte in 5 Klassen für Männer und Frauen
aus west- und ostdeutschen Bundesländern zusammen. Danach haben 67% der westdeutschen und 66% der ostdeutschen Männer Übergewicht, also BMI-Werte von 25 kg/m2
oder mehr. Bei den Frauen sind es 52% im Westen und 57% im
Osten. Adipös, d.h. erheblich bis extrem übergewichtig, sind
bei den Männern 18% im Westen und 21% im Osten und bei
den Frauen 21% im Westen und 24% im Osten. Es fällt auf, daß
Adipositas bei Männern und Frauen aus den östlichen Bundesländern häufiger vorkommt als bei denen aus den westlichen.
In Abb. 1 ist die Prävalenz von Adipositas (BMI ≥30) für die Altersklassen nach Geschlecht und Ost-West-Zugehörigkeit
dargestellt. Unter den ostdeutschen Männern im Alter von 40
bis 49 sowie 60 bis 69 Jahren und unter ostdeutschen Frauen
im Alter von 18 bis 19 sowie über 50 Jahren ist die Prävalenz
von Adipositas wesentlich höher als bei gleichaltrigen Gruppen aus Westdeutschland.
Für den folgenden zeitlichen Vergleich wurde eine andere Gewichtung eingesetzt, um die Stichproben vergleichbar zu machen. Außerdem wurde nur der Altersbereich von 25–69
Jahre berücksichtigt. Deshalb können einzelne Prozentzahlen
abweichen von vorher genannten.
An der großen Verbreitung von Übergewicht und Adipositas
in ost- und westdeutschen Bundesländern hat sich zwischen
den beiden Zeitpunkten 1990/1992 und 1998 folgendes geändert (Abb. 2 und 3):
Bei Männern ist die Verbreitung von Übergewicht und Adipositas sowohl im Osten als auch im Westen angestiegen. Am
deutlichsten sind diese Unterschiede für starkes Übergewicht
oder Adipositas (BMI ≥ 30 kg/m2) bei Männern aus westlichen
Bundesländern, wo die Verbreitung von 17,4 auf 19,4% um 2
Prozentpunkte, verglichen mit der Verbreitung von 1991 also
um 11,5% zugenommen hat. Bei Männern aus den östlichen
Beitrag: 357.fm
Ausdruck vom 25.5.00
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S119
Körpermaße und Übergewicht
60%
6
1991 1998
50%
40%
Männer
30%
Frauen
20%
10%
0%
25-<30
>30
BMI
25-<30
>30
Abb. 3 Übergewicht/Adipositas in den östlichen Bundesländern.
Vergleich zwischen 1991 und 1998.
Bundesländern ist ein Anstieg von 20,6 auf 21,8% um 1,2 Prozentpunkte, verglichen mit 1991 also um 5,9%, zu beobachten.
Bei Frauen sieht man unterschiedliche Entwicklungen: Die
Verbreitung von starkem Übergewicht (BMI≥ 30 kg/m2) ist bei
Frauen aus westlichen Bundesländern von 19,6 auf 20,9% um
1,3 Prozentpunkte angestiegen (verglichen mit dem Ausgangswert von 1991 also um 6,4%). Bei Frauen aus den östlichen Bundesländern ist ein gegenläufiger Trend zu beobachten. Insbesondere die Prävalenz von starkem Übergewicht hat
von 25,8 auf 24,2% um 1,6 Prozentpunkte (also um 6,3%) abgenommen; sie liegt mit 24,2% allerdings immer noch deutlich über der bei Frauen aus westlichen Bundesländern. Der
allgemeine Trend bestätigt Beobachtungen anderer Studien
[Barth 1997, Kuczmarski 1994, Mokdad 1999, Sörensen 1990].
Aus unseren früheren Untersuchungen geht hervor [Bellach
1996], daß die Verbreitung der Adipositas stark von soziodemographischen Merkmalen, von der Gemeindegrößenklasse
und weiteren Variablen beeinflußt wird. Darauf wird in einer
gesonderten Mitteilung genauer eingegangen. Außerdem ist
eine weitere Aufschlüsselung und differenzierte Analyse der
BMI-Werte unter 20 kg/m2 vorgesehen, damit auch das Problem der Magersucht angemessen beschrieben werden kann.
Danksagung
Wir danken Frau Duckwitz für die Hilfe bei der Manuskripterstellung.
Literatur
1
2
3
4
5
Allison DB, Fontaine KR, Manson JE, Stevens J, VanItallie TB
(1999). Annual deaths attributable to obesity in the United
States. JAMA 282: 1530–1538
Andres R, Elahi D, Tobin JD, Muller BA, Brant L (1985). Impact of
age on weight goals. In: National Institutes of Health Consensus
Development Conference. Health implications of obesity. Ann
Int Med 102: 1030–1033
Barth N, Ziegler A, Hummelmann GW et al. (1997). Significant
weight gains in a clinical sample of obese children and adolescents between 1985 and 1995. Int J Obesity 21: 122–126
Bellach BM (Hrsg.). Die Gesundheit der Deutschen, Band 2. RKIHefte 15/1996, Robert Koch-Institut Berlin
Bergmann KE, Menzel R, Bergmann E, Tietze K, Stolzenberg H,
Hoffmeister H (1989). Verbreitung von Übergewicht in der erwachsenen Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland. Akt.
Ernähr. 14: 205–208
Bergmann KE (1985). Die Gesundheitsrisiken durch Adipositas.
Der Kassenarzt 42: 38–42
7 Bergmann RL, Bergmann KE, Eisenberg A (1984). Offspring of
diabetic mothers have a higher risk for childhood overweight
than offspring of diabetic fathers. Nutr Res 4: 545–552
8 Bergmann RL, Bergmann KE, Kollmann F, Maaser R und Hövels O
(1977). Wachstum. Atlas. Papillon, Wiesbaden
9 Bergmann RL, Bergmann KE (1986). Nutrition and growth in infancy. In: Falkner F, Tanner JM eds. Human Growth. A Comprehensive Treatise. 2nd Edition. Vol 3: Methodology, Ecological,
Genetic, and Nutritional Effects on Growth. Plenum Press. New
York: 389–413
10 Bielicki T (1986). Physical growth as a measure of the economic
well-being of populations: The twentieth century. In: Falkner F,
Tanner JM eds. Human Growth. A Comprehensive Treatise. 2nd
Edition. Vol 3: Methodology, Ecological, Genetic, and Nutritional
Effects on Growth. Plenum Press. New York: 283–305
11 Blackburn GL, Dwyer JT, Flanders WD et al. (1994). Report of the
American Institute of Nutrition (AIN) Steering Commitee on Healthy Weight. J Nutr 124: 2240–2243.
12 Bouchard C (1994). The genetics of obesity. CRC Press, Boca Raton/Ann Arbor/London/Tokyo
13 Caray DGP, Nguyen TV, Campbell LV, Chrisholm DJ, Kelly P
(1996). Genetic influences on central abdominal fat: a twin
study. Int J Obesity 20: 722–726
14 Colditz GA (1992). Economic costs of obesity. Am J Clin Nutr 55:
503S–507S
15 Cooper C (1993). Osteoporosis. In: Silman AJ, Hochberg MC eds:
Epidemiology of the Rheumatic Diseases. Oxford University
Press, Oxford/New York/Tokyo 422–465
16 Dwyer J (1996). Policy and healthy weight. Am J Clin Nutr 63:
415S–418S
17 Eveleth PB (1986). Population differences in growth: Environmental and genetic factors. In: Falkner F, Tanner JM (eds.). Human Growth. A Comprehensive Treatise. 2nd Edition. Vol 3. Plenum Press, New York: 221–239
18 Henke KD, Martin K, Behrens C (1997). Direkte und indirekte Kosten von Krankheiten in der Bundesrepublik Deutschland 1980
und 1990. Ztschr Gesundheitswissenschaften 5: 123–145
19 Hoffmans MD, Kromhout D, de Lezenne Coulander C (1989).
Body mass index of the age of 18 and its effects on 32-year mortality from coronary heart disease and cancer. J Clin Epidemiol
42: 513–520
20 Kannel WB (1983). Health and obesity: An overview. In: Conn
HL, deFelice EA, Kuo P eds. Health and Obesity. Raven Press New
York: 1–19
21 Kuczmarski RJ, Flegal KM, Campbell SM, Johnson CL (1994).
Increasing prevalence of overweight among US adults: The National Health and Nutrition Examination survey 1960–1991.
JAMA 272: 205–211
22 Manson JE, Graham A, Colditz BS et al. (1990). A prospective
study of obesity and risk of coronary heart disease in women.
New Engl J Med 322: 882–889
23 Manson JE, Stampfer MJ, Hennekens CH, Willett WC (1987).
Body weight and longevity. A reassessment. JAMA 257: 353–358
24 Mokdad AH, Serdula MK, Dietz WH, Bowman BA, Marks JS, Koplan JP (1999). The spread of the obesity epidemic in the United
States, 1991–1998. JAMA 282: 1519–1522
25 Paffenbarger RS, Wing AL, Hyde RT (1978). Physical activity as
an index of heart attack risk in college alumni. Am J Epidemiol
108: 161–175
26 Pi-Sunyer FX (1991). Health implications of obesity. Am J Clin
Nutr 53: 1595S–1603S
27 Ravelli GP, Zena A, Stein MA, Susser MW (1976). Obesity in
young men after famine exposure in utero and early infancy. N
Engl J Med 295: 349–353
Beitrag: 357.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S120 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
28
K. E. Bergmann, G. B. M. Mensink
Sörensen TIA, Price RA (1990). Secular trend in body mass index
among Danish young men. Int J Obesity 14: 411–419
29 Schneider R (1996). Relevanz und Kosten der Adipositas in
Deutschland. Ernährungs-Umschau 43: 369–374
30 Schneider R, Potthoff P, Brüggenjürgen B, Bullinger M (1996).
Adipositas und Lebensqualität. Ernährungs-Umschau 34: 328–
332
31 Shinton R, Sagar G, Beevers G (1995). Body fat and stroke: unmasking the hazards of overweight and obesity. J Epidem Comm
Health 49: 259–264
32 Sjöström LV (1992). Morbidity of severely obese subjects. Am J
Clin Nutr 55: 508S–515S
33 Stunkard AJ, Wadden TA (1992). Psychological aspects of severe
obesity. Am J Clin Nutr 55: 524S–532S
34 van Wieringen JC (1986). Secular growth changes. In: Falkner F,
Tanner JM (eds.). Human Growth. A Comprehensive Treatise.
2nd Edition. Vol 3: Methodology, Ecological, Genetic, and Nutritional Effects on Growth. Plenum Press New York: 307–331
35 Weber I, Abel M, Altenhofen L et al. (1990). Dringliche Gesundheitsprobleme der Bevölkerung. Übergewicht. Nomos Verlagsges., Baden-Baden: 131–136
36 Wei M, Kampert JB, Barlow CE, Nichaman MZ, Gibbons LW,
Paffenbarger RS jr, Blair SN (1999). Relationship between low
cardiorespiratory fitness and mortality in normal-weight, overweight, and obese men. JAMA 282: 1547–1553
K. E. Bergmann
Robert Koch-Institut
Postfach 650280
D-13302 Berlin
Beitrag: 357.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S121
RISIKOFAKTOREN, GESUNDHEITSVERHALTEN, LEBENSWEISE
›› Das Rauchverhalten in Deutschland
Zusammenfassung: 7124 Männer und Frauen im Alter von 18
bis 79 Jahren wurden im Rahmen des Bundes-Gesundheitssurveys unter anderem nach ihren Rauchgewohnheiten gefragt.
Danach rauchte im Jahre 1998 ein Drittel der Bevölkerung im
Alter von 18 bis 79 Jahren; 37% der Männer und 28% der
Frauen. In den jüngsten Altersgruppen sind die Raucheranteile
am höchsten: 49% der männlichen 18–24jährigen und 44%
der weiblichen rauchen. Der mittlere Zigarettenkonsum je
Raucher liegt für Männer bei 20, für Frauen bei 16 Stück täglich. Rund ein Drittel der Raucher hat während des letzten Jahres mindestens einen Versuch unternommen, mit dem Rauchen aufzuhören. Das Alter zu Beginn des Rauchens lag bei
86% der Männer und 80% der Frauen unter 20 Jahre. Seit der
letzten Survey-Erhebung 1990/92 sank der Raucheranteil bei
Männern in den alten Bundesländern um 3 Prozentpunkte, in
den neuen Bundesländern blieb er auf gleicher Höhe. Bei
Frauen im Westen stieg der Raucheranteil um knapp einen
Prozentpunkt, im Osten dagegen um 8 Prozentpunkte (von 21
auf 29 %). Das ist ein Anstieg um 42% in nur 7 Jahren.
Schlüsselwörter: Raucheranteil – Exraucher – Nieraucher –
Mittlerer Konsum je Raucher
Smoking in Germany: In a representative sample, 7,124 men
and women in the age of 18 to 79 years were interviewed regarding their smoking habits. In 1998, one third of the participants, 37% of the men and 28% of the women, were smokers.
The highest proportion of smokers was found in the youngest
age group of 18 to 24 years – 49% males and 44% females. The
mean cigarette consumption of male smokers was 20 cigarettes per day, that for female smokers was 16. About one
third of the smokers have tried to stop smoking at least once
during the past year. 86% of the men and 80% of the women
started their habit under the age of 20. Compared to a previous survey in 1990/92, the proportion of male smokers
dropped by 3% in West Germany, whereas in East Germany
the figure remained the same. The proportion of female smokers rose by 1% in West Germany and by 8% in East Germany
(from 21% to 29 %). The latter change means an increase of the
smoking prevalence by 42% in East German women during the
short period of only 7 years.
Key words: Proportion of Smokers – Ex-Smokers – Never
Smokers – Mean Cigarette Consumption per Smoker
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S121–S125
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
B. Junge, M. Nagel
Robert Koch-Institut, Berlin
Einführung
Rauchen gefährdet die Gesundheit. Diese Aussage der EG-Gesundheitsminister ist auf jeder Zigarettenpackung nachzulesen. Nicht gesagt wird, wie hoch die Gefährdung ist: Das Rauchen gehört zu den bedeutsamsten vermeidbaren Ursachen
für Krankheit, Invalidität und vorzeitigen Tod. Jedes Jahr (!)
sind in Deutschland mehr als 100000 Todesfälle dem Tabakkonsum anzulasten.
Tabakwaren sind in Deutschland frei verfügbar. Mit 37% aller
verkauften Zigaretten steht der Lebensmittelhandel an der
Spitze der Vertriebswege, an zweiter Stelle folgt der Automatenvertrieb mit fast 30% [Junge 1999]. Ein Mindestalter für die
Abgabe von Tabakwaren existiert nicht. In den letzten fünf
Jahren stieg der Zigarettenkonsum in Deutschland um 8 %, der
Konsum an Zigarren und Zigarillos um 72% [Junge 1999].
Angesichts solcher Fakten ist es von besonderer Bedeutung,
über das Rauchverhalten unserer Bevölkerung informiert zu
sein. Mehrere Institutionen erheben in unterschiedlichen
Zeitabständen und für verschiedene Altersgruppen Daten
zum Tabakkonsum. Die letzten Erhebungen waren
– der Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes 1995 (Alter ab 10 Jahre) [Statistisches Bundesamt 1996],
– die Aktionsgrundlagen 1995 (Alter ab 14 Jahre) [Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 1996],
– die Drogenaffinitätsstudie 1997 (Alter 12–25 Jahre) [Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 1998],
– sowie die Bundesstudie 1997 des Bundesministeriums für
Gesundheit/des Instituts für Therapieforschung (Alter 18–
59 Jahre) [Kraus, Bauernfeind 1998].
Hier schließt der Bundesgesundheitssurvey 1998 (Alter 18–
79 Jahre) [Bellach et al. 1998, Thefeld et al. 1999] an, aus dem
nachfolgend erste Auswertungsergebnisse berichtet werden.
Beim Vergleich der Zahlen mit denen aus anderen Untersuchungen ist zu beachten, daß nur identische Altersgruppen
verglichen werden dürfen.
Methodik
Im Rahmen des Bundes-Gesundheitssurveys 1998 wurden in
Deutschland 7124 Personen einer repräsentativen Stichprobe
der 18- bis 79jährigen Wohnbevölkerung unter anderem zu
ihren Rauchgewohnheiten befragt. Weitere methodische Einzelheiten sind an anderer Stelle nachzulesen [Thefeld et al.
1999], z.B. Stichprobenauswahl, Zusammensetzung der Stichprobe, Gewichtungsprozeduren und Response-Raten. Eine
Beitrag: 360.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S122 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
B. Junge, M. Nagel
Tab. 1 Nieraucher-Anteil 1998 in Prozent
18–19 Jahre
20–29 Jahre
30–39 Jahre
40–49 Jahre
50–59 Jahre
60–69 Jahre
70–79 Jahre
insgesamt
Männer
gesamt
West
Ost
Frauen
gesamt
West
Ost
41,1
46,0
32,8
31,5
34,4
33,2
23,5
34,5
45,2
48,4
34,2
32,5
33,9
33,1
24,3
35,4
29,7
37,1
26,9
27,9
36,4
33,5
19,7
31,0
50,2
50,1
38,9
45,5
63,0
76,3
79,4
56,7
53,3
51,0
38,8
43,0
60,0
77,0
78,3
55,9
41,4
46,6
39,5
54,6
74,4
73,6
84,2
59,7
ausführliche Beschreibung des Surveys findet sich bei Bellach
et al. 1998. Die Bezeichnungen Ost und West stehen für neue
und alte Bundesländer.
Um einen Vergleich mit den Ergebnissen der letzten SurveyErhebung von 1990/92 [Junge, Stolzenberg 1995] zu ermöglichen, wurden die Angaben aus dem Bundes-Gesundheitssurvey 1998 zu Raucheranteilen (Tab. 7) und mittlerem Zigarettenkonsum (Tab. 8) auf die 1990/92 befragte Altersgruppe
25–69 Jahre beschränkt und durch eine spezielle Gewichtung
an die damalige Stichprobe angepaßt [Thefeld et al. 1999].
Dadurch können die Angaben zu Raucheranteilen in Tab. 4
und 7 um etwa einen Prozentpunkt voneinander abweichen.
Das gilt auch für die mittlere Zigarettenzahl pro Raucher in
Tab. 5 und 8.
Den beiden letztgenannten Tabellen liegen außerdem unterschiedliche Bezugsgrößen zugrunde. 1990/92 wurde die Anzahl der Filterzigaretten zu den Filterzigaretten-Rauchern in
Beziehung gesetzt. Die Raucher wurden unterschieden nach
dem Konsum von Filter-, filterlosen und selbstgedrehten Zigaretten, nicht aber nach der Regelmäßigkeit des Rauchens.
Diese Differenzierung wurde erst 1998 vorgenommen, indem
die Raucher in tägliche und gelegentliche eingeteilt wurden.
Daher sind in Tab. 8 für den Vergleich mit 1990/92 die 1998er
Zahlen auf tägliche und gelegentliche Raucher zusammen bezogen.
Wenn man für 1998 Zigaretten nur auf tägliche Zigarettenraucher (wie in Tab. 5) statt auf tägliche und gelegentliche
Zigarettenraucher (wie in Tab. 8) bezieht, sind die mittleren
Zigarettenzahlen pro täglichem Raucher (verständlicherweise) um 1–2 Zigaretten höher. Es ist sinnvoll, wenn man die
Möglichkeit hat, den mittleren Konsum nur von täglichen
Rauchern zu berechnen.
Anteil der Nieraucher
35% der Männer und 57% der Frauen haben nie geraucht
(Tab. 1). In den alten Bundesländern sind es 35% der Männer
und 56% der Frauen, in den neuen Bundesländern entsprechend 31 und 60%. Bei den Männern sind die Anteile in den
einzelnen Altersgruppen weitgehend ähnlich. Allerdings finden sich bei den unter 30jährigen bei Männern wie Frauen
höhere Nieraucheranteile als bei den über 30jährigen.
Bei den Frauen haben rund 80% der 70–79jährigen nie geraucht, gegenüber rund 40% der 30–39jährigen. Es handelt
sich um ein Kohortenphänomen, das heißt, als die 70–
79jährigen jung waren (1940), galten rauchende Frauen fast
noch als „unmoralisch“, als die 30–39jährigen im Einstiegsalter waren (1980), war der Zigarettenkonsum in Deutschland
auf dem höchsten Stand.
Um den Anteil der Nichtraucher zu ermitteln, müssen zu den
Nieraucheranteilen die Anteile der Exraucher (Tab. 2) addiert
werden. Das ergibt für Männer 63% und für Frauen 72% Nichtraucher, bezogen auf die untersuchte Altersgruppe 18 bis 79
Jahre.
Anteil der Exraucher
Im Mittel haben 28% der Männer das Rauchen aufgegeben,
wobei die Raten mit steigendem Alter von unter 10% auf 60%
anwachsen (Tab. 2). Die Altersverteilung in Ost und West ist
nahezu identisch. Von den Frauen haben durchschnittlich
15% mit dem Rauchen aufgehört, wobei die höchsten Raten
von über 20% im Altersbereich zwischen 30 und 49 Jahren liegen. Die Altersverteilung unterscheidet sich zwischen Ost und
West kaum, allerdings von der der Männer erheblich, was
nicht nur auf die unterschiedlichen Raucheranteile, sondern
auch auf die unterschiedlichen Trends bei der Entwicklung
der Raucheranteile in der Vergangenheit zurückzuführen ist.
Tab. 2 Exraucher-Anteil 1998 in Prozent
18–19 Jahre
20–29 Jahre
30–39 Jahre
40–49 Jahre
50–59 Jahre
60–69 Jahre
70–79 Jahre
insgesamt
gesamt
Männer
West
Ost
gesamt
Frauen
West
Ost
5,2
6,6
18,1
28,4
34,5
48,5
60,2
28,2
7,1
6,0
17,9
28,2
34,5
48,5
60,0
28,2
0,0
8,8
19,3
29,2
34,4
48,6
61,0
28,1
1,4
7,3
20,1
23,6
17,3
11,6
10,6
15,4
1,3
7,3
21,1
25,1
19,5
11,4
11,5
16,4
1,8
7,5
15,8
17,8
8,8
12,4
6,4
11,7
Beitrag: 360.fm
Ausdruck vom 25.5.00
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S123
Das Rauchverhalten in Deutschland
Tab. 3 Aussteigerquote 1998 in Prozent (Anteil der Exraucher an der Summe von Rauchern und Exrauchern)
18–19 Jahre
20–29 Jahre
30–39 Jahre
40–49 Jahre
50–59 Jahre
60–69 Jahre
70–79 Jahre
insgesamt
Männer
gesamt
West
Ost
Frauen
gesamt
West
Ost
8,8
12,1
27,0
41,5
52,6
72,6
78,7
43,1
12,9
11,5
27,1
41,7
52,2
72,5
79,3
43,7
0,0
14,0
26,4
40,5
54,0
73,0
75,9
40,8
2,8
14,6
32,9
43,3
46,8
49,2
51,2
35,6
2,7
14,8
34,5
44,1
48,9
49,8
53,0
37,1
3,0
14,0
26,1
39,2
34,4
47,1
40,7
29,1
Bezieht man die Exraucher-Anteile auf die Summe der Raucher und der Exraucher – also auf die „Jemals-Raucher“ –, so
erhält man die sogenannte Aussteigerquote (Tab. 3), die im
Mittel bei 36 bis 43% liegt. Naturgemäß steigen die Anteile
der „Aussteiger“ mit dem Alter an, da mit zunehmendem Alter der Wunsch und die Notwendigkeit aufzuhören, die Unzufriedenheit mit der eigenen Abhängigkeit, immer deutlicher
werden. Es gibt jedoch sowohl zwischen alten und neuen
Bundesländern als auch zwischen Männern und Frauen Unterschiede in den Aussteigerquoten. Während bis zum Alter
von ca. 50 Jahren die Werte bei Männern und Frauen noch
sehr ähnlich sind und hier bei rund 40% liegen, bleiben sie bei
den älteren Frauen in dieser Größenordnung. Bei den Männern hingegen steigen sie mit höherem Alter auf über 70% an.
Zwischen den Anteilen in Ost und West bestehen bei den
Männern praktisch keine Unterschiede, bei den Frauen sind
die Aussteigerquoten im Westen durchschnittlich um 8 Prozentpunkte höher als im Osten.
Anteil der Raucher
37% der Männer und 28% der Frauen im Alter von 18 bis 79
Jahren rauchen (Tab. 4). In den neuen Bundesländern liegt der
Raucheranteil der Männer um 5 Prozentpunkte, der der
Frauen um einen Prozentpunkt höher als in den alten Bundesländern. Mit dem Alter sinkt der Raucheranteil bei beiden Geschlechtern und in Regionen von rund 50% bei den Jüngeren
auf unter 20% bei den Älteren.
Erweitert man die niedrigste Altersgruppe 18–19 Jahre auf
18–24 Jahre, ergeben sich alarmierend hohe Raucheranteile
von 49% für die männliche und von 44% für die weibliche Bevölkerung. Die Werte im Osten liegen für Männer mit 62%
um 17 Prozentpunkte, für Frauen mit 50% um 8 Prozentpunkte über den Werten im Westen (45 bzw. 42 %).
83% der männlichen und 79% der weiblichen Raucher rauchen täglich, 17% bzw. 21% gelegentlich. Bei den Männern bestehen zwischen Ost und West keine Unterschiede, bei den
Frauen sind im Westen 81% tägliche, 19% gelegentliche
Raucher, im Osten 69% tägliche, 31% gelegentliche Raucher.
Zwischen den einzelnen Altersgruppen bestehen praktisch
keine relevanten Differenzen.
Ganz überwiegend wird Tabak heute in Form von Zigaretten
geraucht. Von den männlichen Tabakkonsumenten rauchen
ca. 4% Zigarren/Zigarillos bzw. Pfeife, von den weiblichen sind
es lediglich 0,4 bzw. 0,2 %.
Zigarettenkonsum je Raucher
Zur Beurteilung der gesundheitlichen Belastung der Bevölkerung durch das Rauchen ist neben dem Raucheranteil die
Konsummenge je Raucher als zweite Meßgröße notwendig.
Wie aus Tab. 5 ersichtlich ist, rauchen Männer durchschnittlich 20, Frauen 16 Zigaretten am Tag. Bis zum Alter von 69
Jahren sind die Werte recht einheitlich, darüber ist der Konsum niedriger. Es bestehen Unterschiede zwischen alten und
neuen Bundesländern: Im Westen rauchen sowohl Männer
als auch Frauen täglich im Durchschnitt drei Zigaretten mehr
als im Osten.
Rauchbeginn
86% der männlichen und 80% der weiblichen Raucher haben
mit dem Rauchen begonnen, als sie jünger als 20 Jahre waren
(Tab. 6). Bei den 20–29jährigen sind es sogar etwa 95 %, die
beim Rauchbeginn jünger als 20 waren, bei den 30–
39jährigen immerhin noch fast 90 %. Erst die Jahrgänge, die
der Kriegs- und Nachkriegsgeneration angehören, hatten zu
größeren Teilen – besonders bei den Frauen – ein späteres
Einstiegsalter; dennoch haben auch bei diesen Männern, die
50 Jahre oder älter sind, 70 bis 80 %, bei den gleich alten
Tab. 4 Raucher-Anteil 1998 in Prozent
18–19 Jahre
20–29 Jahre
30–39 Jahre
40–49 Jahre
50–59 Jahre
60–69 Jahre
70–79 Jahre
insgesamt
Männer
gesamt
West
Ost
Frauen
gesamt
West
Ost
53,7
47,4
49,1
40,1
31,1
18,3
16,3
37,3
47,7
45,7
47,9
39,4
31,6
18,4
15,7
36,3
70,3
54,1
53,8
42,9
29,3
17,9
19,4
40,8
48,4
42,6
41,0
30,9
19,7
12,0
10,0
27,9
45,5
41,8
40,1
31,8
20,4
11,5
10,2
27,7
56,8
46,0
44,7
27,6
16,8
14,0
9,4
28,6
Beitrag: 360.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S124 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
B. Junge, M. Nagel
Tab. 5 Mittlere Anzahl gerauchter Zigaretten pro täglichem Zigarettenraucher 1998
18–19 Jahre
20–29 Jahre
30–39 Jahre
40–49 Jahre
50–59 Jahre
60–69 Jahre
70–79 Jahre
insgesamt
Männer
gesamt
West
Ost
Frauen
gesamt
West
Ost
14,7
18,3
20,3
21,9
19,8
18,0
14,0
19,6
15,2
18,4
20,5
22,9
20,6
19,0
15,1
20,2
13,7
18,1
19,4
18,7
16,3
13,6
10,8
17,7
13,3
14,6
16,2
17,9
16,0
15,7
9,4
15,8
14,0
14,4
17,0
18,7
16,6
17,0
9,2
16,3
11,5
15,3
13,1
14,2
11,9
11,5
10,5
13,3
Tab. 6 Anteil der Raucher, die bis zum Alter von 20 Jahren mit dem Rauchen begonnen haben, in Prozent, 1998
18–19 Jahre
20–29 Jahre
30–39 Jahre
40–49 Jahre
50–59 Jahre
60–69 Jahre
70–79 Jahre
insgesamt
Männer
gesamt
West
Ost
Frauen
gesamt
West
Ost
100,0
95,0
89,5
80,5
73,0
75,3
84,4
85,7
100,0
95,2
88,4
79,9
73,5
74,3
86,0
85,1
100,0
94,4
93,6
82,2
70,5
79,6
77,7
87,6
100,0
94,1
87,6
79,6
57,8
44,9
36,9
79,6
100,0
93,2
87,7
82,9
61,4
43,9
34,5
80,1
100,0
97,4
87,6
65,9
41,0
48,2
48,5
77,7
Frauen rund 50% schon vor dem 20. Lebensjahr mit dem Rauchen begonnen.
Aufhörversuche
Nicht alle Raucher rauchen gern. Dies dokumentiert nicht nur
Tab. 3 über die Aussteigerquote. Die Vorstufen zum Ausstieg,
also die meist mehrfachen Aufhörversuche, finden sich in den
folgenden Zahlen: 1998 haben 35% der rauchenden Männer
(West 37 %, Ost 31 %) und 33% der rauchenden Frauen (Ost
und West identisch) während der letzten 12 Monate mindestens einmal versucht aufzuhören. Die rauchfreie Zeit betrug
einen Tag oder mehr. Da nur sehr geringe Unterschiede zwischen den einzelnen Altersgruppen bestehen, ist hierzu keine
Tabelle abgedruckt.
Veränderungen seit 1990/92
Um eine Aussage über die Veränderung der gesundheitlichen
Belastung der Bevölkerung durch das Rauchen zu erhalten,
wurden die Angaben zum Raucheranteil und zur mittleren Zigarettenzahl je (Zigaretten-)Raucher aus dem Bundes-Gesundheitssurvey 1998 mit entsprechenden Angaben eines
früheren Surveys von 1990/92 [Junge, Stolzenberg 1995] ver-
glichen. Die Zahlen beziehen sich – im Unterschied zu den
Tab. 1 bis 6 – auf die Altersgruppe 25–69 Jahre (zur Vergleichbarkeit der Merkmale siehe „Methodik“).
Wie aus Tab. 7 zu ersehen ist, ist der Raucheranteil bei den
Männern im Westen um knapp 3 Prozentpunkte gesunken,
im Osten hat er sich innerhalb von sieben Jahren nicht verändert. Bei den Frauen im Westen ging der Raucheranteil seit
1990/92 lediglich um knapp 1% in die Höhe. Bei den Frauen
im Osten erhöhte sich der Raucheranteil um 8 Prozentpunkte
– das ist ein Anstieg um 42% in nur sieben Jahren!
Betrachtet man die Entwicklung der mittleren Zigarettenzahl
je Zigarettenraucher zwischen 1990/92 und 1998 (Tab. 8), so
blieb der Tageskonsum bei Männern praktisch unverändert
bei 18 Zigaretten, bei Frauen ging er um eine Zigarette zurück.
Im Westen ging der tägliche Durchschnittskonsum zurück:
bei Männern um eine halbe, bei Frauen um eine Zigarette pro
Tag. Im Osten stieg der mittlere Konsum je Raucher bei Männern um eine, bei Frauen um eine halbe Zigarette.
Damit hat sich die gesundheitliche Belastung durch das Rauchen bei den Männern im Westen reduziert, weil sowohl die
Zahl der Raucher als auch die von diesen konsumierte Zigaret-
Tab. 7 Vergleich der Raucheranteile 1990/92 mit 1998 (in Prozent)
Altersgruppen analog Survey 1990/92, Gewichtung 1998 vergleichbar mit 1990/92 (siehe Thefeld et al. 1999 und „Methodik“)
25–29 Jahre
30–39 Jahre
40–49 Jahre
50–59 Jahre
60–69 Jahre
insgesamt
Männer
gesamt
1990/92 1998
West
1990/92 1998
Ost
1990/92 1998
Frauen
gesamt
1990/92 1998
West
1990/92 1998
Ost
1990/92 1998
47,4
49,3
40,3
32,8
24,9
39,5
46,0
48,5
40,9
32,8
25,5
39,2
52,6
52,1
38,1
32,7
22,3
40,6
41,0
39,2
28,4
16,9
11,7
26,7
41,8
40,8
32,1
18,6
12,3
28,3
38,0
33,7
14,3
10,7
9,5
20,5
46,0
48,9
39,0
30,3
18,0
37,4
45,0
47,4
37,6
30,7
18,1
36,5
49,8
54,3
44,4
28,6
17,4
40,5
Beitrag: 360.fm
Ausdruck vom 25.5.00
44,3
41,3
30,7
20,5
11,9
29,0
44,0
40,6
31,7
21,2
11,3
28,9
45,7
43,8
27,0
18,2
14,3
29,1
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S125
Das Rauchverhalten in Deutschland
Tab. 8 Vergleich der mittleren Anzahl gerauchter Zigaretten pro Zigarettenraucher 1990/92 mit 1998
Altersgruppen analog Survey 1990/92, Gewichtung 1998 vergleichbar mit 1990/92 (siehe Thefeld et al. 1999 und „Methodik“)
25–29 Jahre
30–39 Jahre
40–49 Jahre
50–59 Jahre
60–69 Jahre
insgesamt
Männer
gesamt
1990/92 1998
West
1990/92 1998
Ost
1990/92 1998
Frauen
gesamt
1990/92 1998
West
1990/92 1998
Ost
1990/92 1998
18,0
18,9
20,4
17,9
13,4
18,4
19,3
19,6
21,6
18,8
13,7
19,2
14,1
17,1
16,6
15,1
12,2
15,7
15,0
14,4
17,1
14,6
9,3
14,7
16,3
15,3
17,8
15,2
9,6
15,5
9,5
10,6
12,0
11,0
7,5
10,3
17,2
18,5
19,9
17,8
15,2
18,2
17,1
18,6
20,9
18,5
15,9
18,6
17,5
18,2
16,6
15,3
12,0
16,9
tenmenge abnahm. Bei den Frauen im Westen hat sich zwar
der Raucheranteil etwas erhöht, dafür ging allerdings der Tageskonsum um eine Zigarette zurück.
Im Osten stieg die Belastung: Wenn auch der Raucheranteil
bei Männern unverändert blieb, so wuchs doch die Konsummenge um eine Zigarette. Bei Frauen stiegen sowohl der Raucheranteil als auch der mittlere tägliche Konsum.
12,2
14,0
15,6
14,3
12,0
13,8
12,5
14,9
16,5
15,3
12,6
14,6
11,1
11,0
11,7
9,7
10,1
10,9
kungen auf die gesundheitlichen Folgen sind am Beispiel der
Lungenkrebs-Sterbeziffern auszumachen. Diese sind für die
Altersgruppen zwischen 45 und 74 Jahren in den letzten zehn
Jahren bei Männern um 4 bis 14% gesunken, bei Frauen um 21
bis 87% gestiegen [Junge 1998]. Die Schlußfolgerung des Autors: „Wenn Frauen rauchen wie Männer, sterben sie wie
Männer.“
Literatur
Diskussion
1
Die hier beschriebenen ersten Auswertungsergebnisse des
Bundes-Gesundheitssurveys 1998 sind die aktuellsten Zahlen
zum Rauchverhalten in Deutschland. Ein Problem, welches
viele derartige Untersuchungen haben, ist die Vergleichbarkeit mit anderen Erhebungen. Da fast jede erhebende Institution einen anderen Altersbereich untersucht und sich dieser
manchmal sogar beim selben Untersucher nach einigen Jahren ändert, ist es praktisch kaum möglich, ohne Vorliegen der
jeweiligen Datenbank einen größeren deckungsgleichen Altersbereich zu vergleichen. Versucht man statt dessen, nur
veröffentlichte Zahlen für 5- oder 10-Jahres-Altersgruppen zu
verwenden, so hat man es mit immer kleiner werdenden
Stichprobenumfängen und entsprechend größer werdenden
Streuungen zu tun. Ein möglicher erster Ausweg könnte im
Rahmen einer Arbeitsgruppe des 1999 begonnenen WHOPartnerschaftsprojekts Tabakabhängigkeit gefunden werden,
wenn aus den großen Erhebungen der letzten Jahre für den
größtmöglichen gemeinsamen Altersbereich Zahlen zum
Rauchverhalten berechnet werden.
Ein gravierendes Ergebnis der vorliegenden Auswertung ist
der enorme Anstieg des Raucheranteils bei Frauen in den
neuen Bundesländern. Dies kann als Bestätigung der Drogenaffinitätsstudie 1997 [Bundeszentrale für gesundheitliche
Aufklärung 1998] angesehen werden. Für die Altersgruppe
der 12–24jährigen wurde dort eine ähnlich drastische Erhöhung des Raucheranteils im Osten seit 1993 gefunden.
Auch in der vorliegenden Untersuchung wird wieder deutlich,
daß sich die Raucheranteile von Männern und Frauen immer
weiter annähern, je jünger die Befragten sind. Während in
den alten Bundesländern für die Altersgruppe 18–79 Jahre die
Anteile sich mit 36% für Männer und 28% für Frauen noch relativ deutlich unterscheiden, ist diese Differenz bei den 18–
29jährigen auf 2 bis 4% zusammengeschmolzen (48/46 %, 46/
42%, vgl. Tab. 4). Der zeitliche Trend spricht dafür, daß sich
diese Entwicklung fortsetzt: Bei Männern gehen die Raucheranteile eher zurück, bei Frauen steigen sie eher. Die Auswir-
2
3
4
5
6
7
8
9
Bellach BM, Knopf H, Thefeld W (1998). Der Bundes-Gesundheitssurvey 1997/98. Gesundheitswesen 60; Sonderheft 2: S59–
S68, Thieme, Stuttgart
Junge B (1998). Rauchen und Lungenkrebs bei Frauen: Werden
die Männer überholt? Bundesgesundheitsblatt 41: 474–477
Junge B (1999). Tabak – Zahlen und Fakten zum Konsum. In:
Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hrsg). Jahrbuch
Sucht 2000, 22–52, Neuland-Verlag, Geesthacht
Junge B, Stolzenberg H (1995). Tabakkonsum. In: Hoffmeister H,
Bellach BM (Hrsg). Die Gesundheit der Deutschen. Ein Ost-WestVergleich von Gesundheitsdaten. Auswertung der Daten des
Surveys Neue Bundesländer 1991/1992 im Vergleich mit den
Daten des 3. Durchgangs (t 2) des Nationalen Gesundheitssurveys der DHP (1990/1991). überarbeitete Auflage, RKI-Hefte 7/
1995, 160–164, Robert Koch-Institut, Berlin
Statistisches Bundesamt (Hrsg.) (1996). Fachserie 12: Gesundheitswesen, Reihe S. 3: Fragen zur Gesundheit 1995. MetzlerPoeschel, Stuttgart
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg) (1996).
Aktionsgrundlagen 1995. Köln
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg) (1998).
Die Drogenaffinität Jugendlicher in der Bundesrepublik
Deutschland – Wiederholungsbefragung 1997, Köln
Kraus L, Bauernfeind R (1998). Repräsentativerhebung zum Gebrauch psychoaktiver Substanzen bei Erwachsenen in Deutschland 1997. Sucht 44: Sonderheft 1
Thefeld W, Stolzenberg H, Bellach BM (1999). Bundes-Gesundheitssurvey: Response, Zusammensetzung der Teilnehmer, NonResponder-Analyse. Gesundheitswesen 61; Sonderheft 2: S57–
S61
Burckhard Junge
Robert Koch-Institut
Postfach 650280
D-13302 Berlin
Beitrag: 360.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S126 RISIKOFAKTOREN, GESUNDHEITSVERHALTEN, LEBENSWEISE
›› Körperliche Aktivität
Zusammenfassung: Anhand der Fragebogenangaben des
Bundes-Gesundheitssurveys 1998 wurde das aktuelle körperliche Aktivitätsniveau in Deutschland festgestellt. Durch Heranziehung von ähnlichen Daten aus dem Nationalen Gesundheitssurveys 1990/92 wurde den zeitlichen Veränderungen in
Aktivitätsniveaus nachgegangen. Derzeit ist ein sehr hoher
Anteil der Bevölkerung in der Freizeit nicht körperlich aktiv.
Dieser Anteil ist bei den ostdeutschen Männern höher als bei
den westdeutschen und bei den älteren ostdeutschen Frauen
ebenfalls höher als bei den älteren westdeutschen. Bei den
jüngeren ostdeutschen Frauen ist der Anteil der Inaktiven jedoch niedriger als im Vergleich zu Gleichaltrigen im Westen.
Der Anteil der Personen, die mehr als 2 Stunden pro Woche
körperlich aktiv sind, ist bei den westdeutschen Männern höher als im Osten und bei west- und ostdeutschen Frauen in
etwa gleich, aber in den jüngeren Jahrgängen ist der Anteil der
Aktiven bei den ostdeutschen Frauen höher. In den letzten
7 Jahren hat sich der Anteil der Inaktiven bei den unter
50jährigen Männern im Westen und Osten Deutschlands erhöht. Bei den über 50jährigen ist jedoch eine Abnahme des
Anteils der Inaktiven zu sehen. Bei Frauen ist die Abnahme
schon ab einem Alter von 30 Jahren festzustellen und auch wesentlich deutlicher als bei Männern. Generell hat der Anteil der
Aktiven, d.h. Personen, die mehr als 2 Stunden pro Woche
sportlich aktiv sind, bei Männern und Frauen in Ost und West
zugenommen.
Schlüsselwörter: Körperliche Aktivität
Physical Activity: The questionnaire data of the German National Health Interview and Examination Survey 1998 were
used to determine the actual physical activity level in Germany. With the use of similar data from the National Health
Surveys 1990/92 changes in activity level over time were estimated. At present, a large part of the population is sedentary
during leisure time. Among men this proportion is larger in the
eastern part and among older women in the western part of
Germany. The proportion of young sedentary women is, however, smaller in the eastern part of Germany. The proportion of
men engaged in sport for two hours per week or more, is
larger in the western part of Germany. Among West and East
German women this proportion is almost equal, although
among younger women more are active in the eastern part.
During the last seven years, the proportion of sedentary men
younger than 50 years of age has grown, whereas the same
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S126–S131
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
G. B. M. Mensink
Robert Koch-Institut, Berlin
proportion has declined among those over 50 years of age.
Among women a similar decline is apparent above 30 years of
age and more pronounced as it is for men. In general, the proportion of active men and women engaged in sport during leisure time for more than 2 hours per week has increased.
Key words: Physical Activity
Einleitung
Die Notwendigkeit, sich körperlich zu betätigen, hat sich in
vielen Lebensbereichen wie im Haushalt, bei der Arbeit und
während des Transports in den letzten Jahrzehnten ständig
verringert. Deshalb ist ein überwiegend sitzender Lebensstil
inzwischen der Normalfall. Für unseren Organismus ist ein
derartiger Lebensstil aber auf Dauer schädlich, und Menschen,
die etwas Positives für ihre Gesundheit tun wollen, sind gut
beraten, wenigstens in ihrer Freizeit regelmäßig aktiv zu sein.
Regelmäßige körperliche Aktivität verringert sowohl die Risikofaktoren als auch das Mortalitätsrisiko von Herz-KreislaufKrankheiten [Mensink 1996]. Ein körperlich aktiver Lebensstil
kann Übergewicht, Osteoporose und Wirbelsäulenproblemen
vorbeugen und kann sich auch positiv auf den Krankheitsverlauf von Diabetes mellitus und Kolon-Krebs auswirken [Bouchard 1994, Pate 1995, U.S. Department of Health and Human
Services 1996]. Selbst im hohen Alter ist regelmäßige Bewegung zu empfehlen, damit Gelenkbeweglichkeit, Muskelkraft
und Leistungsfähigkeit erhalten bleiben [Fiaterone 1994,
Mensink 1999, Chin A Paw 1999].
Im Bundes-Gesundheitssurvey 1998 wurden mehrere Fragen
zum körperlichen Aktivitätsverhalten gestellt. Ein erster
Überblick zum derzeitigen Bewegungsniveau in Deutschland
wird im folgenden dargestellt.
Methoden
Die Untersuchung des Bundes-Gesundheitssurveys enthielt
einen selbst auszufüllenden Fragebogen, in dem neben anderen gesundheitsrelevanten Fragen auch solche zum körperlichen Aktivitätsverhalten gestellt wurden. In einem 24-Stunden-Erinnerungsprotokoll wurde jeweils für die Werktage
und für das Wochenende erfragt, wieviel Zeit man mit unterschiedlichen Aktivitäten verbracht hat. Dies sollte insgesamt
24 Stunden ergeben. Es wurden die Kategorien „Schlafen“,
„Sitzen“, „leichte Tätigkeiten“, „mittelschwere Tätigkeiten“
und „anstrengende Tätigkeiten“ erfragt. Um die Einordnung
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S127
Körperliche Aktivität
anstrengende
Tätigkeit
2,1
Schlafen
7,6
anstrengende
Tätigkeit
1,3
mittelschwere
Tätigk.
2,9
Schlafen
8,6
leichte
Tätigkeit
4,9
leichte
Tätigkeit
4,3
Sitzen
7,2
Werktag
mittelschwere
Tätigk.
2,5
Abb. 1 Körperliche Aktivitäten in Stunden
pro Tag, Mittelwerte Männer.
Sitzen
6,8
Wochenendtag
zu erleichtern, wurden entsprechende Beispiele bei den Kategorien genannt:
– Schlafen, Ruhen
– Sitzen (z.B. im Büro, im Auto, beim Fernsehen, Essen oder
Lesen)
– leichte Tätigkeiten (z.B. Kochen, Spazierengehen, Einkaufen, Aufräumen, Körperpflege, Verkaufstätigkeit)
– mittelschwere Tätigkeiten (z.B. Joggen, Renovieren, Putzen,
Radfahren, Schwimmen, Bauarbeit)
– anstrengende Tätigkeiten (z.B. Lastentragen, schwere Gartenarbeit, Holzhacken, Leistungssport, Ballsport)
Außerdem wurde die Frage gestellt: „Wie oft treiben Sie
Sport?“ mit den Antwortmöglichkeiten:
– regelmäßig, mehr als 4 Stunden in der Woche
– regelmäßig, 2–4 Stunden in der Woche
– regelmäßig, 1–2 Stunden in der Woche
– weniger als 1 Stunde in der Woche
– keine sportliche Betätigung.
Für einen Vergleich mit der Befragung von 1991 wurden die
Kategorien „regelmäßig, mehr als 4 Stunden in der Woche“
und „regelmäßig, 2–4 Stunden in der Woche“ zusammengefaßt. Eine weitere Frage lautete: „Wie häufig treiben Sie in Ihrer Freizeit durchschnittlich Sport oder andere anstrengende
Tätigkeiten, durch die Sie ins Schwitzen bzw. außer Atem geraten?“ mit den Antwortmöglichkeiten „weniger als 10“, „10
bis 20“, „20 bis 30“ und „30 Minuten und mehr“ für die jeweiligen Kategorien:
– täglich
– 3- bis 6mal in der Woche
– 1- bis 2mal in der Woche
– seltener, ca. 1mal im Monat
oder die Antwortmöglichkeit „nie“.
Aus dieser letzten Frage wurde der Anteil der Bevölkerung errechnet, der die derzeitige Empfehlung der amerikanischen
Centers for Disease Control erreicht. Nach dieser Empfehlung
sollte jeder Erwachsene mindestens eine halbe Stunde an den
meisten, am besten an allen Tagen in der Woche auf einem
moderaten oder anstrengenden Niveau körperlich aktiv sein
[Pate 1995].
Die Ergebnisse wurden gewichtet dargestellt, um die Repräsentativität für die deutsche Bevölkerung von 1998 zu ge-
währleisten. Des weiteren wurde mit einer anderen Gewichtung ausgewertet, um einen Vergleich mit den Angaben aus
dem Gesundheitssurveys 1990/92 zu ermöglichen. Die Auswertungen erfolgten mit SAS, Version 6.12.
Körperliche Aktivitäten im Tagesverlauf
Generell ist der Tagesverlauf in Deutschland durch bewegungsarme Tätigkeiten geprägt. In Abb. 1 wird für Männer
und in Abb. 2 für Frauen die durchschnittliche Zeit, die täglich
für fünf Tätigkeitskategorien benutzt wird, dargestellt (durch
Abrundungen beträgt die gesamte Tageszeit nicht exakt 24
Stunden).
Im Durchschnitt schlafen die Männer 7,6 Stunden, die Frauen
7,9 Stunden an Werktagen. Am Wochenende schlafen beide
Geschlechter etwa eine Stunde mehr. Männer sitzen während
der Wochentage im Durchschnitt etwas länger als Frauen, am
Wochenende ist diese Differenz jedoch nur gering. Frauen
verbringen mehr Zeit mit leichten Tätigkeiten, sowohl während der Woche als auch am Wochenende. Diese Geschlechterdifferenz ist wahrscheinlich auf Tätigkeiten im Haushalt
zurückzuführen. Männer verbringen dagegen mehr Zeit mit
mittelschweren und anstrengenden Tätigkeiten. Bei Männern
ist die Differenz zwischen Werktagen und Wochenende am
größten bei anstrengenden Tätigkeiten. Hierfür ist wahrscheinlich der Teil der männlichen Bevölkerung verantwortlich, der berufsbedingt anstrengende Tätigkeiten erledigen
muß. Während sich bei Männern Werktage und Wochenenden unterscheiden, sind bei Frauen die zeitlichen Anteile der
einzelnen Tätigkeiten an Werktagen und Wochenenden im
Mittel etwa gleich. Im übrigen sehen die täglichen Aktivitätsmuster bei Frauen im Westen und im Osten Deutschlands
ziemlich ähnlich aus (Ergebnisse sind nicht dargestellt). Männer im Osten jedoch verbringen im Mittel an Werktagen jeweils eine halbe Stunde mehr mit mittelschweren und anstrengenden Tätigkeiten. Im Osten ist offensichtlich mehr
körperlicher Einsatz während der Arbeit gefragt.
Freizeitaktivität
Mehr als die Hälfte des Tages verbringen die Deutschen im
Durchschnitt mit Schlafen und Sitzen. Es gilt vor allem für
Personen, bei denen der inaktive Teil des Tages noch größer
ist, in der Freizeit einen Ausgleich zu finden. Inwieweit dieser
S128 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
anstrengende
Tätigkeit
1
G. B. M. Mensink
anstrengende
Tätigkeit
mittelschwere
0,7
Tätigk.
2,4
mittelschwere
Tätigk.
2,7
Schlafen
7,9
Schlafen
8,7
leichte
Tätigkeit
5,7
leichte
Tätigkeit
5,7
Sitzen
6,8
Sitzen
6,6
Werktag
Wochenendtag
Ausgleich tatsächlich stattfindet, kann anhand der erfragten
Zeit und Häufigkeit des Freizeitsports geprüft werden. Von
der gesamten Bevölkerung betreiben 43,8% der Männer und
49,5% der Frauen überhaupt keinen Sport in ihrer Freizeit. Lediglich 10,5% der Männer und 5,1% der Frauen sind mehr als
4 Stunden pro Woche sportlich aktiv. Immerhin sind noch
13,0% der Männer und 10,3% der Frauen wenigstens 2–
4 Stunden pro Woche sportlich aktiv. Diese sportliche Aktivität in der Freizeit ist für die jeweiligen Altersklassen und für
Deutschland Ost und West in Abb. 3 für die Männer und in
Abb. 4 für Frauen aufgeführt.
Der Anteil der Inaktiven nimmt mit dem Alter erheblich zu
und erreicht im Alter von 70–79 Jahren 72,3 bzw. 73,5% bei
den westdeutschen Männern und Frauen und sogar 78,7 bzw.
82,2% bei den ostdeutschen Männern und Frauen. Im Alter
von 18–19 Jahren ist nur ein relativ geringer Anteil inaktiv. Bei
den 18–19jährigen Männern im Westen ist der Anteil der Inaktiven mit 9,8% niedriger als im Osten mit 15,7%. Bei den 18–
19jährigen Frauen liegt der Anteil der Inaktiven allerdings
schon bei 26,5% im Westen und 21,1% im Osten. Bei den älteren Frauen ist der Anteil der Inaktiven im Osten höher als im
Westen.
100%
West
Ein Anteil von 35,6% der westdeutschen Männer, aber nur
15,7% der ostdeutschen Männer im Alter von 18–19 Jahren ist
mehr als 4 Stunden pro Woche sportlich aktiv. Dieser Anteil
nimmt mit dem Alter ab, und im hohen Alter ist er im Westen
und im Osten etwa gleich mit 6,4% bzw. 4,4%. Bei den Frauen
im Alter von 18–19 Jahren ist der Anteil derer, die mehr als
4 Stunden pro Woche aktiv sind, mit 11,8% im Westen und
12,2% im Osten etwa gleich. Auch hier nimmt der Anteil mit
dem Alter ab und ist bei ostdeutschen Frauen im Alter von
70–79 Jahren nicht nachweisbar.
Insgesamt ist der Anteil der Inaktiven in der Bevölkerung alarmierend hoch. Die Differenzen im Aktivitätsniveau zwischen
West und Ost stellen sich bei den Männern deutlicher heraus.
Vor allem die jungen Männer im Osten sind, verglichen mit
Gleichaltrigen im Westen, eine Problemgruppe mit einem höherem Anteil an Inaktiven.
Zeitliche Veränderungen
Diese Angaben zur sportlichen Aktivität können den Daten
des Bundes-Gesundheitssurveys 1991 gegenübergestellt werden. Die zeitlichen Differenzen im Anteil der Aktiven, definiert als diejenigen, die mehr als 2 Stunden Sport pro Woche
Ost
80%
60%
40%
20%
0%
Abb. 2 Körperliche Aktivitäten in Stunden
pro Tag, Mittelwerte Frauen.
Kein
Stunden pro Woche
< 1 1–2 2–4
18–19 20–29 30–39 40–49 50–59 60–69 70–79
>4
18–19 20–29 30–39 40–49 50–59 60–69 70–79
Altersklassen
Abb. 3 Verteilung der wöchentlichen Sportbetätigung, Männer nach Altersklassen
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S129
Körperliche Aktivität
West
100%
Ost
Abb. 4 Verteilung der wöchtentlichen Sportbetätigung, Frauen nach Altersklassen.
80%
60%
40%
20%
0%
Stunden pro Woche:
Kein < 1 1–2 2–4 > 4
18–19 20–29 30–39 40–49 50–59 60–69 70–79
18–19 20–29 30–39 40–49 50–59 60–69 70–79
Altersklassen
treiben und der Inaktiven, definiert als diejenigen, die überhaupt keine sportliche Aktivität treiben, wurden errechnet
(Prozentanteil ‘98 – Prozentanteil ‘91). Die Differenzen über
diesen Zeitraum sind in Abb. 5 für die Männer und Abb. 6 für
die Frauen nach Altersklassen für Deutschland West und Ost
dargestellt. Da in die Befragung von 1991 nur die Gruppe der
25–69jährigen einbezogen war, betrifft der Vergleich nur diesen Altersbereich.
Bezogen auf die Gesamtpopulation, hat während dieser Jahre
der Anteil der Männer, die sich mehr als 2 Stunden pro Woche
sportlich betätigen, um 4,0 Prozentpunkte zugenommen, bei
den Frauen sogar um 5,9 Prozentpunkte. Jedoch ist auch der
Anteil der Inaktiven unter den Männern um 2,3 Prozentpunkte gestiegen, bei den Frauen hingegen um 3,5 Prozentpunkte gesunken. Insgesamt ist (wie aus Abb. 3 und 4 zu entnehmen) der Anteil von Aktiven im Westen bei Männern und
Frauen höher und der Anteil von Inaktiven derzeit geringer
als im Osten. Der Anteil von aktiven Männern hat im Osten
lediglich um 0,6 Prozentpunkte zugenommen, im Westen jedoch um 4,9 Prozentpunkte. Die Frauen sind über die Jahre
deutlich aktiver geworden, der Anteil der Aktiven ist im
Westen um 6,0 Prozentpunkte, im Osten um 5,5 Prozentpunkte gestiegen. Der Anteil der inaktiven Frauen ist im
Westen um 2,7 Prozentpunkte und im Osten um 6,5 Prozentpunkte geringer geworden. Die zeitlichen Veränderungen
sind für die jeweiligen Altersklassen sehr unterschiedlich
(siehe Abb. 5 für Männer und Abb. 6 für Frauen). Der Anteil
der Inaktiven hat in den jüngeren Jahrgängen bei Männern
zugenommen. Dies zeigt sich am deutlichsten im Osten
Deutschlands mit 15,2 Prozentpunkten Zunahme der 25–
29jährigen gegenüber 4,5 Prozentpunkten Zunahme bei den
Westdeutschen in diesem Alter. Unter den 40–49jährigen ist
auch im Westen noch eine Zunahme des Anteils der Inaktiven
von 5,3 Prozentpunkten zu verzeichnen, im Osten ist jedoch
eine Abnahme der Inaktiven von 2,1 Prozentpunkten festzustellen. In den älteren Jahrgängen ist sowohl im Westen als
auch im Osten eine Abnahme des Anteils der Inaktiven zu sehen. Anscheinend ist in den letzten 7 Jahren mehr Personen
im höheren Alter bewußt geworden, daß sie körperlich aktiv
werden sollten. Dies zeigt sich auch in einem Zuwachs des
Anteils der Aktiven in dieser Altersgruppe. Während bei 25–
29jährigen im Westen nur ein Anstieg der Aktiven von 1,6
Prozentpunkten und im Osten sogar eine Abnahme von 6,7
Prozentpunkten zu sehen ist, zeigt sich bei den 60–69jährigen
Männern im Westen ein Anstieg von 8,0 Prozentpunkten. Bei
den ostdeutschen Männern über 40 ist im Durchschnitt eine
Altersklassen
Abb. 5 Differenzen im Anteil der Inaktiven
und Aktiven 1991–1998, Männer nach Altersklassen in Deutschland West und Ost.
Differenz Inaktive
25–29
30–39
40–49
50–59
60–69
Differenz Aktive (> 2 Std. Sport/W.)
25–29
30–39
40–49
Deutschland
West
Ost
50–59
60–69
–10%
–5%
0%
5%
10%
15%
20%
S130 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
G. B. M. Mensink
Altersklassen
Differenz Inaktive
25–29
30–39
Deutschland
West
Ost
Abb. 6 Differenzen im Anteil der Inaktiven
und Aktiven 1991–1998, Frauen nach Altersklassen in Deutschland West und Ost.
40–49
50–59
60–69
Differenz Aktive (> 2 Std. Sport/W.)
25–29
30–39
40–49
50–59
60–69
–15%
–10%
–5%
0%
5%
geringere Zunahme festzustellen. Bei den 50–59jährigen ist
hier sogar eine Abnahme des Anteils der Aktiven zu sehen.
Bei Frauen sieht das Bild der Differenzen völlig anders aus,
wie in Abb. 6 zu sehen ist. Bei den 25–29jährigen hat der Anteil der inaktiven Frauen im Westen 6,0 Prozentpunkte zugenommen, im Osten jedoch nur 1,1 Prozentpunkt. Bei den 30–
39jährigen Frauen ist der Anteil von Inaktiven im Westen mit
3,0 Prozentpunkten immer noch etwas gestiegen, bei den
Frauen im Osten hat der Anteil der Inaktiven mit –6,4 Prozentpunkten deutlich abgenommen. In den höheren Altersklassen von über 40 Jahren ist im Westen und im Osten der
Anteil der inaktiven Frauen wesentlich gesunken, außer bei
den westdeutschen Frauen im Alter von 60–69 Jahren. Hier ist
der Anteil der Inaktiven im Vergleich zu 1991 etwa gleich geblieben. Im Osten hat in der gleichen Altersklasse der Anteil
der Inaktiven 11,4 Prozentpunkte abgenommen.
Bei Frauen ist über alle Altersklassen der Anteil der Aktiven
gestiegen. In den jüngeren Jahrgängen ist die Zunahme im
Osten, bei den über 40jährigen im Westen höher. Insgesamt
hat sich über die Zeit bei Frauen eine deutliche Verbesserung
der körperlichen Aktivität gezeigt mit Ausnahme des Anstiegs
der Inaktiven im Alter von 25–29 Jahren und im Westen von
50%
10%
15%
30–39 Jahren. Bei Männern ist der Anteil der Aktiven generell
ebenfalls gestiegen, aber auch der Anteil der Inaktiven in den
jüngeren Jahrgängen ist deutlich angestiegen, vor allem bei
den ostdeutschen Männern.
Es ist wünschenswert, vor allem diese letzte Gruppe zu mehr
Aktivität zu bewegen durch entsprechende präventive Maßnahmen und entsprechende Aktivitätsempfehlungen. In den
USA wird derzeit empfohlen, daß jeder Erwachsene mindestens eine halbe Stunde an den meisten Tagen, idealerweise
an allen Tagen der Woche, moderat körperlich aktiv sein
sollte (wobei man leicht ins Schwitzen geraten soll). Der Anteil der Personen in der deutschen Bevölkerung, der diese
Empfehlungen derzeit erreicht, ist für Männer und Frauen im
Westen und Osten nach Altersklassen in Abb. 7 dargestellt.
Mit 46,0% erreichen wesentlich mehr 18–19jährige westdeutsche Männer die Empfehlungen als ostdeutsche mit nur
30,7%. In den älteren Jahrgängen ist die Differenz bei den
Männern wesentlich geringer und ist sogar bei den 70–
79jährigen ostdeutschen Männern deutlich höher mit 12,4%
gegenüber 5,5% im Westen. Insgesamt ist der Anteil der
Frauen, die dieser Empfehlung entsprechen, deutlich geringer
Deutschland
West Ost
40%
30%
Männer
Frauen
20%
10%
0%
18–19 20–29 30–39 40–49 50–59 60–69 70–79
18–19 20–29 30–39 40–49 50–59 60–69 70–79
Altersklassen
Abb. 7 Personen, die die derzeitige
Empfehlung zur körperlichen Aktivität erreichen, Männer und Frauen nach Altersklassen
in Deutschland West und Ost.
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S131
Körperliche Aktivität
als der der Männer. Immerhin beträgt bei den ostdeutschen
Frauen im Alter von 18–19 Jahren der Anteil 19,2%.
Literatur
1
Insgesamt erreicht nur ein geringer Anteil der Bevölkerung
die Empfehlungen. Eine Zunahme der körperlichen Aktivität
wäre insbesondere für die Inaktiven wünschenswert, um die
Prävalenz von Risikofaktoren vor allem für Herz-KreislaufKrankheiten zu senken. Eine Verbesserung der körperlichen
Aktivität wäre durchaus erreichbar. Die positive Entwicklung
der letzten Jahre im Anteil der Aktiven zeigt, daß Veränderungen im Aktivitätsniveau durch vermehrte körperliche Aktivität in der Freizeit möglich sind.
Danksagung
Ich danke Frau Brigitte Flemming für die Hilfe bei der Manuskriptgestaltung.
2
3
4
5
6
7
Bouchard C, Shephard RJ, Stephens T (Hrsg.) (1994). Physical activity, fitness and health: International proceedings and consensus statement. Champaign, IL: Human Kinetics Publishers
Chin A, Paw M (1999). Aging in balance. Physical exercise and
nutrient dense foods for the vulnerable elderly. Thesis Wageningen Universiteit
Fiaterone MA, O'Neill EF, Ryan ND et al. (1994). Exercise training
and nutritional supplementation for physical frailty in very elderly people. N Engl J med 330:1769–1775
Mensink, GBM, Deketh M, Mul MDM, Schuit AJ, Hoffmeister H
(1996). Physical activity and its association with cardiovascular
risk factors and mortality. Epidemiology 7: 391–397
Mensink G, Ziese T, Kok F (1999). Benefits of leisure time physical activity on the cardiovascular risk profile at older age. Int J
Epidemiol 28: 659–666
Pate RR, Pratt M, Blair SN et al. (1995). Physical activity and public health: A recommendation from the centers for disease control and prevention and the American College of Sports Medicine. JAMA 273: 402–407
U.S. Department of Health and Human Services (1996). Physical
activity and health: A report of the Surgeon General. Atlanta,
GA: U.S. Department of Health and Human Services, Centers for
Disease Control and Prevention, National Center for Chronic
Disease Prevention and Health Promotion
G. B. M. Mensink
Robert Koch-Institut
Postfach 65 02 80
D-13302 Berlin
S132 RISIKOFAKTOREN, GESUNDHEITSVERHALTEN, LEBENSWEISE
von
›› Einnahme
Nahrungsergänzungspräparaten
und Ernährungsverhalten
Zusammenfassung: In den letzten Jahren ist ein deutlicher Anstieg bei der Einnahme von Vitamin- und Mineralstoffpräparaten in Deutschland zu beobachten. Anhand der Daten des Bundes-Gesundheitssurveys und des Ernährungssurveys 98 wurde
untersucht, inwieweit Personen mit einer regelmäßigen Einnahme derartiger Präparate sich in ihrer üblichen Ernährung
von anderen unterscheiden. Es wurde festgestellt, daß die
Gruppe der regelmäßigen Präparatekonsumenten im Durchschnitt eine höherwertige Ernährung mit einem höheren Anteil an Vitaminen und Mineralstoffen zu sich nimmt. Dieser Zusammenhang wurde beobachtet nach Adjustierung für Alter
und Gesamtenergie. Differenzen in anderen gesundheitsrelevanten Parametern wie Body-Mass-Index, Rauchverhalten,
körperliches Aktivitätsniveau und Sozialschicht deuten darauf
hin, daß sich die Gruppe der regelmäßigen Konsumenten von
Vitamin- und Mineralstoffpräparaten im allgemeinen gesundheitsbewußter verhält.
Schlüsselwörter: Nahrungsergänzungsmittel – Vitamine –
Mineralstoffe – Gesundheitsverhalten
Intake of Dietary Supplements and Nutritional Behaviour: In
recent years there has been a significant increase in the use of
dietary supplements in Germany. Using data of the German
National Health Interview and Examination Survey and the Nutrition Survey 1998, the differences in usual dietary intake between regular supplement users and others were examined.
Regular supplement users have, on average, a more nutrient
rich dietary pattern with a higher vitamin and mineral content. This was observed even after adjustment for age and total energy intake. Additional differences in other health relevant characteristics like body mass index, smoking habits,
level of physical activity and social economic status between
regular supplement users and others, indicate that the regular
users show in general a more health concious behaviour.
Key words: Dietary Supplements – Vitamins – Minerals –
Health Behaviour
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S132–S137
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
G. B. M. Mensink1, A. Ströbel2
1
2
Robert Koch-Institut, Berlin
Fachhochschule, Hamburg
Einleitung
In den letzten Jahren haben sich das Marktangebot und der
Verbrauch von Vitamin- und Mineralstoffpräparaten erheblich vermehrt [Fischer 1999]. Diese Entwicklung ist dann bedenklich, wenn Personen versuchen, eine einseitige Ernährung durch derartige Präparate auszugleichen, ohne zu versuchen, ihre einseitige Ernährung zu ändern. Nach der
derzeitigen Expertenmeinung ist eine zusätzliche Supplementierung bei ausgewogener Ernährung nicht notwendig.
Eine abwechslungsreiche Ernährung mit viel Obst und Gemüse deckt ausreichend den Vitamin- und Mineralstoffbedarf. Eine mögliche Präventivwirkung von hochdosierten, antioxidativ wirkenden Vitaminen, z.B. gegen Krebs und HerzKreislauf-Krankheiten, wird zur Zeit diskutiert, gilt aber noch
nicht als bewiesen [Strain 1999].
Über die Einnahme von Vitamin- und Mineralstoffpräparaten
gibt es für Deutschland nur wenige Untersuchungen [Fischer
1999]. Die Daten des Ernährungssurveys 1998 [Mensink
1998] bieten die Möglichkeit, eine Bestandsaufnahme des
Verbrauchs von Vitamin- und Mineralstoffpräparaten vorzunehmen. Außerdem kann untersucht werden, inwieweit sich
regelmäßige Konsumenten derartiger Präparate in ihrer üblichen Ernährung unterscheiden von Personen, die solche Präparate nicht einnehmen und ob andere gesundheitsrelevante
Merkmale mit dem Präparatekonsum zusammenhängen.
Methoden
Der Ernährungssurvey 1998 ist eines der Module des von
Oktober 1997 bis März 1999 durchgeführten Bundes-Gesundheitssurveys [Bellach 1998, Thefeld 1999]. In einer zufällig
gewählten Unterstichprobe der Teilnehmer wurde neben den
physiologischen Untersuchungen und dem selbstausfüllbaren
Fragebogen ein umfangreiches Ernährungsinterview mit Hilfe
des Computerprogramms DISHES 98, das auf der DietHistory-Methode basiert, erhoben. Die Interviews wurden
von fünf Interviewerinnen mit einer ernährungswissenschaftlichen Ausbildung geführt, die durchschnittliche Interviewdauer betrug etwa 35 Minuten. Dies ist deutlich weniger,
als für ein klassisches Diet History gebraucht wird (ein bis
zwei Stunden), und ist zum großen Teil auf die Unterstützung
durch das Computerprogramm zurückzuführen.
Insgesamt wurden von 4030 Personen ausführliche Ernährungsdaten erhoben (nach Ausschluß von zwei Probandinnen
mit einer Formuladiät), und zwar von 2267 Frauen und 1763
Männern. Das Hauptziel dieser Studie war, ein umfangreiches
Einnahme von Nahrungsergänzungspräparaten und Ernährungsverhalten
Bild der Lebensmittel- und Nährstoffaufnahme der Bevölkerung zu erhalten. Neben der mahlzeitenorientierten Lebensmittelbefragung wurden auch für die am häufigsten verzehrten Vitamin- und Mineralstoffpräparate die Einnahmehäufigkeiten und Handelsnamen erfragt. Während die
Ernährungsbefragung sich auf die letzten vier Wochen
konzentrierte, wurden für die Supplementeinnahme die vergangenen 12 Monate herangezogen. Ermittelt wurde die Einnahme von Vitamin B, Folsäure, Vitamin C, Vitamin E und
Multivitaminpräparaten sowie Mineralstoffen.
Mögliche Antworten auf die Frage „Wie häufig haben Sie in
den letzten 12 Monaten folgende Präparate zu sich genommen?“ waren „nie“, „(fast) täglich“, „mehrmals in der Woche“,
„etwa einmal in der Woche“, „nicht das ganze Jahr über – periodenweise einige Wochen – insgesamt mindestens 3 Wochen“ und „seltener“ für die jeweiligen Präparate. Anhand der
Häufigkeitsangaben zu den unterschiedlichen Vitaminpräparaten wurden drei Konsumgruppen gebildet. (Der Konsum
von Mineralstoffpräparaten wurde hierbei nicht berücksichtigt.) Die Teilnehmer, die angaben, derartige Präparate „nie“
einzunehmen, bildeten die Vergleichsgruppe, diejenigen, die
angaben, eines oder mehrere dieser Präparate „periodenweise
ca. 3 Wochen im Jahr“ oder „selten“ einzunehmen, wurden als
„selten“ klassifiziert, und Teilnehmer, die angaben, eins oder
mehrere dieser Präparate „fast täglich“, „mehrmals“ oder
„einmal in der Woche“ zu sich zu nehmen, wurden als „regelmäßige Konsumenten“ eingestuft.
Während des Interviews wurden ebenfalls Daten zur täglichen körperlichen Aktivität erhoben. Hierbei wurde die
durchschnittliche Zeit, die jeweils im normalen 24-StundenTagesablauf aufgewendet wird für Schlafen, Ruhen, Sitzen,
leichte, mittelschwere und anstrengende Tätigkeiten, ermittelt. Dies wurde getrennt für Wochentage und Wochenenden
erfragt [Mensink 1999]. Diese Angaben wurden in einem Aktivitätsscore zusammengefaßt, wobei die Aktivitäten mit entsprechenden metabolischen Werten gewichtet wurden (Verfahren wie in Mensink 1996). Anschließend wurde ein durchschnittlicher Tagesscore gebildet durch Gewichtung der
Scores für die Wochentage und Wochenenden im Verhältnis
5:2.
Die Angaben zum Lebensmittelverzehr wurden umgerechnet
in durchschnittliche Tagesmengen, und mit Hilfe des Bundeslebensmittelschlüssels Version II.3 wurde hieraus die Tagesaufnahme der einzelnen Nährstoffe errechnet. Die so ermittelten Aufnahmewerte von Makro- und Mikronährstoffen
wurden für die drei Konsumgruppen getrennt dargestellt. Differenzen zwischen der Gruppe, die regelmäßig Präparate einnimmt, und der, die keine Präparate einnimmt, wurden auf
statistische Signifikanz getestet. Dies geschah außerdem für
weitere gesundheitsrelevante Parameter wie den Body-MassIndex und die körperliche Aktivität. Da die Ernährung sehr
vom Geschlecht und Alter abhängig ist und außerdem die absolute Aufnahme an Nährstoffen durch die gesamte Energieaufnahme bestimmt wird, wurden die Mittelwerte der Nährstoffaufnahmen der einzelnen Gruppen für Alter und Gesamtenergieaufnahme adjustiert und für Männer und Frauen
getrennt dargestellt. Die Auswertungen erfolgten mit SAS
Version 6.12 und SPSS Version 8.0.
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S133
Ergebnisse
Die Prävalenz der Personen, die mindestens einmal pro Woche die jeweiligen Vitamin- und Mineralstoffpräparate einnehmen, ist in Tab. 1 dargestellt.
Tab. 1 Konsum von Mineralstoff- und Vitaminpräparaten, Personenanteil mit Einnahme von mindestens einmal pro Woche
Mineralstoffe
Multivitamine
Vitamin C
Vitamin B
Folsäure
Vitamin E
mindestens eines der genannten
Präparate
Männer
Frauen
8,8%
9,4%
3,2%
0,9%
0,1%
2,2%
12,5%
9,5%
4,3%
1,5%
0,6%
3,8%
17,9%
21,9%
Insgesamt nehmen 22% der Frauen und 18 % der Männer wenigstens eines der Präparate mindestens einmal pro Woche
zu sich. Bei Männern ist der Konsum etwas geringer. Dies gilt
auch für die einzelnen abgefragten Präparate, außer bei den
Multivitaminpräparaten, wo die Konsumhäufigkeit bei Männern und Frauen etwa gleich ist. Die am häufigsten genannten
Präparate waren Vitamin-C- und Multivitaminpräparate.
Auch Mineralstoffpräparate wurden häufig angegeben, aber
dahinter verbirgt sich ein breites Spektrum an unterschiedlichen Mineralstoffen.
In Abb. 1 ist der Gesamtkonsum der Vitaminpräparate (ohne
Mineralstoffe) nach Altersklassen dargestellt. Bei Frauen
nimmt der Präparatekonsum langsam mit dem Alter zu und
erreicht ein Maximum in der Altersklasse der 60- bis
69jährigen. Bei Männern zeigt sich fast ein spiegelbildlicher
Verlauf, hier ist die Einnahmehäufigkeit unter den 60- bis
69jährigen am geringsten. Bei den jüngeren und den 70- bis
79jährigen Männern wurden die meisten regelmäßigen Konsumenten registriert.
In Tab. 2 sind einige demographische Merkmale der Vitamineinnahmegruppen aufgeführt. Sowohl bei Männern als auch
bei Frauen unterscheidet sich das Alter nicht signifikant bei
Personen, die regelmäßig Vitaminpräparate konsumieren,
und Personen, die diese Präparate nicht zu sich nehmen. Das
Alter der Gruppe der Selten-Konsumenten ist deutlich geringer und signifikant niedriger als das Alter der Gruppe der
Nicht-Präparatenutzer. Der Schichtindex ist in der Gruppe der
regelmäßigen und der seltenen Nutzer von Vitaminpräparaten signifikant höher als in der Gruppe der Nicht-Präparatenutzer. Auch der Prozentanteil von Personen aus der Oberschicht ist bei den Präparatenutzern deutlich höher als bei
den Nichtnutzern. Der Anteil von Personen aus den neuen
Bundesländern unter den Präparatenutzern ist geringer. Dies
deutet auf einen weniger häufigen Präparatekonsum im
Osten Deutschlands hin. Bei den Männern gibt es keine Differenzen bezüglich des Prozentanteils von Rauchern zwischen
den regelmäßigen Konsumenten und denen, die keine Präparate zu sich nehmen. Bei den seltenen Nutzern ist jedoch der
Prozentanteil von Rauchern etwas niedriger. Bei Frauen ist
der Prozentanteil von Rauchern unter den Nichteinnehmern
etwas höher als in den anderen Gruppen.
S134 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
20%
G. B. M. Mensink, A. Ströbel
Männer
18%
Frauen
16%
Abb. 1 Regelmäßiger Konsum von Vitaminpräparaten nach Alter und Geschlecht, Prozentanteil mit einer Einnahmehäufigkeit von
mindestens einmal pro Woche.
14%
12%
10%
8%
6%
4%
2%
0%
18–19 20–29 30–39 40–49 50–59 60–69 70–79
18–19 20–29 30–39 40–49 50–59 60–69 70–79
Alter in Jahren
Ein wesentlich höherer Anteil der regelmäßigen und seltenen
Nutzer von Präparaten treibt mehr als zwei Stunden Sport in
der Woche im Vergleich zu den Nicht-Präparatenutzern. Dies
gilt für beide Geschlechter und ist im Einklang mit der deutlich geringeren Prävalenz von übergewichtigen Personen in
diesen beiden Gruppen. Interessant ist auch die Beobachtung,
daß der tägliche Aktivitätsscore bei Männern, die regelmäßig
Vitaminpräparate zu sich nehmen, signifikant niedriger ist als
in der Vergleichsgruppe, obwohl diese Personen angeben,
nie
mehr Sport zu treiben. Dies ist möglicherweise zurückzuführen auf die höhere Sozialschicht dieser Gruppe, die ein geringeres Aktivitätsniveau während ihrer Arbeitszeit hat und
Sport treibt, um das auszugleichen. Demographisch scheinen
sich die Gruppen der seltenen und regelmäßigen Vitamineinnehmer insgesamt ähnlich zu sein, deshalb wäre es zu vertreten, diese Gruppen zusammenzuführen. Da die Definition von
seltener Einnahme jedoch problematisch ist und teilweise
auch ein saisonales Verhalten widerspiegelt, wurden die
Einnahme von Vitaminpräparaten
selten
≥ einmal/Woche
Männer
n
Alter1
Schichtindex1
Zugehörigkeit:
zur Oberschicht
zu den neuen Bundesländern2
Raucher2
BMI ≥ 302
Sport (≥ 2 Std.) 2
Aktivitätsscore1
1268
45,3
(44,4–46,1)
11,7
(11,5–11,9)
255
41,5
(39,7–43,3)
13,0
(12,5–13,4)
240
44,2
(42,2–46,3)
12,7
(12,3–13,2)
23,0%
38,1%
28,7%
20,0%
21,6%
52,5
(51,6–53,3)
34,8%
16,5%
25,1%
13,7%
29,1%
47,9
(46,2–49,5)
32,6%
23,3%
28,8%
15,8%
33,8%
47,7
(46,0–49,4)
1540
44,2
(43,4–45,0)
10,9
(10,7–11,1)
380
41,1
(39,6–42,6)
12,2
(11,8–12,6)
347
46,2
(44,5–47,8)
11,8
(11,4–12,2)
17,1%
41,8%
22,3%
22,5%
15,6%
46,1
(45,5–46,7)
29,4%
19,2%
21,6%
15,3%
18,3%
46,2
(45,1–47,3)
22,7%
28,5%
20,8%
19,0%
20,2%
45,6
(44,4–46,7)
Frauen
n
Alter1
Schichtindex1
Zugehörigkeit:
zur Oberschicht2
zu den neuen Bundesländern2
Raucher2
BMI ≥ 302
Sport (≥ 2 Std.) 2
Aktivitätsscore1
1
2
Mittelwerte und 95%-Konfidenzintervall
Prozentanteil in der jeweiligen Konsumgruppe
Tab. 2 Demographische Merkmale von
Personen mit unterschiedlicher Einnahme
von Vitaminpräparaten
Einnahme von Nahrungsergänzungspräparaten und Ernährungsverhalten
nie
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S135
Einnahme von Vitaminpräparaten
selten
≥ einmal/Woche2
Männer
Energie (kcal)
Eiweiß (g)
Fett (g)
gesättigte Fettsäuren (g)
ungesättigte Fettsäuren (g)
Cholesterin (mg)
Kohlenhydrate (g)
Ballaststoffe (g)
Alkohol (g)
2650 (2609–2691)
101,2 (100,3–102,1)
98,8 (97,9–99,7)
42,3 (41,8–42,8)
35,6 (35,2–36,0)
405,8 (399,6–411,9)
294,0 (291,7–296,4)
28,0 (27,6–28,5)
17,3 (16,3–18,3)
2515 (2425–2606)
100,2 (98,2–102,2)
99,4 (97,3–101,4)
42,7 (41,6–43,8)
35,2 (34,3–36,0)
396,6 (382,9–410,3)
292,4 (287,1–297,7)
29,0 (28,0–30,1)
18,4 (16,2–20,7)
2583 (2490–2676)
101,2 (99,1–103,3)
98,7 (96,6–100,8)
41,7 (40,6–42,8)
35,8 (34,9–36,7)
396,6 (382,5–410,6)
295,1 (289,7–300,5)
29,6 (28,6–30,7)**
16,7 (14,4–19,0)
1903 (1876–1930)
72,9 (72,3–73,5)
73,6 (73,0–74,2)
32,1 (31,8–32,4)
25,6 (25,4–25,9)
304,6 (300,3–308,9)
225,5 (223,9–227,0)
24,2 (23,9–24,5)
4,8 (4,4–5,2)
1889 (1835–1944)
71,9 (70,8–73,1)
73,4 (72,2–74,6)
32,1 (31,5–32,8)
25,5 (25,0–26,0)
304,3 (295,7–313,0)
225,3 (222,2–228,5)
25,1 (24,5–25,8)
6,1 (5,3–6,9)
2006 (1949–2063)**
72,7 (71,5–74,0)
73,5 (72,2–74,8)
32,2 (31,5–32,9)
25,5 (25,0–26,0
303,9 (294,9–313,0)
224,4 (221,2–227,7)
25,0 (24,3–25,7)*
5,7 (4,9–6,6)
Tab. 3 Aufnahme von
Makronährstoffen bei
Personen mit unterschiedlicher Einnahme
von Vitaminpräparaten,
Mittelwerte und
95 %-Konfidenzintervall 1
Frauen
Energie (kcal)
Eiweiß
Fett (g)
gesättigte Fettsäuren (g)
ungesättigte Fettsäuren (g)
Cholesterin (mg)
Kohlenhydrate (g)
Ballaststoffe (g)
Alkohol (g)
1
Adjustiert für Alter und (außer bei Energie) Gesamtenergieaufnahme
Die Mittelwerte der regelmäßigen Konsumenten unterscheiden sich von denen der Vergleichsgruppe („nie“) mit einer Signifikanz von * p≤0,05; ** p≤0,01; *** p≤0,001
2
Gruppen getrennt dargestellt. Es wurden nur die statistisch
signifikanten Differenzen zwischen regelmäßigen und NichtPräparatenutzern (Vergleichsgruppe) berechnet und in den
nachfolgenden Tabellen dargestellt. Die mittlere tägliche Aufnahme von Energie und Makronährstoffen ist getrennt für die
einzelnen Präparatekonsumgruppen in Tab. 3 aufgeführt.
Diese Werte wurden für Alter und (außer bei Gesamtenergie)
für Gesamtenergie adjustiert, da eine Differenz bei der Gesamtenergie anteilmäßig auf die einzelnen Nährstoffe durchschlagen würde.
Die Ernährung von Personen mit regelmäßigem Vitaminpräparatekonsum ist auch reichhaltiger an Mineralstoffen und
Spurenelementen verglichen mit der Gruppe, die solche Präparate nicht einnimmt. Bei den Männern ist die Aufnahme
von Kalium, Kalzium, Magnesium, Phosphor, Kupfer und Jod
signifikant höher als bei den Nichteinnehmern. Bei Frauen mit
einem regelmäßigen Vitaminpräparatekonsum ist die Aufnahme von Kalium, Kalzium, Magnesium, Phosphor, Fluor
und Jod im Mittel höher als bei Frauen, die nie Präparate einnehmen.
Nach Adjustierung für Alter und Energieaufnahme haben
Männer mit einer regelmäßigen Einnahme von Vitaminpräparaten lediglich eine signifikant höhere Ballaststoffaufnahme, was die Makronährstoffe betrifft. Dies ist auch bei
Frauen der Fall. Frauen mit regelmäßiger Einnahme von Vitaminpräparaten haben aber auch eine höhere Gesamtenergieaufnahme. Bei den Makronährstoffen gibt es keine weiteren Differenzen.
Diskussion
Anders sieht es bei der Vitaminaufnahme aus. In Tab. 4 ist die
tägliche Aufnahme der wichtigsten Vitamine aufgeführt, adjustiert für Alter und Gesamtenergieaufnahme. Generell haben sowohl Männer als auch Frauen mit einer regelmäßigen
Einnahme von Vitaminpräparaten eine vitaminreichere Ernährung als die Vergleichsgruppe. Bei den Männern findet
sich eine signifikant höhere Aufnahme von Vitamin K,
Vitamin B2, Pantothensäure, Vitamin B6, Biotin, Folatäquivalenten und Vitamin C. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei Frauen,
es gab auch hier signifikant höhere Aufnahmen von
Vitamin B2, Pantothensäure, Vitamin B6, Biotin und Folatäquivalenten. Nach einer zusätzlichen Adjustierung für die soziale
Schicht ergeben sich gleiche Ergebnisse (Resultate nicht dargestellt).
Ein höherer Anteil der Frauen nimmt im Vergleich zu den
Männern regelmäßig Vitamin- und Mineralstoffpräparate zu
sich. Eine häufigere Einnahme bei Frauen wurde in früheren
Studien auch schon festgestellt [Block 1988, Elmstahl 1994,
Schellhorn 1998, Slesinski 1996, Wallström 1996]. Die Geschlechtsdifferenzen in unserem Survey sind jedoch geringer
als in früheren Erhebungen [Fischer 1999]. Anscheinend haben sich die Geschlechter im Einnahmeverhalten über die Zeit
angeglichen. Hier muß jedoch berücksichtigt werden, daß die
einzelnen Studien in der Vergangenheit unterschiedliche Definitionen von regelmäßigem Konsum benutzt haben.
Auffällig ist, daß die 60–69jährigen Männer die wenigsten
Präparate zu sich nehmen, während die Frauen dieser Altersgruppe den höchsten Präparatekonsum zeigen. Es kann vermutet werden, daß die Gründe, Präparate einzunehmen, bei
den Männern und Frauen unterschiedlich sind. Dies wurde in
unserer Studie jedoch nicht erfragt.
In der Regel nehmen die Personen, die regelmäßig Vitaminpräparate zu sich nehmen, auch eine Ernährung zu sich, die
reichhaltiger ist an Vitaminen und Mineralstoffen, als das im
Durchschnitt der Fall ist. Dies bestätigt eine Beobachtung aus
S136 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
nie
G. B. M. Mensink, A. Ströbel
Einnahme von Vitaminpräparaten
selten
≥ einmal/Woche2
Männer
Vitamin A3 (mg)
Vitamin D (μg)
Vitamin K (μg)
Vitamin B1 (mg)
Vitamin B2 (mg)
Niacinäquivalent (μg)
Pantothensäure (mg)
Vitamin B6 (mg)
Biotin (μg)
Folatäquivalent (μg)
Vitamin B12 (μg)
Vitamin C (mg)
2,01 (1,95–2,06)
3,74 (3,58–3,90)
417,2 (409,8–424,7)
1,62 (1,60–1,64)
1,99 (1,96–2,01)
39,2 (38,8–39,6)
6,29 (6,22–6,36)
2,20 (2,17–2,22)
52,9 (52,2–53,7)
139,2 (137,2–141,3)
8,09 (7,91–8,27)
149,5 (144,8–154,2)
1,91 (1,80–2,03)
3,30 (2,93–3,66)
436,9 (420,2–453,5)
1,55 (1,51–1,59)
1,97 (1,91–2,03)
39,0 (38,1–39,8)
6,33 (6,17–6,49)
2,20 (2,15–2,25)
53,7 (52,0–55,3)
143,7 (139,2–148,3)
7,20 (6,81–7,59)
148,7 (138,2–159,2)
2,02 (1,90–2,14)
3,78 (3,40–4,15)
440,7 (423,6–457,8)*
1,62 (1,58–1,66)
2,06 (2,00–2,12)*
39,5 (38,6–40,3)
6,59 (6,43–6,76)***
2,26 (2,21–2,31)*
55,8 (54,1–57,5)**
147,5 (142,8–152,2)**
7,66 (7,25–8,06)
168,3 (157,5–179,0)**
1,71 (1,67–1,76)
2,80 (2,71–2,90)
371,6 (365,1–378,1)
1,17 (1,16–1,18)
1,53 (1,51–1,55)
27,8 (27,5–28,0)
4,89 (4,84–4,94)
1,66 (1,65–1,68)
42,5 (42,0–43,1)
117,8 (116,1–119,5)
5,30 (5,18–5,41)
150,8 (147,0–154,6)
1,76 (1,68–1,84)
2,80 (2,61–2,99)
382,1 (368,9–395,2)
1,14 (1,12–1,16)
1,54 (1,50–1,58)
27,7 (27,2–28,2)
4,97 (4,87–5,07)
1,69 (1,65–1,72)
43,4 (42,4–44,5)
122,2 (118,8–125,6)
5,12 (4,89–5,35)
149,6 (141,9–157,2)
1,79 (1,71–1,88)
2,95 (2,76–3,15)
383,4 (369,7–397,1)
1,17 (1,15–1,19)
1,58 (1,54–1,62)*
27,8 (27,3–28,3)
5,09 (4,98–5,19)**
1,70 (1,67–1,74)*
44,9 (43,8–46,0)***
124,9 (121,4–128,5)***
5,14 (4,89–5,38)
155,7 (147,7–163,7)
Tab. 4 Aufnahme von
Vitaminen bei Personen
mit unterschiedlicher
Einnahme von Vitaminpräparaten, Mittelwerte
und 95 %Konfidenzintervall1
Frauen
Vitamin A3 (mg)
Vitamin D (μg)
Vitamin K (μg)
Vitamin B1 (mg)
Vitamin B2 (mg)
Niacinäquivalent (μg)
Pantothensäure (mg)
Vitamin B6 (mg)
Biotin (μg)
Folatäquivalent (μg)
Vitamin B12 (μg)
Vitamin C (mg)
1
Adjustiert für Alter und (außer bei Energie) Gesamtenergieaufnahme
Die Mittelwerte der regelmäßigen Konsumenten unterscheiden sich von denen der Vergleichsgruppe („nie“) mit einer Signifikanz von * p≤0,05; ** p≤0,01; *** p≤0,001
3 Retinoläquivalent
2
nie
Einnahme von Vitaminpräparaten
selten
≥ einmal/Woche2
Männer
Natrium (g)
Kalium (g)
Kalzium (mg)
Magnesium (mg)
Phosphor (mg)
Eisen (mg)
Zink (mg)
Kupfer (mg)
Fluor (μg)
Jod (μg)
3,53 (3,48–3,58)
3,93 (3,89–3,98)
1216 (1190–1242)
489,6 (483,6–495,5)
1712 (1694–1730)
16,8 (16,6–16,9)
14,5 (14,3–14,6)
2,63 (2,59–2,66)
1053 (1028–1077)
117,2 (115,4–119,1)
3,44 (3,33–3,55)
3,98 (3,88–4,08)
1303 (1245–1361)
514,7 (501,5–528,0)
1749 (1708–1789)
16,8 (16,4–17,2)
14,6 (14,3–15,0)
2,68 (2,62–2,76)
1073 (1018–1127)
117,6 (113,5–121,6)
3,52 (3,41–3,64)
4,14 (4,04–4,25)***
1334 (1275–1394)***
523,3 (509,7–536,9)***
1783 (1741–1824)**
17,1 (16,7–17,5)
14,6 (14,3–15,0)
2,70 (2,63–2,77)*
1095 (1039–1151)
124,2 (120,0–128,4)**
2,62 (2,58–2,66)
3,24 (3,21–3,27)
1099 (1081–1117)
399,6 (395,1–404,1)
1317 (1305–1329)
13,4 (13,3–13,5)
10,9 (10,8–11,0)
2,16 (2,13–2,18)
968 (942–994)
101,7 (100,1–103,2)
2,52 (2,44–2,60)
3,29 (3,22–3,35)
1148 (1112–1184)
420,9 (411,8–429,9)
1343 (1319–1368)
13,5 (13,3–13,8)
11,0 (10,8–11,1)
2,18 (2,13–2,23)
1043 (991–1095)
104,2 (101,1–107,2)
2,54 (2,46–2,62)
3,36 (3,29–3,43)**
1184 (1146–1221)***
424,1 (414,7–433,6)***
1354 (1328–1380)*
13,6 (13,3–13,8)
11,0 (10,8–11,2)
2,17 (2,12–2,22)
1066 (1012–1121)**
109,1 (105,9–112,3)***
Frauen
Natrium (g)
Kalium (g)
Kalzium (mg)
Magnesium (mg)
Phosphor (mg)
Eisen (mg)
Zink (mg)
Kupfer (mg)
Fluor (μg)
Jod (μg)
1
Adjustiert für Alter und (außer bei Energie) Gesamtenergieaufnahme
Die Mittelwerte der regelmäßigen Konsumenten unterscheiden sich von denen der Vergleichsgruppe („nie“) mit einer Signifikanz von * p≤0,05; ** p≤0,01; ***
*** p≤0,001
2
Tab. 5 Aufnahme von
Mineralstoffen und
Spurenelementen bei
Personen mit unterschiedlicher Einnahme
von Vitaminpräparaten,
Mittelwerte und 95%Konfidenzintervall1
Einnahme von Nahrungsergänzungspräparaten und Ernährungsverhalten
vorherigen Studien [Looker 1988, Lyle 1998] und ist nicht
eine Folge der höheren Aufnahme an Gesamtenergie, wie sie
bei Frauen mit einem regelmäßigen Vitaminpräparatekonsum festgestellt wurde. Die Personen, die regelmäßig derartige Präparate zu sich nehmen, scheinen demnach eher nicht
zu einer mikronährstoffmangel-gefährdeten Gruppe zu gehören. Im Vergleich zu denen, die keine Präparate einnehmen,
nehmen sie im Mittel mehr Vitamine und Mineralstoffe über
die normale Ernährung zu sich. Es könnte sein, daß diese Personen generell gesundheitsbewußter sind, und zwar eine
nährstoffreichere Ernährung zu sich nehmen, aber immer
noch meinen, durch die Einnahme derartiger Präparate etwas
Zusätzliches für die Gesundheit tun zu müssen. Dieses Gesundheitsbewußtsein könnte geprägt sein durch Zugehörigkeit zu einer höheren Sozialschicht. Auch der geringere Anteil
an Adipösen deutet auf ein besseres Gesundheitsbewußtsein
hin.
Ein methodisches Problem könnte sein, daß die beobachteten
Differenzen zum Teil damit erklärt werden können, daß
Personen, die generell dazu tendieren, größere Mengen anzugeben als sie in Wirklichkeit essen, dies auch für die
Vitaminpräparate tun. Jedoch war die Fragestruktur der Lebensmittelmengen und der Vitaminpräparatehäufigkeiten
sehr unterschiedlich, und es ist nicht davon auszugehen, daß
dieser Effekt derartig deutliche Unterschiede erklären kann.
Vor allem, da nach der Adjustierung für Gesamtenergie die
Effekte immer noch vorhanden oder sogar noch verstärkt
waren. Es ist deshalb sehr unwahrscheinlich, daß eine Verzerrung durch Personen mit zu hoher Mengenangabe die beobachteten Differenzen erklären könnte.
Generell gilt, daß die Supplementierung bei Personen stattfindet, die es nicht unbedingt brauchen. Die beobachteten Tendenzen basieren auf (adjustierten) Mittelwerten und lassen
somit keine Aussagen über den Einzelfall, z.B. in bestimmten
Randgruppen, zu. Auch für die Personen, die nie Vitaminpräparate zu sich nehmen, kann man im Mittel keinen Vitaminund Mineralstoffmangel feststellen. Die hier aufgeführten Zusammenhänge sind eine Momentaufnahme mit beschreibendem Charakter. Da die Studie keinen zeitlichen Verlauf enthält, kann sie nicht den Anspruch auf weiterführende Verhaltenserklärungen liefern. Es ist anzunehmen, daß die
Differenzen im Verhalten und Bewußtsein zum Teil durch die
Zugehörigkeit zu einer bestimmten Sozialschicht geprägt
sind. Ein höherer Bildungsstand ist z.B. momentan mit einer
höheren Aufnahme von Vitaminpräparaten assoziiert. Eine
aus dem höheren Bildungsstand resultierende sitzende Tätigkeit könnte den geringen Aktivitätsscore bei gleichzeitig höherer Beteiligung am Freizeitsport der männlichen Konsumenten erklären. Die höhere Präparateeinnahme in der höheren Sozialschicht könnte sich eventuell innerhalb einer Zeit
von wenigen Jahren auch wieder ändern. Trotzdem wurden
die hier dargestellten Ergebnisse noch einmal zusätzlich für
den Sozialschichtindex adjustiert, aber die Ergebnisse waren
im wesentlichen identisch. Lediglich die Differenzen in der
Ballaststoffaufnahme und von Vitamin B6 bei Frauen und von
Kupfer bei Männern waren nicht mehr statistisch signifikant.
Ausblick
Zur Zeit wird in Zusammenarbeit mit der GSF – Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit, Neuherberg – an einer
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S137
Möglichkeit gearbeitet, die Einnahme über Präparate bei der
Ermittlung der täglichen Nährstoffaufnahme zu berücksichtigen.
Literatur
1
Bellach BM, Knopf H, Thefeld W (1998). Der Bundes-Gesundheitssurvey 1997/98. Gesundheitswesen 60; Sonderheft 2: 59–
68
2 Block G, Cox C, Madans J, Schreiber GB, Licitra L, Melia N (1988).
Vitamin supplement use, by demographic characteristics. Am J
of Epidemiol 127: 297–309
3 Elmstahl S, Wallström P, Berglund G, Janzon L, Johansson U,
Larssson SA, Mattisson I (1994). The use of dietary supplements
in relation to dietary habits in a Swedish middle-ages population. Scan J Nutr 38: 94–97
4 Fischer B, Döring A (1999). Häufigkeit der Einnahme von Vitamin- und Mineralstoffpräparaten: Vergleich nationaler und internationaler Studien. Ernährungs-Umschau 46: 44–47
5 Looker A, Sempos CT, Johnson C, Yetley, EA (1988). Vitamin mineral supplement use: Association with dietary intake and iron
status of adults. J Am Diet Assoc 88: 808–814
6 Lyle BJ, Mares-Perlman JA, Klein BEK, Klein R, Greger JL (1998).
Supplement users differ from nonusers in demographic, lifestyle, dietary and health characteristics. J Nutr 128: 2355–2362
7 Mensink G, Deketh M, Mul M, Schuit A, Hoffmeister H (1996).
Physical activity and its association with cardiovascular risk factors and mortality. Epidemology 7: 391–397
8 Mensink GBM, Hermann-Kunz E, Thamm M (1998). Der Ernährungssurvey. Gesundheitswesen 60; Sonderheft 2: 83–86
9 Mensink (1999). Körperliche Aktivität. Gesundheitswesen 61;
Sonderheft 2: S126–S131
10 Schellhorn B, Döring A, Stieber J (1998). Zufuhr an Vitaminen
und Mineralstoffen aus Nahrungsergänzungspräparaten in der
MONICA-Querschnittsstudie 1994/95 der Studienregion Augsburg. Z Ernährungswiss 37: 198–206
11 Slesinski MJ, Subar AF, Kahle LL (1996). Dietary intake of fat, fiber and other nutrients is related to the use of vitamin and mineral supplements in the united states: the 1992 National Health Interview Survey. J Nutr 126: 3001–3008
12 Strain JJ, Benzie IFF (1999). Antioxidants – Diet and antioxidant
defence. In: Sadler MJ, Strain JJ, Caballero B (eds.). Encyclopedia
of Human Nutrition. Volume 1. Academic Press, Harcout Brace &
Company Publishers, San Diego
13 Thefeld W, Stolzenberg H, Bellach BM (1999). Bundes-Gesundheitssurvey: Response, Zusammensetzung der Teilnehmer, NonResponder-Analyse. Gesundheitswesen 61; Sonderheft 2: S57–
S61
14 Wallström P, Elmstahl S, Hanson BS, Östergren PO, Johansson U,
Janzon L, Larsson SA (1996). Demographic and psychological
characteristics of middle-aged women and men who use dietary
supplements. Results from the Malmö Diet and Cancer Study.
Eur J Public Health 6: 188–195
G. B. M. Mensink
Robert Koch-Institut
Postfach 650280
D-13302 Berlin
S138 RISIKOFAKTOREN, GESUNDHEITSVERHALTEN, LEBENSWEISE
medizinischer
›› Inanspruchnahme
Leistungen
Zusammenfassung: 90% der Deutschen gehen mindestens
einmal im Jahr zum Arzt. Selbst in den letzten 4 Wochen ist die
Hälfte der Bevölkerung bei einem Arzt gewesen. Mit ihren
Arztbesuchen sind die Patienten in über 95% zufrieden. Durchschnittlich wird 11mal im Jahr ein niedergelassener Arzt aufgesucht. Die Hälfte aller Arztkontakte verursachen 20% der
Versicherten. Am meisten werden die Zahnärzte und Allgemeinmediziner kontaktiert. Über 90% der GKV-Versicherten
haben schon heute einen Hausarzt. Jährlich entfallen auf jede
Person 12 Arbeitstage aufgrund von Krankheit. Die durchschnittliche Verweildauer bei einem Krankenhausaufenthalt
steigt mit dem Alter von 6 Tagen für die jungen Erwachsenen
auf 28 Tage für die über 70jährigen. Bei 2/3 der Kuren beträgt
die Dauer 4 Wochen.
Schlüsselwörter: Inanspruchnahme – Arztkontakt – Krankenversicherung – Arbeitsunfähigkeit
Utilization of Medical Services Available in Germany Under
Statutory Sickness Insurance Facilities: About 90% of all Germans are seeing their doctor at least once a year. Half of the
population has consulted a doctor during the past four weeks.
More than 95% of the patients have been satisfied with these
consultations. On average, a medical practitioner was consulted 11 times a year. Half of the consultations were caused
by 20% of population. In most cases, dentists and general
practioners are contacted. More than 90% of the members of
the german official health insurance system (Gesetzliche Krankenversicherung) have a family doctor already today. Annually, 12 working days are lost for illness. The average duration
of a stay in hospital is rising with age, from 6 days for the
youngest to 28 days for the oldest. For 2/3 of cures, the duration was 4 weeks.
Key words: Health Utilization – Health Insurance – Loss of
Work Days
Methodik
Ausgewertet wurde der Befragungsblock Inanspruchnahme
medizinischer Leistungen (außer Beratung zu Gesundheitsverhalten, Maßnahmen zur Gesundheitsförderung inkl. Impfen gegen Grippe). Die Auswertung nach Art der KrankenverGesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S138–S144
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
E. Bergmann, P. Kamtsiuris
Robert Koch-Institut, Berlin
sicherung beruht auf einer Verdichtung der Frage 90, in der
nur das wichtigste Versicherungsverhältnis berücksichtigt
wurde. Da die Aussagen prinzipiell für die Bevölkerung der
Bundesrepublik Deutschland repräsentativ sein sollen, wurde
mit der entsprechenden Bevölkerung von 1998 gewichtet.
Letzte Inanspruchnahme
Die bekannte häufige Inanspruchnahme des Gesundheitswesens [Hoffmeister, Bellach, 1995], wie sie zu Beginn der 90er
Jahre bestand, kann abermals für den Zeitraum 1997/1998
nachgewiesen werden. Ca. 90% der Deutschen im Alter zwischen 18 und 79 Jahren waren nach Selbstauskunft in den
letzten 12 Monaten bei einem Arzt (ohne Zahnarzt) in ambulanter Behandlung. Vergleichbare Angaben aus den Statistiken der GKV liegen nicht vor. So wurde im Gesundheitsbericht [Statistisches Bundesamt, 1998] nur auf die ambulante
Inanspruchnahmerate von 86,5% aus einer Versichertenstichprobe des Jahres 1988 verwiesen. Kinder, Jugendliche und
über 80jährige, die im BGS nicht erfaßt wurden, werden vermutlich häufiger das Gesundheitswesen in Anspruch nehmen.
Darüber hinaus gilt dies besonders für Schwerkranke, die am
Survey aus gesundheitlichen Gründen nicht teilnehmen
konnten, so daß die Inanspruchnahmequote von 90% eher als
Unterschätzung gelten kann.
Der Zeitpunkt der letzten Inanspruchnahme liegt bei den
Frauen dichter an der Befragung als bei den Männern und ist
zusätzlich stark altersabhängig, wie die Abb. 1 verdeutlicht. Im
Alter zwischen 30 bis 50 Jahren sind die Männer nur zu knapp
80% in den letzten 12 Monaten zum Arzt gegangen, während
bei den Frauen dieser Altersgruppe über 90% den Arzt aufsuchten. Im letzten Monat waren ca. 50% der Frauen beim Arzt. Mit
dem Alter steigt die Inanspruchnahmerate des letzten Monats
von 40% für die unter 20jährigen bis auf knapp 70% für die ab
70jährigen Frauen. Die Männer verzeichnen einen stärker ausgeprägten, ähnlichen Altersgang. Zunächst vermindert sich die
IA im letzten Monat auf 25% bei den 30–39jährigen, um bei den
über 70jährigen auf über 60% anzusteigen.
Die Frage nach den weiteren Determinanten der Inanspruchnahme hatte zu einer Diskussion über die schichtspezifische
Inanspruchnahme geführt. An den Daten des Sozio-Ökonomischen Panels von 1992 wurde kein Einfluß des Einkommens
auf die ambulante Inanspruchnahme festgestellt [Fuchs,
1995; Winkelhake, Mielck, John, 1997]. Im BGS zeigt sich nun
für Männer ein mit der sozialen Schicht schwindender Grad
der Inanspruchnahme. Dieser Gradient konnte bei den Frauen
nicht bestätigt werden. Weitergehende statistische Analysen,
Beitrag: 352.fm
Ausdruck vom 25.5.00
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S139
Inanspruchnahme medizinischer Leistungen
Männer
100%
Frauen
Abb. 1 Zeitraum des letzten Arztkontaktes
nach Alter.
80%
60%
40%
20%
0%
18–19 20–29 30–39 40–49 50–59 60–69 70–79
vor 0–4Wochen
100%
18–19 20–29 30–39 40–49 50–59 60–69 70–79
Alter in Jahren
vor 1–3Monaten
vor 4–12Monaten
Männer
vor mehr als 1 Jahr
Abb. 2 Inanspruchnahme ausgewählter
Fachgruppen im letzten Jahr nach Alter und
Geschlecht.
Frauen
Z
80%
A
A
F
60%
Z
40%
I
U
20%
I
0%
18–19 20–29 30–39 40–49 50–59 60–69 70–79
Allgemeinmedizin
Internist
18–19 20–29 30–39 40–49 50–59 60–69 70–79
Alter in Jahren
Urologe
Frauenarzt
Zahnarzt
die Alter, Geschlecht und andere Größen simultan berücksichtigen, könnten hier lohnend sein. Festhalten läßt sich bisher, daß 25% der 20- bis 50jährigen Männer in der Oberschicht nicht jährlich zum Arzt gehen, während aus der Unterschicht nur 13% nicht beim Arzt waren.
Im Ost-West-Vergleich mit den Surveys von 1990/91 wurde
aufgezeigt, daß im Osten in den letzten 4 Wochen mehr
Befragte den Arzt aufsuchten als im Westen [Hoffmeister,
Bellach, 1995]. Diese Unterschiede im Inanspruchnahmeverhalten zwischen Ost und West sind 1997/1998 weitgehend
verschwunden.
Die Zufriedenheit mit den Ärzten ist sehr hoch und gibt kaum
Anlaß zu Veränderungen im Versorgungssystem, denn ca.
95% der Patienten äußerten sich zufrieden über den letzten
Arztbesuch. Den ersten Rang mit 97,3% zufriedenen Patienten
halten die Frauenärzte, gefolgt von den Allgemeinmedizinern
(96,4%), Internisten (96,3%), Augenärzten (95,3%), Chirurgen
(92,8%), Hals-Nasen-Ohren-Ärzten (91,1%), Hautärzten
(90,6%) und dem Schlußlicht Orthopäden mit immerhin auch
noch 90,3% zufriedener Patienten. Mit den restlichen Fachärzten sind 93,1% zufrieden gewesen.
Vermutlich ist die Zufriedenheit nicht nur von der medizinischen Einrichtung abhängig, sondern auch von der Art und
Schwere der Erkrankung und von weiteren, in der Person des
Befragten liegenden Eigenschaften. Die höchste Zufriedenheit
ist beim Hausbesuch und in der Praxis erreicht (95,7%), bei Erster Hilfe/Notaufnahme oder Krankenhausversorgung ist mit
durchschnittlich schwereren Erkrankungen zu rechnen und
somit der Anteil Zufriedener mit 92,2% etwas niedriger. Der
noch geringere Anteil Zufriedener in der Ambulanz/Gesundheitszentrum (91,6%) könnte ein erster Hinweis auf Verbesserungsmöglichkeiten in der Versorgung sein.
Die Zufriedenheit mit der ärztlichen Leistung ist zwar vom
Behandlungsanlaß abhängig, aber nur in relativ geringem
Maße. Die Patienten, die aufgrund einer Befindlichkeitsstörung den Arzt aufgesucht hatten, äußerten zu 7,5% ihre Unzufriedenheit. Waren akute Krankheiten der Behandlungsanlaß,
ging der Anteil Unzufriedener auf 5,5% zurück. Chronisch
Kranke waren zu 4,5% unzufrieden und Personen, die einen
ärztlichen Rat benötigten, zu 3,8%. Mit nur 2% Unzufriedenen
waren fast alle, die den Arzt zur Vorsorge, Impfung oder aus
anderen Gründen wie z.B. der Ausstellung eines Rezeptes aufsuchten, mit der Hilfe zufrieden.
Die Empfehlung, wenigstens einmal im Jahr zum Zahnarzt zu
gehen, wird von 77% der Bevölkerung1 befolgt (vgl. Abb. 2).
1
Diese und die folgenden Angaben über die Arztbesuche bei allen
Ärzten im letzten Jahr weichen von den Angaben über den letzten
Arztbesuch ab.
Beitrag: 352.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S140 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
E. Bergmann, P. Kamtsiuris
Abb. 3 Inanspruchnahme und Zufriedenheit in den letzten 12 Monaten – Männer.
Diejenigen, die nicht jährlich zum Zahnarzt gehen, gehen zu
60% mindestens zu einem Arzt in diesem Zeitraum, während
die Zahnarztpatienten in 75% der Fälle auch andere Ärzte aufsuchen. Ein Verdacht, daß bei 25% der Bevölkerung eine spezifische Angst vorm Zahnarzt vorhanden sein könnte, kann
hiermit nicht bestätigt werden. Die Inanspruchnahme des
Zahnarztes ist in allen Altersklassen relativ hoch, nur in höherem Alter wird der Zahnarztbesuch seltener. Frauen gehen
durchschnittlich zu 78% zum Zahnarzt, Männer zu 75%.
Abb. 4 Inanspruchnahme und Zufriedenheit in den letzten 12 Monaten – Frauen.
Ähnlich hoch und kaum vom Alter abhängig ist mit 72% die
Quote der Befragten, die jährlich einen Allgemeinmediziner
aufsuchen. Der Arztbesuch beim Internisten steigt stark mit
dem Alter bis auf ein Drittel der Befragten. Der Frauenarzt
wird von den Frauen in den jüngeren Jahren häufiger als der
Allgemeinmediziner aufgesucht. Im Alter ab 70 Jahren gehen
nur noch 25% der Frauen zum Frauenarzt. Dagegen gehen die
Männer sehr selten zum Urologen; erst mit höherem Alter
steigt die Inanspruchnahme auf über 25%.
Der Anteil der Befragten, die jährlich einen Arzt aufsuchen,
sowie ihre Zufriedenheit mit der Arztgruppe wird in den Abb.
3 u. 4 zusammenfassend wiedergegeben. Insgesamt lassen
sich drei Bereiche der Kombination von Inanspruchnahme
und Zufriedenheit feststellen. Im Bereich I zeichnen sich die
Arztgruppen der Zahnärzte und der Allgemeinmediziner
sowie bei den Frauen die Gynäkologen durch eine hohe Inanspruchnahme und gleichzeitige hohe Zufriedenheit der
Patienten aus. Demgegenüber charakterisieren sich die Arztgruppen der Orthopäden, Psychiater, Psychotherapeuten, Homöopathen, Heilpraktiker und Hautärzte im Bereich III sowohl durch eine niedrige Inanspruchnahme als auch durch
eine relativ niedrige Zufriedenheit der Patienten. Schließlich
ist die Zufriedenheit mit den Augenärzten, Radiologen,
Chirurgen und Internisten relativ hoch, bei gleichzeitiger unterdurchschnittlicher Inanspruchnahme (Bereich II).
Abb. 5 Distribution der Arztkontakte in den letzten 12 Monaten.
Arztkontakte im letzten Jahr
Aus Abb. 5, die die relative Verteilung der Arztkontakte in den
letzten 12 Monaten zu der Verteilung der Versicherten darstellt, ist zu entnehmen, daß ca. 20% der Versicherten 50% der
Arztkontakte auf sich vereinen und ca. 50% der Versicherten
80% der Kontakte verursachen. Bedeutende Unterschiede in
diesem Inanspruchnahmeverhalten für die einzelnen Versicherungsarten sind nicht vorhanden; eine Tendenz zu einer
gleichmäßigeren Verteilung ist für die AOK zu vermuten.
Durchschnittlich gehen die Befragten 11mal im Jahr zum Arzt.
Frauen nehmen häufiger eine ambulante Einrichtung in Anspruch als Männer (12,8 zu 9,1 Kontakten). Frühere Studien
weisen für beide Geschlechtsgruppen jedoch eine höhere
Beitrag: 352.fm
Ausdruck vom 25.5.00
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S141
Inanspruchnahme medizinischer Leistungen
11
9
Kontaktrate
Abb. 6a Arztkontakte im letzten Jahr beim
Allgemeinarzt.
Männer
Frauen
7
5
3
1
18–19 20–29 30–39 40–49 50–59 60–69 70–79
18–19 20–29 30–39 40–49 50–59 60–69 70–79
Alter in Jahren
95%–Konfidenzgrenze/ Mittelwert
Kontaktrate
7
Männer
Abb. 6b Arztkontakte im letzten Jahr beim
Internisten.
Frauen
5
3
1
18–19 20–29 30–39 40–49 50–59 60–69 70–79
18–19 20–29 30–39 40–49 50–59 60–69 70–79
Alter in Jahren
95%-Konfidenzgrenze/ Mittelwert
6
5
Kontaktrate
Abb. 6c Arztkontakte im letzten Jahr beim
Urologen/Gynäkologen.
Männer / Urologe
Frauen / Gynäkologe
4
3
2
1
18–19 20–29 30–39 40–49 50–59 60–69 70–79
18–19 20–29 30–39 40–49 50–59 60–69 70–79
Alter in Jahren
95%-Konfidenzgrenze/ Mittelwert
Häufigkeit von Praxiskontakten auf [Robra et al., 1991; Statistisches Bundesamt, 1998]. Mit dem Alter steigt auch die jährliche Kontaktrate von 8,7 auf 14,9. Die im Ost-West-Survey
1990/1991 noch vorhandenen Unterschiede zwischen Ost
und West haben sich – wie schon damals vermutet wurde
[Hoffmeister; Bellach, 1995] – nivelliert.
Die Unterschiede nach Alter und Geschlecht hinsichtlich der
durchschnittlichen Arztkontakte eines Patienten pro Jahr veranschaulichen die Abb. 6a bis 6d, jeweils für die am meisten
genannten Facharztgruppen. Bei den Allgemeinärzten wächst
mit zunehmendem Alter der Patienten überproportional stark
ihre Anzahl der Kontakte pro Jahr von gut 3 auf 8 und mehr
Kontakte – bei einer, wie oben erwähnt, weitgehend vom Alter unabhängigen hohen Inanspruchnahmerate von 72%.
Die Altersabhängigkeit für die Kontaktrate (ebenso wie für die
Inanspruchnahmerate) beim Internisten ist ebenfalls deutlich,
wenn auch nicht so stark ausgeprägt. Die Kontaktrate für die
Urologen nimmt bei den Männern mit dem Alter zu, und bei
Beitrag: 352.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S142 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
4
E. Bergmann, P. Kamtsiuris
Kontaktrate
Abb. 6d Arztkontakte im letzten Jahr beim
Zahnarzt.
Männer
Frauen
3
2
1
18–19 20–29 30–39 40–49 50–59 60–69 70–79
18–19 20–29 30–39 40–49 50–59 60–69 70–79
Alter in Jahren
95%-Konfidenzgrenze/ Mittelwert
Abb. 7 Durchschnittliche Anzahl der Arztkontakte in den letzten 12 Monaten nach
Krankenkasse.
den Patientinnen erreicht die Anzahl der jährlichen Kontakte
beim Frauenarzt im Alter bis 40 Jahren ihr Maximum.
Abb. 7 zeigt die geschlechts- und regionsspezifischen Häufigkeiten ambulanter Inanspruchnahme, differenziert nach
Art der Krankenkasse, wie sie sich in der Erhebung des Gesundheitssurveys 1998 abbildet: Männer in der PKV suchen
mit 7,5 Praxiskontakten pro Jahr seltener als AOK- und GKVRest-Versicherte2 (9,4 bzw. 8,8 Kontakte pro Jahr) eine Arztpraxis auf. Der Unterschied zwischen AOK- und PKV-Versicherten ist in Ostdeutschland größer als in Westdeutschland.
Die höhere Frequenz der Arztbesuche bleibt bei Frauen aller
Kassen bestehen. Bei einer Differenzierung nach Region zeigt
sich jedoch, daß bei den Frauen in Ostdeutschland sich ein
ähnliches, sogar verstärktes Bild wie bei den Männern zeigt,
während bei den Frauen in Westdeutschland kein Unterschied nach der Versicherungsart erkennbar ist.
Abb. 8 zeigt die alters- und geschlechtsspezifischen Häufigkeiten ambulanter Inanspruchnahme hinsichtlich der Anzahl
2
GKV-Rest sind Ersatzkrankenkasse, BKK, IKK und andere gesetzliche
Krankenkassen
der Arztkontakte pro Jahr, differenziert nach Art der Krankenkasse. Insgesamt steigt die Inanspruchnahme erwartungsgemäß mit dem Alter sowohl für Männer und Frauen als auch in
den Versichertengruppen, jedoch nicht immer linear und
ähnlich stark.
Die Anzahl der Praxiskontakte liegt bei den männlichen PKVVersicherten ab dem Alter von 40 Jahren niedriger als bei den
GKV-Versicherten. Während jedoch die ambulante Inanspruchnahme der GKV-Rest-Versicherten kontinuierlich von
6,9 bei den 20- bis 29jährigen auf 14,7 Kontakte der 70- bis
79jährigen zunimmt, macht sie bei den 50- bis 59jährigen
AOK-Versicherten einen Sprung von 5,4 auf 13,4 Kontakte.
Umgekehrt sind es bei den 50- bis 59jährigen Frauen die GKVRest-Versicherten, die eine signifikant höhere Anzahl von Praxiskontakten aufweisen.
Insgesamt nehmen die Unterschiede zwischen den verschieden Kassenarten in höherem Alter zu. Während bei den Männern ab der Altersgruppe der 50–59jährigen die GKV-Versicherten signifikant häufiger Praxiskontakte aufweisen, gehen
die in der PKV versicherten Frauen ab 60 Jahren häufiger zum
Arzt.
Beitrag: 352.fm
Ausdruck vom 25.5.00
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S143
Inanspruchnahme medizinischer Leistungen
28
24
Kontaktrate
Abb. 8 Inanspruchnahme in den letzten 12
Monaten nach Alter und Krankenkasse.
Männer
Frauen
20
16
12
8
4
0
18–19 20–29 30–39 40–49 50–59 60–69 70–79
18–19 20–29 30–39 40–49 50–59 60–69 70–79
Alter in Jahren
AOK GKV-Rest PKV
Abb. 9 Verteilung der Arztkontakte über die
Arztgruppen nach Geschlecht und Krankenkasse.
Die Verteilung der ambulanten Kontakte auf die verschiedenen Arztgruppen in den letzten 12 Monaten, differenziert
nach Art der Krankenkasse, geht aus Abb. 9 hervor. Die Gruppierung der Fachgruppen zu Fachärzten der Allgemeinmedizin, Fachärzten mit Primärversorgung (Internist, Frauenarzt,
Urologe) und Spezialfachärzten I (Augenarzt, HNO-Arzt, Hautarzt, Orthopäde) und Spezialfachärzten II (Nervenarzt/Psychiater, Psychotherapeut, Chirurg, Arzt für Naturheilkunde, Arzt
für Homöopathie, Radiologe, Betriebsarzt, ÖGD-Arzt, sonstiger Arzt, Heilpraktiker) ist zwar relativ willkürlich, kann aber
vermutlich den Zugang zum Gesundheitssystem verdeutlichen. Gleichzeitig wird auch die Inanspruchnahme der Zahnärzte berücksichtigt.
den AOK-Versicherten mit 40% bei den Männern bzw. 37% bei
den Frauen höher sowohl bei den GKV-Rest-Versicherten
(33% bei den Männern, 25% bei den Frauen) als auch bei den
privat Versicherten (24% bei den Männern, 22% bei den
Frauen). Demgegenüber beträgt der Anteil der Spezialfachärzte der Gruppe II bei den männlichen PKV-Versicherten 8%Punkte bzw. bei den weiblichen PKV-Versicherten 12%Punkte mehr als bei den AOK-Versicherten. Hierzu trägt in erster Linie der relativ höhere Anteil der Inanspruchnahme der
Ärzte für Naturheilkunde und der Heilpraktiker der privat
Versicherten (6% bei den Männern, 13% bei den Frauen) bei.
Sowohl für Männer als auch für Frauen ist bei den Versicherten aller Kassen die Inanspruchnahme der Allgemeinmediziner und praktischen Ärzte am größten. Während jedoch bei
den Frauen die Fachärzte der Primärversorgung (hier insbesondere der Gynäkologe) an zweiter Stelle folgen, sind es bei
den Männern die Spezialfachärzte der Gruppe I. Insgesamt ist
der Anteil der Inanspruchnahme der Allgemeinmediziner bei
Über 90% der GKV-Versicherten geben an, einen Hausarzt zu
haben. Privat Versicherte, Beihilfe-Berechtigte oder Nichtversicherte haben nur zu 80% einen Hausarzt. Die angestrebten
gesetzlichen Veränderungen zur Stärkung des Hausarztsystems im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung
werden vermutlich kaum Änderungen im Inanspruchnahmeverhalten bewirken können, da die Versicherten schon heute
Hausarzt
Beitrag: 352.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S144 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
E. Bergmann, P. Kamtsiuris
ihren Hausarzt haben. Teures „doctor hopping“, verursacht
durch einen kleinen Teil der Versicherten, könnte vermutlich
nur durch rigorose Beschränkungen in der freien Arztwahl
vermieden werden. Die Möglichkeit, daß Zusatzkosten durch
die explizite Einführung des Hausarztsystems entstehen
könnten, bleibt denkbar, da Befragte, die jetzt schon einen
Hausarzt haben, 11,4mal im Jahr zum Arzt gehen, während
die Befragten ohne eigenen Hausarzt nur durchschnittlich
8,4mal im Jahr einen Arzt aufsuchen.
Unterschiede zwischen Ost und West bestehen hinsichtlich
des Vorhandenseins eines Hausarztes kaum. Etwas häufiger
haben Frauen (90%) einen Hausarzt als Männer (86%). In den
mittleren Altersjahren wird ein Hausarzt seltener genannt als
in den höheren Altersklassen; auch der Unterschied zwischen
Männern und Frauen ist bei den 40–49jährigen am größten.
Arbeitsunfähigkeit
Die durchschnittliche Anzahl ausgefallener Arbeitstage3
beträgt im Jahr 12 Tage, wobei die privat Versicherten mit 8
Tagen erheblich besser abschneiden als die in einer AOK Versicherten mit 14 Tagen oder gar die in den Innungskassen
Versicherten mit 18 Tagen. Bezieht man die Arbeitsunfähigkeitstage nur auf Patienten, ergibt sich eine vergleichbare
Situation. Patienten, die bei einer AOK oder IKK versichert
sind, sind in über 30 Tagen arbeitsunfähig im Jahr, privat versicherte bzw. Beihilfe-berechtigte Patienten nur 17 Tage.
scheinlichkeit höher, eine Kur verordnet bekommen zu haben. Die Quote der Kurteilnehmer wächst von 7% für die 18–
19jährigen, auf über 35% für die Befragten ab 50 Jahren. Beschränkt man sich auf das vor der Befragung liegende Jahr
1996, haben 2% der Bevölkerung eine Kur angetreten. Eine Altersabhängigkeit im Jahr 1996 ist dann nicht mehr erkennbar.
Die Dauer der letzten Kur beträgt durchschnittlich ca. 30 Tage,
wobei keine wesentlichen Abweichungen für Männer, Frauen
und Altersgruppen erkennbar sind. Fast 2/3 haben eine
4wöchige Kur, 12% eine 6wöchige erhalten. Die gesetzlichen
Änderungen von 1996 zur Kürzung der stationären Leistungen von Rehabilitationsmaßnahmen auf 3 Wochen haben sich
hier noch nicht niedergeschlagen.
Wiederholung einer Kur mit höherem
Eigenbetrag
Kur hat geholfen
sehr
etwas
gar nicht
ja
76,9
47,7
17,0
nein
23,1
52,3
83,0
Tab. 1 Wiederholung
einer Kur mit höherem
Eigenbeitrag in Abhängigkeit vom Kurerfolg
Angaben in %
Unterschiede in der Arbeitsunfähigkeit zwischen Altersgruppen, Männern und Frauen und Ost und West sind zwar in der
Tendenz vorhanden, aber aufgrund der erheblichen Streuungen in den AU-Tagen nicht signifikant. Gut die Hälfte der AUTage ist auf Grippe und grippale Effekte zurückzuführen.
Die Gründe für die Kur sind bei 36% der Kurteilnehmer
schwerwiegende chronische Krankheiten, bei 27% handelt es
sich um eine Vorsorgekur, und 37% nennen sonstige Gründe.
Als sehr erfolgreich bezeichnen 48% ihre Kur, und nur 12% sehen keinen Erfolg in der Kur. Fast 60% würden eine Kur auch
mit einem höheren Eigenbeitrag wiederholen. Dabei ist der
Wunsch nach einer neuen Kur mit dem erhöhten Beitrag sehr
stark von dem Ergebnis der letzten Kur abhängig (Tab. 1). Je
besser der Kurerfolg gewesen ist, desto eher würden sie eine
neue Kur mit finanzieren.
Stationäre Inanspruchnahme
Literatur
Durchschnittlich waren die Befragten 1,86 Tage im Jahr im
Krankenhaus, Frauen 2,06 Tage und Männer 1,65 Tage. Die extreme Altersabhängigkeit der durchschnittlichen Krankenhaustage von 0,61 Tagen der 18–19jährigen bis hin zu 5,41
Tagen bei den 70–79jährigen dürfte epidemiologisch-medizinsoziologisch begründet sein. Mit zunehmendem Alter treten verschiedene schwere Krankheiten nicht nur häufiger auf,
sondern der Heilungs- und Genesungsprozeß ist insgesamt
verlangsamt, und Komplikationen werden wahrscheinlicher.
Bestätigt wird dies durch die durchschnittliche Verweildauer
der Patienten von 5,8 Tagen für die jüngste Altersgruppe bis
zu 27,9 Tagen für die Ältesten.
1
2
3
4
5
Stationäre Leistungen der Rehabilitation (Kuren)
Die Frage nach dem Kuraufenthalt4 bezog sich auf den letzten
Kuraufenthalt. Daher ist mit zunehmendem Alter die Wahr3
4
Die Angaben über die Arbeitsunfähigkeit beruhen auf den Selbstangaben, beziehen sich auf alle Befragte und nicht nur auf Pflichtversicherte und sind somit nicht direkt vergleichbar mit der Krankheitsartenstatistik [Bundesministerium für Gesundheit, 1998].
Kuraufenthalt umfaßt in seiner umgangssprachlichen Bedeutung
verschiedene Leistungen unterschiedlicher Kostenträger, wie z.B.
stationäre medizinische Rehabilitationsleistungen der Rentenversicherung oder Vorsorgekuren für Mütter der Krankenkasse.
6
Bundesministerium für Gesundheit (Hrsg.) (1998). Arbeitsunfähigkeit und Krankenhausbehandlung nach Krankheitsarten
1995. Bundesministerium für Gesundheit, Bonn
Fuchs J (1995). Beeinflußt Einkommen die Gesundheit? Analysen mit Daten des Sozio-Ökonomischen Panels. Gesundheitswesen 57: 746–752
Hoffmeister H, Bellach BM (Hrsg.) (1995). Die Gesundheit der
Deutschen. Ein Ost-West-Vergleich von Gesundheitsdaten (2.
Aufl.). Robert Koch-Institut, RKI-Hefte, Bd. 7, Berlin
Robra BP, Lue C, Kerek-Bodden HE, Schach E, Schach S, Schwartz
FW (1991). Die Häufigkeit der ärztlichen Inanspruchnahme im
Spiegel zweier Repräsentativerhebungen: DHP-Survey und
EVaS-Studie. Öffentliche Gesundheitswesen 53: 228–232
Statistisches Bundesamt (Hrsg.) (1998). Gesundheitsbericht für
Deutschland. Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Stuttgart: Metzler-Poeschel
Winkelhake O, Mielck A, John J (1997). Einkommen, Gesundheit
und Inanspruchnahme des Gesundheitswesens in Deutschland
1992. (Income, health, and health services utilization in Germany 1992). Sozial- und Präventivmedizin 42: 3–10
Eckardt Bergmann
Robert Koch-Institut
Postfach 650280, D-13302 Berlin
Beitrag: 352.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S145
RISIKOFAKTOREN, GESUNDHEITSVERHALTEN, LEBENSWEISE
mit
›› Zufriedenheit
Lebensumständen und Gesundheit
Zusammenfassung: Im vorliegenden Beitrag wird die Zufriedenheit mit verschiedenen Lebensbereichen wie Arbeit,
Wohnsituation, finanzielle Lage, Gesundheit, familiäre Situation und mit dem Leben im allgemeinen in Deutschland beschrieben. Die Analyse beruht auf Daten des Bundes-Gesundheitssurveys 1998, bei dem die 18- bis 79jährige Wohnbevölkerung der Bundesrepublik Deutschland auf der Basis einer
repräsentativen Stichprobe an einer standardisierten Befragung zu gesundheitsrelevanten Themen und einer medizinischen Untersuchung teilgenommen hat. Frauen sind mit ihrem Leben im allgemeinen zufriedener als Männer. Über alle
Altersklassen hinweg ist die Lebenszufriedenheit im Westen
höher als im Osten. Am höchsten ist die Zufriedenheit mit Familie (über 70%) und Wohnung, am niedrigsten mit der finanziellen Situation. Den höchsten Grad an Unzufriedenheit weisen die Ostdeutschen im Alter von 20 bis 29 Jahren hinsichtlich
ihrer finanziellen Situation (20%) auf. Im Vergleich zu 1991 ist
die Lebenszufriedenheit im Osten geringfügig gesunken, im
Westen annähernd gleich geblieben. Mit ihrer Gesundheit
sind Männer und Frauen in beiden Teilen Deutschlands heute
zufriedener als noch vor zehn Jahren. Die Zufriedenheit mit der
finanziellen Lage und der Arbeitssituation hat dagegen abgenommen.
Schlüsselwörter: Lebenszufriedenheit – Prädiktor – BundesGesundheitssurvey 1998 – Gesundheit – finanzielle Situation –
Arbeitssituation
Contentedness with Living Conditions and Health: In the
present publication, contentment with different life areas like
work, housing, financial situation, health, familial situation
and with life in general is described. The analysis is based on
data of the German National Health Interview and Examination Survey 1998, in which a representative sample of the German residential population between 18 and 79 years of age
participated in a standardized interview with regard to health
relevant topics as well as in a medical examination. In general,
women are more content with their life than men. In all age
classes, contentment with life is higher in the West than in the
East. Highest contentment is observed with family (over 70%)
and housing, and lowest with financial situation. The East German residents show the highest degree of dissatisfaction in
the age-group of 20 to 29 years regarding their financial situation (20%). In comparison to 1991, contentment with life is reduced negligibly in the East, and in the West it approximately
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S145–S150
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
U. Ellert, H. Knopf
Robert Koch-Institut, Berlin
remained the same. Men and women in both parts of Germany
are more content with their health today than ten years ago. In
contrast, contentment with the financial situation as well as
the work situation is lower than ten years ago.
Key words: Contentment with Life – Predictor – National
Health Survey – Health – Financial Situation – Working Situation
Einleitung
Im Bereich Public Health rückt die Lebensqualitätsforschung
immer mehr in den Vordergrund. Dabei gibt es zunehmend
Konsens darüber, daß subjektiv wahrgenommene Ressourcen
bessere Prädiktoren für Wohlbefinden und Gesundheit sind
als objektiv vorhandene. So ist beispielsweise nicht so sehr
das objektive monatliche Einkommen als vielmehr seine subjektive Bewertung und Einschätzung maßgebend für das diesbezügliche Wohlbefinden der Menschen [Perrig-Chiello et al.
1996]. Die Beschreibung der Lebensqualität, des subjektiven
Gesundheitszustandes sowie der sozialen und ökonomischen
Folgen von Krankheit und Behinderung gewinnt an Bedeutung [Bullinger 1997]. Um Aussagen über die Lebensqualität
und den Gesundheitszustand einer Bevölkerung treffen zu
können, wird die Zufriedenheit mit verschiedenen Lebensbereichen wie Arbeit, Wohnsituation, finanzielle Lage, Gesundheit, familiäre Situation und mit dem Leben im allgemeinen
als wesentliches Barometer letztendlich auch für Gesundheit
in dem von der WHO vorgeschlagenen umfassenden Sinne
angesehen [Li Zhan 1992].
Material und Methode
Wie bereits in den vorangegangen Surveys [Hoffmeister, Bellach 1995] wurden die Probanden im Rahmen des BundesGesundheitssurveys [Thefeld et al. 1999] zu ihrer Zufriedenheit mit den Lebensbereichen Arbeitssituation, Wohnung,
Wohngebiet, Wohnort, finanzielle Lage, Freizeit, Gesundheit,
familiäre Situation, Beziehungen zu Freunden, Nachbarn und
Bekannten sowie zur Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt
befragt. Dabei war jeweils eine siebenstufige Skala vorgegeben, die von sehr unzufrieden bis sehr zufrieden reichte. Für
die Auswertungen wurden dann 6 und 7 zu sehr zufrieden, 3,
4 und 5 zu mittelmäßig zufrieden und 1 und 2 zu sehr unzufrieden zusammengefaßt. Zur Beurteilung zeitlicher Veränderungen zwischen 1991 und 1998 wurden die entsprechenden
Mittelwerte berechnet.
S146 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
U. Ellert, H. Knopf
Bekanntermaßen beeinflussen die verschiedensten Prädiktoren die Zufriedenheit mit dem Leben [Kozma et al. 1991]. Mit
Hilfe des Moduls Chaid aus der Gruppe der SPSS-Programme
ist es möglich, Baumdiagramme zu erstellen, anhand derer
sich eine Hierarchie der Einflußgrößen ablesen läßt. Als
Variablen, die einen Einfluß auf die Zufriedenheit mit dem Leben haben können, wurden das Alter (in 10-Jahres-Altersgruppen), das Geschlecht, das Leben in Ost- oder Westdeutschland, die soziale Schicht, der Gesundheitszustand, die
derzeitige Berufstätigkeit und das Leben mit oder ohne Partner berücksichtigt.
Die Datenanalyse erfolgte mit dem System SPSS Release/Version 9.01. Die Signifikanz wurde bei einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 5% geprüft.
Ergebnisse
Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt
Betrachtet man die Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt,
so werden deutliche Unterschiede zwischen den neuen und
alten Bundesländern offensichtlich. Diese Unterschiede ergeben sich in erster Linie aus den Antwortkategorien „sehr unzufrieden“ und „sehr zufrieden“. In den neuen Bundesländern
wird deutlich häufiger Unzufriedenheit und entsprechend
seltener Zufriedenheit mit dem Leben im allgemeinen geäußert als in den alten Bundesländern. In beiden Landesteilen
Deutschlands sind Frauen mit ihrem Leben zufriedener als
Männer.
In allen Altersgruppen ist die Zufriedenheit in den alten Bundesländern größer als in den neuen Bundesländern. Statistisch signifikant sind die Ost-West-Unterschiede bei den 50bis 59jährigen Männern und den Frauen in den Altersgruppen
40–49 Jahre, 50–59 Jahre sowie 60–69 Jahre. Bei beiden Geschlechtern ist eine deutliche Steigerung der Lebenszufriedenheit erst ab dem 60. Lebensjahr zu verzeichnen. Starke
Einbrüche in der Lebenszufriedenheit zeichnen sich dagegen
im mittleren Lebensalter (40–59 Jahre) bei Männern und
Frauen in den neuen Bundesländern und bei Männern in den
alten Bundesländern ab. In diesen Lebensabschnitten können
Identitätskrisen und Eingriffe in Lebenskarrieren im Zuge gesellschaftlicher Veränderungen am stärksten zum Tragen
kommen. 70- bis 79jährige Männer in den alten Bundesländern weisen mit 77,3% den höchsten Anteil, Frauen im Alter
von 40–49 Jahren im Osten mit 49,2% den niedrigsten Anteil
„sehr zufriedener“ aus.
Als wichtigster Prädiktor für die Zufriedenheit mit dem Leben
im allgemeinen erweist sich das Alter (18–59 Jahre oder 60–
79 Jahre). In der älteren Gruppe (60–79 Jahre) wird die Lebenszufriedenheit vom Gesundheitszustand, in der jüngeren
Gruppe (<60 Jahre) zunächst durch das Leben mit oder ohne
Partner und danach durch den subjektiv eingeschätzten Gesundheitszustand geprägt.
Zufriedenheit mit verschiedenen Lebensbereichen
Aus den Tab. 2 bis 4 und den Abb. 1 bis 3 ist zu entnehmen,
wie zufrieden die Bevölkerung in Ost- und Westdeutschland
mit bestimmten Bereichen des Lebens ist. Es zeigt sich, daß in
allen Bereichen mehr oder weniger stark ausgeprägte geschlechtsspezifische Unterschiede und Differenzen zwischen
alten und neuen Bundesländern bestehen.
Arbeitssituation
Mehr als die Hälfte aller Studienteilnehmer aus den alten
Bundesländern ist mit der derzeitigen Arbeitssituation oder
der Hauptbeschäftigung sehr zufrieden, bei den Ostdeutschen
sind es nur 43% der Männer und 47% der Frauen. Neben diesen regionalen Differenzen sind auch in diesem Lebensbereich deutliche altersspezifische Unterschiede zu verzeichnen. Mit Erreichen des Rentenalters steigt die Zufriedenheit
mit der Arbeitssituation oder der Hauptbeschäftigung deutlich an. Besonders unzufrieden sind Personen im mittleren Lebensalter (30–49 Jahre).
Die Unzufriedenheit der Frauen ist im Osten mit 12,8% fast
dreimal so hoch wie im Westen (4,7%) und übersteigt die entsprechenden Werte der Männer in Ost (10,7%) und West
(7,3%). In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die
Frauen im Osten unzufrieden sind mit der Art der Tätigkeit,
die sie ausüben, oder damit, daß sie arbeitslos sind. Die Zufriedenheit wurde deshalb in Abhängigkeit von der derzeitigen beruflichen Situation analysiert. Das Ergebnis der niedrigsten Zufriedenheit für die arbeitslosen Frauen in den neuen
Bundesländern ist ein Hinweis darauf, daß die Unzufriedenheit zu großen Teilen auf das Fehlen einer bezahlten Arbeit
zurückgeführt werden kann. Die Zahlen lassen vermuten, daß
der Anspruch, berufstätig sein zu wollen, nicht nur bei den äl-
Tab. 1 Zufriedenheit mit dem Leben im allgemeinen (in %)
Altersgruppen
gesamt
West Ost
18–19 Jahre
West Ost
20–29 Jahre 30–39 Jahre
West Ost
West Ost
40–49 Jahre
West
Ost
50–59 Jahre
West
Ost
60–69 Jahre
West
Ost
70–79 Jahre
West Ost
1,5
41,9
3,9
23,4
5,9
39,1
1,8
34,9
1,0
40,4
1,2
35,5
1,2
45,8
2,1
37,0
1,3
46,3
3,8
34,7
2,0
45,8
1,1
28,6
1,1
31,4
2,1
20,6
1,6
32,5
56,6
72,7
54,9
63,4
58,7
63,2
53,0
60,8
52,5
61,6
52,2
70,3
67,4
77,3
65,9
2,2
40,6
4,4
34,5
3,4
43,5
2,2
34,4
1,8
35,8
0,8
36,9
2,3
43,6
3,9
30,8
3,1
47,8
2,8
33,3
2,8
44,8
1,5
22,9
1,3
34,1
1,8
27,1
0,8
30,5
57,3
61,1
53,1
63,4
62,4
62,3
54,1
65,4
49,2
63,9
52,4
75,6
64,6
71,1
68,7
Männer
sehr unzufrieden 2,1
mittelmäßig
33,1
zufrieden
sehr zufrieden
64,9
Frauen
sehr unzufrieden 2,2
mittelmäßig
31,5
zufrieden
sehr zufrieden
66,3
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S147
Zufriedenheit mit den Lebensumständen und Gesundheit
Tab. 2 Zufriedenheit mit der Arbeit (in %)
gesamt
West Ost
18–19 Jahre
West Ost
20–29 Jahre
West Ost
30–39 Jahre
West Ost
40–49 Jahre
West Ost
50–59 Jahre
West Ost
60–69 Jahre
West Ost
70–79 Jahre
West Ost
7,3
40,3
10,7
46,3
4,4
56,1
1,4
60,0
5,8
40,0
11,3
51,6
6,9
47,3
10,9
43,8
11,5
43,9
14,3
54,2
11,7
38,7
16,7
43,1
1,9
32,1
3,5
39,1
2,6
24,1
29,0
52,3
43,1
39,5
38,6
54,2
37,1
45,8
45,3
44,7
31,6
49,5
40,2
66,0
57,3
73,3
71,0
4,7
39,5
12,8
40,6
4,2
57,9
5,3
46,5
7,9
41,7
20,0
39,7
5,7
46,2
16,4
46,5
6,3
44,0
15,6
46,3
4,4
42,8
15,1
41,4
1,0
28,3
0,8
35,3
1,1
23,8
4,6
23,3
55,8
46,6
38,0
48,2
50,4
40,3
48,1
37,1
49,7
38,1
52,8
43,5
70,6
64,0
75,2
72,1
Männer
sehr unzufrieden
mittelmäßig
zufrieden
sehr zufrieden
Frauen
sehr unzufrieden
mittelmäßig
zufrieden
sehr zufrieden
teren Frauen im Osten vertreten ist, sondern sich offensichtlich auch auf die nachwachsenden Generationen übertragen
hat. Das traditionelle bürgerliche Rollenverhalten (ausschließlich Hausfrau und Mutter) wird auch von den jüngeren
Frauen in den neuen Bundesländern anscheinend kaum oder
nur zögerlich akzeptiert.
Bei der Frage nach der Zufriedenheit mit der Arbeit erweist
sich auch fast ein Jahrzehnt nach der Wende das Leben im
Ost- beziehungsweise Westteil Deutschlands als wichtigste
Einflußgröße, wenn man als mögliche Prädiktoren die bereits
bei der Lebenszufriedenheit genannten Merkmale zuläßt.
Finanzielle Lage
Zwischen Arbeitssituation und finanzieller Lage besteht ein
enger Zusammenhang. So ist es nicht erstaunlich, daß sich
auch bei der Zufriedenheit mit der finanziellen Lage im OstWest-Vergleich ein ähnliches Bild ergibt wie bei der Arbeitssituation. Auch hier ist der Anteil der Zufriedenen im Westen
deutlich höher als im Osten. In den alten Bundesländern
nimmt die Zufriedenheit mit der finanziellen Lage mit dem
Alter bei Männern und Frauen kontinuierlich zu, was zum einen Ausdruck der finanziellen Konsolidierung, zum anderen
Ausdruck einer geringeren Anspruchshaltung älterer Geburtjahrkohorten sein kann. Im Osten steigt der Anteil der Zufriedenen erst gegen Ende des berufstätigen Alters auf über 50%
an. Am unzufriedensten sind die ostdeutschen Männer im Alter von 20 bis 29 Jahren. Mit Ausnahme der 18- bis 19jährigen
sind Frauen in allen Altersgruppen zufriedener als Männer.
Wohnumfeld
Zu den wesentlichen Faktoren für Lebensqualität gehört auch
die Zufriedenheit mit dem Wohnumfeld, die im Survey mit
Hilfe der Punkte Wohnung, Wohngebiet und Wohnort erfaßt
wurde. Für alle drei Bereiche gilt wieder, daß Menschen im
Westen zufriedener sind als im Osten und Frauen zufriedener
sind als Männer. Dabei ist der Anteil derer, die angeben, mit
ihrem Wohnumfeld sehr zufrieden zu sein, aber generell sehr
hoch.
Die Zufriedenheit mit der Wohnung nimmt im Alter sowohl
bei Männern als auch bei Frauen zu. Ob das ein Ausdruck von
geringerer Wertigkeit dieses Lebensbereiches für die Zufriedenheit älterer Menschen beziehungsweise Ausdruck einer
geringeren Anspruchshaltung oder die tatsächlich bessere
Wohnsituation ist, kann mit unseren Daten nicht abschließend beantwortet werden. Eine Ausnahme in dieser Altersspezifik bildet die Zufriedenheit mit dem Wohnort bei den
20- bis 29jährigen Frauen im Osten, von denen über 60% angeben, mit ihrem Wohnort sehr zufrieden zu sein, ein Wert,
der erst von den 50- bis 59jährigen mit mehr als 65% überboten wird.
Freizeit
Mehr als 50% aller westdeutschen Männer und Frauen geben
an, mit ihrer Freizeit zufrieden zu sein, im Osten sind es weniger als die Hälfte. In beiden Teilen Deutschlands sind die
Tab. 3 Zufriedenheit mit der finanziellen Lage (in %)
gesamt
West Ost
18–19 Jahre
West Ost
20–29 Jahre
West Ost
30–39 Jahre
West Ost
40–49 Jahre
West Ost
50–59 Jahre
West Ost
60–69 Jahre
West Ost
70–79 Jahre
West Ost
8,8
48,2
12,3
57,2
6,2
59,7
14,5
63,1
13,7
55,5
21,4
58,8
8,8
55,6
10,9
64,0
9,9
50,3
14,1
62,6
9,3
42,5
13,0
54,1
4,6
42,3
4,5
44,4
4,0
26,8
1,5
45,8
42,9
30,5
34,1
22,4
30,8
19,8
35,7
25,1
39,8
23,3
48,2
32,9
53,1
51,1
69,1
52,7
6,9
41,0
13,1
51,6
17,1
56,8
11,0
76,0
11,3
54,9
20,6
60,2
8,1
50,2
17,3
54,3
7,7
43,3
16,4
54,8
6,0
35,6
10,5
56,5
2,7
27,2
4,7
43,6
2,8
26,1
6,9
27,5
52,1
35,2
26,0
13,0
33,9
19,2
41,7
28,3
49,1
28,7
58,4
33,1
70,1
51,8
71,2
65,6
Männer
sehr unzufrieden
mittelmäßig
zufrieden
sehr zufrieden
Frauen
sehr unzufrieden
mittelmäßig
zufrieden
sehr zufrieden
S148 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
U. Ellert, H. Knopf
80%
80%
West
Ost
60%
60%
40%
40%
20%
West
Ost
0% 18–19 30–39 50–59 70–79
20–29
40–49
20%
Frauen
Männer
60–69
20–29 40–49 60–69
18–19 30–39 50–59 70–79
Frauen
Männer
0% 18–19 30–39 50–59 70–79
20–29
40–49
60–69
20–29 40–49 60–69
18–19 30–39 50–59 70–79
Abb. 1 Sehr zufrieden mit der Freizeit.
Abb. 2 Sehr zufrieden mit dem Gesundheitszustand.
Frauen um ca. 5 Prozentpunkte zufriedener mit ihrer Freizeit
als die Männer.
es sind, auf die sich jemand verlassen kann, desto größer ist
auch seine Zufriedenheit mit den sozialen Kontakten. Diejenigen, die sehr zufrieden mit ihrer familiären Situation sind, bilden auch den größten Anteil derer, die zufrieden mit ihren
Beziehungen zu Nachbarn, Freunden und Bekannten sind.
Es zeigt sich, daß die Zufriedenheit mit der Freizeit im mittleren Lebensalter am geringsten ist, was unter anderem daran
liegen mag, daß in diesem Alter die Belastungen durch Beruf
und Familie am größten sind und somit wenig Gestaltungsspielraum für Freizeit bleibt. Einzige Ausnahme von der Regel,
daß für alle Altersklassen und beide Geschlechter der Anteil
der Zufriedenen im Westen höher ist als im Osten, sind die
60–69jährigen Männer. Hier liegt der entsprechende Wert in
den neuen Bundesländern über dem in den alten Bundesländern.
Familie und soziale Kontakte
Mit über 70% liegt die Zufriedenheit mit der familiären Situation bei Männern und Frauen in ganz Deutschland relativ
hoch. Wesentliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern
sowie zwischen den neuen und alten Bundesländern treten
hier nicht zutage. Berücksichtigt man das Alter und die Region, sind Männer und Frauen im Mittel zufriedener mit ihrer
familiären Situation, wenn sie mit einem Partner zusammenleben.
Frauen sind im allgemeinen zufriedener als Männer mit ihren
Beziehungen zu Freunden, Nachbarn und Bekannten, die
Frauen im Westen mit 77% noch stärker als die im Osten mit
74%. Ein enger Zusammenhang besteht zwischen der Zufriedenheit mit den Beziehungen und der Anzahl der Personen,
auf die man sich im Notfall verlassen kann. Je mehr Personen
Zufriedenheit mit der Gesundheit
Daß der Gesundheitszustand einen wichtigen Einfluß auf die
Zufriedenheit mit dem Leben im allgemeinen hat, zeigt sich in
vielen Untersuchungen [Hörnquist 1989, Bormann et al. 1990,
Hoffmeister et al. 1995]. Als wesentlichster Prädiktor für die
Gesundheitszufriedenheit erweist sich in unserer Untersuchung das Alter. In der nächsten Ebene folgt erwartungsgemäß der selbsteingeschätzte Gesundheitszustand. Mit zunehmendem Alter äußern Männer und Frauen häufiger Unzufriedenheit mit ihrem Gesundheitszustand. Am unzufriedensten
sind Personen im Vorrentenalter (50–59 Jahre). Mit Erreichen
des Rentenalters steigt die Zufriedenheit wieder geringfügig
an. Männer sind etwas zufriedener mit ihrem Gesundheitszustand als Frauen. Ein signifikanter Ost-West-Unterschied ist
lediglich bei den 70- bis 79jährigen Männern zu verzeichnen.
Rangfolge der einzelnen Lebensbereiche
Ordnet man den einzelnen Lebensbereichen nach der Häufigkeit der Zufriedenheit bzw. Unzufriedenheit Ränge zu, ergeben sich folgende Bilder.
Sowohl in den alten als auch in den neuen Bundesländern ist
bei den Männern die Zufriedenheit mit der Familie am größ-
Tab. 4 Zufriedenheit mit der familiären Situation (in %)
gesamt
West Ost
18–19 Jahre 20–29 Jahre
West Ost West Ost
30–39 Jahre
West Ost
40–49 Jahre
West Ost
50–59 Jahre 60–69 Jahre
West Ost
West Ost
70–79 Jahre
West Ost
3,9
23,1
72,9
3,7
24,9
71,4
5,1
23,8
71,1
3,3
4,2
37,6 27,8
59,1 68,0
2,8
32,4
64,9
4,7
25,2
70,2
5,2
31,0
63,9
3,4
24,9
71,7
6,4
19,1
74,5
3,9
24,4
71,7
1,6
20,2
78,2
3,8
16,5
79,8
1,4
19,0
79,6
2,7
12,5
84,8
4,0
20,2
75,8
4,1
25,2
70,7
3,2
26,0
70,8
5,3
28,3
66,4
3,6
4,3
20,0 25,6
76,5 70,1
3,2
19,4
77,4
4,2
25,4
70,5
4,7
27,6
67,6
5,2
25,3
69,5
3,6
28,0
68,5
4,2
28,7
67,0
2,2
28,7
69,1
3,5
22,6
74,0
1,7
28,7
69,7
2,9
22,1
75,0
3,1
22,2
74,8
Männer
sehr unzufrieden
mittelmäßig zufrieden
sehr zufrieden
Frauen
sehr unzufrieden
mittelmäßig zufrieden
sehr zufrieden
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S149
Zufriedenheit mit den Lebensumständen und Gesundheit
80%
Mittlere Zufriedenheit
West
Ost
6
West
Ost
60%
5,5
40%
5
20%
Frauen
Männer
4,5
Männer
0%
Familie Freizeit Gesundheit Wohnung Freizeit Finanzen
Wohnung Arbeit Finanzen
Familie Arbeit Gesundheit
Frauen
4
1991/1992
1998
1991/1992
1998
Abb. 3 Sehr zufrieden mit ausgewählten Lebensbereichen.
Abb. 5 Mittlere Zufriedenheit mit dem Leben.
ten, sie wird gefolgt von der Zufriedenheit mit der Wohnung.
Am unzufriedensten sind die Männer in beiden Teilen
Deutschlands mit der finanziellen Situation und mit der Arbeitssituation. Frauen sind im Westen am zufriedensten mit
ihrer Wohnsituation, im Osten mit ihrer Familie. In beiden
Teilen Deutschlands liegt auch bei den Frauen die Unzufriedenheit mit den Finanzen an erster Stelle, gefolgt von der Unzufriedenheit mit der Gesundheit in den alten Bundesländern
und der Arbeitssituation in den neuen Bundesländern. Aus
der Rangfolge wird offensichtlich, daß sich Wertigkeit der
einzelnen Lebensbereiche bei den Männern in Ost und West
nicht unterscheidet. Lediglich bei den Frauen sind Ost-WestUnterschiede dahingehend zu verzeichnen, daß bei den
Frauen in den alten Bundesländern die Unzufriedenheit mit
der Gesundheit, in den neuen Bundesländern die mit der Arbeitssituation einen höheren Stellenwert besitzt.
die mit ihrem Leben zufrieden sind (68%), heute höher als der
entsprechende Anteil der Frauen (64%).
Vergleich mit 1991
Die Zufriedenheit mit dem Leben im allgemeinen unterschied
sich zu Beginn der 90er Jahre deutlich zwischen Ost- und
Westdeutschen. Diese Differenz ist auch fast zehn Jahre nach
der Wiedervereinigung noch vorhanden. Nach wie vor ist die
Lebenszufriedenheit in allen Altersklassen im Westen höher
als im Osten. Damals wie heute weisen die 40–49jährigen
Frauen aus den neuen Bundesländern den niedrigsten Anteil
derer auf, die mit ihrem Leben zufrieden sind. Im Gegensatz
zu 1991 ist bei den 60- bis 69jährigen der Anteil der Männer,
14%
12%
8%
6%
4%
2%
Männer
Mit ihrer finanziellen Lage sind die Männer und Frauen im
Westen im Mittel weniger zufrieden als vor zehn Jahren. Die
Zufriedenheit der ostdeutschen Männer hat zugenommen,
die der ostdeutschen Frauen ist annähernd gleich geblieben.
Dadurch haben sich die Ost-West-Unterschiede etwas verkleinert, sind aber immer noch deutlich. Genau wie bei der
Arbeitszufriedenheit ist die zeitliche Veränderung auch bei
der Zufriedenheit mit der finanziellen Lage bei den 40–
49jährigen Männern im Westen am größten, bei denen der
Anteil der sehr zufriedenen um mehr als 10 Prozentpunkte
auf 40% gesunken ist.
In den Surveys zu Beginn der 90er Jahre wurde nur eine Frage
nach der Zufriedenheit mit dem Wohnumfeld gestellt. Da
diese Frage jetzt in drei Teilfragen (Wohnung, Wohngebiet,
Wohnort) untergliedert wurde, lassen sich für diesen Lebensbereich keine Zeitvergleiche vornehmen.
West
Ost
10%
Im Vergleich zu 1991 hat die Zufriedenheit mit der Arbeitssituation bei den Frauen im Osten zugenommen, bei Männern in
beiden Teilen Deutschlands, und bei den Frauen im Westen ist
sie dagegen geringer geworden. Immer noch gilt aber, daß
Männer und Frauen im Westen zufriedener sind mit ihrer
Arbeitssituation als diejenigen im Osten, wobei die Frauen der
alten Bundesländer am zufriedensten sind. Nach wie vor ist in
jeder einzelnen Altersklasse der Anteil derer, die angeben, mit
ihrer Arbeitssituation sehr zufrieden zu sein, im Westteil größer als im Ostteil. Die deutlichste zeitliche Veränderung weisen
die westdeutschen Männer zwischen 40 und 49 Jahren auf. Bei
ihnen ist der Anteil der sehr Zufriedenen um fast 10 Prozentpunkte auf knapp 45% gefallen. Im Gegensatz dazu hat sich der
Zufriedenenanteil der 25- bis 29jährigen Frauen in den neuen
Bundesländern um 11 Prozentpunkte auf fast 48% erhöht.
Frauen
0%
Wohnung Gesundheit Arbeit
Wohnung Arbeit Gesundheit
Familie Freizeit Finanzen
Familie Freizeit Finanzen
Abb. 4 Sehr unzufrieden mit ausgewählten Lebensbereichen.
Die Zufriedenheit mit der Freizeit hat gegenüber 1991 geringfügig abgenommen. Die zeitlichen Differenzen betragen weniger als 1 Prozentpunkt. Während bei den Männern in beiden Teilen Deutschlands und bei den Frauen im Westen ein
Rückgang in der Zufriedenheit zu verzeichnen ist, sind Frauen
in den neuen Bundesländern heute zufriedener mit ihrer Freizeit.
S150 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
U. Ellert, H. Knopf
fekte einschätzen zu können, sollten auch andere Studienansätze wie z.B. Longitudinalstudien in Erwägung gezogen werden.
Mittlere Zufriedenheit
5,4
West
Ost
5,2
Literatur
5
1
4,8
4,6
2
4,4
4,2
Frauen
Männer
3
4
1991/1992
1998
1991/1992
1998
4
Abb. 6 Mittlere Zufriedenheit mit der finanziellen Lage.
5
Die Zufriedenheit mit der familiären Situation hat sich kaum
verändert. Sie ist im Osten noch immer höher als im Westen,
bei Männern etwas höher als bei Frauen. Bei den Frauen im
Westen ist die Zufriedenheit mit den sozialen Beziehungen
annähernd gleich geblieben, die Frauen der neuen Bundesländer sind jetzt unzufriedener als zu Beginn der 90er Jahre und
liegen im Mittel sogar unter dem Wert der Frauen der alten
Bundesländer. Auch bei den Männern hat die Zufriedenheit
geringfügig abgenommen, sie ist jetzt in Ost- und Westdeutschland ungefähr gleich hoch.
Mit ihrer Gesundheit sind die Menschen heute zufriedener als
noch vor zehn Jahren. Lag 1991 die mittlere Gesundheitszufriedenheit der ostdeutschen Männer noch über der der westdeutschen, so hat sich das Bild jetzt umgekehrt. Bei den
Frauen ist die Gesundheitszufriedenheit heute wie vor fast
zehn Jahren im Westen höher als im Osten.
Mittlere Zufriedenheit
5,4
West
Ost
5,2
5
4,8
4,6
4,4
Männer
Frauen
4,2
4
1991/1992
1998
1991/1992
1998
Abb. 7 Mittlere Zufriedenheit mit der Gesundheit.
Schlußfolgerung
Die vorgelegte Auswertung gestattet einen ersten Einblick in
die Zufriedenheit mit einzelnen Lebensbereichen und mit
dem Leben im allgemeinen als wesentliches Barometer für
Gesundheit und Lebensqualität. Die Ergebnisse zu regionalen
Unterschieden und zeitlichen Veränderungen werfen eine
Zahl weiterer Fragen auf, die durch vertiefende Analysen der
Daten der Bundes-Gesundheitssurveys bearbeitet werden
sollten. Um insbesondere bei zeitlichen Trends Kohortenef-
6
7
8
Bormann C, Hoeltz J, Hoffmeister H et al. (1990). Subjektive
Morbidität. Schriftenreihe des Bundesgesundheitsamtes 4/90.
Tab. 3
Bullinger M (1997). Gesundheitsbezogene Lebensqualität und
subjektive Gesundheit. Überblick über den Stand der Forschung
zu einem neuen Evaulationskriterium in der Medizin. Psychosother. Psychosom. Med. Psychol. 47
Hoffmeister H, Bellach B (Hrsg) (1995). Die Gesundheit der
Deutschen, Band 1, 198–208
Hörnquist JO (1989). Quality of Live: Concept and Assessment.
Scand J Soc Med 18: 69–79
Kozma A, Stones MJ, McNeil KJ (1991). Psychologgical wellbeing in later life. Butterworths, Toronto
Li Zhan MS (1992). Quality of life: conceptual and measurement
issues. Journal of Advanced Nursing 17: 795–800
Perrig-Chiello P, Perrig WJ, Stähelin HB, Krebs-Roubicek E Ehrsam R (1996). Wohlbefinden, Gesundheit und Autonomie im Alter: Die Basler IDA-Studie. Z Gerontol Geriat 29, 95–109
Thefeld W, Stolzenberg H, Bellach BM (1999). Bundes-Gesundheitssurvey: Response, Zusammensetzung der Teilnehmer, NonResponder-Analyse. Gesundheitswesen 61; Sonderheft 2: S57–
S61
Ute Ellert
Robert Koch-Institut
Postfach 650280
D-13302 Berlin
S151
RISIKOFAKTOREN, GESUNDHEITSVERHALTEN, LEBENSWEISE
Angaben zur täglichen
›› Subjektive
Anwendung ausgewählter
H. Knopf, H.-U. Melchert
Robert Koch-Institut, Berlin
Arzneimittelgruppen – Erste
Ergebnisse des BundesGesundheitssurveys 1998
Zusammenfassung: In der vorliegenden Publikation werden
Aussagen zur Häufigkeit der täglichen Anwendung von 34
ausgewählten Arzneimittelgruppen getroffen. Die Ergebnisse
basieren auf der standardisierten ärztlichen Befragung einer
repräsentativen Stichprobe der deutschen Wohnbevölkerung
im Alter von 18 bis 79 Jahren im Rahmen des Bundes-Gesundheitssurveys 1998. Fast 52% der befragten Männer und Frauen
geben an, in den letzten 12 Monaten Arzneimittel aus mindestens einer der 34 Gruppen täglich angewendet zu haben. Bei
beiden Geschlechtern steigen die Prävalenzraten mit dem Alter kontinuierlich an, Frauen sind häufiger Arzneimittelanwender als Männer und weisen etwa doppelt so häufig die
Anwendung von Arzneimitteln aus mehreren Arzneimittelgruppen auf. Mit zunehmender Verschlechterung des Gesundheitszustandes verringern sich die geschlechtsspezifischen
Differenzen. Bei den Frauen im Alter von 18 bis 45 Jahren ist
die Rangfolge der genannten Arzneimittelgruppen folgendermaßen: Pille zur Schwangerschaftsverhütung (33,0%), Schilddrüsenpräparate (11,5%) und Vitaminpräparate (7,6%). Bei
den gleichaltrigen Männern in den neuen Bundesländern
liegen blutdrucksenkende Mittel (4,7%), Erkältungs- und Grippemittel (3,8%) sowie Vitamine (3,8%) auf den ersten drei
Rängen; bei den Männern in den alten Bundesländern sind es
Vitamine (5,0%), blutdrucksenkende Mittel (2,1%) und Schilddrüsenpräparate (1,9%). Von den über 45jährigen werden
Arzneimittelgruppen zur Behandlung der kardiovaskulären
Risikofaktoren und der Herz-Kreislauf-Morbidität bei der täglichen Anwendung am häufigsten genannt. Das trifft sowohl
für die Frauen als auch für die Männer zu. Die Ergebnisse liefern einen ersten Überblick über das Arzneimittelanwendungsverhalten der erwachsenen Wohnbevölkerung in
Deutschland. Bei der Interpretation der Ergebnisse ist zu berücksichtigen, daß die Einordnung in die vorgegebenen Antwortkategorien von der Erinnerungsfähigkeit der Studienteilnehmer und dem Laienverständnis der Arzneimittelgruppen
abhängig ist. Darüber hinaus ist zu bedenken, daß mit den
ausgewählten Arzneimittelgruppen nicht das gesamte Präparatespektrum abgedeckt wird.
Subjective Statements on the Daily Intake of Drugs from
Selected Drug Groups: This publication presents data concerning the daily frequency of usage for 34 selected drug-groups.
The results are based on standardized medical interviews
done with a representative sample of the German resident
population aged 18 to 79 years during the German National
Health Interview and Examination Survey 1998. Nearly 52% of
the interviewed men and women report the daily use of drugs
at least from one of the above mentioned 34 groups during
the last year before the interview. In both sexes the prevalence
of drug-usage rises steadily with age. Women are more often
drug-users than men with approximately doubled daily drugusage in some medication groups. With worsening of the
health status the sex-specific differences of drug-usage diminish. For females aged 18 to 45 years the rank-order of drug-usage is as follows: oral contraceptives (33.0%), thyroid drugs
(11.5%), vitamins (7.6%). For males of the same age group the
rank order in the ‚new Bundesländer’ is as follows: antihypertensives (4.7%), drugs against common cold and grippe (3,8%)
and vitamines (3.8%). In the ‚old Bundesländer’ the rank-order
for males is the following: vitamines (5.0%), antihypertensives
(2.1%) and thyroid drugs (1.9%). For those study participants
older than 45 years, drug groups for therapy of cardiovascular
diseases become prominent and are the most often used medications with daily use. This could be observed for males and
females. The results give a first impression concerning the
drug-usage pattern in an adult resident population in Germany. The discussion of the results has to consider, that the
answers given in the interviews strongly depend on the memory of the study participants and their lay-understanding of
the different groups of the questionnaire. Further it has to be
considered that the 34 drug-groups did not cover the whole
medication pattern.
Schlüsselwörter: Arzneimittelanwendung – Deutschland –
Antihypertensiva – orale Kontrazeptiva – Vitamine – Schilddrüsenpräparate
Einleitung
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S151–S157
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Key words: Drug Utilization – Germany – Antihypertensives –
Oral Contraceptives – Vitamines – Thyroid Drugs
Der Arzneimittelgebrauch stellt einen entscheidenden Faktor
im therapeutischen Handeln dar. Nicht unbeträchtliche Kostenanteile der Ausgaben aus dem Gesundheitssektor entfallen
auf den Bereich Therapie und Versorgung mit Arzneimitteln.
Nach Angaben der pharmazeutischen Industrie (Pharma Daten
‘99) wendete die „Gesetzliche Krankenversicherung“ 1998
13,1% ihrer Gesamtausgaben (27,1 Milliarden Mark) für die Lei-
Beitrag: 343.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S152 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
H. Knopf, H.-U. Melchert
stungsart „Arzneien, Verband- und Hilfsmittel“ auf [Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie 1999].
Für viele – insbesondere für neue Arzneimittel – gilt, daß nach
der Markteinführung ein besonderer Bedarf der Überwachung der erwünschten und unerwünschten Arzneimittelwirkungen besteht. Arzneimittelepidemiologische Studien
können zur Marktbeobachtung und zur Arzneimittelsicherheit wesentliche Beiträge leisten.
Pharmakoepidemiologische Datenbanken, die Arzneimittelanwendungen personenbezogen dokumentieren, gibt es bisher in Deutschland nur ansatzweise [Bertelsmann et al. 1998].
Die daraus zu entnehmenden Aussagen zur Arzneimittelverordnung auf individueller Ebene können aber nur eine sehr
grobe Schätzung dessen sein, was tatsächlich angewendet
wurde. Erschwerend kommt hinzu, daß diese Datenbanken
keine Informationen über das Ausmaß der Selbstmedikation
liefern. Die Arzneimittelerhebungen im Rahmen des BundesGesundheitssurveys stellen ein geeignetes Instrumentarium
zur Schließung derartiger Informationslücken dar.
Material und Methode
66,4% fast doppelt so häufig eine tägliche Arzneimittelanwendung auf wie die Männer (35%). Auch in unserer Studie zeigt
sich ein hochsignifikanter (p<0,001) und starker (r=0,7099)
Zusammenhang der Arzneimittelanwendung mit dem Alter.
Mit zunehmender Verschlechterung des subjektiv eingeschätzten Gesundheitszustandes verringern sich die geschlechtsspezifischen Unterschiede von über 34 Prozentpunkten bei denjenigen, die ihren Gesundheitszustand als
sehr gut bezeichnen, auf etwa 20 Prozentpunkte bei denjenigen mit einem schlechten Gesundheitszustand. Neben geschlechts- und alterspezifischen Unterschieden zeigen sich
auch Differenzen zwischen den alten (50,6%) und neuen Bundesländern (55,9%).
In Abb. 1 ist die tägliche Arzneimittelanwendung nach der
Anzahl der genannten Arzneimittelgruppen dargestellt. Es
wird deutlich, daß sich die Wahrscheinlichkeit weitere Arzneimittelgruppen anzuwenden mit jeder zusätzlichen Arzneimittelgruppe um ca. 50% vermindert. Das Maximum der
gleichzeitigen, täglichen Anwendung liegt beim Gebrauch von
Arzneimitteln aus 11 Gruppen, betrifft aber lediglich 0,1% der
Tab. 1 Liste der Arzneimittelgruppen, Bundes-Gesundheitssurvey 98
7099 Studienteilnehmer wurden in einem ärztlichen Interview zur Arzneimittelanwendung befragt. In Tab. 1 sind die
34 Arzneimittelgruppen aufgelistet, für welche die Einnahmefrequenzen in den letzten 12 Monaten erhoben wurden.
Die Arzneimittelgruppen „Vitamin C“, „Vitamin E“ und „andere Vitaminpräparate“ wurden in der vorliegenden Analyse
zur Gruppe der „Vitaminpräparate“ zusammengefaßt.
Für jede Arzneimittelgruppe wurden die folgenden Einnahmefrequenzen erfaßt: „Täglich“, „mehrmals wöchentlich“,
„1–2mal wöchentlich“, „weniger als 1mal wöchentlich“, „1–
3mal monatlich“, „selten“ und „nie“. Die nachfolgend beschriebene Auswertung beschränkt sich auf die Darstellung
der Ergebnisse zur täglichen Arzneimittelanwendung. Die Datenanalyse erfolgte mit dem Statistiksystem SPSS (Version
9.01). Die Signifikanz wurde bei einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 5% geprüft.
Ergebnisse und Diskussion
Tägliche Arzneimittelanwendungen nach Geschlecht, Alter und
Region
Im Mittel geben 51,7% der Studienteilnehmer eine tägliche
Arzneimittelanwendung in den letzten 12 Monaten an. Damit
liegen unsere Ergebnisse deutlich über den Angaben des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie, die eine tägliche Anwendungshäufigkeit von 37% ausweisen [Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie 1999]. Ob diese Diskrepanz durch ein unterschiedliches Studiendesign bedingt ist,
läßt sich aufgrund der fehlenden Angaben zur Erhebungsmethodik der BPI-Studie nicht einschätzen.
In zahlreichen Publikationen sind die geschlechtsspezifischen
Unterschiede und die Altersabhängigkeit der Arzneimittelanwendung beschrieben [Furu et al. 1997, Lassila et al. 1996, Lapeyre-Mestre 1999, Eggen 1997, Del Rio et al. 1996, Del Rio et
al. 1997]. Differenziert nach Geschlecht weisen die weiblichen Studienteilnehmer des Bundes-Gesundheitssurveys mit
blutdrucksenkende Mittel
Kreislaufmittel/Blutdrucksteigernde Mittel
Herzmittel
durchblutungsfördernde Mittel
Mittel für Lungen/Bronchien (z.B. Asthmamittel)
Erkältungs-/Grippemittel
Medikamente für Magen, Leber, Galle, Bauchspeicheldrüse
Pille zur Schwangerschaftsverhütung/ Dreimonatsspritze
Schilddrüsenpräparate
andere Hormonpräparate (Östrogene)
Mittel zur Senkung des Blutzuckerspiegels
(Insulin und/oder Tabletten)
Mittel zur Senkung des Blutfettspiegels
Mittel gegen Gicht
Eisenpräparate gegen „Blutarmut“, Eisenmangel
Medikamente gegen Blasen-/ Nierenkrankheiten
Mittel gegen Rheuma, Bandscheibenbeschwerden
Osteoporosemittel
Migränemittel
Schmerzmittel
Mittel gegen Anfallsleiden (Epilepsie)
stimmungsbeeinflussende Mittel, Psychopharmaka
Beruhigungsmittel
Schlafmittel
Schlankheitsmittel, Appetitzügler
Abführmittel
Antiallergika
Anregungs-, Stärkungsmittel
Vitamin-C-Präparate
Vitamin-E-Präparate
andere Vitaminpräparate
Mittel gegen Beschwerden in der Menopause
Mittel gegen Durchfall
andere Darmmittel
Potenzmittel
Beitrag: 343.fm
Ausdruck vom 25.5.00
Subjektive Angaben zur täglichen Anwendung ausgewählter Arzneimittelgruppen
35%
Abb. 1 Anteil der täglichen Arzneimittelanwender (18- bis 79jährige) nach der Zahl der
genannten Arzneimittelgruppen.
Männer
Frauen
30%
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S153
25%
20%
15%
10%
5%
0%
1
2
3
4
5
6
7
8
9
Anzahl der genannten Arzneimittelgruppen
Frauen. Frauen weisen mit 35,8% etwa doppelt so häufig die
gleichzeitige Anwendung mehrerer Arzneimittelgruppen auf
als Männer (17,1%). Wird bei beiden Geschlechtern nach den
Altersgruppen 18 bis 45 Jahre und 46 bis 79 Jahre differenziert, ergibt sich ein ähnliches Bild, wobei sich das Niveau erwartungsgemäß zwischen jüngeren und älteren Studienteilnehmern unterscheidet (Tab. 2). Signifikante Ost-West-Unterschiede bestehen für die 18- bis 45jährigen Frauen bei der
Anwendung einer Arzneimittelgruppe (West: 35,8%; Ost:
44,7%) und bei den 46- bis 79jährigen Männern mit Multimedikation (West: 31,2%; Ost: 38,2%).
Rangfolge der Arzneimittelgruppen
In der Rangfolge der Arzneimittelgruppen liegen die blutdrucksenkenden Mittel mit 13,6% bei den Männern und mit
18,1% bei den Frauen auf dem ersten Platz. Sie werden gefolgt
von der Pille zur Schwangerschaftsverhütung (16,6%) und den
Hormonpräparaten (10,4%) bei den Frauen sowie von den
durchblutungsfördernden Mitteln (7,7%) und den Herzmitteln (7,6%) bei den Männern. Vitaminpräparate gehören mit
9,7% bei den Frauen und 6,2% bei den Männern ebenfalls zu
den häufig genannten Arzneimittelgruppen.
Wird die tägliche Anwendungshäufigkeit der Arzneimittelgruppen nach den Altersgruppen 18 bis 45 Jahre und 46 bis 79
Jahre differenziert, ergibt sich für die Jüngeren das folgende
Bild (siehe Tab. 3 und 4).
10
11
Bei den 18- bis 45jährigen Frauen prägt die Pille zur Schwangerschaftsverhütung das Präparatespektrum wesentlich. Mit
rund 45% in den neuen und ca. 30% in den alten Bundesländern wird diese Arzneimittelgruppe am häufigsten genannt.
Auf den weiteren Rängen folgen die Schilddrüsen- und Vitaminpräparate (Tab. 3). Mit Ausnahme der Schilddrüsenpräparate, der Vitamin- und Eisenpräparate gegen Blutarmut liegen die Häufigkeiten der täglichen Anwendung in den neuen
Bundesländern oft über den jeweiligen Raten in den alten
Bundesländern (Abb. 2). Statistisch signifikante Ost-West-Unterschiede sind bei blutdrucksenkenden Mitteln, Erkältungsund Grippemitteln, der Pille zur Schwangerschaftsverhütung
und anderen Hormonen (Östrogene) sowie Vitaminpräparaten zu beobachten.
Bei den 18- bis 45jährigen Männern in den neuen Bundesländern spielen blutdrucksenkende Mittel, Erkältungs- und Grippemittel sowie Vitaminpräparate eine herausragende Rolle in
der täglichen Arzneimittelanwendung, in den alten Bundesländern sind es vor allem Vitamine, blutdrucksenkende Mittel
und Schilddrüsenpräparate (Tab. 3). Mit Ausnahme der Vitamin- und Schilddrüsenpräparate sowie der Antiallergika liegen die Anwendungshäufigkeiten in den neuen Bundesländern oft über denjenigen in den alten Bundesländern (Abb. 3).
Signifikante Ost-West-Differenzen sind bei blutdrucksenkenden Mitteln, Erkältungs- und Grippemitteln sowie bei Vitaminen zu beobachten.
Tab. 2 Tägliche Arzneimittelanwendung nach Geschlecht, Region und Altersgruppen, Bundes-Gesundheitssurvey 1998
keine Arzneimittelgruppe
1 Arzneimittelgruppe
2 und mehr Arzneimittelgruppen
Anzahl der Studienteilnehmer
keine Arzneimittelgruppe
1 Arzneimittelgruppe
2 und mehr Arzneimittelgruppen
Anzahl der Studienteilnehmer
Männer
West
18 bis 45 Jahre
46 bis 79 Jahre
Ost
18 bis 45 Jahre
46 bis 79 Jahre
82,1%
14,4%
3,5%
1206
45,5%
23,3%
31,2%
1090
80,4%
14,8%
4,9%
586
37,1%
24,7%
38,2%
556
Frauen
West
18 bis 45 Jahre
46 bis 79 Jahre
Ost
18 bis 45 Jahre
46 bis 79 Jahre
46,9%
35,8%
17,3%
1231
23,0%
23,8%
53,2%
1165
36,8%
44,7%
18,4%
601
20,5%
26,5%
53,0%
664
Prävalenzraten nach Gewichtung mit w98
Beitrag: 343.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S154 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
H. Knopf, H.-U. Melchert
Stichprobe
Arzneimittelgruppen
Pille zur Schwangerschaftsverhütung/ Dreimonatsspritze
Schilddrüsenpräparate
Vitaminpräparate
Eisenpräparate gegen Blutarmut, Eisenmangel
andere Hormonpräparate (Östrogene)
stimmungsbeeinflussende Mittel, Psychopharmaka
Mittel für Lungen/Bronchien (z.B. Asthmamittel)
Beruhigungsmittel
blutdrucksenkende Mittel
Erkältungs-/Grippemittel
Antiallergika
Medikamente für Magen, Leber, Galle, Bauchspeicheldrüse
Medikamente gegen Blasen-/Nierenkrankheiten
durchblutungsfördernde Mittel
Mittel gegen Rheuma, Bandscheibenbeschwerden
Kreislaufmittel/blutdrucksteigernde Mittel
Mittel gegen Beschwerden in der Menopause
Schmerzmittel
Mittel gegen Anfallsleiden (Epilepsie)
Mittel zur Senkung des Blutzuckerspiegels (Insulin u./o.Tabletten)
Schlafmittel
Mittel gegen Durchfall
Mittel zur Senkung des Blutfettspiegels
Anregungs-, Stärkungsmittel
Mittel gegen Gicht
andere Darmmittel
Migränemittel
Abführmittel
Herzmittel
Schlankheitsmittel, Appetitzügler
Osteoporosemittel
Männer
West
1206
Ost
Frauen
West
Ost
586
1231
601
29,9%
12,0%
8,1%
3,7%
2,9%
2,4%
2,2%
2,0%
1,8%
1,7%
1,3%
1,3%
1,2%
0,8%
0,7%
0,7%
0,7%
0,5%
0,5%
0,5%
0,5%
0,4%
0,3%
0,3%
0,2%
0,2%
0,2%
0,2%
0,1%
0,1%
0,0%
44,8%
9,9%
5,5%
2,6%
0,8%
0,6%
1,7%
1,3%
3,6%
3,2%
1,5%
1,8%
1,4%
0,4%
2,1%
0,6%
0,2%
1,2%
0,6%
0,5%
0,4%
0,1%
1,9%
5,0%
0,2%
0,1%
0,7%
1,4%
1,0%
2,1%
1,0%
1,4%
1,0%
0,1%
0,5%
0,6%
1,6%
3,8%
0,3%
0,6%
0,5%
0,3%
0,3%
0,5%
0,8%
0,6%
0,3%
0,1%
0,8%
0,8%
0,1%
1,2%
0,3%
0,2%
0,4%
0,6%
0,7%
0,5%
4,7%
3,8%
0,9%
1,8%
0,2%
1,3%
1,3%
0,6%
0,2%
0,1%
0,7%
0,3%
Tab. 3 Tägliche Anwendung von Arzneimittelgruppen, 18- bis
45jährige. Bundes-Gesundheitssurvey 1998,
sortiert nach Frauen
West
0,4%
0,7%
0,5%
0,7%
0,2%
0,5%
Prävalenzraten nach Gewichtung mit w98
In Tab. 4 ist die tägliche Anwendung der Arzneimittelgruppen
bei den 46- bis 79jährigen beschrieben.
Für die Frauen stellt sich das Bild folgendermaßen dar: Arzneimittelgruppen zur Behandlung der kardiovaskulären Morbidität liegen auf den vorderen Rängen. Sie werden gefolgt
von Östrogenen, Schilddrüsenpräparaten und Mitteln gegen
Beschwerden in der Menopause. Mit Ausnahme der Östrogene, der Schilddrüsenpräparate und der Mittel gegen Be-
schwerden in der Menopause weisen die Frauen in den neuen
Bundesländern oft die höheren Prävalenzraten auf (Abb. 4).
Signifikante Ost-West-Unterschiede treten bei blutdrucksenkenden Mitteln, Östrogenen und Schilddrüsenpräparaten auf.
Ähnlich wie bei den gleichaltrigen Frauen dominieren bei den
46- bis 79jährigen Männern die Arzneimittelgruppen zur Behandlung der kardiovaskulären Risikofaktoren und der HerzKreislauf-Morbidität in der täglichen ArzneimittelanwenAbb. 2 Rangfolge der 10 häufigsten Arzneimittelgruppen in der täglichen Arzneimittelanwendung der 18- bis 45jährigen Frauen.
Beitrag: 343.fm
Ausdruck vom 25.5.00
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S155
Subjektive Angaben zur täglichen Anwendung ausgewählter Arzneimittelgruppen
6%
Abb. 3 Rangfolge der 10 häufigsten Arzneimittelgruppen in der täglichen Arzneimittelanwendung der 18- bis 45jährigen Männer.
West Ost
5%
4%
3%
2%
1%
0%
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
1: blutdrucksenk. Mittel, 2: Erkält.- u. Grippemittel, 3: Vitaminpräp., 4: Medikam. f. Magen, Leber, Galle,
Bauchspeicheldrüse, 5: Schilddrüsenpräp., 6: durchblutungsförd. Mittel, 7: Mittel gegen Rheuma,
Bandscheibenbeschw., 8: Antiallergika, 9: Mittel gegen Anfallsleiden, 10: Mittel z. Senkg. d. Blutfettspiegels
Stichprobe
Arzneimittelgruppen
blutdrucksenkende Mittel
andere Hormonpräparate (Östrogene)
Schilddrüsenpräparate
Herzmittel
durchblutungsfördernde Mittel
Vitaminpräparate
Mittel gegen Beschwerden in der Menopause
Osteoporosemittel
Mittel zur Senkung des Blutfettspiegels
Medikamente für Magen, Leber, Galle, Bauchspeicheldrüse
Mittel zur Senkung des Blutzuckerspiegels (Insulin u./o. Tabletten)
stimmungsbeeinflussende Mittel, Psychopharmaka
Beruhigungsmittel
Mittel gegen Rheuma, Bandscheibenbeschwerden
Mittel für Lungen/Bronchien (z.B. Asthmamittel)
Anregungs-, Stärkungsmittel
Schlafmittel
Mittel gegen Gicht
Eisenpräparate gegen Blutarmut, Eisenmangel
Kreislaufmittel/ blutdrucksteigernde Mittel
Medikamente gegen Blasen-/Nierenkrankheiten
Erkältungs-/Grippemittel
Abführmittel
Pille zur Schwangerschaftsverhütung/ Dreimonatsspritze
Antiallergika
andere Darmmittel
Schmerzmittel
Mittel gegen Anfallsleiden (Epilepsie)
Mittel gegen Durchfall
Migränemittel
Schlankheitsmittel, Appetitzügler
Potenzmittel
Männer
West
Ost
Frauen
West
Ost
1090
556
1165
664
24,3%
0,1%
4,4%
14,6%
14,9%
8,2%
34,5%
0,5%
4,0%
20,9%
19,5%
6,7%
0,9%
8,0%
3,4%
5,5%
2,5%
2,0%
2,6%
4,2%
0,4%
1,3%
5,9%
0,3%
0,6%
3,9%
1,1%
0,5%
0,9%
8,5%
4,5%
9,7%
1,8%
1,3%
4,0%
3,9%
1,9%
1,1%
6,5%
0,2%
1,1%
4,1%
1,2%
1,6%
0,7%
0,6%
0,5%
0,1%
1,5%
0,3%
0,5%
1,0%
0,3%
0,1%
31,6%
19,0%
16,4%
15,7%
14,0%
11,8%
11,3%
7,9%
6,5%
6,2%
5,6%
5,2%
4,9%
4,6%
4,1%
3,4%
2,6%
2,4%
1,8%
1,6%
1,5%
1,5%
1,4%
1,0%
0,9%
0,9%
0,5%
0,4%
0,1%
0,1%
0,1%
39,8%
13,8%
10,5%
19,8%
16,9%
11,4%
8,7%
7,5%
8,4%
5,6%
8,7%
6,1%
4,7%
7,7%
3,6%
1,0%
4,9%
3,1%
0,7%
1,6%
2,0%
2,4%
0,3%
1,8%
1,4%
0,4%
1,2%
0,5%
0,4%
0,3%
0,5%
0,1%
0,2%
Tab. 4 Tägliche
Anwendung von
Arzneimittelgruppen,
46- bis 79jährige
Bundes-Gesundheitssurvey 1998, sortiert
nach Frauen West
Prävalenzraten nach Gewichtung mit w98
dung. Außer bei den Vitamin- und Schilddrüsenpräparaten
liegen die täglichen Anwendungshäufigkeiten der Männer in
den neuen Bundesländern oft über denen in den alten Bundesländern (Abb. 5). Signifikant sind diese Unterschiede bei
den blutdruck- und blutzuckersenkenden Mitteln sowie bei
den Vitaminpräparaten.
Da in den Gesundheitssurveys zu Beginn der 90er Jahre [Stolzenberg 1995] die Erfassung der Anwendungshäufigkeiten
nicht wie im Bundes-Gesundheitssurvey auf die letzten 12
Monate begrenzt war, läßt sich ein Zeitvergleich zwischen
1990 und 1998 nicht vornehmen.
Beitrag: 343.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S156 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
H. Knopf, H.-U. Melchert
West Ost
40%
Abb. 4 Rangfolge der 10 häufigsten Arzneimittelgruppen in der täglichen Arzneimittelanwendung der 46- bis 79jährigen Frauen.
30%
20%
10%
0%
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
1: blutdrucksenk. Mittel, 2: Herzmittel, 3: durchblutungsförd. Mittel, 4: And. Hormone, 5: Vitaminpräp.,
6: Schilddrüsenpräp., 7: Mittel z. Senkung d. Blutzuckerspiegels, 8: Mittel gegen Beschwerden in der
Menopause, 9: Mittel z. Senkung d. Blutfettspiegels, 10: Mittel gegen Rheuma, Bandscheibenbeschw.
40%
35%
30%
25%
20%
15%
10%
5%
0%
West Ost
1
2
3
4
5
6
7
8
9
Abb. 5 Rangfolge der 10 häufigsten Arzneimittelgruppen in der täglichen Arzneimittelanwendung der 46- bis 79jährigen Männer.
10
1. blutdrucksenk. Mittel, 2: Herzmittel, 3: durchblutungsförd. Mittel, 4: Mittel z. Senkung d. Blutzuckerspiegels,
5: Mittel z. Senkung d. Blutfettspiegels, 6: Vitaminpräp., 7: Mittel gegen Gicht, 8: Medikam. f. Magen, Leber,
Galle, Bauchspeicheldrüse, 9: Medikam. gegen Blasen-/Nierenkrankheiten, 10: Schilddrüsenpräp.
Schlußfolgerungen
Mit den Ergebnissen zur Anwendungshäufigkeit ausgewählter Arzneimittelgruppen können erste Aussagen zum täglichen Arzneimittelgebrauch getroffen werden. Die Prävalenzrate von fast 52% verdeutlicht die Relevanz der Fragestellung für die Gesundheit der Bevölkerung. Bei der
Interpretation der Ergebnisse ist jedoch zu berücksichtigen,
daß die ausgewählten Arzneimittelgruppen nicht das gesamte Präparatespektrum abdecken. Hinzu kommt die Tatsache der retrospektiven Erfragung der Anwendungsfrequenzen
für die letzten 12 Monate, womit gewisse Anforderungen an
das Erinnerungsvermögen der Studienteilnehmer gestellt
werden. Da Arzneimittelgruppen erhoben werden, hängt die
Validität der Angaben darüber hinaus von der Fähigkeit der
Studienteilnehmer ab, eine korrekte Zuordnung der angewendeten Arzneimittel zur entsprechenden Arzneimittelgruppe vornehmen zu können. Wie aus vergleichbaren Studien bekannt ist [Gmel 1999], kann sich bei dieser Form der
Erhebung die zwangsläufige Zusammenfassung relativ harmloser Hausmittel mit hochpotenten Medikamenten nachteilig
auswirken.
Bei Arzneimitteln zur Therapie zeitlich begrenzter akuter
Zustände wie z.B. „Erkältungskrankheiten“ ist zudem die Einordnung der entsprechenden Arzneimittel in die verschiedenen Anwendungsfrequenzen problematisch, da diese im
Krankheitsfall „täglich“ und in der restlichen Zeit „nie“ angewendet werden. Anders ist es bei Arzneimitteln, die aus
therapeutischen oder präventiven Gründen mit einer längerfristigen, oft lebensbegleitenden Anwendung verbunden sind.
Wie vergleichende Analysen zwischen verschiedenen Erhebungsinstrumenten (standardisierte, detaillierte Erfassung
sämtlicher Arzneimittel, die in den letzten 7 Tagen vor der
Befragung angewendet worden waren vs. Selbstangaben zur
Anwendungsfrequenz) zeigen, liegt hier ein hoher Grad der
Übereinstimmung vor [Melchert et al. 1995, Knopf et al.
1995]. Für diese Arzneimittelgruppen kann die Erfassung der
Anwendungsfrequenzen belastbare Daten zur Beschreibung
des Medikamentengebrauchs liefern.
Beitrag: 343.fm
Ausdruck vom 25.5.00
Subjektive Angaben zur täglichen Anwendung ausgewählter Arzneimittelgruppen
Hildtraud Knopf
Literatur
1
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S157
Bertelsmann A, Knopf H, Melchert, HU (1998). Der Bundes-Gesundheitssurvey als pharmakoepidemiologisches Instrument.
Gesundheitswesen 60 Sonderheft 2: 89–94
2 Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e.V. Pharma
Daten ‘99. Überarbeitete Auflage, Frankfurt/Main 1999
3 Del Rio MC, Alvarez FJ (1996). Medication use by the driving population. Pharmacoepidemiology and Drug Safety 5/4: 255–261
4 Del Rio MC, Prada C, Alvarez FJ (1997). The use of medication by
the Spanish population. Pharmacoepidemiology and Drug Safety
6/1: 41–48
5 Eggen AE (1997). Patterns of medicine use in a general population (0–80 years). The influence of age, gender, diseases and
place of residence on drug use in Norway. Pharmacoepidemiology and Drug Safety 6/3: 179–87
6 Furu K, Straume B, Thelle DS (1997). Legal drug use in a general
population: association with gender, morbidity, health care utilization, and lifestyle characteristics. Journal of Clinical Epidemiology 50: 341–349
7 Gmel G (1999). Änderungen in der Abfolge von Fragen zur Medikamenteneinnahme im Schweizer Gesundheitssurvey – Gibt es
Effekte für die Prävalenzschätzungen? Soz.-Präventivmed. 44:
126–136
8 Knopf H, Braemer-Hauth, M, Melchert HU, Thefeld W (1995). Ergebnisse der Nationalen Untersuchungs-Surveys zum Laxanzienverbrauch. Bundesgesundheitsblatt 38 [12]: 459–467
9 Lapeyre-Mestre M, Chastan E, Louis A, Montastruc, JL (1999).
Drug consumption in workers in France: A comparative study at
a 10-year interval (1996 versus 1986). Journal of Clinical Epidemiology 52/5: 471–478
10 Lassila HC, Stoehr GP, Ganguli M, Seaberg EC, Gilby JE, Belle SH,
Echement DA(1996). Use of prescription medications in an elderly rural population: the MoVIES Project. Annals of Pharmacotherapy 30: 589–595
11 Melchert HU, Görsch B, Hoffmeister H (1995). Nichtstationäre
Arzneimittelanwendung und subjektive Arzneimitttelverträglichkeit in der bundesdeutschen Wohnbevölkerung der 25- bis
69jährigen – Ergebnisse der Erhebung des ersten Nationalen
Untersuchungs-Surveys 1984–1986. RKI-Schriften 1/95, MMV
Medizin Verlag, München, ISBN 3-8208-1274-1
12 Stolzenberg H. Gesundheitssurvey Ost-West. Befragungs- und
Untersuchungssurvey in den neuen und alten Bundesländern.
Public Use File OW91 (1990–1992) Dokumentation des Datensatzes, Robert Koch-Institut (RKI) Berlin, Oktober 1995
Robert Koch-Institut
Postfach 650280
D-13302 Berlin
Beitrag: 343.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S158 RISIKOFAKTOREN, GESUNDHEITSVERHALTEN, LEBENSWEISE
Lärm und
›› Umweltbedingter
Wohnzufriedenheit
C. Maschke, D. Laußmann, D. Eis, U. Wolf
Robert Koch-Institut, Berlin
Zusammenfassung: Die Frage nach Lärm von außen, der in der
Wohnung wahrgenommen wird, bejahen im Bundes-Gesundheitssurvey 98 mit 36,2% mehr als ein Drittel der Befragten in
Deutschland. Zwischen Westdeutschland und Ostdeutschland
sind nur geringe, statistisch unbedeutende Unterschiede zu
verzeichnen. In Gesamtdeutschland bejahen die 20- bis
39jährigen Frauen diese Frage signifikant häufiger im Vergleich zu den Männern gleichen Alters. Als dominante Lärmquelle wird der Straßenverkehr von 87% der Betroffenen in
der Wohnung wahrgenommen. An zweiter Stelle folgt der
Nachbarschaftslärm mit 32%. Flug- und Schienenlärm liegen
mit Werten um 20% auf dem 3. bzw. 4. Platz. Insbesondere
sehr starker Lärm in der Wohnung bzw. häufige nächtliche
Störungen durch Lärm sind bei den Befragten mit einer deutlich erhöhten Unzufriedenheit mit der Wohnung bzw. dem
Wohngebiet verbunden.
Einleitung
Schlüsselwörter: Umweltlärm – Lärmerleben – Wohnzufriedenheit – Survey
Lärm löst vegetative Reaktionen aus. Diese lärmbedingten Aktivierungsreaktionen sind zunächst nicht als krankhafte Veränderungen des menschlichen Organismus aufzufassen. Bei
fortgesetzter oder zu starker psychophysischer Belastung
kommt es zu einem Überwiegen der ergotropen Reaktionslage zu Lasten der notwendigen Entspannung und Erholung
(vagotrope Reaktionslage). Aus dieser Verschiebung des
Gleichgewichts können funktionale Störungen resultieren.
Eine Überaktivierung bzw. nachhaltige Störung der für das Individuum bedeutsamen Bio- und Soziorhythmen kann demzufolge zu adversen Effekten führen.
Environmental Noise and Satisfactory Living Conditions: In
the German National Health Interview and Examination Survey, more than one third, i.e. 36.2% of persons interviewed on
the matter of noise nuisance in their homes attributed to outdoor noise confirmed the occurrence of noise. Regarding this
result only small and statistically insignificant differences have
been assessed in East and West Germany. The frequency of affirmative answers given by German women, ages 20–39, was
significantly higher as compared to men in the same ages
bracket. Regarding the dominant noise effects in their home,
87% of persons affected mentioned traffic noise as a source. In
the second place neighbour noise has been reported by 32%.
Aircraft and railway noises percepted by 20%, are in the third
and fourth place. Particularly severe indoor noise effects, i.e.
persisting noise during the night, are accompanied with
clearly increased discontent regarding the home and living
area.
Key words: Environmental Noise – Noise Experience –
Residential-Contentment – Survey
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S158–S162
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Umweltlärm als Gesundheitsproblem wird in der Öffentlichkeit wie auch in der Fachwelt und der Politik oft unterschätzt
[Umweltrat 1999]. Er führt zu Veränderungen in psychologischen, physiologischen sowie sozialen Funktionsbereichen.
Lärm löst negative Emotionen aus. Das unangenehme Lärmerleben wird u. a. bestimmt durch die Erfahrung, die der Betroffene mit der spezifischen Geräuschquelle in der Vergangenheit gemacht hat, von der Einstellung zum Geräusch, von der
individuellen psychophysiologischen Reaktionslage (die ihrerseits durch physische und psychische Persönlichkeitsmerkmale sowie durch den Gesundheitszustand bestimmt
ist), vom Vigilanzzustand, von der Geräuschempfindlichkeit
sowie vom Zeitpunkt im Tages- und Wochenablauf.
Lärm stellt für den Menschen nicht nur eine physikalische
Einwirkung dar, sondern er hat zugleich Erlebnisqualität. Das
Lärmerlebnis und die damit einhergehenden Funktionsänderungen können sich als unangenehme Assoziationen mental
einprägen und in reaktive Änderungen von Verhaltensweisen
(Vermeidungsverhalten und Kommunikationseinschränkungen) einmünden. Letzteres kann sich besonders im Entwicklungsalter negativ auswirken.
Die Beanspruchung durch Lärm ist sowohl von der Intensität
als auch vom Zeitpunkt der Exposition abhängig. So ist die
Auswirkung von Schall gleicher Intensität in den Abendstunden und insbesondere in den Nachtstunden wesentlich ausgeprägter als z.B. in den Vormittagsstunden.
Eine Geräuschbelastung in der Wohnung stellt daher ein umweltmedizinisch relevantes Problem dar. Im Bundes-Gesundheitssurvey 98 wurden weitgehend repräsentative Daten zu
der Frage, in welchem Umfang Umweltlärm in der Wohnung
wahrgenommen (erlebt) wird, erhoben. Außerdem wurden
Beitrag: 359neu.fm
Ausdruck vom 25.5.00
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S159
Umweltbedingter Lärm und Wohnzufriedenheit
Angaben zur Wohnzufriedenheit erfaßt. Eine erste Auswertung der zu dieser Thematik vorliegenden Surveydaten wird
im folgenden vorgelegt.
50%
Material und Methoden
30%
Die Wahrnehmung von Umweltlärm in der Wohnung wurde
im Survey anhand der Frage „Gibt es in Ihrer Wohnung oder Ihrem Haus normalerweise Lärm von außen?“ erhoben. Antwortkategorien waren „ja“ oder „nein“. Bei der Auswertung dieser
Variablen erfolgte eine Schichtung für West- und Ostdeutschland sowie hinsichtlich sozio-demographischer Merkmale
(Geschlecht, Alter, Bevölkerungsdichte).
Eine Aufschlüsselung nach Lärmquellen wurde anhand der
Teilfrage „Wodurch wird der Lärm im allgemeinen verursacht,
als wie stark würden Sie ihn jeweils bezeichnen, und wie häufig
fühlen Sie sich auch nachts durch den Lärm gestört?“ vorgenommen. Die Stärke des Lärms wurde dabei durch eine 3stufige
Antwortskala von „sehr stark“ bis „nicht stark“ erfaßt, nächtliche Störungen durch Lärm in den Kategorien „häufig“, „selten“
und „nie“ abgebildet. Bei der Angabe der Lärmquellen waren
Mehrfachnennungen möglich.
Um die Beziehung zwischen dem wahrgenommenen Umweltlärm und der Wohnzufriedenheit darstellen zu können,
wurde auf die Teilfragen „Wie zufrieden sind Sie mit Ihrer Wohnung?“ bzw. „Wie zufrieden sind Sie mit Ihrem Wohngebiet?“
zurückgegriffen. Angaben zur Wohnzufriedenheit wurde mit
einer 7stufigen Antwortskala von „1=sehr unzufrieden“ bis
„7=sehr zufrieden“ erfaßt und für die vorliegende Analyse in 3
Kategorien mit den Bezeichnungen „unzufrieden“ (Stufen 1 u.
2), „mittlere Skalenwerte“ (Stufen 3–5)“ sowie „zufrieden“ (Stufen 6 u. 7) zusammengefaßt. Berechnet wurde ein Index, der
die in einer Schicht beobachtete Häufigkeit von „Lärm in der
Wohnung“ ins Verhältnis zur Antworthäufigkeit der Gesamtpopulation setzt. Entspricht die beobachtete Häufigkeit den
Verhältnissen in der Gesamtpopulation (erwartete Antworthäufigkeit), so erhält der Index den Wert 1. Werte >1 zeigen
demzufolge an, daß die Anzahl der Angaben in dieser Schicht
größer ist als in der Gesamtpopulation; Werte < 1 bedeuten,
daß die Anzahl geringer ist. Dieser Index verdeutlicht die Abhängigkeit der Wohnzufriedenheit von der Stärke des Umweltlärms in der Wohnung. Er ist unabhängig von der Verteilung der Wohnzufriedenheit in der Gesamtpopulation und
wird hier als „Zufriedenheitsindex“ bezeichnet.
Die Datenanalyse erfolgte mit dem Statistiksoftwarepaket
SPSS 8.0. Unterschiede in den Antworthäufigkeiten wurden
statistisch mit Chi-Quadrat-Techniken überprüft.
Ergebnisse und Diskussion
Eine erste Analyse behandelt die Frage, wie häufig Lärm von
außen in der Wohnung erlebt wird. In Abb. 1 werden prozentuale Häufigkeiten für Deutschland gesamt, Westdeutschland
und Ostdeutschland getrennt sowie unterteilt nach Frauen
und Männern dargestellt.
Die Frage bejahen mit 36,2% mehr als ein Drittel der Surveyteilnehmer. Für Westdeutschland (35,7%) und Ostdeutschland (38,4%) ist ein geringfügiger, nicht signifikanter Unter-
40%
West
Ost
gesamt Männer Frauen
gesamt Männer Frauen
Deutschland
20%
10%
0%
gesamt Männer Frauen
Abb. 1 Relative Häufigkeit, mit der die Frage „Gibt es in Ihrer Wohnung oder Ihrem Haus normalerweise Lärm von außen?“ mit „ja“ beantwortet wurde, in Gesamtdeutschland, in West- und in Ostdeutschland, zusätzlich aufgeschlüsselt nach Geschlecht (n=6934 Probanden).
schied zu verzeichnen. Die Angaben der Frauen liegen sowohl
in Westdeutschland als auch in Ostdeutschland um ungefähr
2% höher als die Angaben der Männer, jedoch ohne statistische Signifikanz.
Eine wesentliche Determinante für das unterschiedliche Lärmerleben der Betroffenen ist das Alter. Die Gründe dafür sind
u.a. in einer häufig bei älteren Menschen verschlechterten
Schlafqualität zu suchen. So benötigen ältere Menschen längere Zeit zum (Wieder-) Einschlafen als jüngere Menschen.
Nach Schuschke ist bei geringgradiger Altersschwerhörigkeit
der „Altersschlaf“ wesentlich wecksensibler [Schuschke 1976].
Diese Wecksensibilität steht mit einer erhöhten Streßsensibilität älterer Menschen und einer erhöhten Lärmempfindlichkeit in Beziehung [Dams 1972, Michalak 1990, Hofman 1994a,
1994b]. Zusätzlich ist z.B. die im Alter einsetzende Schwerhörigkeit von einem Hörverlust in den hohen Frequenzen gekennzeichnet. Die Kommunikation der älteren Personen ist
daher bereits bei geringeren Pegelwerten durch tieffrequente
Geräusche in der Wohnung (z.B. durch Verkehrsgeräusche)
beeinträchtigt. Der Altersgang des Lärmerlebens ist sowohl für
alle Probanden als auch für Frauen und Männer getrennt in der
Tab. 1 dargestellt.
Bei Männern ist mit steigendem Alter bis zur Altersgruppe der
60- bis 69jährigen eine beständige Zunahme der Häufigkeit
des Lärmerlebens in der Wohnung zu verzeichnen. In der Altersgruppe der 60- bis 69jährigen beträgt der Anteil 38,6%; er
liegt damit ca. 8 Prozentpunkte über der Antworthäufigkeit
Tab. 1 Prozentualer Anteil der Personen in verschiedenen Altersgruppen, die auf die Frage „Gibt es in Ihrer Wohnung oder Ihrem Haus normalerweise Lärm von außen?“ mit „ja“ geantwortet haben, unterteilt in
die Kategorien „gesamt“, Männer und Frauen (n=6934 Probanden).
Altersgruppe
gesamt
%
Männer
%
Frauen
%
18–19 Jahre
20–29 Jahre
30–39 Jahre
40–49 Jahre
50–59 Jahre
60–69 Jahre
70–79 Jahre
29,8
37,2
37,5
37,0
37,0
36,7
30,0
29,9
33,4
34,1
37,3
37,9
38,6
28,6
29,8
41,2
41,1
36,7
36,1
35,0
30,8
***
***
*** statistisch signifikante Unterschiede zwischen Männern und Frauen, p<1%
Beitrag: 359neu.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S160 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
C. Maschke et al.
der 18- bis 19jährigen. Unerwartet ist die deutlich geringere
Häufigkeit des Lärmerlebens bei den 70- bis 79jährigen
(28,6%). Möglicherweise machen sich hier die bei dieser Altersgruppe zwangsläufig vorherrschenden Selektionseffekte
und auch die deutliche Zunahme der Altersschwerhörigkeit
bemerkbar. Bei den Frauen zeigt sich in der Altersgruppe der
20- bis 29jährigen und in der Gruppe der 30- bis 39jährigen
ein deutlicher Anstieg des berichteten Lärmerlebens in der
Wohnung, gefolgt von einer Plateauphase in den mittleren
und einem Abfall in den älteren Altersgruppen. Die 20- bis
39jährigen Frauen weisen im Vergleich zu den gleichaltrigen
Männern mit 7 Prozentpunkten eine signifikant höhere Antworthäufigkeit auf. Dieser Unterschied könnte bei Frauen auf
die mit der Kinderbetreuung verbundenen längeren Aufenthaltszeiten in der Wohnung und eine in diesem Lebensabschnitt häufig höhere Sensibilität gegenüber exogenen Lärmbelästigungen zurückzuführen sein.
Umfragen zur Belästigung durch Lärm [Ortscheid 1996] legen
nahe, daß auch der Anteil von Personen, die in ihrer Wohnung
Lärm wahrnehmen, von der Gemeindegrößenklasse abhängt.
In Abb. 2 sind die erhobenen Daten nach Gemeindegrößenklassen geschichtet.
60 %
50 %
40 %
Nachbarn
Luftverkehr
Stärke des Lärms
Schienenverkehr
Kinderspielplätze
Häufigkeit der nächtlichen Störung
Gewerbe
sehr stark
mittelstark
nicht stark
häufig
selten
Gaststätten
Sonstiges
0%
20%
40%
60%
80%
100%
Anteil aller Antwortenden
Abb. 3 Relative Antworthäufigkeiten auf die Frage „Wodurch wird der
Lärm im allgemeinen verursacht, als wie stark würden Sie ihn jeweils
bezeichnen, und wie häufig fühlen Sie sich auch nachts durch den Lärm
gestört?“. Stichprobe für Deutschland gesamt (n=2498 antwortende
Probanden).
Die Ergebnisse zeigen, daß 87% der Betroffenen den Straßenverkehrslärm als dominante Lärmquelle in der Wohnung
wahrnehmen (60% geben „sehr starken“ und „mittelstarken“
Straßenverkehrslärm an), gefolgt von Nachbarschaftslärm mit
32%. Flug- und Schienenlärm liegen mit Werten um 20% auf
dem 3. bzw. 4. Platz. Diese Rangfolge zeigt sich auch bei den
Angaben zu den nächtlichen Störungen und ist mit den Ergebnissen anderer Befragungen zur lärmbedingten Belästigung,
z.B. der von Ortscheid (1996), vergleichbar.
Signifikante Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland gibt es in den Angaben zu Fluglärm bzw. zu Lärm von
Kinderspielplätzen, wie aus Tab. 2 ersichtlich ist.
30 %
20 %
10 %
0%
Straßenverkehr
bis 1999
2000 –4999
5000 –19999 20000 –49999 50000 –99999 100000–499999 500000+
politische Gemeindegrößenklasse
Abb. 2 Relative Häufigkeit der „ja“-Antworten zur Frage „Gibt es in Ihrer Wohnung oder Ihrem Haus normalerweise Lärm von außen?“, gegliedert nach Gemeindegrößenklassen (n=6934 Probanden).
Die Surveydaten bestätigen eine Zunahme der Häufigkeit des
Lärmerlebens in der Wohnung mit der Gemeindegrößenklasse. Die gestellte Frage wurde von etwa 27% der Befragten
in Gemeindegrößen unter 2000 Einwohnern mit „ja“ beantwortet, während in Ballungsgebieten (über 500000 Einwohner) nahezu 50% die Frage bejaht haben.
Bei der Umweltlärmexposition dominiert bekanntermaßen
der Straßenverkehrslärm, örtlich auch der Fluglärm oder der
Schienenlärm [Ortscheid 1996]. Die relative Häufigkeit der
Wahrnehmung verschiedener Quellen in der Wohnung zeigt
Abb. 3, getrennt für die Stärke des Lärms und die nächtlichen
Störungen.
In der Abbildung werden sowohl die Häufigkeit der Lärmwahrnehmung insgesamt, unterteilt in „nicht starke“, „mittelstarke“ und „starke“ Wahrnehmungen, als auch die Häufigkeit
der nächtlichen Lärmstörungen, unterteilt in „häufig“ und
„selten“, dargestellt. Im Mittel wurden von den Probanden jeweils zwei Lärmquellen von insgesamt acht angebotenen
Möglichkeiten genannt.
Die geringere Anzahl von Personen, die in Ostdeutschland
Fluglärm als Lärmquelle in ihrer Wohnung wahrnehmen (14%
versus 25%), ist u.a. auf das insgesamt geringere Flugaufkommen in Ostdeutschland zurückzuführen. Für die erhöhten Angaben zum Lärm von Kinderspielplätzen in der Wohnung
(18,6% zu 13,2%) könnte die häufige Lage von Kinderspielplätzen in Innenhöfen ostdeutscher Wohnsiedlungen mitverantwortlich sein. Zur genauen Abklärung dieser Frage wären
weiterführende Recherchen notwendig.
Die weitere Auswertung betrifft die Frage, in welchem Umfang die Wohnzufriedenheit durch den Lärm in der Wohnung
beeinflußt wird. Der Zusammenhang zwischen der Stärke des
Tab. 2 Prozentualer Anteil der Personen, die auf die Frage „Wodurch
wird der Lärm im allgemeinen verursacht?“ mindestens eine Lärmquelle benannt haben. Stichprobe für Deutschland gesamt sowie nach
West und Ost getrennt (n= 2498 antwortende Probanden)
Lärm durch Straßenverkehr
Lärm durch Schienenverkehr
Lärm durch Luftverkehr
Lärm durch Gewerbe
Lärm durch Gaststätten
Lärm durch Kinderspielplätze
Lärm durch Nachbarn
Lärm durch Sonstiges
gesamt West
%
%
Ost
%
87,0
20,4
22,8
11,9
10,9
14,4
31,7
9,8
90,8
24,6
14,1
10,4
12,7
18,6
30,1
11,0
86,0
19,2
25,2
12,3
10,5
13,3
32,1
9,5
***
***
*** statistisch signifikante Unterschiede zwischen Deutschland-West und
Deutschland-Ost, p<1%
Beitrag: 359neu.fm
Ausdruck vom 25.5.00
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S161
Umweltbedingter Lärm und Wohnzufriedenheit
2,5
2
2
e
1
mittlere Skalenwert
zufrieden
0,5
0
nicht stark
Zufriedenheitsindex
Zufriedenheitsindex
n
friede
unzu
1,5
den
frie
u
unz
1,5
mittlere Skalenwerte
1
zufrieden
0,5
mittelstark
empfundene Stärke des Lärms in der Wohnung
0
sehr stark
nie
selten
empfundene Häufigkeit der nächtlichen Störung durch Lärm in der Wohnung
häufig
Abb. 4 Index der Zufriedenheit (Unzufriedenheit) mit der Wohnung in
Abhängigkeit von der Stärke des Lärms in der Wohnung. Deutschland
gesamt (n= 5054 Mehrfachantworten).
Abb. 6 Index der Zufriedenheit (Unzufriedenheit) mit der Wohnung in
Abhängigkeit von der Häufigkeit lärmbedingter nächtlicher Störungen.
Deutschland gesamt (n=5012 Mehrfachantworten).
Lärms bzw. der Häufigkeit nächtlicher Störungen und den Angaben zur Wohnzufriedenheit ist in den Abb. 4 bis 7 dargestellt (zum Zufriedenheitsindex vgl. das Kapitel „Material und
Methoden“).
Die Anzahl der Personen, die mit ihrer Wohnung unzufrieden
sind, ist bei häufiger nächtlicher Störung um ca. 120% gegenüber der Gesamtpopulation erhöht. Bei der Antwortkategorie
„mittlere Skalenwerte“ ist ein geringer Anstieg von ca. 20% zu
verzeichnen. Der Trend für die Antwortkategorie „zufrieden“
ist wie bei der Stärke des Lärms gegenläufig. Ähnliche Ergebnisse liefert die Analyse der Zufriedenheit mit dem Wohngebiet. So steigt die Antworthäufigkeit für die Antwortkategorie
„unzufrieden“ bei „häufiger“ nächtlicher Störung um ca. 90%
gegenüber der Gesamtpopulation (Abb. 7).
Vergleichbare Dosis-Antwort-Beziehungen liefert auch die
Analyse der Zufriedenheit mit dem Wohngebiet (Abb. 5).
2,5
Zufriedenheitsindex
1
den
frie
unzu
mittlere Skalenwerte
zufrieden
0,5
0
nicht stark
2
mittelstark
empfundene Stärke des Lärms im Wohngebiet
sehr stark
Abb. 5 Index der Zufriedenheit (Unzufriedenheit) mit dem Wohngebiet in Abhängigkeit von der Stärke des Lärms im Wohngebiet.
Deutschland gesamt (n=5046 Mehrfachantworten).
So steigt die Antworthäufigkeit für die Antwortkategorie „unzufrieden“ bei „starkem Lärm“ um mehr als 100% gegenüber
der Gesamtpopulation.
Zwischen der Häufigkeit nächtlicher Störungen und den Antwortkategorien zur Wohnzufriedenheit besteht ebenfalls eine
ähnliche Dosis-Antwort-Beziehung, wie aus Abb. 6 ersichtlich
ist.
den
ufrie
unz
1,5
mittlere Skalenwerte
1
zufrieden
0,5
0
2
1,5
2,5
Zufriedenheitsindex
Die Abb. 4 zeigt, daß eine Beziehung zwischen der Stärke des
Lärms und der Antwortkategorie „unzufrieden“ mit der
Wohnung besteht. Die Anzahl der Personen, die mit ihrer
Wohnung unzufrieden sind, ist unter einer „nicht stark“ empfundenen Lärmbelastung um ca. 30% gegenüber dem Erwartungswert verringert und unter „stark“ empfundener Lärmbelastung um ca. 70% gegenüber dem an den Werten der Gesamtpopulation abgeleiteten Erwartungswert erhöht. In der
Kategorie „mittlere Skalenwerte“ ist ein entsprechend schwächerer Trend zu verzeichnen. Der Trend für die Antwortkategorie „zufrieden“ ist erwartungsgemäß gegenläufig.
nie
selten
empfundene Häufigkeit der nächtlichen Störung durch Lärm im Wohngebiet
häufig
Abb. 7 Index der Zufriedenheit (Unzufriedenheit) mit dem Wohngebiet in Abhängigkeit von der Häufigkeit lärmbedingter nächtlicher Störungen; Deutschland gesamt (n=5004 Mehrfachantworten).
Diese Ergebnisse spiegeln die Tatsache wider, daß Lärm die
Wohnzufriedenheit beeinflußt. Sehr starker Lärm bzw. häufige nächtliche Störungen führen zu einer deutlich erhöhten
Unzufriedenheit mit der Wohnung und dem Wohngebiet und
können Auslöser für Segregationseffekte sein. Wohlhabende
könnten von der Möglichkeit eines Wohnstandortwechsels
Gebrauch machen, so daß es zu einer Ansammlung sozial
schwächerer Schichten in diesen Problemregionen käme. Die
Folge dessen wäre eine nicht anzustrebende Entmischung
von Bevölkerungsschichten. Besondere Beachtung sollte daher die Lärmprävention finden.
Schlußbemerkungen
Die erste deskriptive Auswertung umweltmedizinisch relevanter Variablen des Bundes-Gesundheitssurveys 98 zeigt,
daß sehr viele Bürger dem Straßenverkehrslärm und in be-
Beitrag: 359neu.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S162 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
C. Maschke et al.
stimmten Wohnlagen und Wohngebieten auch dem Flugund Schienenverkehrslärm ausgesetzt sind. Zu den tagsüber
im städtischen Umfeld und am Arbeitsplatz einwirkenden
Schallereignissen kommen die im häuslichen Umfeld auftretenden Lärmexpositionen, insbesondere am Abend und vielerorts auch in der Nacht, hinzu, die zur Beeinträchtigung
dringend benötigter Erholungsphasen, zur Reduzierung der
Wohnzufriedenheit und damit der Lebensqualität der Menschen führen können. Soziale Segregationsprozesse können
die Folge sein. Nicht zu unterschätzen sind im gegebenen Zusammenhang die gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen
und die sozialpsychologischen Auswirkungen von Nachbarschaftslärm. Insgesamt ergibt sich durch beständige Geräuschexpositionen bei den betroffenen Personen, vor allem
bei lärmempfindlicheren Menschen, eine dauerhafte Beanspruchung des Sensoriums mit den daraus für die Gesundheit
resultierenden Gefährdungen. Diese sollen in weiterführenden Analysen der Surveydaten näher untersucht werden. Zusätzliche Informationen zu medizinischen Aspekten von
Lärmbelastungen werden auch aus einer parallel durchgeführten Lärmwirkungsstudie erwartet.
Literatur
1
2
3
4
5
6
Dams EH (1972). Kompensationserfolge lärmbedingter Funktionsstörungen durch Theophyllinnicotinat in Abhängigkeit vom
Umgebungspegel sowie von Alter und Geschlecht. Dissertation
Universität Essen
Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen (1999). Umwelt und Gesundheit – Risiken richtig einschätzen. Sondergutachten. Wiesbaden
Hofman W (1994). Sleep disturbance and sleep quality. Universität Amsterdam (Dissertation)
Michalak R, Ising H, Rebentisch E (1990). Acute circulatory effects of military low-altitude flight noise. Int. Arch. Environ.
Health 62: 365–372
Ortscheid J (1996). Daten zur Belästigung der Bevölkerung durch
Lärm. Zeitschrift für Lärmbekämpfung 43: 15–23
Schuschke G (1976). Lärm und Gesundheit. Berlin: Volk und Gesundheit
PD Dr.-Ing. Christian Maschke
Robert Koch-Institut
Postfach 65 02 80
D-13302 Berlin
Beitrag: 359neu.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S163
RISIKOFAKTOREN, GESUNDHEITSVERHALTEN, LEBENSWEISE
von
›› Inanspruchnahme
Früherkennungsuntersuchungen
H. Kahl, H. Hölling, P. Kamtsiuris
Robert Koch-Institut, Berlin
und Maßnahmen zur
Gesundheitsförderung
Zusammenfassung: Gesundheitsbewußtes Verhalten der
Bevölkerung zeigt sich u.a. in der Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen und Gesundheitsförderungsmaßnahmen. Im
Survey 1997/98 wurden dazu 7124 Probanden befragt. An den
Gesundheitsuntersuchungen beteiligten sich 1997 26,7% der
Männer und 24,5% der Frauen. Eine Beratung nach dem
Check-up erhielten 70,9% der untersuchten Männer und
67,8% der Frauen. An den Krebsfrüherkennungsuntersuchungen nahmen von den Befragten 22,6% der Männer und 36,5%
der Frauen teil. Eine Beratung durch den Arzt zu Krebsrisiken
gaben 42,4% der Männer und 43% der Frauen an. Für gesundheitsfördernde Maßnahmen entscheiden sich insgesamt
10,5% der Befragten, Frauen deutlich mehr als Männer (13,8%
zu 7%). Nach Art der Maßnahmen dominiert die Rückenschule
(44%), gefolgt von gesunder Ernährung (13%), Gewichtsreduktion (10%) und Raucher-, Alkohol- und Drogenentwöhnung (4%). Unterschiede in den Beteiligungsraten an Krebsfrüherkennungsuntersuchungen, Gesundheits-Check-up und
Gesundheitsförderungsmaßnahmen sind in den Altersgruppen, nach Region, sozialer Schicht und Versichertenstatus
nachweisbar.
Schlüsselwörter: Gesundheitsbefragung – Vorsorgeuntersuchung – Gesundheitsuntersuchung – Gesundheitsfördernde
Maßnahmen – Inanspruchnahme – Ärztliche Beratung –
Deutschland
Utilization of Available German Staturory Sickness Insurance
Facilities for Conducting Examinations for Early Diagnosis
and Health Promotion: Health-conscious behaviour of a population may be measured by the utilization rate in screening
programs and health promotion measures. In the German National Health Interview and Examination Survey 1998, 7124
respondents were asked for their individual participation. The
utilization in free health check-ups (1997) was 26,7% for men
and 24,5% for women. Health related medical advice was
given to 70,9% of men and 67,8% of women in the wake of the
check-up. Annual early cancer screening test were taken by
22,6% of men and 36,5% of women. Cancer-related medical
advice was reported by 42,4% of men and 43% of women.
10.5% of all respondents participate in health promotion measures, women two times more often than men (13.8% vs. 7%).
The ranking according to the type of measures is: 44% for back
(muscle) training, followed by nutrition consultation (13%),
weight reduction (10%) and anti-smoking, – drinking and
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S163–S168
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
-substance use measures (4%). The results show differences in
utilization rates for early cancer diagnosis, health checkups
and health promotion programmes according to age, region,
social status and health insurance type.
Key words: Health Survey – Preventive Medical Examination –
Check-Up – Health Promotion Measures – Utilization – Medical Advice – Germany
Gesundheits-Check-up und Krebsfrüherkennung (KFU)
Problemstellung
Die Zielsetzung von Früherkennungsuntersuchungen ist vorwiegend auf Sekundärprävention ausgerichtet und soll über
die Feststellung von Risikofaktoren, Krankheiten und Behinderungen eine frühzeitige Einleitung notwendiger medizinischer Maßnahmen ermöglichen. Eine Reduzierung von
Risiken, die Erhöhung von Heilungschancen und eine Verlängerung des Lebens bei verbesserter Lebensqualität werden als
Nutzen erwartet. Daher ist die weitere Erhöhung der Teilnahmeraten bei gleichzeitiger Qualitätssicherung der Untersuchungen seit langem ein Diskussionsschwerpunkt [Junge et
al. 1992, Mielck & Brenner 1993; Robra 1993, Schmidt-Bodenstein 1997].
Seit 1989 ist die ärztliche Gesundheitsuntersuchung zur
Verhütung und Früherkennung von Krankheiten bei Erwachsenen als Leistung in die vertragsärztliche Versorgung eingeführt. Versicherte haben ab dem 36. Lebensjahr alle zwei
Jahre einen Anspruch auf Durchführung dieser Untersuchungen, die auf die Erfassung besonderer Risikomerkmale von
Zivilisationskrankheiten wie Herz-Kreislauf-Krankheiten,
Nierenerkrankungen, Diabetes zielen. Dabei sollen die Versicherten auf der Grundlage von Anamnese, körperlicher
Untersuchung und eines Laborstatus (Bestimmung von Cholesterin, Glucose, Harnsäure und Kreatinin im Blut sowie von
Eiweiß, Glucose, Nitrit und Blut im Urin) über mögliche
Gesundheitsgefährdungen z.B. Rauchen, Übergewicht, Bewegungsmangel und Streß beraten werden.
Der Anspruch der Versicherten, sich einmal jährlich kostenlos
auf ausgewählte Krebskrankheiten hin untersuchen zu lassen,
besteht bereits seit 1972 (mit Revision 1982). Dabei werden
bei Frauen vom Beginn des 20. Lebensjahres an die inneren
und äußeren Geschlechtsorgane, ab dem 30. Lebensjahr die
Brust und Haut und ab dem 45. Lebensjahr außerdem der
S164 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
H. Kahl, H. Hölling, P. Kamtsiuris
Tab. 1 Teilnahme am Gesundheits-Check-up im Jahr 1997 in % (GKV-Versicherte)
Alter
Männer
Gesamt
Unterschicht
Mittelschicht
Oberschicht
Frauen
Gesamt
Unterschicht
Mittelschicht
Oberschicht
35–39
40–44
45–49
50–54
55–59
60–64
65–69
70–74
75–79
Gesamt
14,7
13,3
26,6
22,6
32
33,5
41,6
42,9
32,5
26,7
17,2
9,1
32,5
10
33,3
27,6
39
42,9
63,2
28,1
17,3
15
23,8
28,1
33,1
35
42,6
45,3
29,3
27,6
6,5
13,6
29,5
21,7
28,8
37
41,7
34,8
6,3
23,8
11,9
20,1
28,7
25,3
30
24,1
26,9
24,5
36,1
24,5
13,2
17,3
22,9
18,8
27
23,9
29,5
21,3
34,7
24,7
12,1
21,9
33,1
30
29,7
23,8
26,2
28
39,7
25,7
9,3
18,8
20
17,6
36,4
29,2
16,7
28,6
0
20,4
Darm untersucht. Männer können vom Beginn des 45. Lebensjahres an die äußeren Geschlechtsorgane, die Prostata,
die Haut sowie den Darm untersuchen lassen (§ 26 SGB V).
36,1% in der Altersgruppe 75–79, bei den Männern in diesem
Altersbereich von 14,7% auf 32,5%. Die höchste Beteiligungsrate weisen mit ca. 42% die 65- bis 75jährigen Männer auf.
Material und Methoden
Eine soziale Schichtabhängigkeit ist an einer niedrigeren Teilnehmerrate der Oberschichtangehörigen gegenüber Angehörigen der Unterschicht bzw. Mittelschicht (22,1% zu 26,1%
bzw. 26,5%) nachweisbar. Nimmt man das Alter als Indikator
für die Teilnahme, ergibt sich ein ähnliches Bild zwischen den
einzelnen Schichten. Während jedoch in der Unter- und Mittelschicht ein kontinuierlicher Anstieg in der Teilnahme bis
zum 79. Lebensjahr zu verzeichnen ist, sinkt in der Oberschicht die Beteiligungsrate auf 6,3% bei den Männern bzw.
0% bei den Frauen in der letzten Altersgruppe.
Im Survey wurde die Teilnahme an einer Gesundheitsuntersuchung und einer Früherkennungsuntersuchung durch das
ärztliche Interview erfaßt. Weiterhin wurde erfragt, inwiefern
eine Beratung zu Krebsrisiken bzw. zu den Untersuchungsergebnissen des Check-ups durch den in Anspruch genommenen Arzt erfolgte. Bei der Auswertung der Daten zum Gesundheits-Check-up und der KFU wurden nur die Angaben der Anspruchsberechtigten der gesetzlichen Krankenversicherung
für das Jahr 1997 berücksichtigt.
Fragen zur Früherkennung und zum Check-up wurden in den
vorangegangen Surveys nicht einheitlich erfragt. Sie waren
teilweise eingebunden in andere Fragen und erfaßten unterschiedliche Zeiträume, so daß eine Trendbeurteilung schwierig ist.
Ost-West-Unterschiede stellen sich in einer höheren Beteiligung der Männer im Westen dar (vgl. Abb. 2). Während die
Männer im Westen eine Beteiligungsrate von 27,6% (Frauen:
24,4%) aufweisen, führten im Osten nur 24,1% der Männer
(Frauen: 24,7%) einen Gesundheits-Check-up durch. Die Unterschiede sind nicht signifikant.
Eine Teilnahme am Gesundheits-Check-up im Jahr 1997 bestätigen 24,5% der Frauen und 26,7% der Männer. Die Beteiligung steigt mit zunehmenden Alter kontinuierlich an (vgl.
Tab. 1 und Abb. 1). Bei den Frauen erhöht sich die Rate von
11,9% in der Altersgruppe der 35- bis 39jährigen Frauen auf
Zum Gesundheits-Check-up gehört die Auswertung der Ergebnisse und eine Beratung zu gesundheitlichen Verhaltensweisen hinsichtlich ermittelter Risikofaktoren durch den Arzt
(§ 25 Abs. 1 SGB V). Eine solche Beratung haben 70,9% der untersuchten Männer und 67,8% der Frauen erhalten. Insgesamt
geben mehr ostdeutsche Befragte eine Beratung an als Westdeutsche (Ost 74,9% zu West 67,9%), nach Sozialschicht differenziert mehr Befragte aus der Unterschicht als aus der Oberschicht (74,5% zu 60,1%). Die Unterschiede nach Sozialschicht
Abb. 1 Teilnahme am Gesundheits-Check-up im Jahr 1997 in % (GKVVersicherte).
Abb. 2 Teilnahme an der Früherkennungsuntersuchungen im Jahr
1997 in % (GKV-Versicherte).
Ergebnisse
Gesundheits-Check-up
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S165
Inanspruchnahme von Früherkennungsuntersuchungen
Obwohl bei den Männern eine kontinuierliche Zunahme der
Inanspruchnahme an der KFU festzustellen ist, wird wie bei
den Frauen der größte Teil der Risikopopulation nicht erreicht. Zudem sind die Teilnahmeraten deutlich sozial differenziert: Frauen der Oberschicht nehmen mit 42,2% (Männer:
26,5%) die Untersuchungen häufiger wahr als Angehörige der
Unterschicht mit 28,2% (Männer: 19,7%). Ein Ost-West-Vergleich zeigt eine höhere Teilnahmerate zugunsten der westdeutschen Befragten bei den Männern (23,2% gegenüber
20,3%) und den ostdeutschen Frauen (38,9% gegenüber
35,8%). (Vgl. Abb. 2).
Abb. 3: s.o.
Abb. 3 Teilnahme an Krebsfrüherkennungsuntersuchungen im Jahr
1997 in % (GKV-Versicherte).
und nach West/Ost sind signifikant, die Unterschiede nach
Geschlecht zeigen keine Signifikanz.
Krebsfrüherkennung (KFU)
Eine Teilnahme an der Krebsfrüherkennungsuntersuchung im
Jahr 1997 geben von den Anspruchberechtigten 36,5% der
rauen und 22,6% der Männer an (vgl. Tab. 2). Bei einer Differenzierung in Altersgruppen ergibt sich bei den Frauen eine
Beteiligung von 22,1% bei den 20- bis 24jährigen und ein höheres Niveau der Beteiligung, zwischen 42,3 und 46,7%, bei
den 25- bis 54jährigen Frauen. Ab dem 55. Lebensjahr nimmt
die Beteiligung von 36,3% auf 13,9% bei den 75- bis 79jährigen
stark ab (vgl. abb. 3).
Männer nehmen insgesamt weniger oft an der KFU teil als
Frauen. Die Teilnahmerate der Anspruchberechtigten beträgt
bei den 45- bis 49jährigen 13,8% und steigt kontinuierlich bis
auf 27,8% bei den 70- bis 74jährigen an. Erst bei den 75- bis
79jährigen liegt die Beteiligungsrate der Männer an Krebsfrüherkennungsuntersuchungen höher als bei den Frauen.
Die sinkende Inanspruchnahme der KFU durch Frauen ab dem
55. Lebensjahr zeigt, daß das Risikobewußtsein trotz ansteigendem Krebsrisiko nicht ausreichend entwickelt ist und
nach Annahmen von Junge et al. einhergeht mit einer abnehmenden Inanspruchnahme des Gynäkologen [Junge 1992].
Neben der Teilnahme an der KFU wurde von den Probanden
erfragt, ob der Arzt über Krebsrisiken aufgeklärt bzw. beraten
hat. Eine Beratung geben 42,9% der Männer und 43% der
Frauen an. Ost-West-Unterschiede im Beratungsangebot betragen 47,2% zu 41,8%. Auch bei einer Differenzierung nach
Sozialschicht ergeben sich keine signifikanten Unterschiede.
Sowohl Angehörige der Ober- als auch der Unterschicht erhielten zu ca. 44% bei der Durchführung einer Krebsfrüherkennungsuntersuchung eine Beratung über Krebsrisiken.
Gesundheitsförderung
Problemstellung
Die Entstehung der heute epidemiologisch für die Bevölkerung bedeutsamen chronisch degenerativen Erkrankungen ist
zweifelsfrei mit nachgewiesenen hohen Verhaltensrisiken
bzw. Risiken der Lebensweise verbunden. Die bislang ermittelten größten additiven Risiken für HKK, Krebs und z.T. Erkrankungen des Bewegungsapparates resultieren mehrheitlich aus gesundheitlichem Fehlverhalten und individuellen
Risiken im Hinblick auf Rauchen, Ernährung (inkl. Alkoholkonsum), mangelnder Bewegung und psychosozialer Belastung [Hoffmeister, Bellach 1995].
Werden die ermittelten Risiken als Präventionspotential
betrachtet, so ergeben sich eine Vielzahl von Möglichkeiten,
sowohl den Gesundheitszustand von Personen als auch der
Bevölkerung insgesamt positiv zu beeinflussen [Radoschewski et al. 1994]. Über ein vielseitiges Spektrum von Angeboten
an gesundheitsfördernden Maßnahmen wird angestrebt, Wis-
Tab. 2 Teilnahme an Krebsfrüherkennungsuntersuchungen im Jahr 1997 in % (GKV-Versicherte)
Alter
20–24
25–29
30–34
35–39
40–44
45–49
50–54
55–59
60–64
65–69
70–74
75–79
Gesamt
Männer
Gesamt
13,8
17,1
25,8
26,2
28,9
27,8
16,9
22,6
Unterschicht
5
15,4
17,8
26,3
25,9
17,1
30
19,7
Mittelschicht
12,2
17,5
26,6
24,1
28,7
29,3
14,6
22
Oberschicht
Frauen
Gesamt
Unterschicht
Mittelschicht
Oberschicht
24,6
17,4
29,2
32,1
31,4
39,1
6,3
26,5
22,1
42,3
46,7
42,4
42,8
45
45,6
36,3
36,2
20,9
25
13,9
36,5
27,8
44,4
39,2
35,2
38,5
36,2
21,2
34,8
31
20,4
13,8
16,3
28,2
19,1
41,1
46,5
45,2
43,7
48,4
52,3
35,1
39,7
23,3
35,4
11
39,1
23,8
44,6
52,9
40
42,9
43,6
46
40
48
16,7
31,8
20
42,2
S166 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
sen und Befähigung zu gesundheitsgerechtem Verhalten herauszubilden, aufrechtzuerhalten und damit gesundheitliche
Risiken zu reduzieren. Die Neuregelung präventiver Leistungen durch das GRG (1988) hat dabei mit dem § 20 SGB V den
Krankenkassen – in Kooperation mit anderen Einrichtungen –
ein potentiell weites Aufgabengebiet gerade im Bereich der
Gesundheitsförderung und -beratung eröffnet [Nowak 1990].
Angebote umfaßten dabei besonders die Bereiche Ernährung,
Gewichtsreduktion, Bewegungs- und Rückenschulung, Entspannungskurse und Raucherentwöhnung. Seit dem 1.1.1997
wurde diese Regelung wieder aufgehoben.
H. Kahl, H. Hölling, P. Kamtsiuris
Tab. 3 Teilnahme an gesundheitsfördernden Maßnahmen in den letzten 12 Monaten
gesamt
West
Ost
Unterschicht
Mittelschicht
Oberschicht
AOK
GKV-Rest
Privat/Beihilfe
gesamt
Männer
Frauen
10,5
11,5
6,4
7,1
11,2
12,6
7,2
12,7
11,9
7,0
7,7
4,0
5,5
7,1
8,2
5,3
7,3
10,3
13,8
15,1
8,6
8,3
15,1
18,0
8,8
16,7
14,4
Material und Methoden
Die Fragen zur Beteiligung an gesundheitsförderndern Maßnahmen sollten von den Probanden in einem Selbstausfüllfragebogen beantwortet werden. Dazu gehörte auch die Einschätzung der Effektivität dieser Maßnahmen auf den Gesundheitszustand und die Bereitschaft einer individuellen
Kostenübernahme für Gesundheitsförderungskurse.
Es ist anzunehmen, daß die Ergebnisse des Surveys 1997/98
durch den Wegfall geförderter Maßnahmen durch die Krankenkassen beeinflußt sind. Ein Vergleich zu den Ergebnissen
früherer Surveys, insbesondere zum Trend in der Inanspruchnahme solcher Maßnahmen, ist damit erschwert. Bei der Auswertung der Daten wurden zunächst ausschließlich die Angaben der Probanden über Kursteilnahme in den letzten 12 Monaten berücksichtigt. Die Ergebnisse gewährleisten einen
Überblick über die Häufigkeit der Inanspruchnahme derartiger Leistungen und bestimmte Bedarfsstrukturen.
Ergebnisse
Insgesamt haben 10,5% der Befragten angegeben, während
der letzten 12 Monate an gesundheitsfördernden Maßnahmen teilgenommen zu haben, Frauen doppelt so häufig wie
Männer (13,8% zu 7%) (vgl. Tab. 3). Unterschiede in der Inanspruchnahme gesundheitsfördernder Maßnahmen bestehen
auch zwischen Ost und West (6,4% zu 11,5%) und nach sozialer Schichtzugehörigkeit. Während in der Oberschicht 12,6%
und in der Mittelschicht 11,2% der Befragten Gesundheitsförderungskurse besuchen, waren es in der Unterschicht nur
7,1%. Nach Versichertenstatus ausgewertet, spiegelt die Teilnahme von AOK-Versicherten mit 7,2% gegenüber 11,9% der
Privatversicherten ungefähr die Klientel der jeweiligen Krankenkassen wider.
Betrachtet man die Geschlechter getrennt voneinander, zeigen sich ebenfalls signifikante Unterschiede in den Teilnahmeraten zugunsten der Westdeutschen, besonders der westdeutschen Frauen. Nach dem Versichertenstatus zeigen die in
Ersatzkassen (GKV-Rest) versicherten Frauen die höchste
Teilnahmerate mit 16,7%, während bei den Männern die Privatversicherten an erster Stelle stehen. Bei der Schichtzugehörigkeit ergeben sich Signifikanzen nur bei den Frauen, zugunsten der Oberschicht. Bei den Frauen liegen schon bei
20jährigen die Teilnahmeraten mit 13% über dem Gesamtdurchschnitt und steigen bis auf 18% bei den unter 60jährigen
an. Die Raten bei Männern bewegen sich dagegen im vergleichbaren Altersbereich zwischen 4% und 10%. Bei den 60–
79jährigen geht die Teilnahmerate stark zurück und sinkt bei
den Frauen von 11% auf 8% und bei den Männern von 9% auf
20%
18%
15%
5%
0%
15%
13%
9%
10%
7%
3%
18%
10%
9%
5%
4%
11%
Männer
Frauen
8%
4%
18–19 20–29 30–39 40–49 50–59 60–69 70–79
Altersgruppe
Abb. 4 Teilnahme an gesundheitsfördernden Maßnahmen in den letzten 12 Monaten.
4% (vgl. Abb. 4). Differenziert nach Altersgruppen ist die Teilnahmerate insgesamt mit 13% und 14% in den Altersgruppen
40–49 und 50–59 am höchsten. Die 20–40jährigen und die
über 60jährigen bewegen sich bei einer Rate von 9%–10%.
Betrachtet man die Struktur der Inanspruchnahme gesundheitsfördernder Maßnahmen, so stehen an erster Stelle die
100%
80%
44
60%
11
40%
12
18
20%
10
5
0% Unterschicht
44
44
17
13
10
11
5
Mittelschicht
21
12
13
73
Oberschicht
Rückenschule
Streßbewältigung
gesunde Ernährung
sonstige Maßnahmen
Gewichtsreduktion
Entwöhnungskurse
Abb. 5 Struktur der Inanspruchnahme gesundheitsfördernder Maßnahmen in den letzten 12 Monaten.
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S167
Inanspruchnahme von Früherkennungsuntersuchungen
Tab. 4 Verbesserung des Gesundheitszustandes durch die Teilnahme an gesundheitsfördernden Maßnahmen
Gewichtsreduktion
gesund. Ernährung
Rückenschule
Streßbewältigung
Rauchentwöhnung
Alkoholentwöhnung*
Drogenentwöhnung**
sonst. Maßnahmen
gesamt
männlich
weiblich
p-Wert
78,0
68,2
75,9
79,1
33,3
100,0
100,0
85,3
75,0
65,9
74,2
72,0
16,7
100,0
–
85,2
79,2
69,3
76,8
82,0
50,0
100,0
100,0
85,4
0,652
0,694
0,538
0,145
0,221
–
–
0,979
*n=17, **n=1
Angebote zur Rückengymnastik mit ca. 44%. Angebote zur
Streßbewältigung und Entspannung machen 17%, zu gesunder Ernährung 13%, zur Gewichtsreduktion 10% und zur Raucher-, Alkohol- und Drogenentwöhnung 4% der Gesamtmaßnahmen aus.
Während Kurse zur Rückenschulung und gesunden Ernährung
keine schichtspezifischen Unterschiede zeigen, verschiebt sich
der Anteil der Teilnehmer an Streßbewältigungskursen zugunsten der Oberschicht, während in der Unter- und Mittelschicht
eher Kurse zur Gewichtsreduktion und Raucher-/Alkohol- und
Drogenentwöhnung in Anspruch genommen werden (vgl.
Abb. 5). Nach Altersgruppen unterteilt, fällt vor allem der hohe
Anteil an Streßbewältigungskursen in den Altersjahren 30–59
auf, wobei der höchste Anteil in der Altersgruppe 30–39 Jahre
mit 24% liegt. Die Dominanz der Rückenschule liegt im Altersbereich 50–59 Jahre mit 49% Teilnahme.
Neben der Ermittlung der Teilnahmeraten und der Angebotsstruktur an gesundheitsfördernden Maßnahmen war auch
der Nachweis ihrer Wirksamkeit auf das Befinden und den
Gesundheitszustand aus subjektiver Sicht der Teilnehmer von
Interesse. Eine Verbesserung des Gesundheitszustandes geben nach Teilnahme von Kursen zur Streßbewältigung 79,1%
an, nach Kursen zur Gewichtsreduktion 78% und zur Rückenschule 75,9%. Maßnahmen zur gesunden Ernährung sind bei
68,2% der Befragten wirksam. Bei Raucherentwöhnungskursen wird neben einer geringen Teilnahme nur ein geringer Erfolg (33,3%) sichtbar (vgl. Tab. 4).
Andere Auswertungen über die Wirksamkeit von Gesundheitsförderung wie z.B. von einzelnen Krankenkassen – AOK
[Pradel und Möhlmann 1996], Barmer [Meierjürgen und
Schulte 1993] oder BKK [Meschnig et al. 1995, Wanek et al.
1999] – und Untersuchungen [Radoschewski et al. 1994]
zeigen ähnliche Ergebnisse sowohl bezüglich der Inanspruchnahme als auch der Verbesserung des Gesundheitszustandes.
So bestätigen z.B. bei der retrospektiven Befragung von
Meschnig die Kursteilnehmer zu ca. 85%, daß diese Kurse ein
Anstoß/eine Unterstützung für eine gesündere Lebensführung waren.
Auf die Frage im Survey, inwieweit die Teilnehmer auch die
vollständigen Kosten für gesundheitsfördernde Maßnahmen
übernehmen würden, antworteten 58% der Personen der
Oberschicht, 43% der Mittelschicht und 24% der Mittelschicht
mit ja (vgl. Abb. 4). Ebenso zeigt sich, daß Westdeutsche,
Frauen sowie Privat- und GKV-Rest-Versicherte eine überdurchschnittliche Bereitschaft zur Kostenübernahme aufweisen.
Gesamt = 41,6%
Ost
West
29,6%
Männer
Frauen
38%
Unterschicht
Mittelschicht
Oberschicht
AOK
GKV-Rest
Privat/Beihilfe
0%
44,6%
24,2%
42,9%
29%
10%
20%
30%
45%
46,6%
40%
50%
57,6%
55,9%
60%
70%
Abb. 6 Bereitschaft zur Kostenübernahme bei Inanspruchnahme gesundheitsfördernder Maßnahmen.
Die Survey-Ergebnisse bestätigen insgesamt die in der Literatur vorliegenden Ergebnisse zur geschlechts-, alters- und
sozialspezifischen Ausprägung der Inanspruchnahme von
Vorsorgeuntersuchungen und gesundheitsfördernden Maßnahmen. Kirschner et al. (1995) halten die Beteiligungsraten
an den beschriebenen Maßnahmen in Deutschland jedoch generell für zu gering, um epidemiologische Auswirkungen auf
den Gesundheitszustand zu zeigen. Weiteren Untersuchungen bleibt vorbehalten, die Einstellungen und Motivationen
von Teilnahme und Nichtteilnahme zu charakterisieren, um
u.a. auch die Bevölkerungsgruppen mit hohem Gesundheitsrisiko, aber gering ausgeprägter Beschwerdenhäufigkeit, zu
erreichen.
Literatur
1
2
3
4
5
Hoffmeister H, Bellach BM (Hrsg) (1995). Die Gesundheit der
Deutschen. Ein Ost-West-Vergleich von Gesundheitsdaten. RKIHefte 7 /95
Junge B, Arab-Kohlmeier L, Tiefelsdorf M, Hoffmeister H (1992).
Krebsfrüherkennung wird zu wenig genutzt. Z allg Med 68:
811–816
Kirschner W, Radoschewski M, Kirschner R (1995). § 20 SGB V.
Gesundheitsförderung, Krankheitsverhütung: Untersuchung zur
Umsetzung durch die Krankenkassen (Schriftenreihe Forum Sozial- und Gesundheitspolitik Bd. 6). Asgard Verlag, St. Augustin
Meierjürgen R, Schulte M (1993). Routinestatistiken im Gesundheitsförderungsbereich: Aufgaben – Ziele – erste Ergebnisse.
T Präventivmed Gesundheitsförd 5: 61–64
Meschnig A, Reutter T, Thußbasc C, Klotter C (1995). Effekte von
Gesundheitsförderung – Ergebnisse einer retrospektiven Befragung von Teilnehmerinnen und Teilnehmern an Kursen des BKK
Gesundheitszentrums Berlin – Die Betriebskrankenkasse 11,
680–684
S168 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
6
Mielck A, Brenner W (1993). Soziale Ungleichheit der Teilnahme
an Krebsfrüherkennungs-Untersuchungen in Westdeutschland
und in Großbritannien. In Mielck A (Hrsg.) (1993). Krankheit
und soziale Ungleicheit: Sozialepidemiologische Forschung in
Deutschland. Opladen: Leske + Budrich, 299–318
7 Nowak M (1990). Gesundheitsförderung im Rahmen des Gesundheitsreformgesetzes – neue Perspektiven für Krankenkassen und Kommunen. Öff. Gesundh.-Wes. 52, 241–243
8 Pradel C, Möhlmann H (1996). Wege zur Evaluation gesundheitsfördernder Maßnahmen Z. f. Gesundheitswiss. 4 Jg. H 2,
111–119
9 Radoschewski M, Kirschner W, Kirschner R, Heide (1994). Entwicklung eines Präventionskonzeptes für Berlin Diskussionsbeiträge zur Gesundheits- und Sozialforschung. Diskussionspapier
21. Senatsverwaltung für Gesundheit Berlin
10 Robra BP (1993). Evaluation des deutschen Krebsfrüherkennungsprogramms. Bremerhaven: Wirtschaftsverlag NW
11 Schmidt-Bodenstein S (1997). Gesundheitsuntersuchung nach
§ 25 Abs. 1 SGBV. Kritische Analyse der Untersuchungsergebnisse 1994. Ersatzkasse 1, 6–11
12 Wanek V, Born J, Novak P, Reime B (1999). Einstellungen und
Gesundheitsstatus als Bestimmungsfaktoren einer Beteiligung
an Maßnahmen verhaltensorientierter Gesundheitsförderung.
Gesundheitswesen 61, 346–342
H. Kahl, H. Hölling, P. Kamtsiuris
Heidrun Kahl
Robert Koch-Institut
Stresemannstraße 90–102
D-10963 Berlin
S169
RISIKOFAKTOREN, GESUNDHEITSVERHALTEN, LEBENSWEISE
›› Sozialschicht und Gesundheit
Zusammenfassung: Die vorliegende Publikation beschreibt
die Sozialstruktur in Deutschland und ihre Wechselwirkung
mit Gesundheit bzw. Krankheit. Die Analyse basiert auf den
Daten des Bundes-Gesundheitssurveys 1998. Ihre Ergebnisse
lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: In der letzten
Dekade hat in Ostdeutschland der Unterschichtanteil zugunsten von Mittel- und Oberschicht abgenommen. Die Unterschiede zwischen den alten und neuen Bundesländern haben
sich verringert bzw. sogar nivelliert. Männer gehören auch
heute noch häufiger der Oberschicht an als Frauen. Für die Risikofaktoren Rauchen, starkes Übergewicht und sportliche Inaktivität zeigt sich ein deutlicher Schichtgradient. Angehörige
der Unterschicht sind häufiger Raucher, weisen signifikant
häufiger starkes Übergewicht auf und sind seltener sportlich
aktiv. Hypertonie und Hypercholesterinämie sind bei Männern
der Oberschicht häufiger zu beobachten als in der Unterschicht, bei den Frauen treten diese beiden Risikofaktoren in
der Unterschicht häufiger auf. Im Morbiditätsgeschehen stellt
sich die Schichtspezifik unterschiedlich dar. Nichtinsulinpflichtiger Diabetes mellitus, chronische Bronchitis und Ulcus ventriculi et duodeni sind Beispiele für eine häufigere Prävalenz in
der Unterschicht, Rhinitis allergica ist dagegen häufiger in der
Oberschicht zu beobachten. Das Beschwerdenniveau ist in der
Unterschicht höher als in der Oberschicht. Differenziert nach
Ost und West zeigen sich signifikante Schichtunterschiede vor
allem in den alten Bundesländern. Dem niedrigeren Beschwerdenniveau entsprechend schätzt die Oberschicht ihren Gesundheitszustand deutlich besser ein als die Unterschicht. Die
Lebens- und Gesundheitszufriedenheit ist in der Oberschicht
größer als in der Unterschicht. Bei der Arzneimittelanwendung treten schichtspezifische Unterschiede, gemessen am
höchsten Schulabschluß, in den alten Bundesländern etwa
doppelt so häufig auf wie in den neuen Bundesländern. Dem
Beschwerdenniveau und der Krankheitsprävalenz entsprechend werden die meisten Arzneimittelgruppen in der Unterschicht häufiger angewendet als in der Oberschicht. Arzneimittel mit präventivem Potential werden dagegen in der
Oberschicht deutlich häufiger konsumiert.
Schlüsselwörter: Soziale Schicht – Bundes-Gesundheitssurvey – Risikofaktoren – Beschwerden – Morbidität – Arzneimittel
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S169–S177
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
H. Knopf, U. Ellert, H.-U. Melchert
Robert Koch-Institut, Berlin
Social Strata and Health: This publication deals with the German social class and their interactions with health or illness.
The analysis uses the data of the German National Health Interview and Examination Survey 1998. The results are as follows: During the last decade the proportion of inhabitants of
lower social class has decreased in favour of the proportions of
middle and upper social classes. The formerly observed differences between the eastern part (former GDR) and the western
part of Germany have diminished or have even levelled to
zero. Even today men in Germany belong more often to the
upper social class than women. For the risk factors smoking,
massive obesity and inactivity in sports a distinct gradient concerning the social class can be observed. Those belonging to
lower social class are more often smokers, have significantly
more often massive obesity and show more seldom activities
in sports. Hypertension and hypercholesterolemia are more
often observed in men of the upper social class than in those
belonging to lower class while for women both mentioned risk
factors are more often seen in the lower social class. With respect to morbidity different patterns can be observed. NIDDM,
chronic bronchitis and gastric and duodenal ulcer are examples for higher prevalence data in the lower social class while
allergic rhinitis can be observed more often in the higher class.
The level of complaints is higher in the lower class than in the
upper class. By differentiating according to the eastern or
western part clear differences emerge concerning social class
especially in the ‚old Bundesländer’ (western part). Members
of the upper class estimates their health status clearly to be
better than those study participants belonging to the lower
class. This perhaps can be explained by their lower level of
complaints. The contentedness concerning live and healthstatus is higher in the upper than in the lower class. Respecting
the highest level of education, class-specific differences concerning drug utilization are observed doubly frequent in the
‚old Bundesländer’ compared to the ‚new Bundesländer’. According to the level of complaints and the prevalence of diseases most drug groups are used more often in the lower than
in the upper class whereas drugs with presumed preventive
potential are clearly more often consumed in the upper class.
Key words: Social Class – German National Health Interview
and Examination Survey – Risk Factors – Complaints – Morbidity – Drugs
S170 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
H. Knopf, U. Ellert, H.-U. Melchert
Interview erhoben wurden, stammen alle Angaben aus einem
standardisierten Selbstausfüllfragebogen.
Einleitung
Auch in einer so hoch entwickelten Gesellschaft wie der
Bundesrepublik Deutschland, mit ihren vielen Schutzbestimmungen zu gesundheitsbeeinträchtigenden Faktoren in der
Umwelt, speziell in der Arbeitswelt, mit ihrem breiten Zugang
zu Bildungsmöglichkeiten und den vielen sozialen Ausgleichen zwischen Viel- und Wenigverdienern ist Gesundheit
bzw. Krankheit sozial ungleich verteilt [Hüttner et al. 1996].
Die vertikale Gliederung in soziale Schichten hat sich durch
die Vielfalt der Lebensstile, wie sie in einer wohlhabenden
Gesellschaft vorkommen, nicht automatisch aufgelöst. Geißler (1996) hat Mitte der 90er Jahre beispielsweise nachgewiesen, daß immer noch eine schichtspezifische Chancenungleichheit in der Bildung besteht. So hat der Anteil von Kindern aus Arbeiterfamilien an den Studienanfängern in den
letzten 25 Jahren nicht zugenommen. Daß auch die politischen Teilnahmechancen schichtspezifisch unterschiedlich
sind, läßt sich eindrucksvoll am Sozialprofil der Parlamentarier ablesen. Natürlich gilt nicht nur, daß soziale Bedingungen
Krankheiten verursachen oder beeinflussen. Krankheit kann
im Lebensverlauf auch soziale Umstände verändern und wie
z.B. im Falle von Suchtkrankheiten sogar zum sozialen Abstieg führen. Dieser Fall ist aber keineswegs ein Massenphänomen. Schichtunterschiede im Gesundheitszustand zu erkennen ist wesentlich für die Prävention. Die benachteiligten
Gruppen und Schichten der Bevölkerung sollten eine besondere Zielpopulation von gesundheitsfördernden bzw. präventiven Maßnahmen sein. Die Gesundheitspolitik wird damit
auch zur Politik des Chancenausgleichs [Investment in Health
1990].
Material und Methode
Die Ergebnisse zur Wechselwirkung zwischen sozialer
Schicht und Gesundheit basieren auf den Daten des BundesGesundheitssurveys 1998 [Bellach et al. 1998, Thefeld et al.
1999]. Das Merkmal „Soziale Schicht“, das zur Beurteilung der
Schichtspezifik verwendet wurde, ist entsprechend der DAEEmpfehlung (Deutsche Arbeitsgemeinschaft Epidemiologie)
aus Einkommen, Bildung und beruflicher Position zusammengesetzt [Jöckel et al. 1998]. Es wurde hinsichtlich möglicher
Korrelationen zu Risikofaktoren, Beschwerden und Krankheiten, Medikamentenanwendung sowie Lebens- und Gesundheitszufriedenheit analysiert. Mit Ausnahme der Medikamentenanwendung und der Krankheitsangaben, die im ärztlichen
70%
Die Teilnahme der repräsentativ ausgewählten Personen am
Bundes-Gesundheitssurvey war freiwillig, was dazu führt,
daß auch in unserer Stichprobe mit einem gewissen Selektionseffekt gerechnet werden muß. Erfahrungen aus epidemiologischen Studien belegen, daß sich vor allem gesundheitsbewußte Bürger an derartigen Gesundheitsuntersuchungen beteiligen. Risikogruppen wie z.B. Obdachlose konnten
aufgrund der Stichprobenziehung aus den Einwohnermelderegistern nicht befragt und untersucht werden. Nicht eingegangen in die Stichprobenziehung sind auch Personen, die
sich zum Untersuchungszeitpunkt in stationärer Behandlung
befanden oder Bewohner von Alten- und Pflegeheimen waren.
Die Datenanalyse erfolgte mit dem Statistik-System SPSS
(Version 9.01). Die Signifikanz wurde bei einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 5% geprüft. Neben bivariaten Auswertungen wurden die Daten mit Hilfe der logistischen Regression
multivariat analysiert und Odds-ratios mit ihren 95%-Konfidenzintervallen geschätzt.
Ergebnisse
Soziale Schicht in Ost- und Westdeutschland: 1991 und 1998
Gemessen am Sozialschichtindex gehören 1998 23% der befragten Bevölkerung der Unterschicht, über 55% der Mittelschicht und ca. 22% der Oberschicht an. Signifikante OstWest-Unterschiede sind lediglich bei den Frauen festzustellen. Frauen in den neuen Bundesländern gehören häufiger der
Unterschicht und seltener der Oberschicht an als Frauen in
den alten Bundesländern.
Aus der Verteilung der sozialen Schicht zu Beginn und zum
Ende der 90er Jahre wird deutlich, daß sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen der Unterschichtanteil in Ostdeutschland zugunsten der Mittel- und Oberschicht abgenommen hat. Ersichtlich wird auch, daß Frauen häufiger in
der Unterschicht und seltener in der Oberschicht sind als
Männer (Tab. 1).
Verglichen mit den Ergebnissen der Gesundheitserhebungen
zu Beginn der deutschen Einheit (1991) hat sich die SozialAbb. 1 Soziale Schicht nach Geschlecht und
Region, Gesundheitssurvey Ost/West 1991
und Bundes-Gesundheitssurvey 1998, 25- bis
69jährige.
Werte für 1991 berechnet mit Schichtindex
1998.
West 1991
Ost 1991
West 1998
Ost 1998
60%
50%
40%
30%
20%
Männer
Frauen
Unterschicht Mittelschicht Oberschicht
Unterschicht Mittelschicht Oberschicht
10%
0%
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S171
Sozialschicht und Gesundheit
Tab. 1 Soziale Schicht nach Geschlecht, Region und Alter, Bundes-Gesundheitssurvey 1998
West
Ost
Unterschicht
Mittelschicht
Oberschicht
Unterschicht
Mittelschicht
Oberschicht
Stichprobe
452
1205
561
230
650
249
Alter in Jahren
20–29
30–39
40–49
50–59
60–69
70–79
gesamt
24,2%
14,5%
14,6%
14,5%
23,4%
22,7%
19,4%
65,3%
56,7%
52,9%
51,1%
52,6%
57,2%
55,2%
10,6%
28,8%
32,5%
34,3%
24,0%
20,1%
25,5%
24,8%
12,9%
11,8%
14,5%
29,2%
22,8%
20,0%
71,1%
65,4%
60,5%
52,4%
46,1%
39,0%
57,4%
4,0%
21,6%
27,8%
33,1%
24,8%
38,2%
22,6%
Stichprobe
586
1271
466
353
691
182
Alter in Jahren
20–29
30–39
40–49
50–59
60–69
70–79
gesamt
20,4%
14,9%
16,4%
19,6%
43,3%
43,5%
25,7%
62,3%
60,1%
57,4%
54,1%
47,0%
47,3%
54,8%
17,3%
25,0%
26,3%
26,3%
9,7%
9,2%
19,5%
24,5%
12,8%
15,8%
26,6%
43,6%
57,0%
28,8%
61,9%
71,0%
62,5%
51,6%
50,5%
36,6%
56,5%
13,6%
16,3%
21,7%
21,8%
5,9%
6,3%
14,7%
Männer
Frauen
Prävalenzraten nach Gewichtung mit w98
struktur, gemessen am Schichtindex im Osten, an die Verhältnisse in Westdeutschland angenähert. Waren 1991 noch
deutlich mehr Männer und Frauen in den neuen Bundesländern in der Unterschicht und deutlich weniger in der Oberschicht, so sind Ende der 90er Jahre in der Unterschicht fast
keine und in der Oberschicht geringer gewordene Unterschiede zu beobachten. Während 1991 noch in allen
Altersklassen deutliche Ost-West-Differenzen zu verzeichnen
waren, haben sich diese 1998 insbesondere im mittleren und
höheren Alter vermindert. In der höchsten Altersgruppe (60–
69 Jahre) gehören die Männer im Osten mit rund 25% sogar
etwas häufiger der Oberschicht an als ihre Altersgenossen im
Westen (24%) (Tab. 2).
Risikofaktoren und soziale Schicht
Neben Alter, Geschlecht und einer genetisch bedingten Disposition gehören Rauchen, starkes Übergewicht, mangelnde
körperliche Aktivität, Hypertonie und Hypercholesterinämie
zu den klassischen Einflußgrößen der Pathogenese und Progredienz kardiovaskulärer Krankheiten.
Tab. 3 gibt einen Überblick über die Prävalenzraten für die genannten Risikofaktoren differenziert nach Geschlecht und Region (Ost- und Westdeutschland).
Für den Risikofaktor „Rauchen“ wird bei Männern und Frauen
ein Schichtgradient sichtbar. Unterschichtangehörige sind
häufiger Raucher und seltener Ex- bzw. Nieraucher als Angehörige der Oberschicht. Mit steigendem Schichtindex vermindert sich der Raucheranteil. Besonders deutlich sind die
schichtspezifischen Unterschiede bei den Männern. In Ostdeutschland sind jedoch die Frauen der Mittelschicht mit
30,1% häufiger Raucherinnen als die Frauen der Unter(29,3%) und der Oberschicht ( 23,1%).
Der generelle Zusammenhang zwischen starkem Übergewicht (Body-Mass-Index ≥30 kg/m2) und erhöhter Morbidität
bzw. Mortalität ist aus jahrzehntelangen Beobachtungen der
Lebensversicherungsgesellschaften und zahlreichen epidemiologischen Studien bekannt [Marks 1960, The Pooling Project 1978, Keys et al. 1966]. 1992 publizierten Hoffmeister u.
Mitarb. Ergebnisse des Nationalen Gesundheitssurveys 1984–
1986 zur Wechselwirkung zwischen sozialer Schicht und
starkem Übergewicht in den alten Bundesländern [Hoffmeister et al. 1992]. Die Daten der Bundes-Gesundheitssurveys
1998 weisen ebenfalls eine Abnahme der Prävalenzraten mit
steigender Sozialschicht auf. Besonders gravierend sind die
Unterschiede bei den Frauen. In Abb. 2 sind die schichtspezifischen Ergebnisse des Bundes-Gesundheitssurveys 1998 als
Odds ratios für Männer und Frauen dargestellt. Auch nach Berücksichtigung des Alters- und Ost-Westeinflusses bleibt ein
signifikant höheres Risiko für „starkes Übergewicht“ bei den
männlichen (OR: 1,7; CI: 1,3–2,2) und weiblichen (OR: 3,0; CI:
2,5–4,1) Unterschichtangehörigen bestehen.
Erhöhtes Gesamtcholesterin ist einer der primären Risikofaktoren für die koronare Herzkrankheit [Assmann/Schulte
1987]. In Anlehnung an die Empfehlungen der European
Atherosclerosis Society (EAS) werden Gesamtcholesterinwerte von 250 mg/dl und mehr als Hypercholesterinämie
bezeichnet. Mit 35,7% ist bei Männern aus der Oberschicht
häufiger eine Hypercholesterinämie zu verzeichnen als bei
Männern aus der Mittel- (30,9%) und Unterschicht (33,1%).
Bei Frauen deuten die entsprechenden Raten auf eine Schichtspezifik dahingehend hin, daß Frauen aus der Oberschicht
diesen Risikofaktor mit 32,5% seltener aufweisen als Frauen
der Mittel- (33,0%) und Unterschicht (39,9%). In der multivariaten Auswertung erweisen sich das Alter und das Leben in
Ost oder West bei den Männern als statistisch signifikante
Einflußgrößen, bei den Frauen lediglich das Alter. Ein signifi-
S172 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
H. Knopf, U. Ellert, H.-U. Melchert
Tab. 2 Soziale Schicht nach Alter, Geschlecht, Region und Erhebungszeitpunkt. Gesundheitssurvey Ost/West 1991 und Bundes-Gesundheitssurvey 1998, 25- bis 69jährige
West
Ost
Unterschicht
1991
1998
Mittelschicht
1991
1998
Oberschicht
1991
1998
Unterschicht
1991
1998
Mittelschicht
1991
1998
Oberschicht
1991
1998
Stichprobe
628
298
1345
990
614
527
384
160
531
556
136
221
25–29 Jahre
30–34 Jahre
35–39 Jahre
40–44 Jahre
45–49 Jahre
50–54 Jahre
55–59 Jahre
60–64 Jahre
65–69 Jahre
gesamt
25,1%
19,5%
19,4%
14,0%
18,6%
25,3%
33,5%
32,8%
39,7%
24,4%
15,5%
9,6%
14,1%
15,8%
11,5%
17,0%
10,5%
18,4%
27,3%
14,9%
62,5%
55,3%
47,9%
52,5%
48,8%
50,2%
50,3%
49,7%
49,3%
52,4%
69,5%
62,5%
54,0%
53,7%
55,4%
45,6%
55,7%
54,8%
49,2%
56,4%
12,5%
25,2%
32,7%
33,5%
32,6%
24,4%
16,2%
17,6%
11,0%
23,2%
15,0%
27,9%
31,9%
30,5%
33,1%
37,5%
33,7%
26,8%
23,6%
28,7%
36,2%
31,6%
22,6%
29,5%
28,4%
37,7%
51,7%
51,9%
47,8%
35,9%
21,0%
14,3%
11,7%
10,4%
13,7%
8,3%
16,3%
27,8%
28,9%
15,7%
55,9%
57,0%
60,5%
47,9%
50,8%
46,4%
40,0%
37,9%
50,8%
50,7%
72,7%
66,0%
63,6%
63,8%
56,4%
55,2%
51,6%
46,5%
46,4%
59,8%
7,8%
11,4%
16,8%
22,6%
20,7%
15,8%
8,3%
10,2%
1,4%
13,4%
6,3%
19,7%
24,7%
25,8%
29,9%
36,5%
32,1%
25,7%
24,8%
24,4%
Stichprobe
893
420
1336
1064
436
431
470
237
583
587
107
165
25–29 Jahre
30–34 Jahre
35–39 Jahre
40–44 Jahre
45–49 Jahre
50–54 Jahre
55–59 Jahre
60–64 Jahre
65–69 Jahre
gesamt
19,5%
25,0%
22,5%
21,8%
23,0%
38,5%
53,3%
59,0%
49,1%
33,8%
16,6%
13,1%
14,1%
14,8%
12,8%
11,5%
24,6%
40,5%
48,1%
21,0%
65,7%
54,8%
53,7%
55,2%
51,3%
48,6%
36,7%
35,8%
42,3%
50,1%
61,0%
61,2%
59,7%
58,7%
57,5%
57,1%
53,1%
47,3%
45,3%
56,1%
14,8%
20,2%
23,8%
23,0%
25,7%
12,9%
10,0%
5,2%
8,6%
16,1%
22,4%
25,7%
26,2%
26,6%
29,7%
31,4%
22,3%
12,2%
6,6%
22,9%
27,7%
28,4%
31,0%
27,5%
31,5%
49,7%
59,5%
63,4%
64,4%
41,6%
25,0%
13,2%
10,7%
17,7%
13,4%
12,2%
34,5%
36,2%
49,4%
22,3%
63,1%
64,0%
54,1%
50,0%
52,6%
42,9%
32,7%
35,7%
35,6%
48,9%
61,9%
76,7%
67,5%
62,3%
62,0%
61,1%
46,7%
56,6%
45,2%
60,9%
9,2%
7,6%
14,9%
22,5%
16,0%
7,3%
7,8%
0,9%
0,0%
9,6%
13,1%
10,1%
21,8%
20,0%
24,6%
26,7%
18,7%
7,2%
5,4%
16,8%
Männer
Frauen
Prävalenzraten für 1991 nach Gewichtung mit weightow, für 1998 nach Gewichtung mit w9198, Werte für 1991 berechnet mit Schichtindex 1998
Tab. 3 Prävalenzraten von Risikofaktoren und soziale Schicht, Bundes-Gesundheitssurvey 1998, 18- bis 79jährige
Deutschland
West
Ost
Unterschicht
Mittelschicht
Oberschicht
Unterschicht
Mittelschicht
Oberschicht
Unterschicht
Mittelschicht
Oberschicht
47,4%
22,3%
33,1%
67,9%
22,1%
37,8%
18,9%
30,9%
61,4%
24,8%
29,0%
16,2%
35,7%
51,9%
25,6%
46,7%
22,4%
32,5%
67,9%
21,7%
35,9%
18,3%
29,5%
59,5%
23,8%
28,9%
15,6%
34,8%
49,2%
23,6%
48,7%
21,8%
35,3%
68,2%
23,5%
41,4%
21,4%
36,4%
68,4%
28,6%
29,4%
18,7%
39,6%
63,8%
34,2%
30,1%
31,4%
39,9%
78,5%
26,8%
29,5%
20,3%
33,0%
62,5%
20,2%
25,0%
9,9%
32,5%
51,4%
16,8%
30,5%
31,6%
38,6%
77,9%
25,2%
29,1%
19,5%
33,6%
60,6%
20,0%
25,8%
9,8%
32,5%
50,5%
17,0%
29,3%
31,0%
44,6%
80,4%
32,6%
30,1%
23,7%
30,7%
69,8%
20,8%
23,1%
10,6%
32,4%
56,2%
15,6%
Männer
Rauchen
starkes Übergewicht
Hypercholesterinämie
sportlich inaktiv
Hypertonie (Meßwert)
Frauen
Rauchen
starkes Übergewicht
Hypercholesterinämie
sportlich inaktiv
Hypertonie (Meßwert)
Prävalenzraten nach Gewichtung mit w98
kanter Schichteinfluß ist weder bei den Frauen noch bei den
Männern zu beobachten.
Die gesundheitspolitische Bedeutung der Hypertonie als Risikofaktor für die kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität ergibt sich zum einen aus der Häufigkeit ihres Vorkommens,
zum andern aus der Schwere der Folge- und Begleitkrankheiten. Neben dem Alter und einer genetischen Disposition korreliert die Hypertonie mit gesundheitsrelevanten Verhaltens-
weisen wie z.B. hohem Alkoholkonsum, Rauchen und Bewegungsmangel, die ihrerseits eine Schichtspezifik aufweisen.
Die bivariate Auswertung von sozialer Schicht und Hypertonie zeigt für Männer und Frauen ein unterschiedliches Bild.
Während bei den Frauen in den neuen Bundesländern mit
32,6% die höchste Hypertonieprävalenz in der Unterschicht
zu verzeichnen ist, weisen bei den Männern die Angehörigen
der Oberschicht ebenfalls in den neuen Bundesländern die
höchsten Hypertonieprävalenzen (34,2%) aus. Analysiert man
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S173
Sozialschicht und Gesundheit
Abb. 2 Starkes Übergewicht (BMI ≥30 kg/m2)
und soziale Schicht, Bundes-Gesundheitssurvey 1998, 18- bis 79jährige.
Männer
Oberschicht
Mittelschicht
Unterschicht
Frauen
Oberschicht
Mittelschicht
Unterschicht
0
1
2
3
4
Odds Ratio
das Hypertonierisiko nach sozialer Schicht unter Berücksichtigung von Alter, Region (Ost oder West) und Body-Mass-Index (BMI), so ergibt sich weder für Männer noch für Frauen
ein statistisch signifikanter Zusammenhang. Der deutliche
Schichteinfluß auf das Hypertonierisiko, wie er 1985 in den
alten Bundesländern bei den Frauen festgestellt wurde (Hoffmeister et al. 1992), läßt sich anhand der Ergebnisse des Bundes-Gesundheitssurveys nicht mehr nachweisen.
Die Korrelation zwischen körperlicher Aktivität und kardiovaskulären Krankheiten wurde bereits in mehreren epidemiologischen Publikationen beschrieben [Powell 1987, Jensen
1991, Mensink 1996]. Im Bundes-Gesundheitssurvey wurde
die körperliche Aktivität durch die Häufigkeit und Dauer der
sportlichen Aktivität sowie Art und Dauer körperlicher Tätigkeiten erfaßt. Die sportliche Aktivität wurde jeweils in „aktiv
(mindestens 1h Sport/Woche)“ und „inaktiv (weniger als 1h
Sport/Woche)“ differenziert und in Abhängigkeit von der sozialen Schichtzugehörigkeit analysiert. Mit 67,9% bei den
Männern und 78,5% bei den Frauen sind Angehörige der Unterschicht wesentlich häufiger sportlich inaktiv als Personen
aus der Oberschicht (Männer: 51,9%, Frauen: 51,4%). Auch
unter Berücksichtigung des BMI sowie des Alters und des OstWesteinflusses weisen Männer (OR: 2,2; CI: 1,8–2,8) und
Frauen (OR: 2,5; CI: 2,0–3,2) der Unterschicht, verglichen mit
der Oberschicht, eine höhere Wahrscheinlichkeit auf, sportlich inaktiv zu sein. Bei der körperlichen Aktivität, gemessen
17h
an der Zeit, die Personen mit der Verrichtung leichter bis
anstrengender Tätigkeiten verbringen, bzw. der körperlichen
Inaktivität, gemessen an der Zeit, die mit Schlafen und sitzenden Tätigkeiten verbracht wird, zeigen sich ebenfalls Schichtunterschiede. Bedingt durch die berufliche Situation verbringen Männer der Oberschicht mehr Zeit am Tag mit
sitzenden Tätigkeiten und sind damit körperlich weniger
aktiv als Männer in der Mittel- und Unterschicht. Frauen der
Mittel- und Oberschicht sind dagegen im Durchschnitt pro
Tag länger körperlich aktiv (Abb. 3).
Morbidität und soziale Schicht
Die bisher dargestellten Ergebnisse zu den Korrelationen zwischen sozialer Schicht und Risikofaktoren erhärten die Hypothese, daß gesundheitsrelevante Verhaltensweisen auch über
die Zugehörigkeit zu einer Schicht geprägt werden. Von Interesse ist nun die Frage, in welchem Ausmaß sich dieser Einfluß
in der Krankheitsrealisation widerspiegelt. Dabei ist zu berücksichtigen, daß eine unterschiedliche Krankheitswahrnehmung und ein unterschiedliches Krankheitsverständnis auch
zu einer differenten Inanspruchnahme medizinischer Leistungen und somit zu Unterschieden in der Diagnostik und im
Bewußtwerden über das Vorliegen einer Krankheit führen
können. Aus einer Palette von 43 Krankheiten, die wesentliche, das gegenwärtige Morbiditätsspektrum kennzeichnende
Krankheiten berücksichtigt, wurden mittels ärztlichem Inter-
Abb. 3 Mittlere körperliche Aktivität bzw. Inaktivität (in h/Tag) nach sozialer Schicht, Bundes-Gesundheitssurvey 1998, 18- bis
79jährige.
Männer Frauen
15h
13h
11h
9h
7h
5h
Körperliche Aktivität (h/Tag)
Unterschicht Mittelschicht Oberschicht
Körperliche Inaktivität (h/Tag)
Unterschicht Mittelschicht Oberschicht
S174 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
H. Knopf, U. Ellert, H.-U. Melchert
Tab. 4 Prävalenzraten ausgewählter Krankheiten und soziale Schicht, Bundes-Gesundheitssurvey 1998, 18- bis 79jährige
Deutschland
West
Ost
Unterschicht
Mittelschicht
Oberschicht
Unterschicht
Mittelschicht
Oberschicht
Unterschicht
Mittelschicht
Oberschicht
5,6%
3,5%
2,5%
4,7%
3,4%
2,1%
9,2%
3,9%
4,1%
9,1%
6,5%
4,6%
9,8%
7,5%
5,1%
6,3%
,8%
2,2%
Magen- oder Zwölffinger- 11,6%
darmgeschwür
Schilddrüsenkrankheit
5,7%
9,9%
6,2%
12,4%
9,9%
5,1%
8,5%
9,6%
11,0%
Männer
Zuckerkrankheit ohne
Insulinbehandlung
chronische Bronchitis
Heuschnupfen
6,6%
8,2%
6,3%
7,3%
7,4%
3,2%
4,0%
11,9%
11,7%
13,9%
18,5%
13,4%
14,8%
19,6%
5,5%
10,7%
13,7%
8,5%
3,4%
1,6%
8,3%
3,0%
1,4%
9,1%
4,6%
2,5%
Frauen
Zuckerkrankheit ohne
Insulinbehandlung
chronische Bronchitis
7,8%
5,9%
3,4%
8,1%
6,3%
3,1%
6,7%
4,1%
4,9%
Magen- oder Zwölffinger- 8,7%
darmgeschwür
Schilddrüsenkrankheit
24,4%
6,2%
4,9%
10,0%
6,6%
4,8%
4,1%
4,9%
5,8%
26,0%
24,2%
25,3%
26,8%
23,5%
21,2%
23,0%
27,6%
Heuschnupfen
18,3%
20,3%
11,3%
19,5%
22,2%
8,5%
13,6%
10,2%
10,7%
Prävalenzraten nach Gewichtung mit w98
view Krankheitsprävalenzen erfaßt und in Abhängigkeit von
der sozialen Schichtzugehörigkeit analysiert. Im folgenden
werden einige ausgewählte Krankheiten beschrieben, bei denen sich statistisch signifikante Schichtunterschiede zeigen
(Tab. 4).
Laut Bundes-Gesundheitssurvey leiden 3,7% der Männer und
4,6% der Frauen unter einem nicht insulinpflichtigen Diabetes
mellitus. Männer und Frauen der Unterschicht weisen mit
5,6% bzw. 8,5% deutlich höhere Prävalenzraten auf als Angehörige der Oberschicht (Männer: 2,5%; Frauen: 1,6%). Nach
Berücksichtigung von Alter, Region (Ost/West) und BMI weisen die Männer der Unterschicht ein signifikant höheres Risiko auf (OR: 2,2; CI: 1,3–3,8), diese Krankheit zu haben, als
Angehörige der Oberschicht. Bei Frauen der Unterschicht ist
das Risiko ebenfalls höher (OR: 1,8; CI: 0,9–3,6), aber nicht signifikant.
Mit 9,1% bei den Männern und 7,8% bei den Frauen geben die
Angehörigen der Unterschicht wesentlich häufiger an, eine
chronische Bronchitis zu haben, als die Studienteilnehmer aus
der Oberschicht (Männer: 4,6%; Frauen: 3,4%). Nach Berücksichtigung von Alter, Ost-Westeinfluß und Anzahl der täglich
gerauchten Zigaretten beträgt das Risiko für Männer und für
Frauen der Unterschicht 2,4. Die entsprechenden Konfidenzintervalle sind für die Männer 1,1–5,5 und für die Frauen 1,0–
5,7.
Beim Ulcus ventriculi et duodeni weisen die Angehörigen der
Unterschicht mit fast 12% bei den Männern und rund 9% bei
den Frauen etwa doppelt so hohe Prävalenzraten auf, wie die
Angehörigen der Oberschicht (Männer: 6,2%; Frauen: 4,9%).
Die Aussage des höheren Krankheitsrisikos in der Unterschicht bleibt auch bestehen, wenn in der multivariaten Analyse das Alter und die Region (Ost oder West) berücksichtigt
werden. Damit stehen die Ergebnisse in Übereinstimmung
mit den höheren Durchseuchungsraten von Heliocobacter py-
lori in unteren Sozialschichten, der als Mitverursacher eines
Ulkus im Magen-Darmbereich wissenschaftlich anerkannt ist.
Obwohl in der Fachliteratur auch bei der Gastritis Helicobacter pylori als wesentliche Einflußgröße beschrieben wird, lassen sich in der Gastritishäufigkeit der Männer keine nennenswerten Unterschiede zwischen Unter- (24%) und Oberschicht
(23,5%) beobachten. Frauen weisen dagegen deutliche Differenzen auf (Unterschicht: 21,7%; Mittelschicht: 25,9%; Oberschicht: 30,4).
Die Analysen der Gesundheitssurveys zu Beginn der 90er
Jahre in Ost- und Westdeutschland wiesen die soziale Schicht
als wesentliche Einflußgröße für die Prävalenz von Inhalationsallergien bzw. deren Prädisposition aus [Hoffmeister,
Bellach 1995]. Erste Auswertungen der Daten des BundesGesundheitssurvey zur Rhinitis allergica bestätigen dies
erneut. Angehörige der Oberschicht leiden auch nach Berücksichtigung von Alter und Leben in Ost- oder Westdeutschland
signifikant häufiger an dieser Erkrankung (Männer: OR: 2,4;
CI: 1,7–3,3; Frauen: OR: 1,8, CI: 1,3–2,1) als Unterschichtangehörige. Daß es sich dabei nicht um ein Overreporting, bedingt durch langfristige Sensibilisierung der Oberschicht für
das Thema „Allergien“ durch die Medien, handelt, wird deutlich, wenn die Ergebnisse der Tests für Inhalationsallergene in
die Analyse einbezogen werden. Auch hier weist die Oberschicht höhere Raten als die Unterschicht auf.
Beschwerdenniveau und soziale Schicht
Für die Beschreibung der subjektiven Symptomatik diente die
Beschwerden-Liste nach v. Zerssen, mit der überwiegend
körperliche und Allgemeinbeschwerden erfaßt werden
[v. Zerssen 1976]. Männer weisen mit einem Wert von 14,6
im Durchschnitt ein niedrigeres Beschwerdenniveau auf als
Frauen (18,3). Im Osten ist mit 15,7 das Beschwerdenniveau
niedriger als im Westen (16,7). Sozialschichtspezifische Unterschiede sind bei beiden Geschlechtern vorhanden. Wäh-
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S175
Sozialschicht und Gesundheit
Tab. 5 Statistisch signifikante Unterschiede (p<0,05) in der regelmäßigen Anwendung (täglich bis mindestens 1x/Woche) von Arzneimitteln
(in %) nach höchstem Schulabschluß, Bundes-Gesundheitssurvey 1998, 18- bis 79jährige Männer
blutdrucksenkende Mittel
Herzmittel
durchblutungsfördernde Mittel
Mittel für Lungen/Bronchien (z.B. Asthmamittel)
Medikamente für Magen, Leber, Galle, Bauchspeicheldrüse
Mittel zur Senkung d. Blutzuckerspiegels. (Insulin u./ o. Tabl.)
Mittel zur Senkung des Blutfettspiegels
Mittel gegen Gicht
Medikamente gegen Blasen-/ Nierenkrankheiten
Mittel gegen Rheuma, Bandscheibenbeschwerden
Schmerzmittel
stimmungsbeeinflussende Mittel, Psychopharmaka
Beruhigungsmittel
Antiallergika
Vitamin C
andere Vitaminpräparate
West
Ost
West
Ost
West
Ost
West
Ost
West
West
Ost
West
West
West
West
West
Ost
West
West
West
West
Ost
West
Ost
Hauptschule
Realschule
Gymnasium
p-Wert
16,5
31,6
10,9
19,8
12,0
20,3
5,3
6,2
6,7
3,8
10,7
6,4
5,4
3,6
6,4
6,2
6,7
2,5
3,7
2,8
5,4
2,3
8,6
5,6
10,6
12,6
3,3
5,2
5,2
4,6
2,5
2,1
3,7
1,3
2,4
3,0
3,0
2,3
2,2
3,8
5,2
1,7
3,2
2,8
6,5
4,0
13,5
5,5
8,7
17,4
4,2
10,3
3,4
9,7
2,2
0,6
4,5
2,1
3,2
3,2
2,2
1,5
1,8
2,9
3,9
1,4
1,7
3,6
6,8
8,4
16,2
11,0
0,000
0,000
0,000
0,000
0,000
0,000
0,000
0,016
0,000
0,004
0,001
0,001
0,005
0,039
0,000
0,000
0,028
0,040
0,020
0,003
0,000
0,003
0,000
0,001
Prävalenzraten nach Gewichtung mit w98
Unterschicht
Abb. 4 Guter Gesundheitszustand und soziale Schicht, Bundes-Gesundheitssurvey
1998, 18- bis 79jährige.
Männer
Mittelschicht
Oberschicht
Unterschicht
Frauen
Mittelschicht
Oberschicht
0
0,5
1
1,5
2
2,5
3
Odds Ratio
rend bei den Männern die Angehörigen der Mittelschicht das
höchste Beschwerdenniveau (15,3) aufweisen, sind es bei den
Frauen die Studienteilnehmer aus der Unterschicht (19,4).
Differenziert nach den alten und neuen Bundesländern, zeigt
sich im Westen Deutschlands eine signifikante Schichtabhängigkeit. Das Beschwerdenniveau der Oberschicht (14,3) liegt
deutlich unter dem Beschwerdenniveau der Unterschicht
(17,8). Im Osten Deutschlands geben Unterschichtangehörige
(16,6) zwar auch ein höheres Beschwerdenniveau an als Personen der Mittelschicht (15,4) und Oberschicht (15,2), die Unterschiede sind jedoch nicht statistisch signifikant.
Subjektiver Gesundheitszustand, Zufriedenheit mit der
Gesundheit und mit dem Leben und soziale Schicht
Den schichtspezifischen Ergebnissen zum Beschwerdenniveau entsprechend schätzen Oberschichtangehörige ihren
Gesundheitszustand besser ein als Personen aus der Unterschicht. Mit einem Odds ratio von 2,1 (CI: 1,5–2,8) bei den
Männern und 2,4 (CI: 1,7–3,1) bei den Frauen liegt die Wahrscheinlichkeit, einen guten Gesundheitszustand anzugeben,
in der Oberschicht mehr als doppelt so hoch wie bei Studienteilnehmern aus der Unterschicht (Abb. 4).
Zufriedenheit mit verschiedenen Lebensbereichen wie z.B.
Arbeit und Gesundheit oder Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt wird als wesentliches Barometer für Lebensqualität
und letztendlich für Gesundheit in dem von der WHO vorgeschlagenen umfassenden Sinne angesehen (Li Zhan 1992).
Beide Geschlechter weisen schichtspezifisch signifikante Unterschiede in der Lebenszufriedenheit auf. So sind Angehörige
der Unterschicht (Männer: 5,5; Frauen: 5,6) unzufriedener als
Oberschichtangehörige (Männer: 5,7; Frauen: 5,8). Auch bei
der Gesundheitszufriedenheit zeigt sich eine Schichtabhän-
S176 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
H. Knopf, U. Ellert, H.-U. Melchert
Tab. 6 Statistisch signifikante Unterschiede (p<0,05) in der regelmäßigen Anwendung (täglich bis mindestens 1x/Woche) von Arzneimitteln
(in %) nach höchstem Schulabschluß, Bundes-Gesundheitssurvey 1998, 18- bis 79jährige Frauen
blutdrucksenkende Mittel
Herzmittel
durchblutungsfördernde Mittel
Medikamente für Magen, Leber, Galle, Bauchspeicheldrüse
Pille zur Schwangerschaftsverhütung/ Dreimonatsspritze
andere Hormonpräparate (Östrogene)
Eisenpräparate gegen „Blutarmut“, Eisenmangel
Medikamente gegen Blasen-/ Nierenkrankheiten
Mittel gegen Rheuma, Bandscheibenbeschwerden
Osteoporosemittel
Schmerzmittel
Beruhigungsmittel
Schlafmittel
Antiallergika
Vitamin C
andere Vitaminpräparate
West
Ost
West
Ost
West
Ost
West
West
Ost
West
West
West
West
Ost
West
West
Ost
West
West
West
Ost
West
West
Hauptschule
Realschule
Gymnasium
p-Wert
26,5
42,4
12,1
25,0
12,1
18,5
9,8
9,0
6,8
15,4
3,4
2,7
9,4
13,2
6,8
10,7
8,8
8,0
4,4
2,2
2,9
7,7
13,6
9,5
14,5
4,0
4,3
5,1
5,2
5,2
25,3
29,5
12,2
5,6
0,8
3,9
5,2
3,8
7,2
7,2
5,2
2,5
4,6
1,7
6,6
18,1
7,2
9,6
3,3
4,4
3,4
3,7
4,7
27,0
43,7
9,6
5,1
2,7
1,5
4,4
1,4
6,2
9,6
4,7
2,2
4,3
5,9
9,6
17,0
0,000
0,000
0,000
0,000
0,000
0,000
0,000
0,000
0,000
0,005
0,004
0,003
0,000
0,001
0,000
0,000
0,001
0,006
0,005
0,003
0,028
0,000
0,001
Prävalenzraten nach Gewichtung mit w98
gigkeit dahingehend, daß die Angehörigen der Oberschicht
(Männer 5,3; Frauen: 5,4) zufriedener sind als die der Unterschicht (Männer 5,1; Frauen: 5,0).
Arzneimittelanwendung und soziale Schicht
Das Inanspruchnahmeverhalten wird vor allem geprägt durch
den Leidensdruck, der von einer gesundheitlichen Störung
oder Krankheit ausgeht sowie durch das Laienverständnis
über die Krankheit und seine Folgen. Aus diesem Grund
wurde bei der Analyse der Arzneimittelanwendung nicht die
soziale Schicht als Ganzes, sondern nur einer ihrer Teilaspekte, die Bildung, herangezogen.
In Tab. 5 und 6 sind die Arzneimittelgruppen aufgeführt, bei
denen sich statistisch signifikante Unterschiede der regelmäßigen Arzneimittelanwendung (täglich bis mindestens 1mal
wöchentlich) in Abhängigkeit vom Bildungsstand ergeben.
Auffällig ist bei Männern und Frauen, daß schichtspezifische
Unterschiede, gemessen am höchsten Schulabschluß, in den
alten Bundesländern etwa doppelt so häufig auftreten wie in
den neuen Bundesländern.
Arzneimittel, die zur Therapie von Krankheiten angewendet
werden wie z.B. blutdrucksenkende Arzneimittel, Herzmittel
oder Mittel zur Behandlung von Lungen und Bronchien werden, der höheren Krankheitsprävalenz entsprechend, von Studienteilnehmern mit Hauptschulabschluß deutlich häufiger
angewendet als von denjenigen mit Abitur. Arzneimittel mit
präventivem Charakter (Pille zur Schwangerschaftsverhütung) oder Arzneimittel, von denen sich die Anwender einen
gesundheitsstabilisierenden oder -fördernden Aspekt versprechen (Vitamine), werden dagegen von Personen mit höherem Bildungsstand häufiger regelmäßig angewendet.
Schlußfolgerungen
Die Daten des Bundes-Gesundheitssurveys liefern bevölkerungsrepräsentative Ergebnisse zur Sozialstruktur in
Deutschland und zu deren Wechselwirkung mit Gesundheit
bzw. Krankheit. Auch heute noch zeigt sich in Abhängigkeit
von der Schichtzugehörigkeit ein unterschiedliches Risikofaktoren-, Beschwerden- und Morbiditätsniveau. Ob und in welchem Ausmaß die Korrelationen und Differenzen ursächlich
durch die soziale Schicht bedingt sind, läßt sich nur schwer
einschätzen, da es sich bei der vorliegenden Untersuchung
um eine Querschnittsstudie handelt. Zur Klärung dieser Fragen sind Studienansätze gefordert, bei denen die zeitliche
Folge von Ereignissen Berücksichtigung findet.
Literatur
1
2
3
4
5
6
Assmann G, Schulte H (1987). The prospective cardiovascular
Münster study. Prevalence and prognostic significance of hyperlipidemia in men with systemic hypertension. Am J Cardiol 59
suppl: 9G-17G.
Bellach BM, Knopf H, Thefeld W (1998). Der Bundes-Gesundheitssurvey 1997/98. Gesundheitswesen. Dez; 60 Suppl 2: 59–
68
Geißler R (1996). Kein Abschied von Klasse und Schicht. Ideologische Gefahren der deutschen Sozialstrukturanalyse. Kölner
Zeitschr Soziol Sozialpsych 48: 319–38
Hoffmeister H, Bellach BM (1995). Die Gesundheit der Deutschen. Ein Ost-West-Vergleich von Gesundheitsdaten. RKI-Hefte
7/95
Hoffmeister H, Hüttner H, Stolzenberg H, Lopez H, Winkler J
(1992). Sozialer Status und Gesundheit. Nationaler GesundheitsSurvey 1984–1986. BGA Schriften MMV Medizin Verlag München
Hüttner H, Wiesner G, Todzy-Wolf I (1996). Gesundheit und soziale Schicht. In: Bellach BM (Hrsg.). Die Gesundheit der Deutschen Band 2. RKI-Hefte 15/96
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S177
Sozialschicht und Gesundheit
7
Investment in health/Gesundheitsförderung – Eine Investition
in die Zukunft. Internationale Konferenz Bonn 17.–19.12.1990.
Konferenzbericht. WIAD Bonn
8 Jensen G, Nyboe J, Appleyard M et al. (1991). Risk factors for
acute myocardial infarction in Copenhagen II: Smoking, alcohol
intake, physical activity, obesity, oral contraception, diabetes, lipids, and blood pressure. Eur Heart J 12: 298–308
9 Jöckel KH, Babitsch B, Bellach BM, Bloomfield K, Hoffmeyer-Zlotnik J, Winkler J (1998). Empfehlungen der Arbeitsgruppe „Epidemiologische Methoden“ in der Deutschen Arbeitsgemeinschaft
Epidemiologie der Gesellschaft für Medizinische Informatik,
Biometrie und Epidemiologie (GMDS) und der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP) zur Messung und Quantifizierung soziodemographischer Merkmale in
epidemiologischen Studien. In: Ahrens W, Bellach BM, Jöckel KH
(Hrsg.). Messung soziodemographischer Merkmale in der Epidemiologie. RKI Schriften 1/98 MMV Medizin Verlag, München
10 Keys A, Aravanis CH, Blackburn HW, van Buchen FSP, Buzina R,
Djordjevic BS, Dontas AS, Fidanza F, Karvonen NJ, Kimura N, Lokos D, Monti M, Puddu V, Taylor HL (1966). Epidemiological studies related to coronary heart disease: Characteristics of men
aged 40–59 in seven countries. Acta med scand suppl 460
11 Li Zhan MS (1992). Quality of life: Conceptual and measurement
issues. Journal of Advanced Nursing 17: 795–800
12 Marks HH (1960). Influence of obesity on morbidity and mortality. Bull New York Acad Med 36: 296–312
13 Mensink GBM, Deketh M, Mul MDM et al (1996). Physical activity and its association with cardiovascular risk factors and mortality. Epidemiology 7: 391–397
14 Powell KE, Thompson PD, Caspersen CJ et al. (1987). Physical activity and the incidence of coronary heart disease. Ann Rev Public Health 8: 253–287
15 The Pooling Project Research Group (1978). Relationship of
blood pressure, serum cholesterol, smoking habit, relative
weight and ECG abnormalities to incidence of major coronary
events: Final report. J Chronic Dis 31: 201–306
16 Thefeld W, Stolzenberg H, Bellach BM (1999). Bundes-Gesundheitssurvey: Response, Zusammensetzung der Teilnehmer, NonResponder-Analyse. Gesundheitswesen 61; Sonderheft 2: S57–
S61
17 Zerssen v. D (1976). Die Beschwerden-Liste-Manual. Beltz Test
GmbH, Weinheim
Hildtraud Knopf
Robert Koch-Institut
Postfach 650280
D-13302 Berlin
S178 WEITERE THEMEN
Sozialschichtindex im Bundes›› Der
Gesundheitssurvey
Zusammenfassung: Es kann unterstellt werden, daß sich nach
der erstmaligen Konstruktion des Sozialschichtindex im Rahmen der Nationalen Untersuchungssurveys relevante sozioökonomische Umstände, Einflüsse und Randbedingungen für
die Indexbildung verändert haben. Bezogen auf den ersten
Nationalen Untersuchungssurvey 1984/85 haben sich Entwicklungen ergeben, deren Wirkungen zu prüfen sind: Veränderungen der Einkommensverteilung und der Einkommenshöhen, erst einmal im Sinne einer Nominaleinkommenserhöhung im Westen und seit 1990 auch im Osten, Veränderungen
im Bildungs- und Ausbildungsniveau, Veränderungen der Einkommenschancen der unterschiedlichen Berufsgruppen und
dadurch bedingte mögliche Wandlungen im Sozialprestige.
Trotz dieser zu konstatierenden und in ihrem Ausmaß zu prüfenden Veränderungen ist erst einmal davon auszugehen, daß
es in den letzten zehn Jahren in der Sozialstruktur zwischen
den sozialen Schichten relational zu keinen (wesentlichen)
Veränderungen gekommen ist. Die Aufgabe, die sich hier
stellt, besteht darin zu prüfen, inwieweit und in welcher
Stärke sich die oben genannten Entwicklungen niedergeschlagen haben, ob sich daraus die Notwendigkeit ergibt, den Sozialschichtindex zu adjustieren und einen Vorschlag zu unterbreiten, wie diese Adjustierung aussieht und wie sie zu begründen ist.
Schlüsselwörter: Nationaler Gesundheitssurvey – Sozialökonomische Umstände – Sozialschichtindex
Social Status Scaling in the German National Health Interview
and Examination Survey: Since the first scaling of social status
for the German National Health Interview and Examination
Survey, relevant socio-economical circumstances and constraints have changed. This prompted an examination of relevant developments such as changes in income distribution
and increasing income in the West and since 1990 in the East
of Germany, changes in educational levels, and changes in social prestige of professional groups. In spite of these changes
we must assume that the relations between social strata remained constant over time. The task is to assess how and to
what extend the developments mentioned above have been
reflected and to examine the necessity of bringing social status scaling in line with these developments, as well as to adjust
social status scaling.
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S178–S183
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
J. Winkler, H. Stolzenberg
Hochschule Wismar/Robert Koch-Institut
Key words: German Health Survey – Socioeconomic Factors –
Social Strata Index
In der Epidemiologie wie in der Soziologie besteht eine eingehende Diskussion darüber, inwieweit zur Abbildung der sozialen Lage lediglich Einzelindikatoren oder multiple Indizes
benutzt werden sollten. In einer Empfehlung der Arbeitsgruppe „Epidemiologische Methoden“ in der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Epidemiologie, der Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie, der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention und der
Deutschen Region der Internationalen Biometrischen Gesellschaft zur Messung und Quantifizierung soziodemographischer Merkmale in epidemiologischen Studien geht man davon aus, daß zur Confounder-Kontrolle aggregierte Indizes
geeignet sind, und hält es für sinnvoll, „in Abhängigkeit von
der Fragestellung der Studie hoch aggregierte Indizes (z.B.
Scheuch – Winkler), aber auch disaggregierte Größen (wie der
höchste Bildungsabschluß) darzustellen“ [Jöckel 1998]. Der
seit 1993 in den Public Use Files der Nationalen Untersuchungssurveys des RKI enthaltene Schichtindex, der 1989 im
Rahmen der DHP konstruiert wurde, wurde für die Anwendung im Bundes-Gesundheitssurvey auf Adjustierungsnotwendigkeiten, die sich aus neueren sozioökonomischen Veränderungen ergeben könnten, geprüft.
Prinzipien und Güte des Sozialschichtindex
Die Prinzipien der Gestaltung des Sozialschichtindex wurden
in Winkler [1998] bereits eingehend beschrieben. Es soll hier
lediglich die Grundidee und eine inzwischen (extern) erfolgte
Güteprüfung skizziert werden.
Seit der Untersuchung „Sozialprestige und soziale Schichtung“ von Scheuch werden in der „klassischen“ Schichtungsforschung in der Bundesrepublik Deutschland drei zentrale
Indikatoren verwendet: Einkommen, Bildung und berufliche
Stellung. Scheuch betrachtete „differenzielles Sozialprestige
als Substitut für Schichtzugehörigkeit“ [Scheuch 1970, erstmals 1960, S. 67]. „Prestige“ war dabei zerlegbar in die Dimensionen der „wirtschaftlichen Lage“, der „Berufszugehörigkeit“ und des „kulturellen Niveaus“. Als besonders erklärungskräftig erwiesen sich das Einkommen („wirtschaftliche
Lage“), das Sozialprestige von Berufskreisen („Berufszugehörigkeit“) und die Schulbildung („kulturelles Niveau“), die in
dem sogenannten Scheuch-Index Eingang fanden. Die meisten mehrdimensionalen Schichtindizes stellen Varianten
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S179
Der Sozialschichtindex im Bundes-Gesundheitssurvey
dieses Index dar. Schichtindizes erweisen sich immer noch als
erklärungskräftig für soziale Differenzen etwa bei der Verteilung von Gesundheitsrisiken, wie dies vielfach belegt wurde.
Tab. 2 Die Korrelationen zwischen den Skalen und den abhängigen
Variablen
Der hier zu bearbeitende und zu adjustierende Schichtindex
orientiert sich am Scheuch-Index. Entsprechend den Grundüberlegungen zum Sozialprestige wurde angenommen, daß
das Einkommen (Haushaltseinkommen) die pekuniären Möglichkeiten und Restriktionen indiziert, daß Bildung (Schulund weitere Ausbildung) als Indikator hinsichtlich der Präferenzen für Verhalten gilt und daß die berufliche Stellung (des
Hauptverdieners in der Familie) die Wirkungen des sozialen
Umfeldes erfaßt.
BMIa
Zur Güte des Sozialschichtindex
Der ursprüngliche Schichtindex von Scheuch gehört zu den
Indizes, die eingehend auf ihre Validität geprüft wurden. Für
den hier verwendeten Index liegen ähnliche Validitätsprüfungen vor, die von Wolf mit verschiedenen Statusmaßen durchgeführt wurden. Wolf [1997] verglich dabei folgende Skalen
auf der Basis des Surveys Ost/West: ISEI (International SocioEconomic Index von Ganzeboom), MBP (Berufsprestige nach
Mayer), BPN (Berufsprestige nach Wolf), HZA (Autonomie der
Tätigkeit nach Hoffmeyer-Zlotnik) sowie SWI („ScheuchWinkler-Index“, wie Wolf den hier verwendeten Index
nannte). Der SWI zeigt ein hohes Maß an Korrelation mit den
anderen Skalen (siehe Tab. 1).
Tab. 1 Korrelationen, Mittelwerte und Standardabweichungen sowie
Missing-Value-Quoten* der Skalen
SWI
ISEI
MBP
BPN
HZA
ISEI
MBP
BPN
HZA
X
S
N
MV (in %)*
0,63
0,77
0,73
0,76
0,73
0,97
0,73
0,62
0,90
0,88
11,7
54,7
131,3
39,6
2,6
3,8
15,2
60,0
19,5
1,1
7443
7130
7244
7366
7366
0,3
4,5
3,0
1,3
1,3
* Ergänzung durch den Autor; Quelle: Wolf 1997, 15
Dies kann als Beleg gewertet werden, daß diese Statusmaße
den gleichen Gegenstand messen. Zudem ist darauf hinzuweisen, daß der hier verwendete Schichtindex die geringste Missing-Value-Quote mit 0,3% aufweist, d.h. dieses Maß nahezu
allen Befragten einen Statusscore zuweist und so im Grunde
kein Missing-Value-Problem besteht. Bezüglich der Prüfung
der Diskriminationskraft bei bereits belegten empirischen Zusammenhängen setzte Wolf die epidemiologisch relevanten
Risikomerkmale Bewegungsmangel und Body-Mass-Index in
SWI
ISEI
MBP
BPN
HZA
X
s
–0,20 –0,18 –0,18 –0,18 –0,14 26,6 4,6 7410
Bewegungs- –0,30 –0,22 –0,26 –0,25 –0,24 3,0 1,1 7454
mangelb
a
Body-Mass-Index in kg/m2; b Frage nach sportlicher Aktivität von 1 über 2
Std./Woche bis 4 kein Sport.; Quelle: Wolf 1997, 16
Beziehung, dabei ergaben sich für den Schichtindex für die
beiden geprüften Variablen die jeweils stärksten Korrelationen (siehe Tab. 2).
Als weiterer Test wurde die Linearitätsannahme überprüft
(Inspektion der Streudiagramme bei Verwendung eines lokal
gewichteten Regressionsverfahrens unter Kontrolle von Alter
und Geschlecht). Für alle geprüften Maße konnten Interaktionseffekte und Nicht-Linearität ausgeschlossen werden. Zudem sinkt z.B. der Bewegungsmangel mit steigender Schicht,
und es zeigt sich ein höherer Grad an Bewegungsmangel in
den neuen Bundesländern.
Wolf korrelierte die zu prüfenden Skalen auch mit den Hintergrundmerkmalen Ost/West, Alter, Geschlecht, Ausbildung
und Äquivalenzeinkommen (siehe Tab. 3).
Die Korrelationen zwischen den Status-Scores und den
Variablen Ost/West, Alter und Geschlecht zeigen einige deutliche Unterschiede, die für den Schichtindex prägnant höher
liegen, und auch große Relevanz für die Einschätzung der Validität unseres Instrumentes haben.
Zu Ost/West: Man kann nicht davon ausgehen, daß zwei Jahre
nach der Wiedervereinigung (Zeitpunkt der der Prüfung
zugrundeliegenden Erhebungen war 1991 bzw. 1992) die Sozialstruktur der alten DDR mit der der alten Bundesrepublik
identisch war, dies betrifft insbesondere die Berufs- und die
Einkommensstruktur. Alle Statusmaße außer dem SWI bilden
keine nennenswerten Unterschiede zwischen Ost und West
ab. Hier liegt der SWI sicherlich näher an der Wirklichkeit als
alle anderen Maße.
Zum Alter: Die soziale Lage variiert auch mit dem Alter; auch
hier diskriminiert der SWI am deutlichsten.
Zum Geschlecht: Der ISEI findet keine Unterschiede zwischen
Männern und Frauen, MBP und BPN nur geringfügige (beim
letzten bedingt durch konstruktivistische Geschlechtsneutra-
Tab. 3 Die Korrelationen der Skalen mit den anderen Hintergrundmerkmalen
Osta
Alter
Mannb
Ausbildungc
Einkommend
SWI
ISEI
MBP
BPN
HZA
X
S
N
–0,12
–0,19
–0,13
–0,73
–0,52
–0,01
–0,09
–0,00
–0,60
–0,29
–0,05
–0,11
–0,07
–0,65
–0,36
–0,06
–0,10
–0,02
–0,64
–0,36
–0,02
–0,08
–0,16
–0,59
–0,33
–0,21
45,2
–0,49
–3,7
–1,39
–0,41
12,9
–0,50
–1,5
–0,74
7466
7466
7466
7460
6680
a Dummyvariable: 0 „Westdeutschland“, 1 „Ostdeutschland“.
b Dummyvariable: 0 „weiblich“, 1 „männlich“.
c Kombination aus Schulbildung und beruflicher Bildung, 7stufige Skala.
d Äquivalenzeinkommen in 1000 DM/Monat.
Quelle: Wolf 1997, 19
N
S180 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
J. Winkler, H. Stolzenberg
lität). Der SWI liegt hier näher an der Wirklichkeit (in diesem
Fall auch der HZA).
löhne und -gehälter unter Berücksichtigung der Kaufkraftverluste um 956 DM.
Zusammenfassend bedeutet dies, daß der Sozialschichtindex
nicht nur die Zusammenhänge zwischen epidemiologisch relevanten Variablen, sondern auch mit relevanten sozioökonomischen Basisvariablen am klarsten wiedergibt.
Es ist davon auszugehen, daß es zwischen 1985 und 1998 ungeachtet der Entwicklung der Preisindizes und der Steuerund Abgabenbelastung tendenziell zu einer Einkommensverbesserung gekommen ist. Diese hat aber aufgrund der Linearität von Tariferhöhungen nicht zu einer Veränderung der
grundsätzlichen Relationen geführt, sondern eher zu einer
Spreizung am unteren und oberen Ende der Einkommensskalen. Diese Umstände sind bei einer Adjustierung der Einkommensdimension des Sozialschichtindex zu berücksichtigen.
Die theoretische Verankerung des Sozialschichtindex, seine
extern überprüfte Güte und auch seine inzwischen häufige
Anwendung mit guten Ergebnissen (siehe z.B. [Bellach, 1996])
führt uns dazu, an diesem einfachen und geprüften Instrument zur Abbildung der sozialen Lage festzuhalten. Es handelt
sich inzwischen um ein bewährtes Instrument, das sich auch
für zukünftige epidemiologische Bevölkerungsbefragungen
als geeignet erweisen dürfte.
Im weiteren geht es darum, die Dimensionen des Index in Beziehung zu den gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungen zu setzen und daran anschließend die Abbildfähigkeit der Einzeldimensionen zu beleuchten.
Gesellschaftliche und ökonomische Veränderungen
Mögliche sozialstrukturelle Veränderungen, die mit den Dimensionen des Sozialschichtindex korrespondieren und den
Zeitraum seit dem ersten Nationalen Untersuchungssurvey
1984/85 und der ersten Sozialschichtindex-Konstruktion umfassen, sollen im folgenden einer kurzen Betrachtung unterzogen werden.
Einkommen
Die Entwicklung der Löhne und Gehälter in der Bundesrepublik ist gekennzeichnet durch ein stetiges Wachstum, betrachtet man die Bruttoverdienste. Der Nominallohnindex
(1991=100) bewegt sich von 1985 mit 79,4 auf 116,1 in 1995.
Unter Berücksichtigung der Preisentwicklung bewegen sich
die Reallöhne (wiederum 1991=100) von 87,9 in 1985 nach
102,8 in 1995. Die Reallöhne zeigen eine wesentlich schwächere Entwicklung als die Nominallöhne und sind seit 1991
nahezu konstant (siehe Statistisches Bundesamt 1997, S. 343).
Die dramatischen Steigerungen der Nominal- und Reallöhne
in der Nachkriegszeit sind seit Beginn der 80er Jahre nicht
mehr zu beobachten.
Die Nominal- und Reallohnberechnungen basieren in der
amtlichen Statistik auf den Bruttolöhnen. Eine weitere zu berücksichtigende Größe ist die Steuer- und Abgabenlast. Die
Abgabenlast betrug 1990 30% und stieg bis 1995 auf knapp
36%. „Nach Modellrechnungen des statistischen Bundesamtes
ist der Nettoverdienst im früheren Bundesgebiet real seit
1991 bei Arbeitnehmern ohne Kinder um gut 3% und mit Kindern – unter Berücksichtigung des erhöhten Kindergeldes –
um 1 bis 2% zurückgegangen“ (Statistisches Bundesamt 1997,
S. 344).
Der Preisindex für die Lebenshaltung aller privaten Haushalte
(1991=100) weist in Deutschland einen Anstieg auf 116,5 in
1996 aus (West: 114,1; Ost: 135,6). Zehrt an den bruttobezogenen Reallöhnen die Abgabenlast, zehrt an den Nettolöhnen
die Preisentwicklung. Geißler (1996, S. 327) berechnete für
die letzten drei Jahrzehnte (bis 1996) einen Anstieg der Netto-
Bildung und Ausbildung
Der Komplex der Bildung und Ausbildung ist in der Bundesrepublik gekennzeichnet durch die allgemeine Erweiterung der
Bildungsgelegenheiten seit den 60er Jahren, in denen das Bild
einer Bildungskatastrophe gemalt wurde. Die gemeinhin als
Bildungsexpansion beschriebene Entwicklung führte zu einer
Ausweitung des formalen Bildungsniveaus der Bevölkerung.
So hat sich das Bildungsniveau in der Bundesrepublik
Deutschland deutlich erhöht: 1995 verfügten unter den 20bis unter 30jährigen 56,4% über einen höherwertigen Bildungsabschluß (Realschulabschluß, Fachhochschulreife, Abitur), während sich dieser Anteil bei den ab 60jährigen lediglich auf 20,4% belief (Statistisches Bundesamt 1997, S. 69).
Der postulierte „Bildungsnotstand“ bezog sich auf die unterproportionale Bildungsbeteiligung von Arbeiterkindern, Mädchen, Bewohnern ländlicher Regionen und Angehörigen der
katholischen Konfession. In den 90er Jahren werden die Beseitigung dieser Bildungsdisparitäten im Sinne einer „allgemeinen Niveauanhebung in der Bildungsbeteiligung sowie
der Abbau der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und
Konfessionen“ ebenso wie der Abbau regionaler Differenzen
empirisch nachgewiesen [Müller 1998, S. 89].
Allein die Ungleichheit aufgrund sozialer Herkunft befindet
sich noch in einer kontroversen Diskussion zwischen „persistent inequalities“ und einer verringerten Abhängigkeit.
Trotzdem kann nicht davon ausgegangen werden, daß „alle
sozialen Ungleichheiten in der Bildungsbeteiligung verschwunden sind. Sie sind nach wie vor groß“ (Müller 1998,
S. 90). Die Bildungsexpansion löste im Grunde in bestimmten
Bereichen einen Verdrängungswettbewerb aus. Bildung führt
nicht zu einer Egalisierung der Zutrittschancen zum Berufssystem, sondern es bleiben bestimmte Bildungserfordernisse
für spezifische berufliche Stellungen bestehen. Müller (1998,
S. 95) faßt seine Sammlung empirischer Befunde zur Bildungsexpansion wie folgt zusammen: „Insgesamt zeichnen
diese Befunde ein Bild, das weder Begriffe von Bildungsinflation oder von Entkoppelung zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem rechtfertigt noch die Vorstellung von Strukturbrüchen oder Zäsuren. Eine sehr allgemeine Charakterisierung würde eher nahelegen, von einem hohen Grad an
Stabilität in den prägenden Grundstrukturen auszugehen.“
Für die Indexbildung läßt sich daraus der Schluß ziehen, daß
für die gewählte Differenzierung der Bildungs-/Ausbildungsdimension keine Änderungen vonnöten sind.
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S181
Der Sozialschichtindex im Bundes-Gesundheitssurvey
Berufliche Stellung
Einkommen
Das Sozialprestige in einer Gesellschaft wird immer noch zentral an den Beruf bzw. die berufliche Tätigkeit geknüpft. Die
Berufszugehörigkeit wird traditionell mit der „Stellung im Beruf“ erfaßt.
Berechnet man die Indexdimension Einkommen im BundesGesundheitssurvey nach der Recodierungsanweisung der Fragebogenerfassung im Nationalen Untersuchungssurvey,
kommt es zu eklatanten Verschiebungen in der Einkommensskala: Die Anteile in den unteren Einkommensklassen sinken
und die in den höheren Einkommensklassen steigen und suggerieren einen immensen Wohlstandsanstieg. Hierbei schlägt
sich die stetige Steigerung der Nominallöhne und -gehälter
nieder. Zwar wird im Bundes-Gesundheitssurvey nach dem
Haushaltsnettoeinkommen gefragt, so daß sich die Veränderungen in den Belastungen durch Steuern und Sozialabgaben
zeigen. Die Angaben bleiben aber nominale Nettoangaben. Die
Preisentwicklung ist dabei nicht berücksichtigt; d.h. die Veränderung der Kaufkraft zwischen 1984/85 und 1998. Genauere Berechnungen der realen Netto-Einkommensentwicklung liegen nicht vor. Zudem wirkt die Preisentwicklung in
den Haushalten am stärksten, deren Einkommen überwiegend in den privaten Verbrauch geht, d.h., geringere Einkommen werden stärker belastet. Hinzu tritt, daß die Erfassung
des Haushaltsnettoeinkommens nach der Standarddemographie durch Vorkategorisierung grob ist und dadurch Adjustierungen schwierig sind.
Dadurch sind grundsätzliche Entwicklungen in der Wirtschaftsstruktur und der damit verknüpften Berufsstruktur
beobachtbar, wie etwa in Deutschland die anteilsbezogene
Abnahme der Selbständigen (von 1950 bis 1995 um 60% im
Westen), das tendenzielle Sinken der Arbeiteranteile und die
Dominanz der Angestellten und Beamten, deren Anteil sich
zwischen 1950 und 1995 verdreifacht hat. Dies war bedingt
durch einen Strukturwandel in den Berufspositionen, von denen heute 60% mit Dienstleistungen befaßt sind. Diese Prozesse laufen langfristig, und das Berufssystem weist allerdings dabei eine relative Konstanz auf bezüglich der Einschätzung des Prestiges, der zur Erlangung von Positionen
notwendigen Bildung und der Einkommenschancen.
In Deutschland (bei leichten Differenzen zwischen alten und
neuen Bundesländern) sind 44,6% der männlichen Erwerbstätigen und 24,2% der weiblichen Erwerbstätigen Arbeiter,
34,7% bzw. 63% Angestellte, 8,5% bzw. 4,4% Beamte, 11,7%
bzw. 5,8% Selbständige und 0,4% bzw. 2,6% mithelfende Angehörige [Statistisches Bundesamt 1997, S. 87; Zahlen von
1995].
Ein genaueres Bild bietet die in der empirischen Umfrageforschung verwendete, weiter differenzierte Variable der beruflichen Stellung, um die großen Schwankungsbreiten in der Art
der Tätigkeiten, dem zugeschriebenen Sozialprestige wie im
Einkommen der Berufe innerhalb dieser Kategorien abzubilden.
Die Variable „Berufliche Stellung“ wird dabei innerhalb dieser
Gruppen (Arbeiter, Selbständige einschließlich mithelfender
Familienangehöriger, Angestellte, Beamte) weiter untergliedert. D.h., in den Ausgangsvariablen zur „Beruflichen Stellung“ werden die Selbständigen nach Zahl der Mitarbeiter, die
Beamten nach Dienstebene, die Angestellten nach Qualifikation und die Arbeiter nach Ausbildungsgrad erfaßt. Dahinter
steht letztendlich eine Ordinalisierung nach Einkommen: für
Selbständige nach Umsatz (resp. Einkommen), für Beamte
nach Besoldungsstufen, für Angestellte nach Gehaltsklassen
und für Arbeiter nach Lohngruppen.
Um bestimmte berufliche Stellungen zu erreichen, sind spezifische Ausbildungsstände aufzubauen. Personen mit höheren
Bildungs- und Ausbildungsabschlüssen sind häufiger unter
Selbständigen und Beamten zu finden.
Aufgrund der relativen Stabilität dieses Systems der beruflichen Stellungen ist von keinen gravierenden Änderungen
auszugehen. Es ist allerdings zu prüfen, ob die kategorisierten
Einstufungsmöglichkeiten zwischen den Teilgruppen korrekt
abgebildet sind.
Aus der Betrachtung der oben wiedergegebenen ökonomischen Veränderungen und den empirischen Ergebnissen ergibt sich die Notwendigkeit, die Einkommensdimension zu
adjustieren. Begrenzt durch die Kategorisierung der Einkommensvariablen wurden drei Varianten berechnet.
Im ursprünglichen Index konnte fast durchgehend eine Klassenbreite von h=1000 DM vorgegeben werden. Hätte man
dieses Vorgehen angepaßt, hätte die Zahl der Kategorien erhöht werden müssen. Dadurch wäre zum einen die Einkommensvariable implizit stärker gewichtet worden, und zum anderen wären nur Steigerungseffekte abbildbar gewesen. Es
war aber zu berücksichtigen, daß Personen mit gleichbleibenden nominalem Nettoeinkommen real über weniger Kaufkraft, d.h. relational über weniger Einkommen, verfügen. Dies
implizierte, daß die erste, untere Einkommenskategorie zu
verändern war, bei gleichzeitiger Entscheidung für eine prinzipielle Klassenbreite.
Die erste Version der Einkommensgliederung für den Index
mit den Daten des Bundes-Gesundheitssurveys, die auch Eingang in den Index fand, umfaßt für die untere Einkommensklasse Einkommen bis DM 2000 und wird dann bis DM 6000
mit einer Klassenbreite von h=1000 konstruiert (die Kategorie 6 umfaßt 2000, die Kategorie 7 ist nach oben offen).
Diese Version zeigt in der Verteilung gegenüber dem Nationalen Untersuchungssurvey 1985 eine leichte Wiedergabe eines
generellen Steigerungseffektes: Die unteren Kategorien 1–3
(55,1% vs. 64,1%) nehmen tendenziell ab und die oberen Kategorien 5–7 tendenziell zu (24,6% vs. 15,4%). Die Verteilung
zeigt aber auch einen vergrößerten Anteil von Geringverdienenden und einen vergrößerten Anteil von Hochverdienenden.
Prüfung der Dimensionen des Sozialschichtindex
Die einzelnen Dimensionen des Sozialschichtindex wurden eingehend mit Hilfe der bisherigen Konstruktion überprüft, und es
wurde festgestellt, inwieweit diese noch tragfähig waren.
Schul- und Ausbildung
Die Verteilungen der Variablen zur Schulbildung und zur Ausbildung spiegeln den oben beschriebenen Umstand deutlich
S182 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
J. Winkler, H. Stolzenberg
wider. Es zeigte sich, bezogen auf die Schulbildung, ein deutliches Wachsen der mittleren Bildungsabschlüsse und ein weiteres tendenzielles Steigen der Abiturientenanteile. Zwischen
Ost und West wird deutlich, daß sich die Relationen zwischen
Hauptschulabschluß (Ost 27,9% vs. 47,1% West) und mittleren Abschlüssen (45,0% vs. 24,9%) vertauschen.
führt uns dazu, bei der bestehenden, bisherigen Ordinalisierung der Skala der beruflichen Stellung zu verbleiben, da auch
in diesem Zusammenhang von einer relativen Konstanz ausgegangen werden kann.
Bezogen auf die Ausbildung, zeigt sich eine relative Konstanz
zwischen Nationalem Untersuchungssurvey 1985, Ost/WestSurvey 1991 und Bundes-Gesundheitssurvey. Tendenziell
steigen die Anteile der Abschlüsse an Fachhochschulen und
Universitäten. Im Ost-West-Vergleich zeigt sich ein höherer
Ausbildungsgrad in den neuen Bundesländern in der betrieblichen wie der akademischen Ausbildung. Mit verursacht wird
dies durch den deutlich höheren Anteil an überhaupt nicht
Ausgebildeten im Westen (16,5% gegenüber 9,8% im Osten).
Bei der Indexbildung ist zu berücksichtigen, daß es sich bei
den Nationalen Untersuchungssurveys 1984/85 bis 1991, dem
Survey Ost 1992 und dem Bundes-Gesundheitssurvey 1998
(und auch den zu erwartenden weiteren Bundes-Gesundheitssurveys) um Querschnittsuntersuchungen handelt. D.h.,
daß zu den jeweiligen Zeitpunkten die soziale Schichtzugehörigkeit und deren Verteilung gemessen wird und nicht die individuellen Veränderungen von Personen im Längsschnitt Gegenstand sind. Dies bedeutet für unsere Problematik: Wir gehen von einem Raum des Sozialprestiges aus, der durch drei
Dimensionen (Einkommen, Bildung und berufliche Stellung)
geprägt ist. Diesen mehrdimensionalen Raum haben wir auf
den Einzeldimensionen und dem Gesamtindex skaliert (Einzeldimensionen jeweils 1–7, Gesamtindex 3–21 Skalenpunkte). Wir stellen zu den jeweiligen Zeitpunkten der Oneshot-Untersuchungen eine Relation der sozialen Schichtung
auf. Bei Vergleichen der sozialen Schichtung und des Sozialprestiges über die Zeit mit Hilfe von Querschnittsuntersuchungen werden die Relationen der sozialen Schichtung verglichen, und das setzt technisch die Beibehaltung der Skalierungen voraus.
Zur Prüfung der bisherigen Konstruktion der Bildungsvariablen im Schichtindex wurden Schulbildung und Ausbildung
wiederum gekreuzt. Es zeigten sich dabei keine nennenswerten Veränderungen oder neue Strukturen. Aus diesen Gründen wurde das bisherige Modell beibehalten.
Berufliche Stellung
Die Ordinalisierung der Indexvariablen „Berufliche Stellung“
wurde in gleicher Weise wie in der ursprünglichen Indexkonstruktion überprüft. D.h., für die einzelnen vorgegebenen 19
Kategorien der beruflichen Stellung wurde ihre durchschnittliche Einkommensklassenzugehörigkeit berechnet (zur Begründung und zur Vorgehensweise siehe Winkler 1998). Als
Datenbasis wurden dabei die Daten der „Hauptverdiener“
verwendet. Dadurch war der designbedingte hohe Anteil an
noch in der Ausbildung befindlichen Personen („Sonstige“)
berücksichtigt. Zusätzlich wurde diese Berechnung für die
„westlichen“ Hauptverdiener durchgeführt, um etwaige Unterschiede zwischen Ost und West zu kontrollieren. Als Ergebnis wurde eine nahezu gleichbleibende Ordinalisierung
wie im ursprünglichen Index reproduziert.
Lediglich die Rangfolge für „gelernte und Facharbeiter“, „Angestellte mit einfachen Tätigkeiten“ und „mithelfende Familienangehörige“ war näher zu beleuchten, da dort unter Umständen eine mögliche Modifikation zu prüfen war, weil die
Facharbeiter einen höheren Durchschnittswert erreichen als
die beiden anderen genannten Gruppen.
Bei genauer Inspektion stellt sich heraus, daß die Gruppen
„mithelfende Familienangehörige“ und „Angestellte mit einfachen Tätigkeiten“ klassische Nicht-Hauptverdiener sind (zu
86,4% bzw. 68,2%). Die Personen, die in der Gruppe der
Hauptverdiener sind, sind eher Geringverdienende, da jung,
Frau und alleinlebend.
Neben dieser Einschätzung muß zusätzlich beachtet werden,
daß nach der Berufsprestigeskala BPN nach Wolf [1998], eine
Zuordnung nach der bisherigen Ordinalisierung sinnvoll ist.
Das gleiche gilt für die entsprechenden Werte der ISEI (International Socio-Economic Index; siehe hierzu ebenfalls Wolf
1998). Auch Berger [1996] kommt bezüglich der Einkommenshierarchie beruflicher Stellungen zu einem Ergebnis auf
der Basis der Daten des SOEP (sozioökonomisches Panel), das
für die bisherige Hierarchisierung spricht (S. 174 ff.). Dies
Indexbildung
Was variabel sein kann, ist dabei die Zuordnung empirischer
Tatbestände zu den einzelnen Skalenwerten, und dies ist jeweils zu überprüfen. So sind 5000 DM Nettoeinkommen in
1984/85 nicht 5000 DM Nettoeinkommen in 1998, da sich der
„Wert“ verändert hat. Unter Umständen ist der „Wert“ des
Abiturs nicht mehr der gleiche etc.
Mit anderen Worten, wir bewahren das numerisch relationale
System sozialer Schichtung und passen das empirisch relationale System daran an, um säkulare Trends zu kontrollieren.
Die Entscheidung für ein Maß bezieht sich nicht nur auf den
Zeitvergleich, sondern auch auf die Ost-West-Problematik;
wenn in den neuen Bundesländern geringere Einkommen erzielt werden, hat das eine Bedeutung für die Einordnung in
den Raum der sozialen Schichtung.
In unseren Prüfungen haben wir eine Anpassungsnotwendigkeit für die Einkommensdimension herausgearbeitet und umgesetzt, da diese Dimension von nominalen Veränderungen
betroffen ist. Das System der Bildung und des Berufsprestiges
ist aber weitaus stabiler und zäher bezogen auf Veränderungen, so daß sich dort keine Adjustierungsnotwendigkeiten ergaben.
Ergebnisse des Sozialschichtindex
Die Verteilung auf der Basis von drei Schichten sieht wie folgt
aus (siehe Tab. 4).
Aus diesen Daten läßt sich eine moderate Steigerung der Anteile der Oberschicht und ein moderates Sinken der Unterschicht bei Konstanz der Mittelschicht erkennen. Diese Veränderungen beruhen auf dem weiter oben beschriebenen Ansteigen des Bildungsniveaus und der Einkommen. Eine
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S183
Der Sozialschichtindex im Bundes-Gesundheitssurvey
Tab. 4 Soziale Schichtzugehörigkeit Nationaler Untersuchungssurvey
1991 und Bundes-Gesundheitssurvey (25–69 Jahre) (in %)
Schichtzugehörigkeit
NUS 1985
BGS 1998
Unterschicht
Mittelschicht
Oberschicht
25,5
55,5
19,0
19,2
55,1
25,7
detaillierte Darstellung der Verteilung der sozialen Schicht in
Deutschland befindet sich in diesem Heft (H. Knopf, Sozialschicht und Gesundheit).
Anwendung des adjustierten Sozialschichtindex auf den OstWest-Survey 1991
Zur Vergleichbarkeit der sozialen Schicht zwischen dem Bundes-Gesundheitssurvey 1998 und dem Ost-West-Survey 1991
ist es unseres Erachtens angebracht, den adjustierten Sozialschichtindex im Prinzip auch auf den Ost-West-Survey anzuwenden, d.h. die Teildimension Einkommen zu adjustieren.
Eine eindeutige gleichlautende Recodierung der Einkommensvariablen im Nationalen Untersuchungssurvey 1991 und
im Survey Ost, aus denen der Ost-West-Survey zusammengesetzt ist, ist aufgrund der unterschiedlichen Kategorisierung
nicht endgültig möglich. Wichtig für die Vergleichbarkeit ist
aber vor allem, die untere Einkommensklasse an den BundesGesundheitssurvey-Index anzupassen (bis 2000 DM); im weiteren wird die Klassenbreite h=1000 verwendet bis zu der offenen Einkommensklasse (7000 DM und mehr für den Nationalen Untersuchungssurvey 1991 und 5000 DM und mehr für
den Survey Ost).
Durch diesen Umstand werden tendenziell im Nationalen Untersuchungssurvey diejenigen überschätzt, deren Einkommen
zwischen 7000 und 8000 DM liegt (7000 und mehr=4,9%),
und im Survey Ost diejenigen unterschätzt, die mehr als 6000
DM Einkommen erzielen (5000 und mehr=1,4%). Die jeweiligen Anteile bleiben aber gering, so daß dies in Kauf genommen werden kann.
Auf der Basis des adjustierten Index des Bundes-Gesundheitssurveys ergibt sich im Vergleich zwischen 1991 und 1998 folgendes Bild (siehe Tab. 5).
Soziale Schichtzugehörigkeit Ost-West-Survey (Gewicht:
Tab. 5
WEIGHTOW) und Bundes-Gesundheitssurvey (Gewicht: W9198)
(25–69 Jahre) gesamt und nach West/Ost (in %)
Schichtzugehörigkeit
Ost/West- O/W
Survey
West
Gesamt
O/W
Ost
BGS
BGS
Gesamt West
BGS
Ost
Unterschicht
Mittelschicht
Oberschicht
31,2
50,9
17,9
38,6
50,4
11,0
18,2
57,1
24,7
19,1
60,4
20,5
29,0
51,0
20,0
18,0
56,2
25,8
Erkennbar sind die Steigerungen der Anteile der Oberschicht
und das Sinken der Anteile der Unterschicht. Die stärkeren
Veränderungen finden sich für die neuen Bundesländer. Diese
sind in der Unterschicht bedingt durch gesetzliche und tarifliche Anpassungsprozesse der Einkommen. So erfolgte z.B. erst
ab 1. Januar 1992 die Ausdehnung des Rentenrechts der
Bundesrepublik Deutschland auf die neuen Bundesländer. Die
Armutsrate dort halbierte sich von 1990 (26,5%) nach 1995
(11,6%). Die relative Einkommensposition in den neuen Bundesländern, bezogen auf das Netto-Äquivalenzeinkommen im
Westen, betrug 1990 66% und 1995 bereits 86,5%. Die zahlenmäßig eklatante Differenz bei den Unterschicht-Anteilen (s.
Tab. 5) erklärt sich u.a. durch diese Entwicklungen.
Berücksichtigt werden muß, daß die Anwendung des adjustierten Schichtindex auf den Ost-West-Survey nur die Vergleichbarkeit mit dem Bundes-Gesundheitssurvey sicherstellt. Die Ergebnisse für den Ost-West-Survey sollten aber
nicht in die Zeitreihe zwischen den Nationalen Untersuchungssurvey 1985 und den Bundes-Gesundheitssurvey gestellt werden.
Literatur
Ahrens W, Bellach BM, Jöckel KH (Hrsg.) (1998). Messung soziodemographischer Merkmale in der Epidemiologie, Schriften des
Robert Koch-Institut 1/98, München
Bellach BM (Hrsg.) (1996). Die Gesundheit der Deutschen. Band 2:
Zusammenhänge zwischen Gesundheit und Lebensstil, Umwelt
und soziodemografischen Faktoren. RKI-Hefte 15/1996
Berger PA (1996). Individualisierung. Statusunsicherheit und Erfahrungsvielfalt, Opladen
Geißler, R (1996). Kein Abschied von Klasse und Schicht. In: Kölner
Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jhrg. 48, 319–
338
Jöckel KH, Babitsch B, Bellach BM, Bloomfield K, Hoffmeyer-Zlotnik
J, Winkler J, Wolf C (1998). Messung und Quantifizierung soziodemographischer Merkmale in epidemiologischen Studien.
Empfehlungen der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Epidemiologie (DAE), der Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (GMDS), der Deutschen Gesellschaft für
Sozialmedizin und Prävention (DGSMP) und der Deutschen Region der Internationalen Biometrischen Gesellschaft; in: Ahrens
W, Bellach BM, Jöckel KH (Hrsg.), 7–38
Müller W (1998). Erwartete und unerwartete Folgen der Bildungsexpansion, in: Friedrichs J, Lepsius MR, Mayer KU (Hrsg.) Die
Diagnosefähigkeit der Soziologie. 81–112. Opladen
Scheuch EK (unter Mitarbeit von Hansjürgen Daheim) (1970). Sozialprestige und soziale Schichtung. 65–103 in: Glass DV, König
R, (Hrsg.). Soziale Schichtung und soziale Moblilität. Sonderheft
5 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie.
Opladen
Statistisches Bundesamt (Hrsg.) (1997). Datenreport 1997. Zahlen
und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland. Bonn
Winkler J (1998). Die Messung des sozialen Status mit Hilfe eines
Index in den Gesundheitssurveys der DHP, in: Ahrens W, Bellach
BM, Jöckel KH (1998), 69–74
Winkler J, Stolzenberg H. Sozialer Status und Gesundheit. Soziale
Disparitäten im Gesundheitsstatuts der Bevölkerung in der
Bundesrepublik Deutschland (erscheint demnächst)
Wolf C (1997). Die Kosten des Prestige: Erhebungsaufwand und
Datenqualität unterschiedlicher Statusskalen. Manuskript Köln
Wolf C (1998). Zur Messung des sozialen Status in epidemiologischen Studien: Ein Vergleich unterschiedlicher Ansätze, in: Ahrens W, Bellach BM, Jöckel KH (1998), 75–86
Joachim Winkler
Hochschule Wismar
Postfach 1210
D-23952 Wismar
S184 WEITERE THEMEN
SF-36 im Bundes›› Der
Gesundheitssurvey – Beschreibung
U. Ellert, B.-M. Bellach
Robert Koch-Institut, Berlin
einer aktuellen Normstichprobe
Zusammenfassung: Im Bundes-Gesundheitssurvey 1998
wurde als Instrument zur Messung der subjektiv eingeschätzten gesundheitsbezogenen Lebensqualität der SF-36-Fragebogen (Short-Form-36-Questionnaire) eingesetzt. Im Ergebnis dieser Erhebung bei 6964 Probanden im Alter zwischen 18
und 80 Jahren kann hier eine neue Normstichprobe für die
Bundesrepublik Deutschland vorgestellt werden. Die Beschreibung derselben statistischen Parameter wie bei der
1994 erhobenen Normstichprobe ermöglicht einen zeitlichen
Vergleich.
Schlüsselwörter: Gesundheitsbezogene Lebensqualität –
SF-36 – Normstichprobe
German National Health Survey 1998 – Description of an
Update Random Sampling Test: The German National Health
Interview and Examination Survey 1998 included the Short
Form 36-Questionnaire as an instrument for measuring
health-related quality of life. As a result of the subjective assessment by 6964 survey participants aged between 18 and
80 years a description of a new German normative population
sample is given. Using the same statistical parameters as in the
description of the normative German sample from 1994 a time
comparison can be made.
Key words: Health-Related Quality of Life – SF 36 – Normative
Population Sample
Einleitung
Der Bundes-Gesundheitssurvey, der mit seinen vielfältigen
Erhebungen zur gesundheitlichen Situation der erwachsenen
Wohnbevölkerung der Bundesrepublik, deren gesundheitlich
relevanten Verhaltensweisen und der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen ein breites Spektrum an Informationen
zur Gesundheit abdeckt, hat sich erstmalig auch der Erfassung
der „gesundheitsbezogenen Lebensqualität“ (HRQL – Health
Related Quality of Life) gewidmet. Dies trägt der Entwicklung
der letzten Jahrzehnte Rechnung, daß entsprechend der Gesundheitsdefinition durch die Weltgesundheitsorganisation
neben den körperlichen auch die psychischen und sozialen
Komponenten von Gesundheit Berücksichtigung finden.
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S184–S190
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Im Bundes-Gesundheitssurvey 1998 wurde mit dem SF-36Fragebogen (Short-Form-36 – Questionnaire) [Ware 1992]
das inzwischen international wohl am häufigsten eingesetzte
Instrument zur Messung der subjektiven Lebensqualität eingesetzt. Die deutsche Version dieses Fragebogens wurde im
Rahmen des IQOLA-Projekts (International Quality of Life Assessment) entwickelt und getestet [Bullinger 1993, 1995,
1996, 1998].
Damit wurde zum einen die internationale Vergleichbarkeit
der durch den Survey erhaltenen Ergebnisse gewährleistet,
zum anderen ergibt sich die Möglichkeit, sechs Jahre nach Erhebung der ersten deutschen Normstichprobe für die Bundesrepublik Deutschland [Bullinger 1995] anhand einer neuen
Normstichprobe auf zeitliche Trends zu untersuchen. Die
Tatsache, daß zusätzlich zu den 36 Fragen des SF-36 weitere
Informationen zum Gesundheitsverhalten und zum Inanspruchnahmeverhalten bei Leistungen des Gesundheitswesens erhoben wurden, ermöglicht es, mehrere Ziele von
Lebensqualitätsforschung gleichzeitig zu verfolgen. So ist die
Beschreibung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität einer
gesamten Population, hier speziell der bundesdeutschen erwachsenen Bevölkerung, möglich. Dadurch erhält man Referenzdaten zur Einordnung klinischer Gruppen hinsichtlich ihrer gesundheitsbezogenen Lebensqualität. Darüber hinaus
können aber auch anhand derselben Stichprobe Untersuchungen zur Auswirkung bestimmter Erkrankungen auf die subjektive Einschätzung der Lebensqualität vorgenommen werden.
Der zusätzliche Aspekt der Zusammenhangsanalyse zwischen
Lebensqualität und Inanspruchnahme medizinischer Leistungen ermöglicht es prinzipiell, auch gesundheitsökonomische
Fragestellungen mit dem Instrument SF-36 abzubilden.
Material und Methoden
Die 36 Fragen des SF-36-Fragebogens werden von Befragten
ab einem Alter von 14 Jahren selbst beantwortet. Damit spiegelt sich die subjektive Sicht auf die eigene Gesundheit in den
verschiedenen Dimensionen wider.
Von 6964 Probanden wurde der Fragebogen des Bundes-Gesundheitssurveys so weit vollständig ausgefüllt, daß die Angaben zu SF-36 vorlagen. Das Instrument SF-36 erfaßt acht
Dimensionen von Gesundheit:
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S185
Der SF-36 im Bundes-Gesundheitssurvey
körperliche (physikalische) Funktionsfähigkeit
KÖFU
Rollenverhalten wegen körperlicher Funktionsbeeinträchtigung
KÖRO
Schmerzen
SCHM
allgemeiner Gesundheitszustand
AGES
Vitalität und körperliche Energie
VITA
soziale Funktionsfähigkeit
SOFU
Männer
Frauen
Rollenverhalten wegen seelischer Funktionsbeeinträchtigung EMRO
seelische (psychische) Funktionsfähigkeit
arith. Mittel
100
90
80
70
PSYC
60
Mit diesen Daten wurde entsprechend der Beschreibung von
Bullinger (1995) standardisiert vorgegangen. Nach Dateneingabe der vom Probanden eingekreisten Ziffern wurden die beschriebenen Umcodierungen, Umpolungen, Rekalibrierungen
vorgenommen, und fehlende Werte wurden durch personenspezifische individuelle Schätzungen ersetzt, so daß im Ergebnis die entsprechenden Skalenrohwerte vorlagen. Nach
Transformation dieser Werte auf eine Skala von 0 bis 100, die
den niedrigst- und höchstmöglichen Wert in 0 beziehungsweise 100 umwandelt, wurde analog zur Vorgehensweise bei
der ersten Normstichprobe [Bullinger 1995] eine Gewichtung
der vorliegenden Daten entsprechend der Bevölkerungsstruktur in der Bundesrepublik 1998 vorgenommen. Die Resultate
wurden getrennt für Männer und Frauen, unterteilt in 10-Jahres-Altersgruppen, dargestellt. Die strikte Einhaltung der im
SF-36-Manual vorgegebenen Auswertungsalgorithmen ermöglicht einen zeitlichen Vergleich zwischen beiden Normstichproben.
50
18–19
20–29
30–39
40–49
50–59
60–69
70–79
Abb. 1 Allgemeine Gesundheit.
arith. Mittel
100
Männer
Frauen
90
80
70
60
Ergebnisse
50
Das Durchschnittsalter der Befragten liegt bei 46,1 Jahren, der
Anteil der Frauen ist entsprechend der Bevölkerungsstruktur
mit 51,3% etwas höher als der der Männer mit 48,7%. Mit einem Partner lebten zum Zeitpunkt der Befragung 63,1% der
Probanden zusammen. Über ein Haushaltsnettoeinkommen
von bis zu 3000,– DM verfügen 50% der Befragten. Im Westen
liegt der Anteil der weniger Verdienenden mit 33% deutlich
unter dem im Osten mit 63,6%. Der am häufigsten angegebene Schulabschluß ist der Hauptschulabschluß (43,2%), gefolgt von Realschule (20,3%) und Abitur (16,1%). Voll berufstätig sind 45,5% der Befragten und knapp 40% sind derzeit nicht
berufstätig. Da der Sozialstatus entsprechend den Empfehlungen der DAE erfaßt wurde (Ahrens, Bellach, Jöckel 1998), sind
Aussagen zur Verteilung der Probanden auf die unterschiedlichen sozialen Schichten möglich. Der Oberschicht gehören
21,6%, der Mittelschicht 55,4% und der Unterschicht 22,2%
der Studienteilnehmer an. Die Verteilung der sozialen Schicht
nach Alter, Geschlecht sowie Ost und West wird im Kapitel
„Sozialschicht und Gesundheit“ [Knopf, Ellert, Melchert 1999]
beschrieben.
In den nachfolgenden Tabellen sind die Werte für die SF-36Skalen, differenziert nach Alter und Geschlecht, dargestellt. In
Abhängigkeit vom Alter der Befragten ergeben sich deutliche
Unterschiede in allen Skalen (Tab. 1).
Diese Altersabhängigkeit ist am deutlichsten bei den Skalen
ausgeprägt, die mehr den körperlichen Aspekt von Befindlichkeit berücksichtigen. Je jünger die Probanden sind, desto hö-
18–19
20–29
30–39
40–49
50–59
60–69
70–79
Abb. 2 Rollenverhalten wegen körperlicher Funktionsbeeinträchtigung.
arith. Mittel
100
Männer
Frauen
90
80
70
60
50
18–19
20–29
30–39
40–49
50–59
60–69
70–79
Abb. 3 Seelische Funktionsfähigkeit.
her ist ihre Lebensqualität in diesen Bereichen. Beispiele für
zwei sehr altersabhängige Skalen zeigen die Abb. 1 und 2.
Andere Skalen, wie die zur Messung der sozialen Funktionsfähigkeit oder der seelischen Funktionsfähigkeit (s. Abb. 3 und
4) weisen zwar geschlechtsspezifische Unterschiede auf,
scheinen aber vom Alter weniger abhängig zu sein.
S186 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
U. Ellert, B.-M. Bellach
Tab. 1 Werte der acht SF 36-Skalen nach Alter und Geschlecht
KÖFU
KÖRO
SCHM
AGES
VITA
SOFU
EMRO
PSYC
88,18
18,47
85,00
95,00
100,00
0/100
85,53
29,98
100,00
100,00
100,00
0/100
71,04
25,33
51,00
72,00
100,00
0/100
66,83
17,57
57,00
67,00
82,00
0/100
62,58
17,03
50,00
65,00
75,00
0/100
88,63
18,26
87,50
100,00
100,00
0/100
91,58
23,75
100,00
100,00
100,00
0/100
75,22
15,27
68,00
76,00
88,00
0/100
82,77
22,22
75,00
90,00
100,00
0/100
79,22
34,78
75,00
100,00
100,00
0/100
63,89
25,93
41,00
62,00
84,00
0/100
66,03
18,71
55,00
67,00
82,00
0/100
57,57
18,26
45,00
60,00
70,00
0/100
84,24
21,18
75,00
100,00
100,00
0/100
86,74
29,09
100,00
100,00
100,00
0/100
69,83
17,55
60,00
72,00
84,00
0/100
96,03
9,31
95,00
100,00
100,00
45/100
92,08
19,72
100,00
100,00
100,00
0/100
78,89
23,61
62,00
84,00
100,00
22/100
77,36
15,67
67,00
77,00
90,66
35/100
60,16
16,57
50,00
65,00
71,87
15/95
87,11
20,87
87,50
100,00
100,00
0/100
91,07
22,78
100,00
100,00
100,00
0/100
73,21
15,49
64,00
76,00
84,00
12/100
95,62
9,17
95,00
100,00
100,00
25/100
91,91
20,65
100,00
100,00
100,00
0/100
77,06
22,91
62,00
84,00
100,00
12/100
73,17
15,75
62,00
77,00
87,00
15/100
63,20
15,36
50,00
65,00
75,00
15/100
90,72
14,87
87,50
100,00
100,00
12,5/100
94,24
18,21
100,00
100,00
100,00
0/100
75,68
13,96
68,00
80,00
84,00
16/100
94,31
11,64
95,00
100,00
100,00
0/100
93,18
20,14
100,00
100,00
100,00
0/100
76,15
22,41
61,00
74,00
100,00
0/100
70,74
16,21
62,00
72,00
82,00
5/100
62,56
15,95
55,00
65,00
75,00
5/100
89,98
17,34
87,50
100,00
100,00
0/100
94,26
17,67
100,00
100,00
100,00
0/100
75,56
14,49
68,00
76,00
84,00
8/100
91,32
13,43
90,00
95,00
100,00
0/100
88,42
25,68
100,00
100,00
100,00
0/100
71,33
25,01
51,00
72,00
100,00
0/100
68,13
16,08
57,00
72,00
80,00
12/100
64,20
16,26
55,00
65,00
75,00
10/100
89,20
17,40
87,50
100,00
100,00
12,5/100
91,93
23,60
100,00
100,00
100,00
0/100
75,23
14,83
68,00
80,00
84,00
24/100
83,60
20,52
80,00
90,00
100,00
0/100
80,10
34,79
75,00
100,00
100,00
0/100
64,65
27,17
41,00
62,00
90,27
0/100
61,84
18,41
50,00
62,00
77,00
5/100
61,47
18,05
50,00
65,00
75,00
0/100
86,32
19,89
75,00
100,00
100,00
0/100
88,11
28,63
100,00
100,00
100,00
0/100
73,87
16,83
64,00
76,00
88,00
0/100
78,87
22,71
70,00
85,00
95,00
0/100
76,52
37,42
50,00
100,00
100,00
0/100
65,00
25,83
41,00
62,00
84,00
0/100
59,65
17,06
47,00
62,00
72,00
10/100
62,73
18,69
50,00
65,00
75,00
10/100
87,82
19,31
75,00
100,00
100,00
0/100
89,49
27,78
100,00
100,00
100,00
0/100
75,76
16,22
68,00
80,00
88,00
12/100
Männer
Arth. Mittel
Standardabweichung
25. Perzentil
50. Perzentil (Median)
75. Perzentil
Minimum/Maximum
Frauen
Arth. Mittel
Standardabweichung
25. Perzentil
50. Perzentil (Median)
75. Perzentil
Minimum/Maximum
Männer, 18–19 Jahre
Arth. Mittel
Standardabweichung
25. Perzentil
50. Perzentil (Median)
75. Perzentil
Minimum/Maximum
Männer, 20–29 Jahre
Arth. Mittel
Standardabweichung
25. Perzentil
50. Perzentil (Median)
75. Perzentil
Minimum/Maximum
Männer, 30–39 Jahre
Arth. Mittel
Standardabweichung
25. Perzentil
50. Perzentil (Median)
75. Perzentil
Minimum/Maximum
Männer, 40–49 Jahre
Arth. Mittel
Standardabweichung
25. Perzentil
50. Perzentil (Median)
75. Perzentil
Minimum/Maximum
Männer, 50–59 Jahre
Arth. Mittel
Standardabweichung
25. Perzentil
50. Perzentil (Median)
75. Perzentil
Minimum/Maximum
Männer, 60–69 Jahre
Arth. Mittel
Standardabweichung
25. Perzentil
50. Perzentil (Median)
75. Perzentil
Minimum/Maximum
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S187
Der SF-36 im Bundes-Gesundheitssurvey
Tab. 1 Werte der acht SF 36-Skalen nach Alter und Geschlecht
KÖFU
KÖRO
SCHM
AGES
VITA
SOFU
EMRO
PSYC
Arth. Mittel
Standardabweichung
71,07
26,86
68,44
41,74
65,16
27,48
59,28
17,49
60,44
19,44
86,11
21,56
89,01
28,48
76,10
15,49
25. Perzentil
50. Perzentil (Median)
75. Perzentil
Minimum/Maximum
55,00
80,00
95,00
0/100
25,00
100,00
100,00
0/100
41,00
62,00
100,00
0/100
50,00
61,72
72,00
0/92
45,00
60,00
75,00
10/100
75,00
100,00
100,00
12,5/100
100,00
100,00
100,00
0/100
68,00
80,00
88,00
28/100
95,29
9,00
95,00
100,00
100,00
45/100
95,03
15,00
100,00
100,00
100,00
0/100
73,01
23,23
51,26
72,00
100,00
12/100
73,21
14,26
67,00
77,00
82,00
30/100
57,07
14,97
50,00
59,56
65,00
15/95
83,89
20,21
71,24
91,45
100,00
25/100
88,15
23,67
87,59
100,00
100,00
0/100
68,02
16,27
57,31
69,70
80,00
24/96
93,26
13,22
90,00
100,00
100,00
15/100
88,87
26,26
100,00
100,00
100,00
0/100
70,07
23,95
51,00
72,00
100,00
0/100
73,04
15,92
62,00
77,00
82,00
15/100
57,77
17,03
45,00
60,00
70,00
0/100
86,65
19,65
75,00
100,00
100,00
0/100
90,36
23,50
100,00
100,00
100,00
0/100
70,86
16,09
60,00
76,00
84,00
16/100
91,90
13,12
90,00
95,00
100,00
5/100
85,65
28,48
75,00
100,00
100,00
0/100
67,92
24,55
51,00
71,26
84,00
0/100
71,77
16,85
62,00
72,00
87,00
10/100
56,96
17,72
45,00
60,00
70,00
10/100
84,93
20,21
75,00
100,00
100,00
12,5/100
87,82
26,33
100,00
100,00
100,00
0/100
70,13
16,43
60,00
72,00
84,00
8/100
87,29
17,14
80,00
95,00
100,00
5/100
82,58
31,21
75,00
100,00
100,00
0/100
63,69
24,23
42,00
62,00
84,00
0/100
66,40
18,30
55,00
67,00
82,00
0/100
57,44
18,81
45,00
60,00
70,00
0/100
84,17
20,67
75,00
87,50
100,00
12,5/100
86,93
28,30
100,00
100,00
100,00
0/100
69,47
17,73
60,00
72,00
84,00
0/100
79,13
22,45
70,00
85,00
95,00
0/100
74,05
37,65
50,00
100,00
100,00
0/100
58,47
25,84
41,00
52,00
74,00
0/100
62,67
18,88
50,58
65,00
77,00
5/100
57,67
18,77
45,00
60,00
70,00
0/100
83,00
22,08
75,00
87,50
100,00
0/100
84,84
31,88
100,00
100,00
100,00
0/100
68,78
18,52
56,00
72,00
84,00
0/100
72,82
24,93
60,00
80,00
95,00
0/100
73,54
38,28
50,00
100,00
100,00
0/100
60,65
26,68
41,00
61,00
84,00
0/100
60,26
18,90
45,00
62,00
73,34
5/100
60,27
17,50
50,00
60,00
75,00
10/100
85,37
19,90
75,00
100,00
100,00
0/100
88,38
28,59
100,00
100,00
100,00
0/100
70,72
17,13
60,00
72,00
84,00
8/100
62,59
27,46
45,00
70,00
85,00
0/100
62,31
43,34
0,00
75,00
100,00
0/100
59,36
29,38
41,00
52,00
84,00
0/100
57,52
19,08
45,00
60,00
71,52
5/100
55,17
20,27
40,00
55,00
70,00
10/100
80,64
25,02
62,50
87,50
100,00
0/100
80,35
36,79
66,67
100,00
100,00
0/100
69,34
20,07
53,81
76,00
84,00
12/100
Männer, 70–79 Jahre
Frauen, 18–19 Jahre
Arth. Mittel
Standardabweichung
25. Perzentil
50. Perzentil (Median)
75. Perzentil
Minimum/Maximum
Frauen, 20–29 Jahre
Arth. Mittel
Standardabweichung
25. Perzentil
50. Perzentil (Median)
75. Perzentil
Minimum/Maximum
Frauen, 30–39 Jahre
Arth. Mittel
Standardabweichung
25. Perzentil
50. Perzentil (Median)
75. Perzentil
Minimum/Maximum
Frauen, 40–49 Jahre
Arth. Mittel
Standardabweichung
25. Perzentil
50. Perzentil (Median)
75. Perzentil
Minimum/Maximum
Frauen, 50–59 Jahre
Arth. Mittel
Standardabweichung
25. Perzentil
50. Perzentil (Median)
75. Perzentil
Minimum/Maximum
Frauen, 60–69 Jahre
Arth. Mittel
Standardabweichung
25. Perzentil
50. Perzentil (Median)
75. Perzentil
Minimum/Maximum
Frauen, 70–79 Jahre
Arth. Mittel
Standardabweichung
25. Perzentil
50. Perzentil (Median)
75. Perzentil
Minimum/Maximum
S188 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
U. Ellert, B.-M. Bellach
Tab. 2 Körperliche Funktionsfähigkeit
West
Alter
18–19
20–29
30–39
40–49
50–59
60–69
70–79
Ost
Männer
Mittelwert
Std.abw.
Frauen
Mittelwert
Std.abw.
Männer
Mittelwert
Std.abw.
Frauen
Mittelwert
Std.abw.
95,46
95,46
94,55
91,03
83,38
78,56
71,05
10,45
9,49
10,88
13,48
20,62
23,05
26,71
96,40
93,37
92,01
87,78
79,50
72,72
62,37
7,38
12,94
12,39
16,57
21,96
25,35
27,13
97,67
96,22
93,31
92,33
84,49
80,08
71,15
4,55
7,82
14,31
13,27
20,15
21,40
27,92
92,06
92,78
91,43
86,24
77,67
73,21
63,55
12,22
14,41
15,81
19,10
24,32
23,33
28,99
Tab. 3 Körperliche Rollenfunktion
West
Alter
18–19
20–29
30–39
40–49
50–59
60–69
70–79
Ost
Männer
Mittelwert
Std.abw.
Frauen
Mittelwert
Std.abw.
Männer
Mittelwert
Std.abw.
Frauen
Mittelwert
Std.abw.
91,19
91,71
93,38
87,76
79,83
75,92
67,70
20,47
21,48
19,92
26,15
34,83
37,72
42,27
96,72
88,00
84,60
83,10
73,87
72,75
60,29
11,71
27,55
28,95
30,52
37,54
38,21
43,58
94,57
92,65
92,36
90,80
81,15
78,85
72,14
17,56
17,23
21,08
23,85
34,76
36,32
39,31
90,13
92,56
89,95
80,67
74,75
76,65
70,86
21,53
19,54
26,13
33,65
38,23
38,61
41,49
Tab. 4 Schmerzen
West
Alter
18–19
20–29
30–39
40–49
50–59
60–69
70–79
Ost
Männer
Mittelwert
Std.abw.
Frauen
Mittelwert
Std.abw.
Männer
Mittelwert
Std.abw.
Frauen
Mittelwert
Std.abw.
77,69
77,32
75,67
70,65
64,39
63,77
64,86
23,96
22,56
22,37
25,21
27,17
25,80
27,38
75,41
70,24
67,59
62,98
58,20
60,00
59,27
21,88
23,78
24,45
23,87
25,35
26,81
29,84
82,21
76,09
78,10
73,81
65,69
69,80
66,61
22,71
24,25
22,53
24,22
27,29
25,51
28,78
66,05
69,35
69,30
66,33
59,50
63,19
59,72
26,04
24,77
24,97
25,43
27,72
26,14
27,50
Tab. 5 Allgemeine Gesundheitswahrnehmung
West
Alter
18–19
20–29
30–39
40–49
50–59
60–69
70–79
Ost
Männer
Mittelwert
Std.abw.
Frauen
Mittelwert
Std.abw.
Männer
Mittelwert
Std.abw.
Frauen
Mittelwert
Std.abw.
77,40
72,96
70,72
67,80
62,25
59,97
59,13
15,49
15,75
15,96
16,27
18,24
16,72
17,40
73,83
72,97
71,75
66,50
63,30
60,66
56,91
12,87
15,84
17,13
18,72
19,09
18,69
19,08
77,23
73,97
70,80
69,37
60,23
58,35
59,98
16,48
15,80
17,23
15,35
19,06
18,37
18,14
71,41
73,31
71,84
66,03
60,27
58,70
60,09
17,86
16,33
15,73
16,73
17,91
19,72
19,00
Ein Versuch der Modellierung der Alters- und Geschlechtsabhängigkeit der Einzelskalen des SF-36 wird bei Radoschewski,
Bellach 1999 (in diesem Heft) unternommen.
Ost-West-Vergleich
Da die Stichprobenerhebung für den Bundes-Gesundheitssurvey so angelegt war, daß sie nicht nur für Deutschland insge-
samt, sondern auch getrennt für Ost- und Westdeutschland
jeweils repräsentativ ist, können Ost-West-Vergleiche in den
einzelnen Skalen des SF-36 angestellt werden. In den Tab. 2
bis 9 sind die Mittelwerte und Standardabweichungen für die
acht Einzelskalen für Ost und West, getrennt nach Alter und
Geschlecht, dargestellt. Die dabei festgestellten Unterschiede
unterscheiden sich kaum von den bei Bullinger (1995) gefundenen.
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S189
Der SF-36 im Bundes-Gesundheitssurvey
Tab. 6 Vitalität
West
Alter
18–19
20–29
30–39
40–49
50–59
60–69
70–79
Ost
Männer
Mittelwert
Std.abw.
Frauen
Mittelwert
Std.abw.
Männer
Mittelwert
Std.abw.
Frauen
Mittelwert
Std.abw.
60,66
63,23
62,16
64,13
61,13
62,33
60,52
15,97
15,62
15,79
16,59
18,05
18,64
19,36
57,55
57,35
56,22
56,99
57,43
60,28
54,87
14,49
17,07
17,92
19,02
18,82
17,18
20,19
58,76
63,07
64,17
64,47
62,81
64,33
60,05
18,39
14,41
16,55
15,09
18,05
18,90
20,05
55,70
59,52
60,05
59,10
58,59
60,22
56,40
16,52
16,83
16,56
18,01
18,60
18,78
20,65
Tab. 7 Soziale Funktionsfähigeit
West
Alter
18–19
20–29
30–39
40–49
50–59
60–69
70–79
Ost
Männer
Mittelwert
Std.abw.
Frauen
Mittelwert
Std.abw.
Männer
Mittelwert
Std.abw.
Frauen
Mittelwert
Std.abw.
85,70
90,20
89,73
88,42
85,88
87,53
86,07
22,67
15,29
17,32
18,33
19,96
19,63
21,43
84,14
85,61
84,30
83,82
82,54
85,30
79,16
20,46
20,60
20,67
21,28
22,14
19,70
25,68
91,00
92,70
91,00
92,00
88,04
89,00
86,29
14,49
13,05
17,45
13,23
19,60
18,03
22,43
83,17
91,03
87,51
85,47
84,77
85,62
86,88
19,86
14,27
18,00
18,27
21,84
20,74
21,01
Tab. 8 Emotionale Rollenfunktion
West
Alter
18–19
20–29
30–39
40–49
50–59
60–69
70–79
Ost
Männer
Mittelwert
Std.abw.
Frauen
Mittelwert
Std.abw.
Männer
Mittelwert
Std.abw.
Frauen
Mittelwert
Std.abw.
88,71
93,65
93,81
91,01
87,70
88,80
88,34
25,48
19,19
18,34
24,86
28,78
28,54
29,09
88,84
90,02
88,87
86,85
84,47
89,47
86,48
21,59
24,06
27,21
28,45
32,33
27,10
31,81
97,57
96,45
96,13
95,23
89,76
92,18
92,27
10,60
13,81
14,49
18,09
28,07
24,53
25,36
86,21
91,76
91,73
87,21
86,29
84,17
86,48
29,21
21,03
22,01
27,84
30,17
33,53
31,81
Tab. 9 Psychisches Wohlbefinden
West
Alter
18–19
20–29
30–39
40–49
50–59
60–69
70–79
Ost
Männer
Mittelwert
Std.abw.
Frauen
Mittelwert
Std.abw.
Männer
Mittelwert
Std.abw.
Frauen
Mittelwert
Std.abw.
73,05
74,95
75,25
74,76
73,73
75,32
75,78
15,13
14,28
14,59
15,10
16,75
16,30
14,97
67,89
70,35
70,00
69,06
68,70
70,24
69,00
16,40
16,14
16,67
18,13
18,66
16,85
20,29
73,66
78,42
76,84
76,90
74,40
77,52
77,70
16,76
12,40
14,09
13,73
17,21
15,86
17,97
68,38
73,00
70,71
70,98
69,10
72,61
70,78
16,22
15,77
15,40
16,13
18,04
18,16
19,18
Während sich sowohl die Männer als auch die Frauen in Ost
und West kaum unterscheiden in der Einschätzung ihres allgemeinen Gesundheitszustandes (AGES), differieren die übrigen Skalenmittelwerte für beide Geschlechter in unterschiedlicher Ausprägung. Bei den Männern haben dabei die Ostdeutschen durchweg im Mittel die besseren Werte, wobei es bei
der Vitalität und der körperlichen Energie (VITA) kaum Unterschiede gibt. Bei der Einschätzung ihrer seelischen Funktionsfähigkeit (EMRO), ihrer sozialen Funktionsfähigkeit (SOFU)
und bei den Schmerzen liegen die Unterschiede in der Größenordnung von ein bis zwei Prozentpunkten.
Die Frauen in Ost- und Westdeutschland haben jeweils
schlechtere Skalenwerte als die entsprechenden Männer, unterscheiden sich aber wiederum untereinander. Auch hier
weisen die Ostdeutschen bis auf die Skala der körperlichen
Funktionsfähigkeit (KÖFU) im Mittel durchweg die besseren
Werte auf. Insbesondere beim Rollenverhalten wegen körperlicher Funktionsbeeinträchtigung (KÖRO), bei der sozialen
S190 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
U. Ellert, B.-M. Bellach
arith. Mittel
100
Männer
Frauen
90
80
70
des allgemeinen Gesundheitszustandes (AGES)), entspricht
dieses Ergebnis den bereits bei den Surveyerhebungen 1991/
92 anhand der Zerssen-Skala festgestellten Unterschiede in
der subjektiven Reflexion gesundheitlicher Beschwerden
[Hoffmeister 1995]. Eine genauere Untersuchung der Unterschiede über die verschiedenen Altersgruppen und der Ansatz
einer tiefergehenden Interpretation erfolgt an späterer Stelle
[Radoschewski, Bellach 1999] in diesem Band.
Vergleiche mit der Normstichprobe von 1994
90
Beim Vergleich der Skalenmittelwerte der Normstichprobe
von 1994 mit der von 1998 ergibt sich die überraschende Situation, daß zwar kaum ein Unterschied über die Zeit in der
Einschätzung der allgemeinen Gesundheit (AGES) festzustellen ist, daß sich aber die Mittelwerte anderer Einzelskalen,
wie beim Schmerz (SCHM) und der Vitalität (VITA), spürbar
verschlechtert haben (Abb. 6). Bei der sozialen und seelischen
Funktionsfähigkeit (SOFU, EMRO) haben sich die mittleren
Skalenwerte insbesondere bei den Frauen verschlechtert. Eine
tiefergehende Untersuchung dieser Unterschiede mit einem
Erklärungsansatz findet sich bei Radoschewski, Bellach 1999
(in diesem Heft).
80
Literatur
60
50
18–19
20–29
30–39
40–49
50–59
60–69
70–79
Abb. 4 Soziale Funktionsfähigkeit.
100
arith. Mittel
Männer West Männer Ost Frauen West
Frauen Ost
1
70
60
50
KÖFU
KÖRO SCHM AGES
VITA
SOFU EMRO
PSYC
Abb. 5 Ost-West-Vergleich der verschiedenen Skalen des SF-36.
100
arith. Mittel
Männer 1994 Männer 1998 Frauen 1994
Frauen 1998
90
80
70
60
50
KÖFU
KÖRO SCHM AGES
VITA
SOFU EMRO
PSYC
Abb. 6 Zeitlicher Vergleich.
Funktionsfähigkeit (SOFU) sowie bei Vitalität und körperlicher Energie (VITA) schätzen sich die ostdeutschen Frauen
besser ein als ihre westdeutschen Geschlechtsgenossinnen.
Da es hinsichtlich tatsächlich vorhandener Morbidität keine
Grundlage gibt für die hier festgestellten Unterschiede (dies
wird ja auch adäquat reflektiert in der gleichen Einschätzung
Ahrens W, Bellach BM, Jöckel KH (Hrsg.) (1998). Messung soziodemographischer Merkmale in der Epidemiologie. RKISchriften 1/1998. München: MMV Medizin Verlag
2 Bellach BM, Knopf H, Thefeld W (1998). Der Bundes-Gesundheitssurvey 1997/1998. Gesundheitswesen 60: S59–S68
3 Bullinger M (1993). German Translation and Psychometric Testing of the SF-36 Health Survey: Preliminary Results from the
IQOLA Project. Soc Sci Med 41: 1359–1366
4 Bullinger M (1996). Erfassung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität mit dem SF-36 Health Survey. Die Rehabilitation
35: 17–27
5 Bullinger M, Kirchberger I (1995). Der SF-36-Fragebogen zum
Gesundheitszustand: Handbuch für die deutschsprachige Fragebogenversion. Medical Outcome Trust
6 Bullinger M, Kirchberger I (1998). Der SF-36-Fragebogen zum
Gesundheitszustand: Handbuch für die deutschsprachige Fragebogenversion. Hogrefe-Verlag für Psychologie
7 Hoffmeister H, Todzy-Wolff I, Wiesner G (1995). Körperliche
und Allgemeinbeschwerden (nach v. Zerssen). Die Gesundheit
der Deutschen, RKI-Hefte 7/1995, Robert Koch-Institut Berlin,
111–116
8 Knopf H, Ellert U, Melchert HU (1999). Sozialschicht und Gesundheit. Gesundheitswesen 61; Sonderheft 2: S168–176
9 Radoschewski M, Bellach BM (1999). Der SF-36 – Ein Instrument
zur Messung der Lebensqualität von Populationen: Möglichkeiten und Grenzen. Gesundheitswesen 61
10 Thefeld W, Stolzenberg H, Bellsach BM (1999). Bundes-Gesundheitssurvey: Response, Zusammensetzung der Teilnehmer, NonResponder-Analyse. Gesundheitswesen 61; Sonderheft 2: S57–
S61
11 Ware JE, Sherbourne CD (1992). The MOS 36-item Short-Form
Health Survey (SF-36): I. Conceptual framework and item selection. Medical Care 30: 473–83
Ute Ellert
Robert Koch-Institut
Postfach 650280
D-13302 Berlin
S191
WEITERE THEMEN
SF-36 im Bundes-Gesundheits›› Der
Survey – Möglichkeiten und
M. Radoschewski, B.-M. Bellach
Robert Koch-Institut, Berlin
Anforderungen der Nutzung auf der
Bevölkerungsebene
Zusammenfassung: Der SF-36-Fragebogen ist als Instrument
zur Messung von Therapieerfolgen mittels subjektiver Einschätzung gesundheitsbezogener Lebensqualität durch Patientengruppen konzipiert und international anerkannt. Inwieweit sich dieses Instrument auch eignet, um den subjektiven Gesundheitszustand auf Bevökerungsebene zu messen
sowie Veränderungen in periodischen Querschnittserhebungen abzubilden, ist noch umstritten. Der Einsatz des SF-36 im
Bundes-Gesundheitssurvey 1998 bei gleichzeitiger Erfassung
anderer gesundheitlich relevanter Parameter ermöglicht eine
tiefergehende Untersuchung der Eigenschaften dieses Instruments. Es wird ein Versuch der Modellierung des Zusammenhangs zwischen Alter, Sozialschichtzugehörigkeit, Morbidität
und Inanspruchnahmeverhalten unternommen.
Schlüsselwörter: SF-36 – Lebensqualität – Bundes-Gesundheitssurvey – Sozialschicht – GLIM
The SF-36 Questionnaire in the German National Health
Interview and Examination Survey – Chances and Demands to
be Made on the Usefullness for the Population: The SF-36
Questionnaire is an internationally accepted instrument for
measuring therapeutic success by subjective assessment of
health-related quality of life, done by patient groups. It remains to be seen to what extent this instrument is suitable for
measuring the subjective health status of population groups
or changes thereof. The answers to the SF-36 Questionnaire in
the German National Health Examination and Interview Survey together with information about other health parameters
allow deeper evaluation of the features of this instrument. A
new approach to establishing a model revesling the association between age, social status, morbidity and the SF-36
Scales is discussed.
Key words: SF-36 Questionnaire – Life Quality – German National Health Interview and Examination Survey – Social Status
– GLIM.
Einleitung
Der SF-36-Questionnaire ist inzwischen zum sicher weitverbreitetsten und meisterprobten, auf jeweilige nationale
Bedingungen angepaßten und nicht zuletzt auch deshalb inGesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S191–S199
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
ternational vergleichbare Ergebnisse liefernden, generischen
Instrument zur Messung des subjektiven Gesundheitszustandes bzw. der gesundheitsbezogenen Lebensqualität (HRQOL –
Health Related Quality of Life) geworden [Stadnyk et al. 1998;
McDowell et al. 1996]. Er wird hinsichtlich seiner psychometrischen Qualität und Ökonomie als das international
führende Meßinstrument bezeichnet [Bullinger 1996]. Die
Sensitivität der SF-36-Dimensionen für Veränderungen in
Patientenpopulationen ist nachgewiesen [Bullinger 1996;
Bullinger et al. 1998]; für bestimmte Erkrankungen wird ihm
die höchste Veränderungssensitivität unter vergleichbaren
generischen Maßen bescheinigt [Beaton et al. 1997]. Die Wirkung chronischer Erkrankungen auf die Indizes des SF-36 ist
insbesondere in der älteren Bevölkerung deutlich [Kempen et
al. 1997; Kempen et al. 1998; Lamb 1997].
Die Messung und Beurteilung von Veränderungen auf Bevölkerungsebene in periodischen Querschnittsuntersuchungen
mit Hilfe des SF-36 ist jedoch, über das mehr deskriptive „Assessment“ hinaus, wenig untersucht. In Längsschnittstudien
auf Bevölkerungsebene ist seine Sensitivität für gesundheitliche Veränderungen offenbar gegeben [Hemingway et al.
1997]. Auch in diesen Untersuchungen fungierte die mit dem
SF-36 ermittelte gesundheitsbezogene Lebensqualität jedoch
immer als Maß, Parameter bzw. als Resultante von „Medical
Outcome“.
Manche Autoren halten die gebräuchlichsten HRQOL-Maße
generell für ein gesundheitliches Monitoring auf Bevölkerungsebene für weniger geeignet [Ebrahim 1995], für andere
resultieren ernstzunehmende Interpretationsprobleme u.a.
aus der Konstruktion der Maße selbst, da subjektive Werte
und Einstellungen eine analytisch schwer abzugrenzende eigene Dynamik aufweisen [Allison et al. 1997].
Material und Methoden
Der SF-36-Fragebogen enthält acht Konzepte/Dimensionen/
Skalen sowie die Bewertung der Gesundheitstendenz in insgesamt 36 Items (siehe Tab. 1). Er mißt dabei, wie alle HRQOLInstrumente, in Erweiterung des klassischen medizinischen
Krankheitskonzeptes vor allem die Folgen von Gesundheit
oder Krankheit, operationalisiert in ihren Auswirkungen, auf
die subjektiv erlebte physische und psychische Funktionsfähigkeit auf individueller und sozialer Ebene.
Für die Auswertung werden, nach einheitlicher Polarisierung
der Items durch Umkodierung, additiv die rohen Punktsummen der Dimensionen ermittelt und in Skalenspannen von 0
Beitrag: 371.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S192 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
M. Radoschewski, B.-M. Bellach
Tab. 1 Aufbau und Konzepte des SF-36 (nach: Bullinger/Kirchberger(1997)
Abk.
Konzept/Dimension
Items
Skala
Dimensionsstufen
spanne
KÖFU
KÖRO
SCHM
AGES
VITA
SOFU
EMRO
PSYC
TEND
Körperliche Funktionsfähigkeit (Mobilität/ADL)
Körperliche Rollenfunktion (Allg. Indik. reduz. Leist.fähigk.)
Körperliche Schmerzen (Schmerzint./funktion. Wirkungen)
Allgemeine Gesundheit (Gesundheitsperzeption/Vergleich)
Vitalität (Polarität: Elan – Müde)
Soziale Funktionsfähigkeit (Wirk. auf Einschränk. sozial. Kontakte)
Emotionale Rollenfunktion (Allg. Indik. reduz. Leist.fähigk.)
Psychisches Wohlbefinden (Emotion.Grundstimmungen)
Veränderung der Gesundheit (Tendenz – Vorjahr/heute)
10
4
2
5
4
2
3
5
1
1 bis 3
1 bis 2
1 bis 6; 1 bis 5
1 bis 5
1 bis 6
1 bis 5
1 bis 2
1 bis 6
1 bis 5
21
5
11
21
21
9
4
26
5
36
Gesamt
bis 100 transformiert, um das unterschiedliche Staging der
Dimensionen in einem einheitlich dimensionierten, leichter
vergleichbaren Skalen-Profil auszudrücken (die Dimensionsskalen sind, wie die Skalen der zugrundeliegenden Items
selbst, Ordinalskalen mit diskreten Meßwerten). Ausführliche
Darstellungen zur Methodik finden sich im Handbuch zur
deutschen Version des SF-36 [Bullinger et al. 1995; Bullinger
et al. 1998], nach dessen Vorgaben auch die im weiteren vorgestellten Ergebnisse berechnet wurden. Die im folgenden
verwendeten Daten sind Ergebnis der SF-36-Erhebung bei
6964 Probanden des Bundes-Gesundheitssurveys 1998 (s.
auch [Ellert et al. 1999]). Es wurden dabei die auf die Bevölkerungsstruktur der Bundesrepublik 1998 gewichteten Werte
(Thefeld, Stolzenberg, Bellach 1999, in diesem Heft) verwendet, sofern sie nicht explizit als ungewichtet ausgewiesen
wurden.
Mit der über Bevölkerungsstichproben erfolgten Normierung
des SF-36 in Deutschland 1994 und der Erhebung im Rahmen
des Bundes-Gesundheitssurveys 1998 stehen nunmehr zwei
Datenkörper zur Verfügung, die neben deskriptiv-vergleichenden Analysen der mit diesem Instrument gemessenen
gesundheitsbezogenen Lebensqualität in der deutschen Bevölkerung auch eingehendere Überprüfungen seiner Meßeigenschaften auf der Bevölkerungsebene ermöglichen. Zudem
sind Erkenntnisse zur epidemiologisch-analytischen Wertigkeit des SF-36-Instruments für die Messung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität bzw. der subjektiven Gesundheit
selbst, ihrer so gemessenen Verteilung und Veränderung in
der Bevölkerung sowie deren Determinanten oder auch zu
100,00
Arith.Mittel in % (gew.)
90,00
Frauen
Männer
88,19
91,58
88,63
82,77
80,00
85,54
86,74
84,24
79,22
75,21
71,03
70,00
66,83
63,86
66,04
69,85
62,57
60,00
57,60
50,00
KÖFU
KÖRO
SCHM
AGES
VITA
SOFU
EMRO
PSYC
Skala
Abb. 1 SF-36-Profile der deutschen Bevölkerung (18 bis < 80 Jahre)
1998 – nach Geschlecht.
10
4
2
5
4
2
3
5
1
bis
bis
bis
bis
bis
bis
bis
bis
bis
30
8
12
25
24
10
6
30
5
möglichen prädiktiven Eigenschaften zu erwarten. Hier soll
dazu nur ein erster Schritt erfolgen, der die Meßeigenschaften
und die Differenzierungsfähigkeit des Instruments auf der Bevölkerungsebene betrifft. Die vorgestellten Ergebnisse sind
unter diesem Aspekt ausgewählte Beispiele.
Ergebnisse
Die Verteilungen der SF-36-Skalen auf der Bevölkerungsebene
Der SF-36-Fragebogen ist primär ein Profilmaß, welches ein
über die acht Skalen (Abb. 1) abgebildetes HRQOL-Profil erzeugt (wenngleich inzwischen auch die Möglichkeit der Reduktion auf zwei aggregierte Summenskalen ausgewiesen ist
[Bullinger et al. 1998]). Wird dieses Profil in einer Patientenoder Untersuchungspopulation vor und nach dem Einsatz von
therapeutischen, rehabilitativen oder anderen kontrolliert intervenierenden Maßnahmen ermittelt, so genügt der prüfende Profilvergleich, um deren Wirksamkeit einschätzen zu
können. Eine weiter differenzierende Analyse der jeweiligen
Verteilungen in den Einzelskalen oder Profilen erübrigt sich
zumeist. Wird der SF-36 jedoch als Maß der subjektiven Gesundheit und der HRQOL auf Bevölkerungsebene verwendet,
so interessiert natürlich, wie diese Variablen in der Bevölkerung verteilt sind und wovon diese Verteilungen bestimmt
werden. Das Maß muß demnach auch wesentlich erweiterten
analytischen Anforderungen und Funktionen genügen.
Männer und Frauen zeigen 1998 (charakterisiert durch die
Mittelwerte der Skalenscores bei Optimalwerten von 100%)
über alle Altersgruppen hinweg erwartungsgemäß deutliche
Unterschiede im Skalenprofil, sind sich in der globalen Bewertung ihrer Gesundheit (Skala-AGES) allerdings recht ähnlich (Abb. 1 und 2). Die Profile weisen aber zugleich auch auf
offensichtlich erhebliche Verteilungsunterschiede der Einzelskalen in der erwachsenen Bevölkerung hin. In der emotionalen Rollenfunktion und sozialen Funktionsfähigkeit sind
nur geringe Beeinträchtigungen durch den Gesundheitszustand zu verzeichen, die Vitalität wird hingegen als am deutlichsten eingeschränkt erlebt. Im Altersgang verstärken sich
die Einschränkungen insbesondere in den Skalen körperliche
Funktionsfähigkeit, körperliche Rollenfunktion, körperliche
Schmerzen und allgemeine Gesundheit, die Vitalität bleibt auf
niedrigerem Level, während auch im höheren Alter soziale
Funktionsfähigkeit, emotionale Rollenfunktion und psychische Befindlichkeit deutlich geringer beinträchtigt sind. Die
Skalen unterscheiden sich offensichtlich in ihrer „Sensitivität“
Beitrag: 371.fm
Ausdruck vom 25.5.00
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S193
Der SF-36 im Bundes-Gesundheits-Survey
100,00
100,0
F 20 - <30
F 70 - <80
M 20 - <30
M 70 - <80
KÖRO
EMRO
SOFU
80,0
%–Anteil der Altersgruppe
Arith.Mittel in % (gew.)
90,00
KÖFU
80,00
70,00
60,0
40,0
60,00
20,0
50,00
KÖFU
KÖRO
SCHM
AGES
VITA
SOFU
EMRO
PSYC
0,0
20 –<25 25 –<30 30 –<35 35 –<40 40 –<45 45 –<50 50 –<55 55 –<60 60 –<65 65 –<70 70 –<75 75 –<80
Skala
Altersgruppe
Abb. 2 SF-36 Profile ausgewählter Altersgruppen 1998.
Abb. 4 Deckeneffekte ausgewählter SF-36-Skalen – Frauen nach Alter
1998.
im Altersgang, bzw. die jeweils gemessenen Dimensionen
sind in unterschiedlichen Ausmaß altersabhängig.
Die für Indikatoren des Gesundheitszustandes typische Altersabhängigkeit und Geschlechtsspezifik weisen auch die Dimensionen des SF-36 auf. Dabei zeigen sich jedoch wesentliche Unterschiede. So geht im Altersgang auch in den SF-36Skalen mit großen Deckeneffekten deren Anteil zurück (Abb.
4), allerdings ist dieser Rückgang nur in der Dimension KÖFU
gravierend, bei KÖRO noch deutlich, aber moderater, bei SOFU
und EMRO tendenziell vorhanden, aber gering ausgeprägt. Ein
weitgehend analoges Bild zeigt sich bei den Männern, wenngleich die Skalenwerte jeweils um einige Prozentpunkte über
denen der Frauen liegen.
Die Skalen des SF-36 weisen sogenannte Boden- und Deckeneffekte auf, die sich aus der Operationalisierung der zugrundeliegenden Items und den dabei gewählten Begrenzungen des Meßbereiches ergeben. Bei einer Spanne von 0
Prozentpunkten (schlechtester möglicher Wert =maximale
Beeinträchtigung durch Gesundheitszustand in dieser
Dimension=Boden) bis zu 100 Prozentpunkten (bestmöglicher Wert=keine Beeinträchtigung durch Gesundheitszustand in dieser Dimension=Decke) in jeder Skala befindet
sich jeweils ein mehr oder minder großer Teil der Respondenten an den Endpunkten der Skalen. Wie bereits aufgrund der
Mittelwert-Profile anzunehmen ist, sind dabei enorme Unterschiede zwischen den SF-36-Dimensionen zu verzeichnen,
die beispielhaft für die Frauenpopulation des BundesGesundheitssurveys aufgezeigt sind (Abb. 3). In drei Skalen
ergeben sich Deckeneffekte von 50% und mehr (EMRO=80%;
KÖRO=67%; SOFU=50%), die bei den Männern noch deutlich
höher ausfallen (EMRO=87%; KÖRO=75%; SOFU=60%). Auch
hinsichtlich der körperlichen Funktionsfähigkeit ist es immerhin noch nahezu ein Drittel der Frauen (Männer:
KÖFU=40%), das sich in dieser SF-36-Dimension nicht beeinträchtigt fühlt, beim Körperschmerz ist ca. ein Fünftel nicht
betroffen (Männer: SCHM=31,2%). Lediglich drei Skalen
(AGES; VITA; PSYC) weisen nur minimale Boden- und Dekkeneffekte auf, differenzieren die Untersuchungspopulation
also nahezu vollständig.
Boden(0 Pkt.)
Skala
Decke(100 Pkt.)
68,4
KÖFU
KÖRO
30,8
21,4
SCHM
66,7
77,6
21,7
99,0
VITA
99,1
0,9
Skala
AGES
0,7
49,5
SOFU
50,0
79,3
13,4
EMRO
1,5
98,4
PSYC
0,0
25,0
50,0
75,0
In den Skalen mit großen Deckeneffekten dominieren diese
zwangsläufig auch die Gesamtverteilungen der von den Respondenten jeweils erreichten Prozentpunkte in den gegebenen Skalenspannen und führen zu z.T. extremen Rechtssteilverteilungen in diesen Skalen. Dies betrifft nicht nur die Gesamtverteilungen über alle Altersgruppen hinweg, sondern
auch die der Altersgruppen bei Frauen wie Männern. Bei den
deutlich altersabhängigen Dimensionen KÖFU und KÖRO verschieben sich die Verteilungen (und dementsprechend auch
ihre Parameter) zwar mit dem Alter zunehmend nach links in
niedrigere Punktwertbereiche, bleiben aber Schiefverteilungen, wie das Beispiel der Häufigkeitsverteilung der erreichten
%-Punkte in der KÖFU-Dimension für Frauen zeigt (Abb. 5). In
allen Altersgruppen liegt der überwiegende Teil der Respondenten in der oberen Hälfte der Dimensionsskala. 58% der 20bis <30jährigen Frauen weisen einen Skalenwert von 100%
auf, aber auch in der Altergruppe der 70- bis unter 80jährigen
erreicht jede zweite Frau noch 65 und mehr %-Punkte in der
körperlichen Funktionsfähigkeit.
In den Dimensionen AGES, VITA und PSYC sind die Skalen
sensitiver operationalisiert und differenzieren nahezu die
gesamte Untersuchungspopulation innerhalb des Skalenbereiches. Auch in diesen Skalen liegen asymmetrische,
rechtssteile Häufigkeitsverteilungen der erreichten Punktwerte vor, die sich altersabhängig hin zu niedrigeren Punktwerten verschieben. Die Dimension allgemeine Gesundheit
steht hier exemplarisch für diese Verteilungsmuster. Deutlich
zeigt sich die altersabhängige Linksverschiebung der Verteilungen sowohl bei Frauen als auch bei Männern (Abb. 6).
100,0
Anteil der Frauen
Abb. 3 Boden- und Deckeneffekte der SF-36-Skalen – Frauen 1998.
Beitrag: 371.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S194 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
M. Radoschewski, B.-M. Bellach
spiegelt den auf Grund der Angaben zur subjektiven Morbidität und zum Gesundheitsverhalten ebenfalls im Rahmen der
Surveyerhebungen festgestellten schlechteren Gesundheitszustand von Probanden der unteren sozialen Schicht wider
[Knopf et al. 1999].
100,0
90,0
20 –<30
30 –<40
40 –<50
50 –<60
60 –<70
70 –<80
80,0
Kumulierte Häufigkeit in %
70,0
60,0
Ein Modellierungsansatz für die Alters-, Geschlechts- und
Sozialschichtabhängigkeit der Skalen des SF-36
50,0
40,0
30,0
20,0
10,0
0,0
0
5
10
15
20
25
30
35
40
45
50
55
60
65
70
75
80
85
90
95 100
Skalenwert der Dimension KÖFU in %
Abb. 5 Kumulierte Skalenwertverteilungen der Dimension KÖFU –
Frauen 1998.
30,0
F 20 –<30
Der durchgängig über alle Skalen des SF-36 festgestellte monotone Zusammenhang zwischen Summenscores und Alter
sowie Sozialschichtzugehörigkeit bei beiden Geschlechtern
legt es nahe, diesen über den Ansatz verallgemeinerter linearer Modelle [Mc Cullagh, Nelder 1991] zu modellieren. Dies
eröffnet zum einen die Möglichkeit, die unterschiedlichen
Einflußstärken der genannten Variablen auf die verschiedenen Skalen zu quantifizieren, zum anderen könnten die Skalen um den durch Alter und Schichtzugehörigkeit bereits erklärten Anteil bereinigt werden, um die Differenzierung der
verbleibenden, sozusagen „bereinigten“ Anteile weiter untersuchen zu können.
F 70 –<80
25,0
M 20 –<30
Die Ergebnisse der mit der SAS-Prozedur (General Linear Models Procedure) durchgeführten Modellierungen sind in den
nachfolgenden Tabellen dargestellt.
M 70 –<80
Häufigkeit in %
20,0
15,0
10,0
5,0
0,0
0–10
11–20
21–30
31–40
41–50
51–60
61–70
71–80
81–90
91–100
Skalenwert der Dimension AGES in %
Abb. 6 Skalenwertverteilung der Dimension AGES für ausgewählte Altersgruppen 1998.
Anders als bei der Normstichprobe von 1994 wurde bei der
Erhebung 1998 der Sozialstatus der Probanden entsprechend
der Empfehlungen der DAE ([Winkler, Stolzenberg 1999], in
diesem Heft) erfaßt. Dies ermöglicht es nunmehr, die verschiedenen Dimensionen des SF-36 in Abhängigkeit von der
Schichtzugehörigkeit zu untersuchen. Festzustellen ist, daß
alle SF-36-Dimensionen unabhängig von Alter und Geschlecht eine Schichtabhängigkeit aufweisen. Während Oberund Mittelschicht nur wenig in den Mittelwert-Profilen differieren, weist die Unterschicht in allen Altersgruppen und bei
beiden Geschlechtern geringere und zumeist deutlich niedrigere Summenscores in den Dimensionen auf (Tab. 2). Dies
SF36 Dimension
KÖFU
KÖRO
SCHM
AGES
VITA
SOFU
EMRO
PSYC
Frauen
Es wird bei gleichzeitiger Berücksichtigung von Alter, Geschlecht, Sozialschicht und regionaler Zugehörigkeit in einem
multivariaten Modell deutlich, daß bei allen Skalen des SF-36
ein signifikanter Einfluß des Alters und der Sozialschichtzugehörigkeit vorhanden ist. Dabei gibt es, wie schon im deskriptiven Ansatz vermerkt, Skalen, die kaum altersabhängig sind,
wie beispielsweise das Psychische Wohlbefinden (PSYC) und
Körperliche Schmerzen (SCHM). Ein starker Altersgang ist
über alle Schichten hinweg bei der Körperlichen Funktionsfähigkeit (KÖFU), bei der Körperlichen Rollenfunktion (KÖRO),
bei der Sozialen Funktionsfähigkeit (SOFU) sowie bei der Allgemeinen Einschätzung der Gesundheit festzustellen. Dies
sind identisch diejenigen Skalen, für die auch die soziale Differenzierung am stärksten ausgeprägt ist. Bei den Männern
sind bei allen Skalen signifikante Unterschiede in den drei Sozialschichten zu finden, bei den Frauen findet man lediglich
bei der Körperlichen Rollenfunktion (KÖRO) und bei der Sozialen Funktionsfähigkeit (SOFU) keine sozialen Unterschiede
mehr.
Nach Adjustierung für Alter, Geschlecht und Schichtzugehörigkeit erscheinen auch die Ost-West-Unterschiede in einem
genaueren Licht: Signifikant bessere Skalenwerte haben die
Ostdeutschen bei der subjektiven Bewertung des körperliTab. 2 SF36-Profile nach Geschlecht und
sozialer Schicht
Männer
Schicht
Unter
Mittel
Ober
Schicht
Unter
Mittel
Ober
76,26
76,12
61,64
61,54
55,84
82,29
84,43
67,18
84,50
79,99
64,65
66,90
57,67
84,31
86,88
70,14
87,51
81,68
64,73
70,06
59,90
86,70
90,05
72,60
85,41
83,05
70,01
64,35
60,98
88,09
89,89
73,69
87,53
84,53
69,43
66,17
61,91
87,71
91,06
75,02
91,65
89,59
75,24
70,12
65,14
91,04
93,91
76,84
Beitrag: 371.fm
Ausdruck vom 25.5.00
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S195
Der SF-36 im Bundes-Gesundheits-Survey
Tab. 3 Verallgemeinerte lineare Modelle (GLIM) für den Zusammenhang zwischen den Einzelskalen des SF-36 und Alter, sozialer Schicht sowie regionaler Zugehörigkeit der Probanden: Schätzung der Koeffizienten und erklärte Varianz
KÖFU
KÖRO
SCHM
AGES
VITA
SOFU
EMRO
PSYC
Männer
Schicht
Unterschicht
Mittelschicht
Oberschicht
Alter (in Jahren)
–8,53*
–6,09*
–0
–0,49*
–8,87*
–7,06*
–0
–0,49*
–3,43*
–3,75*
–0
–0,09*
–7,43*
–5,36*
–0
–0,36*
–3,21*
–1,88*
–0
–0
–6,88*
–7,23*
–0
–0,34
–4,74*
–3,50*
–0
–0,14*
–4,33*
–3,95*
–0
–0,03*
Region
West
Ost
R2
–0
–0,96
–0,19
–0
–1,53
–0,07
–0
–2,94*
–0,02
–0
–0,16*
–0,11
–0
–2,02*
–0,01
–0
–2,47*
–0,06
–0
–3,34*
–0,02
–0
–1,14
–0,01
Frauen
Schicht
Unterschicht
Mittelschicht
Oberschicht
Alter (in Jahren)
–6,87*
–2,41*
–0
–0,58*
–2,16
–1,37
–0
–0,50*
–4,17*
–2,49*
–0
–0,06*
–6,20*
–2,86*
–0
–0,31*
–5,58*
–2,54*
–0
–0,01
–1,41
0,08
–0
–0,24*
–4,95*
–3,16*
–0
–0,11*
–4,31*
–2,34*
–0
–0,02
Region
West
Ost
R2
–0
–0,31
–0,22
–0
–3,435*
–0,06
–0
–3,20*
–0,01
–0
–0,23
–0,10
–0
–1,88*
–0,01
–0
–1,36
–0,03
–0
–1,80
–0,01
–0
–2,02*
–0,01
* signifikant mit p<0,05
chen Schmerzes (SCHM) und der Vitalität (VITA). Die ostdeutschen Männer haben darüber hinaus signifikant bessere Skalenwerte als ihre Geschlechtsgenossen in Westdeutschland
bei der sozialen Funktionsfähigkeit (SOFU) und der emotionalen Rollenfunktion (EMRO). Die ostdeutschen Frauen hingegen weisen signifikant günstigere Werte bei der Schmerzskala (SCHM) und beim psychischen Wohlbefinden (PSYC) auf
als die westdeutschen Frauen. Es gibt keine Skala, für die die
Ostdeutschen gegenüber den Westdeutschen eine signifikant
schlechtere Befindlichkeit aufweisen.
Schaut man sich den durch die Einflußfaktoren erklärten Varianzanteil an (R2), so ist dieser bis auf die allgemeine Gesundheit (AGES) und die körperliche Funktionsfähigkeit
(KÖFU) relativ gering. Dies wiederum läßt genügend Freiraum
für die Differenzierung der Skalen des SF-36 durch verschiedene Krankheiten oder andere Gesundheitsparameter.
SF-36-Profile und „Außenkriterien“
Um auch einen „quantitativen“ Eindruck von der Sensitivität
des SF-36-Instrumentes hinsichtlich wesentlicher gesundheitsrelevanter Indikatoren zu erlangen, wurden die Dimensionsprofile nach zwei Kriteriengruppen differenziert.
Einerseits wurden die im „Erhebungsbogen für die ärztliche
Befragung zu Krankheiten“ des Bundes-Gesundheitssurveys
enthaltenen Angaben zu Krankheiten so aggregiert, daß folgende Gruppen entstanden:
– Respondenten, die zumindest eine der erfragten Krankheiten in den letzten vier Wochen hatten
– solche, die keine in den letzten vier Wochen, aber zumindest eine in den letzten zwölf Monaten hatten
– diejenigen, die keine in den letzten zwölf Monaten hatten.
Andererseits wurde der Zeitraum der letzten Arztinanspruchnahme als Indikatorvariable ausgewählt. In beiden Fällen ist
zu erwarten, daß deutliche Unterschiede in den SF-36-Profilen bestehen, zumal der SF-36-Fragebogen mit dem „Zeitfenster vier Wochen“ zum Einsatz kam. Die Abhängigkeit von
speziellen prävalenten Krankheiten ist schon an den Daten
der Normstichprobe von 1994 nachgewiesen worden [Bullinger et al. 1998].
Das Vorliegen einer Krankheit in den letzten vier Wochen hat
sowohl bei Männern als auch bei Frauen die stärksten Auswirkungen auf die mit dem SF-36 gemessene gesundheitsbezogene Lebensqualität. Vor allem die physisch ausgerichteten
Dimensionen weisen Unterschiede von mehr als 10%-Punkten gegenüber den Gruppen mit einer Krankheit in den letzten zwölf Monaten bzw. keiner Krankheit im letzten Jahr auf.
Deren Differenzen zueinander wiederum sind gegenüber jenen mit erhebungsnaher Erkrankung eher geringfügig. In nahezu gleicher Weise und quantitativer Ausprägung sind verständlicherweise die Profile nach dem Zeitraum des letzten
Arztbesuches unterschieden, da ein weitgehender Zusammenhang zwischen Zeitraum der letzten Krankheit und Zeitraum des letzten Arztbesuches vorausgesetzt werden kann.
Die auf deskriptiver Ebene festgestellten Zusammenhänge legen es wiederum nahe, ein multivariates verallgemeinertes,
lineares Modell anzusetzen, um den Einfluß der hier sehr allgemein erfassten Morbidität quantifizieren zu können. Die Ergebnisse sind in Tab. 6 zusammengefaßt:
Obwohl die Gruppierung nach einer beliebigen Krankheit in
bestimmten Zeitintervallen sehr grob ist, zeigen alle Skalen
des SF-36 eine sehr starke (und durchgängig signifikante) Differenzierung zwischen Probanden ohne eine Erkrankung im
letzten Jahr und Probanden mit einer Erkrankung in den letzten vier Wochen. Hier erweist der SF-36 seine Eignung als In-
Beitrag: 371.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S196 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
M. Radoschewski, B.-M. Bellach
Tab. 4 SF-36 – Profile nach prävalenten Krankheiten 1998
KÖFU
KÖRO
SCHM
AGES
VITA
SOFU
EMRO
PSYC
Frauen, prävalente Krankheiten
Männer, prävalente Krankheiten
mindest. 1 Krh. in
letzt. 4 Wochen
letzt. 12 Monate
keine Krh.
letzt. 12 Monate
mindest. 1 Krh. in
letzt. 4 Wochen
letzt. 12 Monate
keine Krh.
letzt. 12 Monate
78,20
71,77
58,84
62,34
55,55
82,08
84,02
68,09
92,07
88,50
71,59
72,12
60,98
88,37
91,01
72,72
92,79
87,12
76,01
74,77
62,44
89,11
93,29
74,01
82,95
78,24
63,61
61,83
59,82
85,94
88,49
73,19
95,33
94,36
82,14
73,88
66,61
92,47
96,12
78,01
strument zur Messung der Auswirkung von Krankheit auf bestimmte Komponenten der Lebensqualität. Die gleichzeitige
Kontrolle für Alter, Geschlecht, Schicht- und Regionalzugehörigkeit macht deutlich, daß Krankheit in den letzten vier Wochen in diesem Modell durchgängig der Einfluß ist, der gesundheitsbezogene Lebensqualität verändert. Dennoch bleiben Schichtdifferenzierung, Alterseinfluß und Ost-WestUnterschiede erhalten, wenn auch in leicht abgeschwächter
Form. Damit erweist sich der SF-36 durchaus als ein Instrument, das sensitiv für gesundheitliche Veränderungen auf Bevölkerungsebene ist. Die relative Stabilität über eine gewisse
Zeit kann dann auch als ein Zeichen stabilerer Morbidität in
einer Bevölkerung interpretiert werden. Der Gesundheitssurvey bietet mit seinen zusätzlich zum SF-36 erfaßten vielfältigen Gesundheitsparametern noch viele Möglichkeiten für
spezifischere und tiefergehende Untersuchungen.
Zeitvergleich – Veränderungssensitivität
Obgleich in einem Zeitraum von nur vier Jahren entscheidende Veränderungen des Gesundheitszustandes und auch
des subjektiven Gesundheitszustandes auf Bevölkerungsebene eher nicht zu erwarten sind, ist ein Vergleich aus
methodischen Gründen interessant, zeigt er doch, ob die zur
Verfügung stehenden Daten in dieser Hinsicht überhaupt ergiebig sind. Die Unterschiede zwischen den 1994 und 1998
gemessenen Werten der Ausprägung der SF36-Profile in den
vergleichbaren Altersbereichen sind eher moderat. Die
Grundstruktur der Profile, die Relationen der Dimensionen
zueinander, stimmen weitgehend überein. Der Vergleich der
in diesen Erhebungsjahren jeweils zu verzeichnenden Dekkeneffekte charakterisiert bereits die auch in den Mittelwertprofilen festzustellenden wesentlichen Differenzen (Abb. 7a
95,16
94,06
77,25
72,62
65,09
91,52
94,50
77,68
Boden(0 Pkt.)
KÖFU-98
Skala
Decke(100 Pkt.)
68,4
30,8
61,5
KÖFU-94
KÖRO-98
21,4
KÖRO-94
20,0
37,4
66,7
67,9
77,6
SCHM-98
SF36-Dimension / Jahr
SF-36-Dimension
21,7
49,2
SCHM-94
49,3
0,9
AGES-98
99,0
AGES-94
98,7
1,1
VITA-98
99,1
0,7
VITA-94
99,2
0,5
49,5
SOFU-98
50,0
45,8
SOFU-94
EMRO-98
13,4
EMRO-94
12,4
53,4
79,3
80,4
PSYC-98
98,4
1,5
PSYC-94
98,0
1,9
0%
25%
50%
75%
100%
Anteil der Frauen
Abb. 7a Boden- und Deckeneffekte der SF-36-Dimensionen – Frauen
1994 und 1998.
und 7b). Eine leichte Minderung dieser Anteile der nicht Beeinträchtigten im Jahre 1998 gegenüber 1994 ist zwar in nahezu allen Dimensionen und bei beiden Geschlechtern zu verzeichnen, in der Dimension Körperschmerz sind die Unterschiede allerdings gravierend.
Prüft man die zeitlichen Veränderungen auf der Ebene von 5Jahres-Altersgruppen bei beiden Geschlechtern, so ergeben
sich (T-Test zur Prüfung der Mittelwertunterschiede/α=0,01)
folgende beachtenswerte Unterschiede:
– in den Dimensionen KÖFU, KÖRO, EMRO, SOFU und PSYC
sind sowohl bei Frauen als auch bei Männern lediglich einzelne, punktuelle Differenzen (sowohl Erhöhungen als
auch Verminderungen gegenüber den Ergebnissen der
Tab. 5 SF-36 – Profile nach dem Zeitraum der letzten Arzt-Inanspruchnahme
SF36 Dimension
KÖFU
KÖRO
SCHM
AGES
VITA
SOFU
EMRO
PSYC
Frauen
Männer
Inanspruchnahme eines Arztes
in den letzt. vor
vor
4 Wochen
1–3 Monaten 4–12 Monaten
vor
1–5 Jahren
Inanspruchnahme eines Arztes
in den letzt. vor
vor
4 Wochen
1–3 Monaten 4–12 Monaten
vor
1–5 Jahren
76,69
69,91
57,97
61,66
54,65
80,81
84,19
67,83
92,82
91,54
79,76
73,59
63,46
89,29
91,99
73,75
80,99
73,24
61,41
60,96
59,34
84,40
87,27
72,80
95,21
96,61
82,49
74,20
68,12
94,22
95,76
79,32
86,54
86,00
66,43
68,44
58,81
86,56
87,34
70,79
91,26
91,48
71,22
72,18
61,78
88,77
91,00
72,61
Beitrag: 371.fm
Ausdruck vom 25.5.00
89,73
89,11
71,46
67,00
62,64
89,54
92,75
75,49
93,22
93,69
77,73
70,84
63,93
90,92
94,21
76,26
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S197
Der SF-36 im Bundes-Gesundheits-Survey
Tab. 6 Verallgemeinerte lineare Modelle (GLIM) für den Zusammenhang zwischen den Einzelskalen des SF-36 und Alter, sozialer Schicht, regionaler Zugehörigkeit sowie den prävalenten Krankheiten der Probanden: Schätzung der Koeffizienten und erklärte Varianz
KÖFU
KÖRO
SCHM
AGES
VITA
SOFU
EMRO
PSYC
Männer
Schicht
Unterschicht
Mittelschicht
Oberschicht
Alter (in Jahren)
–7,92*
–5,69*
–0
–0,40*
–7,96*
–6,44*
–0
–0,36*
–2,94*
–3,43*
–0
–0,19*
–6,71*
–4,89*
–0
–0,25*
–2,77*
–1,57*
–0
–0,06*
–5,66*
–6,46
–0
–0,16*
–4,23*
–3,16*
–0
–0,06*
–3,77*
–3,03*
–0
–0,05*
Region
West
Ost
–0
–0,55
–0
–1,27
–0
–1,95*
–0
–0,35
–0
–1,73*
–0
–1,55
–0
–2,94*
–0
–0,74
Mind. 1 Krankheit
letzte 4 Wochen
letzte 12 Monate
keine letztes Jahr
R2
–7,49*
–0,56
–0
–0,22
–11,53*
–1,06
–0
–0,10
–6,24*
–0,98
–0
–0,04
–9,05*
–1,66
–0
–0,17
–2,77*
–1,57
–0
–0,03
–16,62*
–5,35*
–0
–0,14
–6,79*
–1,49*
–0
–0,03
–7,39*
–1,72
–0
–0,05
Frauen
Schicht
Unterschicht
Mittelschicht
Oberschicht
Alter (in Jahren)
–6,68*
–2,29*
–0
–0,51*
–1,91
–1,21
–0
–0,39*
–4,02*
–2,40*
–0
0,00
–6,04*
–2,74*
–0
–0,24*
–5,45*
–2,47*
–0
0,62*
–1,08
0,32
–0
–0,11*
–4,78*
–3,03*
–0
–0,03
–4,16*
–2,26*
–0
–0,08*
Region
West
Ost
–0
–0,66
–0
–2,89*
–0
–2,90*
–0
–0,60
–0
–1,60*
–0
–0,72
–0
–1,44
–0
–1,69*
Mind. 1 Krankheit
letzte 4 Wochen
letzte 12 Monate
keine letztes Jahr
R2
–8,22*
–1,45
–0
–0,25
–11,65*
–1,08
–0
–0,08
–6,78*
–0,83
–0
–0,03
–9,38*
–2,97*
–0
–0,14
–6,32*
–1,32
–0
–0,04
–15,78*
–4,54*
–0
–6,01
–8,51*
–2,34
–0
–0,02
–7,59*
–1,41
–0
–0,04
* signifikant mit p<0,05
Normstichprobe von 1994) ohne einheitliche Grundtendenz zu erkennen
– in der Dimension AGES erreichen die jüngeren Männer im
Altersbereich von 20 bis unter 40 Jahren 1998 deutlich geringere Werte als 1994
– bei den gleichen Altersgruppen der Männer und bei den
Frauen im Alter von 30 bis unter 50 Jahren ist 1998 gegenüber 1994 eine Reduktion in der Dimension VITA zu verzeichnen
– in der Körperschmerz-Dimension werden erhebliche Unterschiede im Sinne höherer Beeinträchtigungen im Jahre
Boden(0 Pkt.)
48,2
5,8
3,4
KÖRO-94
77,0
90,00
68,4
SCHM-98
31,2
40,4
SCHM-94
3,1
VITA-98
98,7
VITA-94
97,3
1,2
2,1
39,6
SOFU-98
59,8
32,8
SOFU-94
66,1
9,2
EMRO-98
88,2
4,5
95,4
PSYC-94
0%
25%
50%
75,00
70,00
60,00
2,7
97,1
PSYC-98
80,00
65,00
86,6
7,7
EMRO-94
nicht signif.
0,7
96,3
AGES-94
85,00
58,2
99,1
AGES-98
F–1998
M–1998
F–1994
M–1994
95,00
75,3
Arithm. Mittel in %
KÖRO-98
100,00
40,0
50,1
KÖFU-94
Beim gegenwärtigen Stand der Auswertung und Datenanalyse
sind vorschnelle Hypothesenbildungen zur Erklärung der
festzustellenden Unterschiede oder ihre Interpretation im
Sinne Trends signalisierender, zeitlicher Veränderungen unangemessen. Im Hinblick auf die erheblichen Unterschiede in
der Körperschmerz-Dimension muß allerdings angemerkt
werden, daß im Fragebogen des Bundes-Gesundheitssurveys
unmittelbar vor den Fragen des SF-36 (Zeitfenster: vier Wo-
Decke(100 Pkt.)
58,9
KÖFU-98
SF36-Dimension / Jahr
Skala
1998 in nahezu allen Altersgruppen bei Frauen als auch bei
Männern in den Mittelwerten (Abb. 7a und 7b) als auch in
den Deckeneffekten sichtbar (Abb. 8).
75%
55,00
100%
Anteil der Männer
50,00
20 –<25 25 –<30 30 –<35 35 –<40 40 –<45 45 –<50 50 –<55 55 –<60 60 –<65 65 –<70 70 –<75 75 –<80
Abb. 7b Boden- und Deckeneffekte der SF-36-Dimensionen – Männer
1994 und 1998.
Altersgruppe
Abb. 8 Altersverlauf der Körperschmerz-Dimension 1994 und 1998.
Beitrag: 371.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S198 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
M. Radoschewski, B.-M. Bellach
chen) zusätzlich ein spezieller Schmerzfragegebogen eingeschaltet war, der zwei Zeitfenster (letzte zwölf Monate; letzte
sieben Tage) zu Schmerzen enthält. Die Untersuchungssituation (Erinnerungsvermögen, thematische Sensibilisierung
etc.) wurde dadurch zweifellos tendenziell beeinflußt.
Diskussion
Durch die Einbeziehung des SF-36-Instruments in den Gesundheitssurvey sind neue Erkenntnisse über die Wirkungen
und Verteilungen von Gesundheits-/Krankheitsfolgen möglich. Anders als beim Einsatz dieses Meßinstruments in der
Medical-Outcome-Messung interessieren auf der Bevölkerungsebene auch die Verteilungscharakteristiken der SF-36Dimensionen als Abstufungen des subjektiven Gesundheitszustandes bzw. der HRQOL.
Die mit dem SF-36-Fragebogen ermittelten Häufigkeitsverteilungen der Punktwerte in den Einzelskalen/Dimensionen des
HRQOL-Profils für die erwachsene Bevölkerung unterscheiden sich erheblich. Auch in den alters- und geschlechtsspezifischen Verteilungen handelt es sich um Schiefverteilungen
mit z.T. extremer Rechtsschiefe. Derartige Verteilungen sind
durch arithmetische Mittel und Standardabweichungen nicht
hinreichend repräsentiert. In den Dimensionsskalen mit hohen Deckeneffekten dominieren diese die Gesamtverteilungen und deren Parameter. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit zumindest auf Bevölkerungsebene, über Kriterien für die
Bestimmung von „Normwerten“ der SF-36-Dimensionen und
der so gemessenen HRQOL nachzudenken. Für derartig extreme Schiefverteilungen sind die darzustellenden Verteilungsparameter neu zu überdenken. Um festgestellte Unterschiede zwischen Bevölkerungsgruppen (z.B. Alter, Geschlecht, soziale Schicht) oder zeitliche Veränderungen zu
verifizieren, genügt es offensichtlich nicht, nur die Mittelwertdifferenzen der Dimensionsscores zu bewerten, da diese
etwaige Veränderungen der Gesamtverteilungen nicht hinreichend charakterisieren.
Ist es aber so abwegig, einen Skalenwert von 100%, den weit
mehr als die Hälfte der Bevölkerung erreicht, als den „Normalwert“ dieser Dimensionsscores anzusehen? Damit würden allerdings zwangsläufig die in den Items der Skalen vorgegebenen Level der physischen, psychischen oder sozialen
Funktionsfähigkeit nicht nur die Grenzen festlegen, in denen
die Skalen sensibel messen, sondern auch die „Norm“ definieren. Die hohen Deckeneffekte in den SF-36-Dimensionen belassen einen großen Teil der Bevölkerung in dieser Dimension
undifferenziert, obgleich andererseits vorausgesetzt werden
kann, daß gesundheitlich bedingte Einschränkungen der HRQOL-Dimensionen gegeben sind, wenn z.B. ein größeres Zeitfenster als Meßzeitraum oder eine differenziertere Operationalisierung der Items gegeben wäre.
Offen bleiben muß bislang auch die Frage, wie belastbar sich
Unterschiede in den Dimensionsscores zwischen Gruppen
und im Zeitvergleich bewerten und sichern lassen? Hadorn et
al. vertreten die Meinung, daß beim SF-36 in den ordinalen
Skalen der einzelnen Items Wertveränderungen von einem
Punkt sehr unterschiedlich präferierte Gewichte bei den Probanden haben, die in die Dimensionsscores aber mit gleichem
Gewicht eingehen. „Die meisten existierenden (HRQOL-)Fragebögen wurden ohne explizite Referenz zu den relativen
Prioritäten konstruiert, die Menschen zwischen und innerhalb der einzelnen Dimensionen der HRQOL setzen [Hadorn,
Uebersax 1995A; Hadorn et al. 1995B]“.
Die im SF-36 gewünschte Sensitivität der Skalen wurde,
wenngleich es als generisches HRQOL-Instrument gilt, auf die
Messung von Veränderungen in Krankenpopulationen „geeicht“. Ob diese Sensitivität auch auf der Bevölkerungsebene
einer deskriptiv und analytisch ergiebigen Charakterisierung
und Differenzierung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität genügt, bedarf weiterer eingehender Prüfungen. So wäre
es wohl mehr als leichtfertig (ohne die Operationalisierung
der Dimension SOFU im Instrument zu berücksichtigen), aus
den Ergebnissen z.B. zu schlußfolgern, daß lediglich ca. 15%
der erwachsenen deutschen Bevölkerung ihre soziale Funktionsfähigkeit für gesundheitsbedingt eingeschränkt halten.
Gerade auf der Bevölkerungsebene wird es bedeutsam, den
Meßbereich des Instruments nicht mit dem Wirklichkeitsbereich gleichzusetzen, den abzubilden es anstrebt [Sevenhuysen, Trumble-Waddell 1997]. Für ein Monitoring der gesundheitsbedingten Lebensqualität in der Bevölkerung wäre eine
höhere Sensitivität (eventuell mittels ergänzender Items)
wünschenswert. Auch Untersuchungen anderer Autoren verweisen auf Forschungsbedarf zur methodischen Optimierung
der Bildung der Dimensionsscores des SF-36, um deren Diskriminationsfähigkeit und Sensitivität insbesondere in den
niedrigsten und höchsten Skalenbereichen zu verbessern [Mc
Horney et al. 1997].
Es sind auch der jeweilige Einfluß und die Abhängigkeiten der
Einzelskalen und Dimensionen einer eingehenderen Prüfung
zu unterziehen. Kempen et al. konnten beispielsweise feststellen, daß die einzelnen Dimensionsskalen des SF-36 durchaus unterschiedlichen Einfluß auf den Summenscore der allgemeinen gesundheitlichen Befindlichkeit haben.
Die deutlichen Zusammenhänge der SF-36-Profile mit Alter
und Sozialschichtzugehörigkeit einerseits sowie mit Krankheitsprävalenz und Inanspruchnahme andererseits verdeutlichen nicht nur ihre grundsätzlich gegebene Plausibilität und
auch Validität, sondern darüber hinaus auch ihre potentielle
analytische Nutzbarkeit als Surrogat- bzw. Prognosevariablen
für die sehr viel aufwendiger zu erhebende Morbidität oder
das Inanspruchnahmeverhalten. Dies ist hier lediglich auf einige Demonstrationsbeispiele reflektiert und bleibt ein Untersuchungsfeld künftiger Arbeiten.
Literatur
1
2
3
4
Ahrens W, Bellach B-M, Jöckel K-H (1998). Messung soziographischer Merkmale in der Epidemiologie. RKI-Schriften 1/98,
Robert Koch-Institut Berlin
Allison PJ, Locker D, Feine JS (1997). Quality of Life: A Dynamic
Construct. Soc Sci Med 45: 221–230
Beaton DE, Hogg-Johnson S, Bombardier C (1997). Evaluating
Changes in Health Status: Reliability and Responsiveness (Empfänglichkeit/Empfindlichkeit) of Five Generic Health Status
Measures in Workers with Musculoskeletal Disorders. J Clin Epidemiol 50: 79–93
Bullinger M (1996). Erfassung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität mit dem SF-36 Health Survey. Die Rehabilitation
35: 17–27
Beitrag: 371.fm
Ausdruck vom 25.5.00
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S199
Der SF-36 im Bundes-Gesundheits-Survey
5
Bullinger M, Kirchberger I (1995). Der SF-36-Fragebogen zum
Gesundheitszustand: Handbuch für die deutschsprachige Fragebogenversion. Medical Outcome Trust
6 Bullinger M, Kirchberger I (1998). Der SF-36-Fragebogen zum
Gesundheitszustand: Handbuch für die deutschsprachige Fragebogenversion. Hogrefe-Verlag für Psychologie, Göttingen
7 Ebrahim S (1995). Clinical and Public Health Perspectives and
Application of Health-Related Quality of Life Masurement. Soc
Sci Med 41: 1383–1394
8 Ellert U, Bellach BM (1999). Der SF-36 im Bundes-Gesundheitssurvey – Beschreibung einer aktuellen Normstichprobe. Gesundheitswesen 61; Sonderheft 2: S183–S189
9 Hadorn DC, Uebersax J (1995A). Large-Scale Health Outcomes
Evaluation: How should Quality of Life be measured? – Part I –
Calibration of a brief Questionaire and a Search for Preference
Subgroups. J Clin Epidemiol 48: 607–618
10 Hadorn DC, Sorensen J, Holte J (1995B). Large-Scale Health Outcomes Evaluation: How should Quality of Life be measured? –
Part II – Questionaire Validation in a Cohort of Patients with advanced Cancer. J Clin Epidemiol 48: 619–629
11 Hemingway H, Staffort M, Stansfield S, Shipley M, Marmot M
(1997). Is the SF-36 a valid measure of change in population health? Results from the Whithall II Study. BMJ 315: 1273–1279
12 Kempen GIJM, Ormel J, Brilman EI, Relyveld J (1997). Adaptive
Responses among Dutch Elderly: The Impact of Eight Chrinic
Medical Conditions on Health-Related Quality of Life. Am J Public Health 87: 38–44
13 Kempen GIJM, Miedema I, Van den Bos GAM, Ormel J (1998). Relationship of Domain-Spezific Measures of Health to Perceived
Overall Health among Older Subjects. J Clin Epidemiol 51: 11–18
14 Knopf H, Ellert U, Melchert HU (1999). Sozialschicht und Gesundheit. Gesundheitswesen 61; Sonderheft 2: S168–S176
15 Lamb VL (1997). A Cross-national Study of Quality of Life Factors
associated with Patterns of Elderly Disablement. Soc Sci Med 42:
363–377
16 McCullagh P, Nelder JA (1991). Generalized Linear Models – Second Edition. Chapman & Hall
17 McDowell I, Nevell C (1996). Measuring Health: A Guide to Rating Scales and Questionaires. New York: Oxfort University Press
18 McHorney CA, Haley SM, Ware Jr JE (1997). Evaluation of the
MOS SF-36 Physical Functioning Scale (PF-10): II. Comparison of
Relative Precision Using Likert and Rasch Scoring Methods. J Clin
Epidemiol 50: 451–461
19 Sevenhuysen GP, Trumble-Waddell J (1997). A new Perspective
on Quality of Life. J Clin Epidemiol 50: 231–232
20 Stadnyk K, Caldere J, Rockwood K (1998). Testing the Measurement Properties of the Short Form – 36 in a Frail Elderly Population. J Clin Epidemiol 51: 827–835
21 Winkler J, Stolzenberg H (1999). Der Schichtindex 1998. Gesundheitswesen 61; Sonderheft 2: S177–S182
B.-M. Bellach
Robert Koch-Institut
Postfach 65 02 80
D-13302 Berlin
Beitrag: 371.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S200 WEITERE THEMEN
›› Die Ernährung in Deutschland 1998
Zusammenfassung: Als Ergänzung zum Bundes-Gesundheitssurvey 1998 wurde in einer Unterstichprobe von 4030 Teilnehmern der Ernährungssurvey 1998 durchgeführt. Mit diesen Personen wurde ein ausführliches Ernährungsinterview,
unterstützt durch das Computerprogramm DISHES 98, geführt. Der durchschnittliche Energieanteil von Fetten in der Ernährung hat sich mit derzeit 33–34% deutlich verringert gegenüber den 40%, die noch vor 10 Jahren ermittelt wurden.
Generell ist die Versorgung mit Vitaminen, Mineralstoffen und
Spurenelementen ausreichend. Lediglich für Ballaststoffe, Vitamin D und E, Folatäquivalenten, Zink, Jod und bei Frauen zusätzlich Vitamin B1, B2, B6, Eisen und Phosphor liegt die mittlere tägliche Aufnahme bei einem Teil der Bevölkerung unter
dem optimalen Niveau. Die betrachteten Differenzen im Ernährungsverhalten in Ost- und Westdeutschland zeigen kein
eindeutig günstigeres Bild für einen der beiden Teile Deutschlands.
Schlüsselwörter: Ernährung – Nährstoffe – Lebensmittel –
Vitamine – Mineralstoffe
G. B. M. Mensink, M. Thamm, K. Haas
Robert Koch-Institut, Berlin
Einleitung
Unsere tägliche Ernährung liefert dem Körper Energie und
Aufbaustoffe und spielt eine entscheidende Rolle bei der Aufrechterhaltung unserer Gesundheit. Der Einfluß bestimmter
Nahrungsbestandteile auf die Prävention und den Verlauf einer Vielzahl von Krankheiten ist unbestritten. Informationen
über das Ernährungsverhalten einer Bevölkerung können deshalb wichtige Beiträge zur Optimierung der Gesundheit liefern. Durch eine frühzeitige Erkennung von möglichen Defiziten in der Nährstoffversorgung können rechtzeitig Vorbeugemaßnahmen für die betreffenden Gruppen eingeleitet
werden.
Für die alten Bundesländer wurden letztmalig 1985/86 umfassende Daten zum Ernährungsverhalten der Bevölkerung
[Heseker et al. 1994; FDG 1991] und für die neuen Bundesländer 1991/92 retrospektiv für die Zeit vor der Wende, also
etwa 1989, erhoben [Hermann-Kunz 1996].
Methoden und Felderfahrung
Dietary Intake in Germany 1998: In addition to the German
National Health Interview and Examination Survey, the German Nutrition Survey 1998 (GeNuS) was conducted in a subsample of 4030 participants. Among these persons, a comprehensive dietary interview was performed with use of the software DISHES 98. The proportion of 33–34% energy from fat is
considerably less than the 40% energy from fat which was estimated about ten years ago. In general, the supply of most vitamins, minerals and trace elements is sufficient. For a part of
the population, the intake of dietary fibre, vitamins D and E,
folate, zinc, iodine and, among women, also vitamins B1, B2,
B6, iron and phosphorus is on a suboptimal level. Observed differences in dietary habits in the eastern and western part of
Germany did not have an obviously more favourable dietary
pattern in any part of Germany.
Key words: Nutrition – Nutrients – Foods – Vitamins –
Minerals
Im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit erfolgte
als Zusatzmodul des Bundes-Gesundheitssurveys (BGS) [Bellach et al. 1998; Thefeld et al. 1999] die Durchführung des Ernährungssurveys 1998 [Mensink et al. 1998b]. Dabei wurde
eine zufällig ausgewählte Unterstichprobe von 4030 Personen
im Alter von 18 bis 79 Jahren ausführlich zu ihrem Ernährungsverhalten befragt. Der modulare Aufbau ermöglicht eine
Verknüpfung der Ernährungsdaten mit dem gesamten erfaßten Spektrum an Gesundheitsdaten des BGS und somit eine
Erweiterung unseres Wissensstandes über den Zusammenhang von Ernährung und Gesundheit. Der Bundes-Gesundheitssurvey wurde von Oktober 1997 bis März 1999 durchgeführt. Dabei wurde eine repräsentative Stichprobe von insgesamt 7124 Personen im Alter von 18 bis 79 Jahren in die
Untersuchung aufgenommen. Diese Personen wurden ausführlich über ihre gesundheitliche Vorgeschichte, ihr Gesundheitsverhalten und weitere gesundheitsrelevante Parameter
befragt und untersucht.
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S200–S206
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Das Ernährungsinterview wurde auf der Basis der Dietary-History-Methode mit dem Computerprogramm DISHES 98 (Diet
Interview Software for Health Examination Studies) durchgeführt [Mensink et al. 1998a; Mensink et al. 1998b]. Diese Methode ist eine retrospektive Ernährungserhebungsmethode,
d.h., man ist auf das Erinnerungsvermögen der Probanden angewiesen. Während der Befragung wird der Proband gedanklich durch den täglichen Ablauf seiner Mahlzeiten und Zwi-
Beitrag: 372.fm
Ausdruck vom 25.5.00
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S201
Die Ernährung in Deutschland 1998
schenmahlzeiten geführt und die Nahrungsaufnahme pro
Mahlzeit erfaßt. Außerdem wird versucht, Interviewer-Bias
durch eine weitestgehend standardisierte Vorgabe der Abfragen gering zu halten. Ursprünglich als Papierversion entwikkelt, ist diese Methode in einer Computer-Fassung wesentlich
effizienter durchzuführen. Eine ausführliche Beschreibung
wurde bereits an anderer Stelle veröffentlicht [Mensink et al.
1998b]. Die Ergebnisse einer ebenfalls 1998 durchgeführten
Validierungsstudie werden demnächst publiziert und zeigen
bezüglich der Makronährstoffe eine relativ gute Übereinstimmung von DISHES 98 mit einem 3-Tage-Wiegeprotokoll und
einem 24-Stunden-Recall [Voss et al. 1998].
Die Daten wurden während der Feldphase auf Disketten gespeichert und einmal pro Woche an das Robert-Koch-Institut
versandt. Noch während der Feldphase erhielten die Personen
eine schriftliche persönliche Auswertung ihrer Ernährung.
Alle Daten wurden auf Plausibilität geprüft und offensichtliche Fehler bei der Eingabe nachträglich mit den Probanden
geklärt und gegebenenfalls korrigiert. Außerdem wurde die
Gesamtkalorienaufnahme anhand des geschätzten Bedarfs
mit Hilfe der sog. Schofield-Formel [Schofield 1985] bezüglich
ihrer Plausibilität bewertet. Mit dieser Vorgehensweise konnten grobe Eingabefehler korrigiert werden. Die gesamten Angaben der Interviews wurden in einer Datenbank gesammelt
und anschließend zur weiteren Auswertung in eine SAS-Datei
umgewandelt. Diese Datei wurde anschließend mit dem Bundeslebensmittelschlüssel (BLS) II.3 verknüpft, um aus den Lebensmittelangaben entsprechende Nährstoffmengen pro Tag
zu errechnen. Die nachfolgenden Auswertungen basieren auf
diesen Berechnungen.
Von den ursprünglich insgesamt 4032 Probanden wurden
zwei Probanden von vornherein ausgeschlossen, da sie angaben, eine Formula-Diät einzuhalten. Die entsprechenden Inhalte dieser Diät waren uns nicht bekannt, und somit sind
diese gespeicherten Interviews für uns unvollständig und
nicht auswertbar. Ebenso sind die Angaben zu Nahrungsergänzungsmitteln in der hier aufgeführten Auswertung noch
nicht berücksichtigt. Es wird daran gearbeitet, dies mit einer
entsprechenden Präparate-Datenbank zu quantifizieren und
in einer späteren Auswertung zu berücksichtigen [Mensink,
Ströbel 1999; Schellhorn et al. 1998].
Durch die hochstandardisierte und automatisierte Vorgehensweise des DISHES 98-Programms betrug die mittlere Interviewdauer im Feld nach einer gewissen Anlaufphase etwa
35 Minuten. Im Einsatz waren insgesamt fünf Interviewerinnen, bei denen es sich um ausgebildete Ökotrophologinnen
handelte. Zwischen ihnen zeigte sich ein Unterschied in der
mittleren Interviewzeit von 29,8 bis 37,6 Minuten. Die Interviews der Interviewerin mit der höchsten durchschnittlichen
Interviewzeit wiesen außerdem auch die höchsten durchschnittlichen Gesamtenergieaufnahmen auf. Für die Gesamtenergieaufnahme war sie die einzige, die signifikant von den
anderen Interviewerinnen abwich. Nach Adjustierung für Alter und Geschlecht beträgt der Mittelwert bei den von ihr
durchgeführten Interviews 2409 kcal (Konfidenzintervall
(KI) 2369–2449) gegenüber 2267 (KI 2225–2302) bei der Interviewerin mit dem nächsthöherem Mittelwert. Ausführliche Auswertungen hierzu sollen im Rahmen der Validierung
noch stattfinden. Die Differenzen sind jedoch gegenüber der
intraindividuellen Varianz eher gering. Im Gegensatz zu den
meisten anderen deskriptiven Darstellungen der Ergebnisse
des Bundes-Gesundheitssurveys wurden die hier präsentierten Daten nicht gewichtet.
Ergebnisse
In Abb. 1 ist die Altersverteilung der Teilnehmer am BGS sowie die Altersverteilung der Teilnehmer am Ernährungssurvey 1998 dargestellt. Es wird deutlich, daß Frauen in der Unterstichprobe überproportional vertreten sind. Dies betrifft
alle Altersklassen, ist jedoch besonders bei den jungen Frauen
ausgeprägt. Die Ursache hierfür liegt in der Anbindung der
Studie „Folsäureversorgung von Frauen im gebärfähigen Alter“ an den Ernährungssurvey [Thamm et al. 1998; Thamm et
al. 1999].
800
Personen
Männer
Teilnehmer Ernährungssurvey
Frauen
600
400
200
0
18–24 25–34 35–44 45–54 55–64 65–79
18–24 25–34 35–44 45–54 55–64 65–79
Altersklassen
Abb. 1 Altersverteilung der Teilnehmer am Ernährungssurvey 1998 im
Vergleich zum gesamten Bundes-Gesundheitssurvey.
In Abb. 2 sind die Energieverhältnisse der Makronährstoffe
für Männer und Frauen im Westen und Osten Deutschlands
im Vergleich zur VERA-Studie [Heseker et al. 1994] und zu
den DGE-Empfehlungen dargestellt. Was das Verhältnis der
Makronährstoffe angeht, essen die Deutschen immer noch zu
fett- und sehr eiweißreich. Die Werte sind gemäß den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE),
die eine Relation von etwa 60% der Energie aus Kohlenhydraten, 25–30% aus Fetten und ungefähr 10% aus Protein als
wünschenswert erachtet, immer noch als ungünstig anzusehen. Was den Fettanteil betrifft, ist man allerdings mit 33–
34% schon auf gutem Wege in Richtung der DGE-Empfehlung.
Dies ist durchgängig in den einzelnen Altersklassen, bei beiden Geschlechtern und im Osten und Westen Deutschlands
zu beobachten. Im Durchschnitt nimmt der weibliche Bevölkerungsteil 48% der Energie in Form von Kohlenhydraten,
34% in Form von Fetten, 16% in Form von Protein und 2% aus
Alkohol auf. Bedingt durch einen höheren Alkoholkonsum,
verschieben sich die Relationen bei den Männern: Nur 45%
der Energie werden durch Kohlenhydrate, 33% durch Fette,
16% mittels Protein und 5% aus Alkohol aufgenommen. Vor
etwa 10 Jahren wurde in der VERA-Studie noch ein Fettanteil
von 40% gemessen. Der Rückgang der Fettaufnahme ist zum
Teil auf neue Fettgehaltswerte im BLS II.3 zurückzuführen.
Davon betroffen sind vor allem die im BLS enthaltenen Rezepte. Berechnungen mit der alten Version (II.2) ergaben einen entsprechenden Fettanteil von 36%. Die restlichen 3%
Beitrag: 372.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S202 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
100%
80%
Fett
Kohlenhydrate
tersklassen ungefähr konstant ist. Da aber die Gesamtenergieaufnahme über die Jahre abnimmt, nehmen auch die absoluten Grammengen der einzelnen Makronährstoffe mit den
Jahren ab.
Alkohol
4,5
5,1
2
1,7
45,5
45,3
47,6
48,1
4
41
Protein
G. B. M. Mensink, M. Thamm, K. Haas
60
60%
40%
20%
0%
14
40
VERA
(1987/88)
15,8
15,7
15,5
15,8
33,2
33
33,8
33,2
30
Frauen
Ost
Empfehlung
Männer
West
Männer
Frauen
Ost
West
Ernährungssurvey 1998
10
Abb. 2 Energieanteile der Makronährstoffe.
sind auf Veränderungen in der Auswahl der persönlichen
Nahrungsmittel zurückzuführen und/oder durch Veränderungen des Lebensmittelangebotes zu erklären. Zu einem geringen Teil könnte dieser Trend auf die unterschiedlichen Erhebungsmethoden zurückzuführen sein.
Der Proteinanteil hat im Vergleich zur VERA-Studie zugenommen, und es gilt nach wie vor, den Kohlenhydrat- und Ballaststoffanteil an der Nahrung zu vergrößern. Der Proteinanteil in
der Ernährung ist über die Altersklassen relativ konstant. Es
zeigt sich bei den Männern nur eine geringe Zunahme mit
steigendem Alter, bei den Frauen ist vor allem bei den Jüngeren ein deutlicher Anstieg zu sehen. Der Fettanteil ist über die
Altersklassen ebenfalls ziemlich stabil. Bei den Männern über
65 Jahre ist der relative Fettanteil am geringsten. Sowohl für
Protein als auch für Fett gilt, daß der relative Anteil für Männer und Frauen in etwa gleich ist. Bei den Frauen ist die relative Kohlenhydrataufnahme etwas höher als bei den Männern, besonders bei den Jüngeren ist die Differenz zwischen
den Geschlechtern am deutlichsten. Es zeigen sich auch für
Kohlenhydrate nur geringe Schwankungen über die Altersklassen, die niedrigsten Werte liegen eher in den mittleren
Altersgruppen. Zusammenfassend gilt, daß, Alkohol ausgenommen, der Energieanteil der Makronährstoffe über die Al-
In Tab. 1 sind für Männer und Frauen die Medianwerte mit 25.
und 75. Perzentile der täglichen Energie- und Makronährstoff-Aufnahmen dargestellt. Im nachfolgenden Abschnitt
werden zusätzlich Mittelwerte aufgeführt.
Die durchschnittliche tägliche Proteinaufnahme beträgt 73 g
für Frauen und 101 g für Männer. Gesundheitliche Schäden
aufgrund einer mäßig überhöhten Zufuhr an Protein sind bei
einem gesunden Menschen bisher nicht bekannt. Da aber eine
hohe Proteinaufnahme in der Regel eine hohe Aufnahme an
tierischem Protein bedeutet, führt dies fast zwangsläufig zu
einer hohen Aufnahme an Fett und Cholesterin, die kritisch zu
beurteilen ist.
Die durchschnittliche tägliche Fettaufnahme beträgt bei
Frauen 74 g, bei Männern 99 g. Damit nehmen Männer etwa
ein Drittel mehr Fett zu sich als Frauen, was aber vollständig
auf die höhere Gesamtaufnahme zurückzuführen ist. Die
mittlere Aufnahme an gesättigten Fettsäuren beträgt für
Frauen 32 g, an einfach ungesättigten Fettsäuren 26 g und an
mehrfach ungesättigten Fettsäuren 11 g. Männer nehmen
42,2 g gesättigte Fettsäuren, 36 g einfach ungesättigte Fettsäuren und 14 g mehrfach ungesättigte Fettsäuren zu sich.
Der P/S-Quotient liegt mit 0,36 für beide Geschlechter unterhalb des erwünschten Verhältnisses von >0,5. Der P/S-Quotient ist in den höheren Altersklassen im Mittel günstiger. Im
Durchschnitt liegt die tägliche Cholesterinaufnahme in der
weiblichen Bevölkerungsgruppe bei 304 mg, in der männlichen bei 403 mg.
Die mittlere Zufuhr an Kohlenhydraten beträgt für Frauen
225 g, und für Männer 294 g. Die Kohlenhydrataufnahme der
Frauen besteht zu 48% (109 g) aus Poly-, zu 31% (69 g) aus Diund zu 20% (44 g) aus Monosacchariden, die der Männer zu
50% (147 g) aus Poly-, 29% (85 g) aus Di- und 17% (51 g) aus
Monosacchariden.
Tab. 1 Tägliche mittlere Aufnahme von Energie und Makronährstoffen, Männer und Frauen, Median (und 25. und 75. Perzentil)
Männer
Energie (kcal)
(MJ)
Protein (g)
Fett (g)
gesät.FS (g)
einf.u.FS (g)
mehrf.u.FS (g)
Cholesterin (mg)
P/S-Quotient (%)
Kohlenhydrate (g)
Monosaccharide (g)
Disaccharide (g)
Polysaccharide (g)
Ballaststoffe (g)
Alkohol (g)
Frauen
Median
Perzentile
25–75
Median
Perzentile
25–75
2501,73
10,48
95,95
93,46
39,73
33,57
12,78
374,35
32,86
275,32
41,89
73,21
139,99
26,92
11,54
(2034,70–3073,29)
(8,52–12,86)
(78,67–116,49)
(73,51–117,73)
(30,84–50,79)
(26,05–42,64)
(10,13–17,00)
(290,36–487,33)
(26,47–41,25)
(219,35–347,64)
(28,05–63,93)
(49,29–106,10)
(114,85–172,44)
(21,64–33,11)
(3,55–24,85)
1847,79
7,74
70,55
70,19
30,36
24,45
9,95
287,56
32,59
214,96
37,90
62,04
105,68
23,57
2,35
(1540,32–2212,04)
(6,45–9,26)
(58,63–83,51)
(55,59–087,62)
(23,69–38,75)
(18,99–30,42)
(7,94–12,59)
(221,41–368,57)
(26,26–40,99)
(177,00–263,43)
(27,16–54,00)
(44,46–82,71)
(85,52–128,62)
(19,21–28,54)
(0,42–6,60)
Beitrag: 372.fm
Ausdruck vom 25.5.00
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S203
Die Ernährung in Deutschland 1998
Gemessen an der Empfehlung, 30 g Ballaststoffe täglich aufzunehmen, ist die Zufuhr sowohl bei den Männern mit durchschnittlich 28 g als auch bei den Frauen mit 24,5 g zu gering.
Lediglich bei 36% der Männer und bei 20% der Frauen liegt die
ermittelte Ballaststoffzufuhr oberhalb von 30 g. Die mittlere
Ballaststoffaufnahme von Frauen liegt um 13,7% niedriger als
die der Männer. Im Vergleich dazu liegt die Gesamtenergieaufnahme aber um 26,9% niedriger. Frauen scheinen daher
eher ballaststoffreichere Lebensmittel, z.B. mehr Obst und
Gemüse, auszuwählen.
Durchschnittlich nehmen Männer über dreimal soviel Alkohol
zu sich wie Frauen (17,4 g zu 5,2 g). Für beide Geschlechter
gleichermaßen wird der höchste Alkoholkonsum im mittleren
Altersbereich von 45 bis 54 Jahren festgestellt (siehe Abb. 3).
Es ist auffällig, daß die Differenz zwischen Ost und West ausschließlich aus dem höheren Konsum bei Männern von 25 bis
54 Jahren im Osten resultiert. Der Anteil derjenigen, die keinerlei Alkoholkonsum angeben, beträgt bei den Frauen 7,4%,
bei den Männern 3,8%. Mehr als durchschnittlich 20 g Alkohol
täglich nehmen 4,8% der Frauen zu sich, jedoch nehmen 11%
der Männer mehr als 40 g Alkohol pro Tag zu sich. Bezogen
auf Energieprozente, nehmen zwei Drittel der weiblichen Bevölkerung weniger als 2% Energie durch Alkohol, aber ein
Drittel der männlichen Bevölkerung mehr als 5% Energie in
Form von Alkohol zu sich.
Energie
Protein
Fett
Ballaststoffe
Vitamin A*
Vitamin D
Vitamin E
Vitamin B1
Vitamin B2
Vitamin B3**
Vitamin B6
Folatäquivalent
Vitamin B12
Vitamin C
Kalium
Calcium
Magnesium
Eisen
Zink
Phosphor
Jod
0% 50% 100% 150% 200% 250% 300% 350%
* Retinol Äquivalent ** Niacin Äquivalent
Abb. 4
Nährstoffaufnahme im Vergleich zu DGE-Empfehlungen –
Männer, Mediane sowie 25. und 75. Perzentile.
g/Tag
28
West
Ost
kann nicht als optimal bezeichnet werden. Bei Frauen betrifft
die suboptimale Versorgung die gleichen Nährstoffe. Außerdem erreicht etwa die Hälfte der Frauen nicht die Empfehlung
für die Vitamine B1, B2 und B6 sowie für Eisen und Phospor. Das
bedeutet jedoch nicht, daß für diese Nährstoffe eine Mangelversorgung vorliegt. Die DGE-Empfehlungen haben einen gewissen Sicherheitszuschlag, bei einigen Nährstoffen bis zu
50%. Außerdem wurde die Aufnahme über Nahrungsergänzungsmittel sowie Jodsalz in diesen Berechnungen noch nicht
berücksichtigt. Inzwischen nehmen immerhin 22% der Frauen
und 18% der Männer mehr als einmal pro Woche solche Präparate zu sich [Mensink, Ströbel 1999].
Männer
24
20
16
Frauen
12
8
4
0
18–24
25–34
35–44
45–54
55–64
65–79
18–24
25–34
35–44
45–54
55–64
65–79
Altersklassen
Abb. 3 Alkoholkonsum in Gramm pro Tag nach Alter, Geschlecht und
Ost/West-Zugehörigkeit, Mittelwerte.
Durch die in der deutschen Bevölkerung grundsätzlich ausreichende Gesamtnahrungsaufnahme ist die Versorgung für
die meisten Vitamine, Mineralien und Spurenelemente
gewährleistet. In den Abb. 4 und 5 sind für Männer und
Frauen die täglichen Aufnahmen einzelner Nährstoffe im Vergleich zu den derzeitigen DGE-Empfehlungen dargestellt.
Hierzu wurde die jeweilige individuelle Aufnahme in ein prozentuales Verhältnis zu der individuell zutreffenden Empfehlung (bezogen auf Alter, Geschlecht und evtl. bestehende
Schwangerschaft) gesetzt und diese Werte für die Gesamtgruppen als Mediane mit Interquartilbereich dargestellt. Die
Aufnahmen der einzelnen Nährstoffe als Prozente der betreffenden DGE-Empfehlung zeigen, daß bei den Männern lediglich eine suboptimale Versorgung für die Ballaststoffe, für Vitamin D und Folsäureäquivalente besteht. Außerdem ist bei
etwa der Hälfte der Männer die Vitamin E- Aufnahme unterhalb der Empfehlung. Auch die Versorgung mit Zink und Jod
Dennoch nehmen die Menschen hauptsächlich natürliche Lebensmitteln zu sich. Daher ist ein Vergleich der Mengen an
verzehrten Lebensmitteln von besonderem Interesse [FAO/
WHO Report 1998]. Der Verzehr von Obst und Gemüse ist z.B.
in den jüngeren Altersklassen sehr niedrig, obwohl die jüngeren insgesamt mehr Energie aufnehmen (siehe Abb. 6). Nur
die Älteren erreichen im Durchschnitt die laut WHO wünschenswerte Obst- und Gemüsemenge von ca. 400 g pro Tag.
Auch bei einem Ost-West-Vergleich zeigen die lebensmittelbezogenen Ergebnisse interessante Tendenzen. In den Tab. 2
und 3 werden die durchschnittlich konsumierten Grammengen von den wichtigsten Lebensmittelgruppen für ost- und
westdeutsche Männer und Frauen dargestellt. Da diese Lebensmittelgruppen in ihrer Verteilung stark von einer Normalverteilung abweichen, wurden in den Tabellen die Mediane und Quartile dargestellt. Trotzdem wird auch hiermit
die sehr abweichende Verteilung einiger Lebensmittel nicht
ausreichend beschrieben, es vermittelt aber einen ersten Eindruck. Die Mengen wurden auf signifikante Differenzen zwischen Ost und West mit einem Mediantest geprüft.
Beitrag: 372.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S204 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
G. B. M. Mensink, M. Thamm, K. Haas
Tab. 2 Einnahme der wichtigste Lebensmittelgruppen in Gramm pro Tag, Männer in West- und Ost- Deutschland, Median (und 25. und 75. Perzentil)
West-Deutschland
Brot
Getreide
Teigwaren
Kuchen, Kekse
Süßwaren
Gemüse, Pilze
Blattgemüse, Kräuter
Kohlgemüse
Kartoffeln
Obst
tierische Fette
pflanzliche Fette
Eier
Milch, Käse
Fleisch, Wild
Geflügel
Wurstwaren
Fisch
1)
Ost-Deutschland
Median
Perzentile
25–75
Median
Perzentile
25–75
Mediantest1)
161,9
51,0
30,8
20,0
38,3
138,8
30,3
37,2
129,6
134,8
10,7
15,5
19,0
236,7
104,4
14,1
50,4
16,1
(116,3–217,8)
(26,6– 87,8)
(14,2– 57,9)
(5,0– 42,9)
(20,0– 67,2)
(96,8–206,6)
(12,8– 55,3)
(20,4– 59,6)
(86,0–182,5)
(66,5–228,8)
(5,0– 19,6)
(10,6– 23,4)
(10,2– 31,4)
(134,0–408,6)
(68,7–148,8)
(6,4– 25,7)
(27,8– 76,3)
(6,3– 27,0)
184,6
26,3
18,8
26,4
33,6
137,8
15,6
39,3
128,2
168,9
9,3
16,1
20,4
209,0
101,4
12,9
66,4
18,9
(141,4–244,0)
(13,5– 51,0)
(5,6– 37,7)
(5,0– 57,1)
(15,6– 61,5)
(89,8–203,6)
(5,8– 30,6)
(23,0– 59,2)
(85,6–174,5)
(100,3–279,1)
(4,3– 20,4)
(8,5– 24,1)
(11,2– 32,2)
(120,0–364,5)
(71,9–142,8)
(6,4– 24,0)
(43,8– 98,5)
(8,4– 32,7)
***
***
***
*
*
NS
***
NS
NS
***
NS
NS
NS
*
NS
*
***
**
Statistisch signifikante Differenz in den Medianwerten mit * p<0,05, ** p<0,01, *** p<0,001, NS nicht signifikant
Der Brotkonsum ist bei Männern und Frauen im Osten höher
als im Westen. Der Getreidekonsum (einschl. Reis) hingegen
liegt im Osten für beide Geschlechter etwa bei der Hälfte des
Getreidekonsums im Westen. Auch der Verzehr von Teigwaren ist in Ostdeutschland für Männer und Frauen wesentlich
geringer. Die Männer im Osten konsumieren einen signifikant
höheren Anteil an Kuchen und Keksen, bei Frauen ist keine Differenz zwischen Ost und West festzustellen. Bei Süßigkeiten
ist für beide Geschlechter die Aufnahme im Osten nur etwas,
aber signifikant geringer. Bei Gemüse und Pilzen wird lediglich
bei den ostdeutschen Frauen ein geringerer Konsum gefunden. Der Verzehr von Blattgemüse ist für beide Geschlechter
im Osten geringer, es gibt aber keine Unterschiede zwischen
Ost und West im Verzehr von Kohlgemüse. Der Kartoffelkonsum ist hingegen nur bei den Frauen signifikant unterschiedlich, und zwar ist im Osten die verzehrte Menge deutlich geringer. Obst wird von beiden Geschlechtern in Ostdeutschland
deutlich häufiger gegessen, was gesundheitlich betrachtet
wünschenswert ist.
Die Aufnahme von Fetten pflanzlichen Ursprungs ist nicht signifikant unterschiedlich, und der von Fetten tierischen Ursprungs ist nur bei ostdeutschen Frauen signifikant geringer.
Für den Eierverbrauch ist keine Differenz zwischen Ost und
West zu beobachten. Der Verzehr von Milch und Käse ist bei
Männern in Ostdeutschland geringer als im Westen, bei den
Tab. 3 Einnahme der wichtigste Lebensmittelgruppen in Gramm pro Tag, Frauen in West- und Ost- Deutschland, Median (und 25. und 75.
Perzentil)
West-Deutschland
Brot
Getreide
Teigwaren
Kuchen, Kekse
Süßwaren
Gemüse, Pilze
Blattgemüse, Kräuter
Kohlgemüse
Kartoffeln
Obst
tierische Fette
pflanzliche Fette
Eier
Milch, Käse
Fleisch, Wild
Geflügel
Wurstwaren
Fisch
1)
Ost-Deutschland
Median
Perzentile
25–75
Median
Perzentile
25–75
Mediantest1)
117,0
45,2
27,2
20,4
32,6
143,3
32,0
38,6
100,8
162,5
9,2
12,8
16,6
220,6
69,2
12,9
25,8
12,9
(85,9–158,1)
(24,9– 76,8)
(12,8– 48,0)
(7,1– 42,7)
(17,1– 54,3)
(97,9–212,6)
(15,6– 57,9)
(20,8– 60,4)
(63,6–142,1)
(92,7–261,5)
(4,6– 16,2)
(8,3– 18,6)
(8,6– 27,6)
(138,6–351,1)
(43,2– 98,7)
(5,7– 22,1)
(11,4– 42,5)
(4,3– 22,5)
132,7
27,9
18,5
22,9
28,1
134,3
19,8
38,4
88,4
220,7
6,4
13,0
17,3
229,9
70,8
11,9
36,1
16,4
(96,7–165,5)
(13,7– 48,8)
(9,1– 35,4)
(8,5– 44,1)
(15,7– 47,6)
(87,6–192,6)
(9,3– 35,9)
(23,5– 60,7)
(58,3–125,8)
(141,1–335,4)
(3,5– 12,6)
(7,7– 18,9)
(9,7– 25,9)
(142,2–358,5)
(49,3– 99,4)
(5,4– 22,0)
(21,4– 53,6)
(7,1– 26,7)
***
***
***
NS
**
*
***
NS
***
***
***
NS
NS
NS
NS
NS
***
***
Statistisch signifikante Differenz in den Medianwerten mit * p<0,05, ** p<0,01, *** p<0,001, NS nicht signifikant
Beitrag: 372.fm
Ausdruck vom 25.5.00
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S205
Die Ernährung in Deutschland 1998
was größeren Mengen gegessen. Wurstwaren und auch Fisch
werden wiederum im Osten mehr verzehrt.
Energie
Protein
Fett
Ballaststoffe
Es zeigt sich, daß bei einigen Lebensmitteln der Verzehr im
Osten höher ist, bei anderen im Westen, und daß dies wiederum nicht eindeutig bei gesundheitlich zu präferierenden
Lebensmittelgruppen in eine Richtung geht, d.h., daß es im
Osten generell günstiger oder ungünstiger ist. Die Differenzen
sind wahrscheinlich zum Teil auf die geographische Lage zurückzuführen. Sicherlich kann man hier durch gezielte Aufklärung dort, wo die Mengen im Osten oder Westen in eine
falsche Richtung gehen, noch Verbesserungen erreichen.
Vitamin A*
Vitamin D
Vitamin E
Vitamin B1
Vitamin B2
Vitamin B3**
Vitamin B6
Folatäquivalent
Vitamin B12
Vitamin C
Die Ernährung in Deutschland ist immer noch gekennzeichnet durch eine Überversorgung und einen zu hohen Anteil an
Fett und Alkohol. Dies führt zusammen mit einer zu geringen
körperlichen Aktivität dazu, daß Übergewicht immer noch ein
großes gesundheitliches Problem darstellt [Bergmann, Mensink 1999]. Über 50% der Frauen und sogar fast 70% der Männer haben einen Body-Mass-Index (BMI) über 25, was als
leichtes Übergewicht betrachtet wird. Um die 20% der Männer und Frauen sind stark übergewichtig (BMI≥30).
Kalium
Calcium
Magnesium
Eisen
Zink
Phosphor
Jod
0%
50% 100% 150% 200% 250% 300% 350%
Literatur
* Retinol Äquivalent ** Niacin Äquivalent
1
Abb. 5
Nährstoffaufnahme im Vergleich zu DGE-Empfehlungen –
Frauen, Mediane sowie 25. und 75. Perzentile.
700
Gramm/Tag
Frauen
Männer
600
500
400
300
200
100
0
18–24 25–34 35–44 45–54 55–64 65–79
18–24 25–34 35–44 45–54 55–64 65–79
Altersklassen
Abb. 6 Obst- und Gemüsekonsum in Deutschland 1998 nach Alter
und Geschlecht, Mediane sowie 25. und 75. Perzentile.
Frauen ist es umgekehrt, es wird jedoch keine signifikante
Differenz gefunden. Beim Fleischverbrauch wird keine Differenz beobachtet, bei Geflügel ein etwas geringerer Konsum bei
den ostdeutschen Männern. Wurst wird von Männern und
Frauen im Osten häufiger gegessen als im Westen. Der Fischkonsum ist im Osten Deutschlands etwas höher, vielleicht
auch weil der Osten anteilmäßig einen großen Küstenbereich
hat.
Zusammengefaßt ist der Konsum von Brot im Osten Deutschlands deutlich höher, der von Getreide, Teigwaren und Blattgemüse jedoch im Westen. Obst wird im Osten deutlich mehr
verzehrt – vor allen von Frauen. Milch und Käse werden von
den westdeutschen Männern und ostdeutschen Frauen in et-
Bellach BM, Knopf H, Thefeld W (1998). Der Bundes-Gesundheitssurvey 1997/98. Gesundheitswesen 60; Sonderheft 2: 59–
68
2 Bergmann KE, Mensink GBM (1999). Körpermaße und Übergewicht. Gesundheitswesen 61; Sonderheft 2: S115–S120
3 FAO/WHO Report of a Joint FAO/WHO Consultation (1998). Preparation and use of food-based dietary guidelines. WHO Technical Report Series 880
4 FDG Forschung im Dienste der Gesundheit (1991). Die Nationale
Verzehrsstudie – Ergebnisse der Basisauswertung. Hrsg.: Projektträgerschaft Forschung im Dienste der Gesundheit in der
Deutschen Forschungsanstalt für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR)
im Auftrag des Bundesministeriums für Forschung und Technologie. Schriftenreihe zum Programm der Bundesregierung Forschung und Entwicklung im Dienste der Gesundheit. Materialien zur Gesundheitsforschung, Band 18
5 Hermann-Kunz E (1996). Energie- und Nährstoffaufnahme in
den neuen Bundesländern. In: Bellach B (Hrsg.). Die Gesundheit
der Deutschen. Band 2, RKI-Heft 15. Berlin: Robert Koch-Institut,
89–100
6 Heseker H, Adolf T, Eberhardt W, et al. (1994). Lebensmittelund Nährstoffaufnahme Erwachsener in der Bundesrepublik
Deutschland. Zweite, überarbeitete Auflage. Niederkleen: Wissenschaftlicher Fachverlag Dr. Fleck, VERA-Schriftenreihe III
7 Mensink GBM, Thamm M, Hermann-Kunz E (1998a). A new age
of diet history. Eur J Clin Nutr 52 (Suppl. 2): 15
8 Mensink GBM, Hermann-Kunz E, Thamm M (1998b). Der Ernährungssurvey. Gesundheitswesen 60: 83–86
9 Mensink GBM, Ströbel A (1999). Einnahme von Nahrungsergänzungspräparaten und Ernährungsverhalten. Gesundheitswesen
61; Sonderheft 2: S132–S137
10 Schellhorn B, Döring A, Stieber J (1998). Zufuhr an Vitaminen
und Mineralstoffen aus Nahrungsergänzungspräparaten in der
MONICA-Querschnittsstudie 1994/95 der Studienregion Augsburg. Z Ernährungswiss 37: 198–206
11 Schofield W (1985). Predicting basal metabolic rate, new standards and review of previous work. Human Nutrition: Clinical
Nutrition 39 C (Suppl 1): 5–41
Beitrag: 372.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S206 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
12
G. B. M. Mensink, M. Thamm, K. Haas
Thamm M, Mensink GBM, Hermann-Kunz E (1998). Untersuchungen zum Folsäurestatus. Gesundheitswesen 60; Suppl 2:
87–88
13 Thamm M, Mensink GBM, Thierfelder W (1999). Folsäureversorgung von Frauen im gebärfähigen Alter. Gesundheitswesen 61;
Sonderheft 2: S90–S93
14 Thefeld W, Stolzenberg H, Bellach BM (1999) Bundes-Gesundheitssurvey: Response, Zusammensetzung der Teilnehmer, NonResponder-Analyse. Gesundheitswesen 61; Sonderheft 2: S57–
S61
15 Voss S, Charrondiere UR, Slimani N, et al. (1998). EPIC-SOFT- ein
europaweites Erfassungs- und Koordinierungssystem für 24Stunden-Erinnerungsprotokolle. Z Ernährungswiss 37: 227–233
G.B.M. Mensink
Robert Koch-Institut
Postfach 65 02 80
D-13302 Berlin
Beitrag: 372.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S207
WEITERE THEMEN
von Frauen im
›› Folsäureversorgung
gebärfähigen Alter
Zusammenfassung: Ein optimaler Folsäurestatus in den ersten
Schwangerschaftswochen senkt das Risiko, ein Kind mit einer
Spaltfehlbildung des zentralen Nervensystems zur Welt zu
bringen. Um den Folsäurestatus bei Frauen im Alter von 18 bis
40 Jahren abschätzen zu können, wurde bei 1266 Teilnehmerinnen am Bundesgesundheitssurvey 1998 u.a. Erythrozytenfolat und Folsäure im Serum gemessen. Durch den Einsatz der
Ernährungserhebungssoftware DISHES 98 war es außerdem
möglich, die individuelle Folsäureaufnahme durch die Nahrung zu berechnen. Dabei zeigten sich bei einem hohen Prozentsatz der Teilnehmerinnen sub-optimale Erythrozytenfolatspiegel sowie eine unterhalb den Empfehlungen liegende
Folataufnahme.
Schlüsselwörter: Folsäure – Neuralrohrdefekte – Bundes-Gesundheitssurvey – Ernährung – Prävention – Epidemiologie
Folate supply of women in childbearing age: An optimal maternal folate status reduces the risk of neural tube defects in
the offspring. In the German National Health Interview and Examination Survey, red cell folate and serum folate levels have
been measured in 1,266 women aged between 18 and 40
years. Applying the dietary assessment software DISHES 98
made it possible to estimate the individual folate intake. A
high proportion of the participants showed sub-optimal red
cell folate levels as well as folate intakes below the recommendations.
Key words: Folate – Neural Tube Defects – German National
Health Interview and Examination Survey – Nutrition – Prevention – Epidemiology
Einführung
Das Robert Koch-Institut wurde vom Bundesministerium für
Gesundheit beauftragt, eine Untersuchung zum Folsäurestatus bei Frauen durchzuführen. Hintergrund war der in ausländischen Studien postulierte Zusammenhang zwischen einer
unzureichenden Folsäureversorgung (bzw. einem unzureichenden Folatstatus) und der erhöhten Auftretenswahrscheinlichkeit von Neuralrohrdefekten bei Neugeborenen
[Czeizel et al. 1992]. Für Deutschland existieren bislang weder
aktuelle und verläßliche Daten zur Folsäureaufnahme noch
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S207–S212
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
M. Thamm, G. B. M. Mensink, W. Thierfelder
Robert Koch-Institut, Berlin
zum Folsäurestatus (gemessen in Erythrozyten). Diese Wissenslücken sollten mit der nun beendeten Studie geschlossen
werden, um gegebenenfalls in Zukunft die Wirksamkeit von
Präventionsmaßnahmen überprüfen zu können. Die Studie
wurde als Teil des Bundes-Gesundheitssurveys durchgeführt,
so daß die Möglichkeit besteht, zu Auswertungszwecken in
Zukunft noch weitere Daten heranzuziehen.
Hintergrund
Folsäure (Pteroylmonoglutaminsäure) ist ein wasserlösliches
Vitamin, das früher dem Vitamin-B-Komplex zugerechnet
wurde (Vitamin B9). Es bildet die Ausgangssubstanz für die
Gruppe der Folate, die für den Menschen essentiell zur Aufrechterhaltung des Stoffwechsels sind. Folate sind Bestandteil
verschiedener Enzymsysteme, deren Gemeinsamkeit es ist,
als Donoren bzw. Akzeptoren von Kohlenstoff zu fungieren.
Da es sich hierbei um sehr universelle Reaktionen handelt,
sind sie an einer Vielzahl von Stoffwechselvorgängen beteiligt. Die Körperspeicher betragen beim Erwachsenen 5–10
mg, davon werden ca. 50% in der Leber gespeichert [Bässler et
al. 1997].
Für den Menschen stellen Leber, Eier, grüne Blattgemüse und
Milch gute Quellen für Folate dar. Die Deutsche Gesellschaft
für Ernährung (DGE) empfiehlt Jugendlichen und Erwachsenen derzeit noch eine tägliche Folataufnahme von 150 μg Folatäquivalenten/Tag (DGE 1991), doch ist eine Überarbeitung
dieser Empfehlung geplant [Hages et al. 1999]. Bei erhöhter
Stoffwechselaktivität (Wachstum, Schwangerschaft) steigt
auch der tägliche Bedarf an, so daß besonders bei Säuglingen,
Jugendlichen und Schwangeren die Gefahr der Unterversorgung groß ist. Eine Unterversorgung führt zunächst zu Blutbildveränderungen (hypersegmentierte Granulozyten), in
schwereren Fällen zu einer makrozytären Anämie und gastrointestinalen Blutungen. Folatmangel wird von verschiedenen
Autoren als der häufigste Vitaminmangel in Industriestaaten
bezeichnet [Friedrich 1987, Herbert 1980, Kitay, 1969].
Neuralrohrdefekte
Über die oben beschriebenen Blutbildveränderungen hinaus
wird eine ungenügende Versorgung mit Folsäure neben genetischen Faktoren heute allgemein als Risikofaktor für Neuralrohrdefekte angesehen. Aus dem Neuralrohr beim Embryo
entwickeln sich Gehirn und Rückenmark, die aufgrund eines
Folsäuremangels bei Schwangeren von schwersten Mißbildungen betroffen sein können. In Deutschland treten Neuralrohrdefekte mit einer Häufigkeit von ca. 1 bis 1,5 pro 1000
S208 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
Geburten auf und gehören damit zu den häufigsten schweren,
angeborenen Fehlbildungen [Rinke et al. 1995]. Neuralrohrdefekte führen häufig zu Fehl- bzw. Totgeburten und zu
schwersten Behinderungen bei lebend geborenen Säuglingen.
Die Ergebnisse einer Fall-Kontroll-Studie aus Irland zeigen
eine direkte Abhängigkeit zwischen dem Folsäuregehalt in
Erythrozyten und dem Risiko von Neuralrohrdefekten [Daly
et al. 1995]. Frauen mit dem niedrigsten Folsäuregehalt in
Erythrozyten (<150 μg/l) hatten, verglichen mit Frauen mit
den höchsten Folsäuregehalten (≥400 μg/l), ein mehr als achtfach erhöhtes Risiko, ein behindertes Kind zur Welt zu bringen.
Die kritische Phase für die Entstehung von Neuralrohrdefekten liegt in den ersten vier Schwangerschaftswochen, einer
Zeit, in der viele Frauen noch gar nichts von ihrer Schwangerschaft wissen. Es ist daher nicht ausreichend, lediglich Frauen,
die wissen, daß sie ein Kind erwarten, entsprechend zu
beraten. Vielmehr müßten im Falle einer sub-optimalen
Folsäureversorgung alle Frauen, die eine Schwangerschaft
planen bzw. nicht sicher ausschließen können, ihre Folsäureaufnahme optimieren. Da, wie oben ausgeführt, nicht der
Folsäurestatus während der Schwangerschaft, sondern der zu
Beginn der Schwangerschaft entscheidend ist für das Auftreten von Neuralrohrdefekten, war es folgerichtig, nicht gezielt
Schwangere, sondern generell alle Teilnehmerinnen des Bundes-Gesundheitssurveys im gebärfähigen Alter (18 bis 40
Jahre) zu untersuchen.
Studiendesign und Methoden
Die Untersuchung des Folsäurestatus wurde in den BundesGesundheitssurvey eingegliedert, bei dem insgesamt 7124
Personen einer repräsentativ ausgewählten Bevölkerungsstichprobe untersucht und befragt wurden [Bellach et al 1998,
Thefeld et al. 1999]. Eine Unterstichprobe, die annähernd alle
am Bundes-Gesundheitssurvey teilnehmenden Frauen im Alter von 18–40 Jahren umfaßt, wurde in die Folsäurestudie
aufgenommen. Bei 1508 Teilnehmerinnen des Kernsurveys in
der entsprechenden Altersklasse liegen von 1266 Frauen Daten zum Folsäurestatus vor. Dies entspricht einer internen
Ausschöpfung von 84% (bezogen auf den Kernsurvey). Bei
diesen Frauen wurde zusätzlich zu den Laborparametern des
Kernsurveys der Folsäurestatus ermittelt (Folsäure in Serum
und Erythrozyten). Dabei entspricht der Erythrozytenfolatspiegel einem Langzeitparameter, der die Folsäureversorgung
während der vergangenen 120 Tage widerspiegelt.
Zusätzlich zu den aufgeführten Laboranalysen wurde das ausführliche computergestützte Ernährungsinterview DISHES 98
[Mensink 1998] durchgeführt, mit dessen Hilfe die durchschnittliche Ernährung der vorangegangenen vier Wochen erfaßt wird. Durch das Ernährungsinterview soll herausgefunden werden, welche Lebensmittel bei heutiger Ernährungsweise hauptsächlich zur Folsäureversorgung beitragen, wie
sich die Folsäureversorgung durch die Nahrung verbessern
ließe und wieviel Prozent der untersuchten Frauen die Aufnahmeempfehlungen erreichen. Mit einem Zusatzfragebogen
wurden über den Kernsurvey hinausgehende spezifische Daten zum Thema Folsäure und Neuralrohrdefekte erhoben.
Die Blutentnahme erfolgte am sitzenden Probanden. Zur Serumgewinnung wurden Gel-Vacutainer und für Vollblut
M. Thamm, G. B. M. Mensink
EDTA-Vacutainer der Fa. Becton Dickinson verwendet. Die
Probanden waren zum Zeitpunkt der Blutentnahme in der Regel nicht nüchtern. Die Folsäurebestimmungen (Erythrozytenfolat und Serumfolat) wurden in zwei getrennten Proben
mittels eines Enzymimmunoassays der Fa. Abbott auf dem
Gerät IMx und die Vitamin-B12-Messungen ebenfalls mit einem Enzymimmunoassay der Fa. Abbott auf einem AxsymGerät durchgeführt. Vitamin B12 wurde gemessen, um eine
generelle Beurteilung der Vitamin-B12-Versorgung vornehmen zu können, da im Falle einer Folatsupplementierung eine
durch Vitamin-B12-Mangel verursachte perniziöse Anämie
kaschiert werden kann. Weiterhin sollte geprüft werden, ob
Zusammenhänge zwischen Folat- und Vitamin-B12-Status bestehen.
Der in den Auswertungen benutzte Wert „korrigiertes Erythrozytenfolat“ ist ein errechneter Wert, der wie folgt entsteht:
Erythrozytenfolat
= (IMx-Wert * 21 * 100)/Hämatokrit
Korr. Erythrozytenfolat = Eryfolat–Serumfolat * (100–Hämatokrit)/Hämatokrit
Die Korrektur für den Hämatokrit ist notwendig, da es sich bei
Erythrozytenfolat um eine Konzentrationsangabe handelt, die
davon abhängig ist, wie viele Zellen sich tatsächlich in einer
Volumeneinheit Vollblut befinden. Dieser Wert muß dann
nochmals korrigiert werden für das Folat, das sich im Serum
befindet (und in einer separaten Probe analysiert wird), da
das Vollblut vor der Analyse hämolysiert wird und sich somit
der Folatgehalt beider Kompartimente (Serum und Erythrozyten) vermischt. Im folgenden wird für „korrigiertes Erythrozytenfolat“ nur noch der Begriff Erythrozytenfolat verwendet,
da dies der üblichen Nomenklatur entspricht.
Bei dem zur Ernährungserhebung eingesetzten DISHES 98
handelt es sich um ein computergestütztes Interview, bei
dem die Lebensmittel- und Getränkezufuhr retrospektiv für
die vergangenen vier Wochen erfaßt wird. Dabei werden die
Probanden mahlzeitenorientiert durch den Tag geführt, um
das Erinnerungsvermögen zu unterstützen und eine standardisierte Abfrage zu ermöglichen. Zur Mengenschätzung dient
ein Satz Mustergeschirr bzw. wird auf Standardportionen zurückgegriffen, die in einer vom RKI entwickelten Portionsgrößendatei gespeichert sind. Die Verknüpfung mit den entsprechenden Codes des Bundeslebensmittelschlüssels (BLS) erfolgt direkt bei der Eingabe während des Interviews. Dadurch
werden spätere Übertragungsfehler vermieden, und es ergibt
sich eine bedeutende Zeitersparnis gegenüber einer späteren
Kodierung der Angaben. Der Einsatz des gleichen Instruments
wie im Ernährungssurvey führte zu bedeutenden Synergieeffekten, da einerseits geprüft werden kann, wie stark sich die
in der Folsäurestudie untersuchten Frauen von denen in höheren Altersklassen unterscheiden, andererseits können die
vorliegenden Interviews im Rahmen beider Studien genutzt
werden.
Mit einem 11 Fragen umfassenden Selbstausfüllfragebogen
wurden Informationen zu Einstellungen in bezug auf Ernährung, den Hauptinformationsquellen über Folsäure sowie zur
Parität und eventuellen Mißbildungen in der Familie gewonnen.
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S209
Folsäureversorgung von Frauen im gebärfähigen Alter
Laboranalysen
Ergebnisse
Folsäurefragebogen
Nennungen
Die Auswertung der Zusatzfragebogen ergibt, daß sich 76%
der Studienteilnehmerinnen ausreichend über Ernährung informiert fühlen. Knapp 90% halten eine gesunde Ernährungsweise für wichtig oder sehr wichtig. Die Informationsquellen
für Ernährungsfragen sind in Abb. 1 dargestellt. Die Anzahl
der Nennungen übersteigt die Anzahl der Teilnehmerinnen,
da Mehrfachangaben möglich waren.
700
600
500
400
300
200
100
0
620
575
428
273
168
Fernsehen
Illustrierte
Freunde
121
Krankenkasse
Zeitung
Arzt
112
Radio
Abb. 1 Informationsquellen bezüglich Ernährung.
Annähernd 40% der Befragten geben an, schon einmal etwas
über die Bedeutung der Folsäure gehört oder gelesen zu haben. Die entsprechenden Informationsquellen bezüglich der
Bedeutung von Folsäure sind in Abb. 2 dargestellt. Dabei wird
deutlich, daß auf dem Gebiet der Einzelmaßnahmen, wie z.B.
der Folsäureversorgung, die Beratung durch den Arzt eine
wichtige Rolle spielt.
Nennungen
200
165
150
In einer großen irischen Studie, die 1995 veröffentlicht
wurde, konnte ein positiver Zusammenhang zwischen niedrigen Werten für Erythrozytenfolat und dem Auftreten von
Neuralrohrdefekten nachgewiesen werden [Daly et al. 1995].
Teilt man unsere Studienteilnehmerinnen in die entsprechenden Erythrozytenfolatklassen ein, so zeigt sich, daß nur 13,3%
über einen optimalen Folatstatus verfügen (Tab. 3). Unter der
Annahme, daß die irischen Risikoberechnungen auch auf
Deutschland übertragbar sind, würde sich bei 21,6% der Probandinnen eine Verdopplung des Risikos für Neuralrohrdefekte ergeben, bei 48,4% eine Verdreifachung, bei 13,8% ein
vierfach und bei 2,8% ein mehr als achtfach erhöhtes Risiko.
Ernährungserhebung
100
83
51
50
0
158
Die Mediane der Erythrozytenfolatwerte(Tab. 1) sind in allen
Altersklassen relativ ähnlich und lassen keinen Zusammenhang mit dem Alter erkennen. Betrachtet man die Perzentilen
in Tab. 2, so erkennt man, daß die individuellen Meßwerte
über einen weiten Bereich verteilt sind und immerhin 5 Prozent der Werte unter 161,5 μg/l bzw. über 498,3 μg/l liegen.
Die Mediane des Serumfolats zeigen ebenfalls keinen Zusammenhang mit dem Alter, und für die Verteilung gilt ähnliches
wie bei Erythrozytenfolat. Auffällig ist hier das sehr hohe Maximum von 40 μg/l. Auch die Mediane von Vitamin B12 unterliegen keiner deutlichen Beeinflussung durch das Alter, doch
ist die noch größere Spannbreite der vorkommenden Werte
beachtenswert. Dies gilt nicht nur für die einzelnen Perzentilen, sondern ganz besonders auch für den Maximalwert von
14.839 ng/l. Eine Überprüfung der Daten ergab, daß es sich
hier um eine Probandin handelt, die über einen längeren Zeitraum täglich hohe Dosen Vitamin B12 in Form von Supplementen zu sich genommen hat. Auf die weiteren Analysen hat
dies jedoch keinen Einfluß, da bei allen Auswertungen, die einen Zusammenhang zwischen dem Folat- bzw. Vitamin-B12Status und der entsprechenden Aufnahme betreffen, diejenigen Probandinnen ausgeschlossen wurden, die Folsäure-, Vitamin-B12- oder Multivitaminpräparate eingenommen haben.
Arzt
48
40
17
Fernsehen
Zeitung
Radio
Illustrierte
Freunde
Krankenkasse
Abb. 2 Informationsquellen bezüglich Folsäure.
Bei 40% der befragten Frauen besteht jetzt oder in Zukunft ein
Kinderwunsch, 15% geben an, derzeit nicht zu wissen, ob
noch Kinder geplant sind. Nur 23% der Frauen zeigen sich
informiert über die Präventionsempfehlungen bezüglich
Folsäure und Schwangerschaft, und 77% haben keine derartigen Kenntnisse. 9% der Befragten hatten mindestens eine
Fehlgeburt, und 1,6% berichten von einer Abtreibung wegen
Behinderung oder Krankheit des ungeborenen Kindes. Von
den Studienteilnehmerinnen haben zwei Drittel ein oder
mehr Kinder, davon 5% mit Behinderungen oder Krankheiten.
Die täglichen Verzehrsmengen wurden anhand der Ernährungserhebungen mit DISHES 98 und dem aktuellen BLS Version II.3 berechnet. Im Vergleich zur BLS-Version II.2 wurden
in dem Update aufgrund eines Fehlers in der alten BLS-Version unter anderem die Folatgehalte zahlreicher Lebensmittel
zum Teil deutlich nach unten korrigiert. Es ist davon auszugehen, daß diese Korrektur eine Verbesserung der Datenqualität
des BLS darstellt und validere Berechnungen der Folataufnahme zuläßt, als dies mit der Version II.2 möglich war. Keine
Berücksichtigung konnten die durch Supplemente bzw. durch
speziell angereicherte Lebensmittel und Getränke zugeführten Vitamine finden, da der BLS keine entsprechenden Daten
enthält.
Die mittlere Aufnahme von freiem Folsäureäquivalentbeträgt
111,9 μg/Tag und unterscheidet sich nicht wesentlich in den
verschiedenen Altersgruppen (Tab. 1). Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfiehlt eine tägliche Aufnahme
von 150 μg/Tag (dies entspricht 300 μg Gesamtfolat/Tag). Damit liegen alle Altersgruppen im Mittel deutlich unter diesem
Wert. Bei individueller Betrachtung erkennt man, daß 80,6%
der untersuchten Frauen unter den Empfehlungen liegen. Für
S210 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
M. Thamm, G. B. M. Mensink
Tab. 1 Labormeß- und Zufuhrwerte nach Altersklassen – Median und Interquartilbereich
Meß-/Zufuhrwert
18–20 (n = 147)
25%
Median
75%
21–25 (n = 164)
25%
Median
75%
26–30 (n = 266)
25%
Median
75%
Erythrozytenfolat (μg/l)
Folsäure i. S. (μg/l)
Vitamin B12 i. S. (μg/l)
Folsäureäquivalent-Zufuhr*
Gesamt-Folsäure-Zufuhr*
Vitamin-B12-Zufuhr*
220,5
6,5
211,2
83,0
177,1
2,7
325,5
10,0
422,6
138,5
275,0
5,9
216,9
5,8
229,3
84,8
174,0
3,2
337,2
9,5
401,3
136,7
278,5
5,3
209,1
5,8
238,1
88,9
188,0
3,2
311,4
9,7
416,8
134,2
273,7
5,8
Meß-/Zufuhrwert
31–35 (n = 362)
25%
Median
75%
36–40 (n = 305)
25%
Median
75%
18–40 (n = 1244)
25%
Median
75%
Erythrozytenfolat (μg/l)
Folsäure i. S. (μg/l)
Vitamin B12 i. S. (μg/l)
Folsäureäquivalent-Zufuhr*
Gesamt-Folsäure-Zufuhr*
Vitamin-B12-Zufuhr*
222,2
5,8
235,1
96,6
201,4
3,6
337,7
9,8
408,1
147,6
292,0
6,8
226,2
6,0
238,0
94,9
196,7
3,9
335,6
9,8
417,8
143,1
286,0
6,7
218,3
5,9
234,4
92,0
191,2
3,4
328,6
9,8
412,8
140,0
282,2
6,3
265,0
8,1
307,1
108,6
222,9
4,3
269,1
7,5
312,6
116,0
236,4
5,0
268,7
7,4
302,4
107,6
221,4
4,3
271,7
7,7
321,2
112,9
226,9
5,1
256,3
7,3
304,5
110,6
228,3
4,3
266,3
7,6
310,6
111,9
228,5
4,7
* in μg/d
Tab. 2 Verteilung von Labormeß- und Zufuhrwerten – Perzentile
Meß-/Zufuhrwert
Min
1%
5%
25%
50%
75%
95%
99%
Max
Erythrozytenfolat (μg/l)
Folsäure i. S. (μg/l)
Vitamin B12 i. S. (μg/l)
Folsäureäquivalent-Zufuhr*
Gesamt Folsäure-Zufuhr*
Vitamin-B12-Zufuhr*
87,9
2,1
67,0
25,9
61,0
0,4
132,3
3,3
117,7
44,8
98,5
1,1
161,5
4,2
157,5
63,7
137,1
2,0
218,3
5,9
234,4
92,0
191,2
3,4
266,3
7,6
310,6
111,9
228,5
4,7
328,6
9,8
412,8
140,0
282,2
6,3
498,3
12,9
652,9
192,6
376,0
10,6
702,8
14,7
871,3
264,6
499,5
15,0
986,2
40,0
14839,0
389,8
694,1
26,8
* in μg/d
Vitamin B12 stellt sich die Versorgung deutlich besser dar,
auch wenn über 17% der Frauen unter der empfohlenen Mindestaufnahme von 3 μg/Tag liegen. Hier sind die über dreißigjährigen Frauen etwas günstiger zu beurteilen, was allerdings
nicht mit einer höheren Energieaufnahme in den oberen Altersklassen erklärt werden kann, sondern eher an einer unterschiedlichen Nahrungszusammensetzung liegen könnte (Vitamin B12 kommt hauptsächlich in tierischen Lebensmitteln
vor).
Die für die Folataufnahme wichtigsten Lebensmittelgruppen
sind in Tab. 4 dargestellt. Dabei wurden alle 4030 Teilnehmer
des Ernährungssurveys berücksichtigt, um eine Aussage auf
Bevölkerungsebene treffen zu können. Es fällt auf, daß bei
Männern auch Bier eine relevante Folatquelle darstellt.
Nachfolgend werden Zusammenhänge zwischen kontinuierlichen Variablen beschrieben, wobei der Korrelationskoeffizient (r) nach Pearson berechnet wurde. P-Werte <0,05 wurden
als signifikant angesehen. Erythrozytenfolat korreliert mit
r=,499 signifikant mit Serumfolat (p<,001). Eine sehr schwache, aber dennoch signifikante Korrelation ergibt sich zwischen Vitamin B12 im Serum und Erythrozytenfolat. Keine
Korrelationen ergeben sich zwischen der Erythrozytenfolatkonzentration und der jeweiligen Zufuhr von Folsäure, Vitamin B12, Vitamin C und Alkohol. Auch zeigen Alter und BodyMass-Index (BMI) keine Korrelation mit Erythrozytenfolat.
Schwache Korrelationen bestehen zwischen Serumfolat und
Folsäurezufuhr, Vitamin-C-Aufnahme und BMI. Außerdem
korreliert die Folsäurezufuhr mit der Vitamin-B12- sowie der
Vitamin-C-Aufnahme.
Zur Prüfung der Zusammenhänge zwischen kontinuierlichen
Variablen und bestimmten Verhaltensparametern mit ja/
nein-Ausprägung wurde der non-parametrische Test nach
Mann und Whitney verwendet. Es zeigten sich bei den Raucherinnen signifikant niedrigere Werte für Erythrozytenfolat,
Serumfolat, Vitamin B12 im Serum und Folsäureaufnahme.
Die Anwenderinnen oraler Kontrazeptiva weisen signifikant
Tab. 3 Erythrozytenfolatklassen und Risiken für Neuralrohrdefekte (NTD)
Erythrozytenfolat
0–149
150–199
200–299
300–399
≥400
gesamt
* Nach Daly et al. (1995)
( μg/l)
Häufigkeit
Prozent
kumulierte Prozente
Risiko für NTD *
35
172
602
269
166
1244
2,8
13,8
48,4
21,6
13,3
100,0
2,8
16,6
65,0
86,7
100,0
8,25
4,00
2,88
2,00
1,00
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S211
Folsäureversorgung von Frauen im gebärfähigen Alter
Tab. 4 Hauptquellen von Folsäure (Folsäure-Äquivalent [μg/Tag])
Männer
Mittelwert
μg/d)
(μ
Anteil an Gesamtaufnahme in %
Milch, Käse
Gemüse, Pilze*
Brot
Obst, Früchte
Bier
Kohlgemüse
Eier
Blattgemüse, Kräuter
Kartoffeln
Erfrischungsgetränke
Getreide
gesamt
22,9
21,3
17,5
12,5
12,4
8,2
7,4
6,8
5,7
4,7
3,0
122,4
16,3
15,1
12,4
8,9
8,8
5,8
5,3
4,8
4,0
3,3
2,1
86,8
Frauen
Mittelwert
μg/d)
(μ
Anteil an Gesamtaufnahme in %
Milch, Käse
Gemüse, Pilze*
Obst, Früchte
Brot
Kohlgemüse
Blattgemüse, Kräuter
Eier
Erfrischungsgetränke
Kartoffeln
gesamt
21,6
21,0
14,6
13,2
8,2
7,1
6,0
4,6
4,1
100,4
18,1
17,6
12,2
11,4
6,9
5,9
5,2
3,8
3,4
84,5
wertung des Ernährungssurveys sowohl mit BLS-Version II.2
als auch mit Version II.3 durchgeführt. Diese ergab im Ernährungssurvey bei Frauen eine um mehr als 20% geringere Aufnahme an Folatäquivalent pro 1000 kcal.
niedrigere Werte für Vitamin B12 im Serum, Folsäureaufnahme und Vitamin-B12-Zufuhr auf. Darüber hinaus wurden
bei Frauen aus den neuen Bundesländernsignifikant höhere
Erythrozyten- und Serumfolatwerte sowie eine deutlich
höhere Vitamin-B12-Zufuhr ermittelt.
Betrachtet man die Folataufnahme vor dem Hintergrund einer möglichen Schwangerschaft dieser Frauen, so sind die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung ernüchternd, zumal
nur 23% der untersuchten Frauen angeben, über die positiven
Effekte von Folsäure in der Schwangerschaft informiert zu
sein. Da der Bedarf in der Schwangerschaft deutlich erhöht ist,
wird zur Prävention von Neuralrohrdefekten heute generell
eine tägliche Supplementation von 300 bis 400 μg Folsäure
empfohlen [Bässler et al. 1998]. Eine Untersuchung an 118
Wöchnerinnen im Raum München ergab, daß 1998 nur 9,3%
eine Folsäuresupplementation gemäß den Empfehlungen
(vier Wochen vor Eintritt der Schwangerschaft für insgesamt
acht Wochen) durchgeführt haben [Egen 1999]. Somit kann
also davon ausgegangen werden, daß ein hoher Prozentsatz
der Frauen durch die Nahrung unzureichend mit Folsäure versorgt in eine Schwangerschaft geht, und in der Regel auch
nicht rechtzeitig und ausreichend supplementiert. So ist aus
dem Ernährungssurvey bekannt, daß lediglich 2,3% der
Frauen von 18–40 Jahren mindestens einmal wöchentlich Folsäurepräparate zu sich nehmen. Dieser sehr niedrige Wert
steht aus unserer Sicht nicht im Widerspruch zu dem oben
genannten Wert von 9,3%, da es sich dabei um eine städtische
Bevölkerungsgruppe handelte, die überdies auch noch
schwanger war. Vor dem Hintergrund der bereits zitierten irischen Studie, bei der für bestimmte Erythrozytenfolatklassen
konkrete Risikoerhöhungen für Neuralrohrdefekte ermittelt
wurden, kann man, selbst wenn die gefundenen Risiken nicht
in vollem Umfang auf Deutschland übertragbar wären, auf ein
substantielles Präventionspotential schließen.
Diskussion
Literatur
Die DGE empfiehlt Erwachsenen (nicht schwanger und nicht
stillend) eine tägliche Zufuhr von 150 μg Folsäureäquivalent
pro Tag (DGE 1991). Diese empfohlene Aufnahme wird von
81% der untersuchten Frauen unterschritten. Berücksichtigt
man den Sicherheitszuschlag von 50% der in dem o.g. Wert
enthalten ist, so kommt man auf eine Minimalzufuhr von
100 μg pro Tag. Auch dieser Wert wird von 34% der untersuchten Frauen unterschritten. Bezogen auf die Nährstoffdichte, d.h. die Nährstoffaufnahme bezogen auf 1000 kcal,
stellt sich die Folatversorgung ebenfalls ungünstig dar. Von
den untersuchten Frauen lagen 76% unterhalb der Empfehlungen der DGE (71,4 μg/1000 kcal).
1
* ohne Kohl- und Blattgemüse
Die Tatsache, daß in dieser Studie im Vergleich zu älteren Studien eine so niedrige Folataufnahme festgestellt wurde, bedeutet nicht, daß sich die Folsäureversorgung verschlechtert
hat. Wie eingangs erwähnt, ist eine wesentliche Ursache für
die niedrigeren ermittelten Folatwerte eine Korrektur der
entsprechenden Werte im BLS, da in den älteren Versionen
(vor Version II.3) ein systematischer Fehler enthalten war, der
alle Lebensmittel betraf, die Hefe enthielten. Wir gehen somit
davon aus, daß es sich bei dieser Fehlerkorrektur um eine
substantielle Verbesserung der in der Vergangenheit häufig
als zu hoch kritisierten Folatwerte im BLS handelt. Um einen
Eindruck über das Ausmaß der Korrekturen auf die ermittelte
Folataufnahme zu erhalten, wurde eine vergleichende Aus-
Bässler KH et al. (1997). Vitamin-Lexikon. G. Fischer; Frankfurt/
Main: Govi-Verlag
2 Bellach BM et al. (1998). Der Bundes-Gesundheitssurvey 1997/
98. Das Gesundheitswesen 60; Sonderheft 2: 59–68
3 Czeizel AE (1992). Prevention of the first occurrence of neuraltube defects by periconceptional vitamin supplementation.
N Engl J Med 327: 1832–1835
4 Daly LE, Kirke PN, Molloy A, Weir DG, Scott JM (1995). Folate Levels and Neural Tube Defects. JAMA 274: 1698–1702
5 Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE)(1991). Empfehlungen für die Nährstoffzufuhr. Umschau Verlag, Frankfurt/Main
6 Egen V (1999). Umsetzung medizinischer Forschungsergebnisse
in die Praxis am Beispiel der Prophylaxe von Neuralrohrdefekten durch Folsäure. Gesundheitswesen 61: A63–A64
7 Friedrich W (1987). Folsäure und unkonjugierte Pteridine. In:
Friedrich W (Hrsg.). Handbuch der Vitamine. Urban und Schwarzenberg, München/Wien/Baltimore
8 Hages M et al. (1999). Zur Aktualisierung der deutschen Empfehlungen für die Folatzufuhr Teil 1: Ernährungs-Umschau 46:
248–251
9 Herbert V (1980). The Nutritional Anemias. Hosp Pract 15: 65–
89
10 Kitay DZ (1969) Folic Acid Deficiency in Pregnancy. Am J Obstet
Gynecol 104: 1067–1107
11 Mensink GBM, Hermann-Kunz E, Thamm M (1998) Der Ernährungssurvey. Gesundheitswesen 60: Sonderheft 2: S83–S86
S212 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
12
Rinke U Koletzko B (1994) Prävention von Neuralrohrdefekten
durch Folsäurezufuhr in der Frühschwangerschaft. Deutsches
Ärzteblatt 91: A-30–37
13 Thefeld W, Stolzenberg H, Bellach BM (1999) Bundes-Gesundheitssurvey: Response, Zusammensetzung der Teilnehmer, NonResponder-Analyse. Gesundheitswesen 61: Sonderheft 2: S57–
S61
M. Thamm, G. B. M. Mensink
M. Thamm
Robert Koch-Institut
Postfach 650280
D-13302 Berlin
S213
WEITERE THEMEN
1998 –
›› Umwelt-Survey
Erste Ergebnisse
Zusammenfassung: In enger Kooperation mit dem ersten
gesamtdeutschen Bundes-Gesundheitssurvey 1998 wurde bei
einer zufällig ausgewählten Unterstichprobe von etwa
4500 Fällen der Umwelt-Survey durchgeführt. Das Umweltbundesamt führte den Umwelt-Survey im Auftrag des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
durch. Die Probanden im Alter von 18 bis 69 Jahren unterzogen sich dabei einer umwelthygienischen/-medizinischen Untersuchung. Zur Interpretation der Meßergebnisse wurden Informationen zu umweltrelevanten Verhaltensweisen und belastungsrelevanten Bedingungen in den Haushalten und im
Wohnumfeld erhoben. Erste vorläufige Ergebnisse weisen auf
eine Reduzierung der korporalen Belastung mit Schwermetallen im Jahr 1998 gegenüber 1990/92 hin. Dennoch werden in
Einzelfällen Belastungen ermittelt, bei denen eine gesundheitliche Beeinträchtigung möglich ist oder nicht ausreichend sicher ausgeschlossen werden kann. Für die Konzentrationen
von Organochlorverbindungen im Blut können erstmalig auf
der Grundlage der bevölkerungsrepräsentativen Erhebung
Referenzwerte festgelegt werden. Im Bereich der Belastung
des häuslichen Trinkwassers ist auch für 1998 festzustellen,
daß die Richt- und Grenzwerte der Trinkwasserverordnung
nicht immer eingehalten sind. Dies gilt vor allem für die Elemente Blei, Kupfer und Zink, die u.a. durch das Material der
Hausinstallationen in das Trinkwasser gelangen können.
Schlüsselwörter: Human-Biomonitoring – Pb – Cd – Hg – As –
PCB – DDE – HCB – HCH – Trinkwasser – Bundesweit
German Environmental Survey 1998 – Preliminary Results: In
close connection with the German National Health Interview
and Examination Survey 1998, a third round of the German Environmental Survey (GerES III) was carried out using a random
subsample of about 4,500 subjects, which are representative
for the German population aged 18 to 69 years. The GerES was
carried out by the Federal Environmental Agency on behalf of
the Federal Ministry for Environment, Nature Conservation
and Reactor Safety. The participants had to undergo an examination in human-biomonitoring. An environmental questionnaire was used to get exposure-related information. Preliminary results indicate a reduction of the body burden with metals in 1998 compared with 1990/92. However, some
individuals showed elevated values. For those people health
effects are possible or cannot be excluded with sufficient certainty. Using the results of GerES III it will be possible for the
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S213–S215
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
C. Schulz, K. Becker, D. Helm, C. Krause
Umweltbundesamt, Berlin
first time to establish reference values for organochlorine
compounds on a representative data basis. The examination
of the tap water used in the subjects households shows that
the limit and guideline values of the German Drinking Water
Ordinance have not always been met in 1998. This holds especially for lead, copper, and zinc which are being used as pipematerial for domestic plumbing.
Key words: Human Biological Monitoring – Pb – Cd – Hg – As
– PCB – DDE – HCB – HCH – Tap Water – Nation Wide
Einleitung
Nach den Umwelt-Surveys 1985/86 und 1990/91 in den alten
Bundesländern und 1991/92 in den neuen Bundesländern
wird mit dem jetzt im Feld abgeschlossenen Umwelt-Survey
1998 ein weiterer Beitrag für eine regelmäßige Erfassung der
Belastung der Bevölkerung mit Umweltschadstoffen geleistet.
Mit der erneuten Bereitstellung repräsentativer Daten für
eine gesundheitsbezogene Umweltberichterstattung auf nationaler Ebene ist eine Aktualisierung der bisherigen Daten
möglich. Darüber hinaus können Daten zu Organochlorverbindungen im Blut sowie zu Bioziden, Flammenschutzmitteln
und Weichmachern im Hausstaub zur Verfügung gestellt
werden.
Die aufwendigen Analysen und intensiven Auswertungen
werden noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Im folgenden
werden die ersten vorläufigen Ergebnisse, die Aussagen zu
zeitlichen Trendentwicklungen erlauben, vorgestellt. Ferner
wird eine erste Einschätzung dieser Ergebnisse anhand von
Referenz-, Human-Biomonitoring-, Grenz- und Richtwerten
vorgenommen. Eine ausführliche Darstellung und Diskussion
der Ergebnisse kann erst im Zusammenhang mit den weiteren, tiefergehenden und endgültigen Auswertungen sowie im
Rahmen der Berichterstellung vorgenommen werden.
Ergebnisse
An einer zufälligen Unterstichprobe des Bundes-Gesundheitssurveys wurden im Rahmen des Umwelt-Surveys 1998 knapp
4500 Erwachsene im Alter von 18 bis 69 Jahren auf ihre umweltbedingten korporalen Schadstoffbelastungen und ihre
Schadstoffbelastungen im häuslichen Wohnbereich untersucht [Krause et al. 1998].
S214 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
Erste Ergebnisse zum Human-Biomonitoringweisen auf einen
deutlichen Rückgang der Bleibelastungen im Blut und der Arsenausscheidung mit dem Urin im Jahr 1998 gegenüber 1990/
92 für die erwachsene Bevölkerung sowohl in den alten als
auch in neuen Ländern hin. Damit setzt sich der in den Jahren
1990/91 gegenüber 1985/86 in den alten Ländern festgestellte Trend einer ca. 30%igen Reduzierung der korporalen
Blei- und Arsenbelastung [Krause et al. 1996] auf gesamtdeutscher Ebene fort. Eine weitere Minderung der korporalen
Belastung ist für die Quecksilberausscheidung im Urin – insbesondere bei der Bevölkerung in den neuen Ländern – feststellbar. Ferner sind 1998 gegenüber 1990/92 kaum Veränderungen der korporalen Belastung mit Quecksilber im Blut und
Cadmium im Urin zu erkennen.
Die korporale Belastung mit Organochlorverbindungen im
Blut (HCB, α-HCH, β-HCH, γ-HCH, DDE, PCB-138, PCB-153,
PCB-180) wurde erstmalig in diesem Umwelt-Survey bei einem Unterkollektiv von ca. 2000 Fällen untersucht. Die Auswertungen der ersten 1200 Fälle ergeben zunehmende Gehalte mit zunehmendem Lebensalter, höhere mittlere DDEGehalte bei der Bevölkerung der neuen Länder, höhere mittlere PCB-Konzentrationen im Blut bei der Bevölkerung der alten Länder und höhere mittlere HCB-Gehalte bei den Frauen.
Diese Ergebnisse decken sich mit den in der Literatur von
kleineren Kollektiven her bekannten Zusammenhängen [Kappos et al. 1998, Kommission „Human-Biomonitoring“ 1999].
Die Belastung des häuslichen Trinkwassers mit Blei, Kupfer
und Zink hat sich 1998 gegenüber 1990/92 hauptsächlich in
den neuen Ländern verändert. Während hier eine Reduzierung der mittleren Bleibelastung zu beobachten ist, sind deutliche Zunahmen der Kupfer- und Zinkbelastung feststellbar.
Die 1998 ermittelten Cadmiumgehalte im häuslichen Trinkwasser weisen gegenüber der Belastung in den Jahren 1990/
92 keine wesentliche Veränderung auf.
C. Schulz, K. Becker, D. Helm, C. Krause
ebenfalls nicht vor. Um jedoch eine Orientierung für die umweltmedizinische Praxis zu geben, hat die Kommission die
aus verschiedenen Laboratorien vorliegenden Daten, die nach
1994 ermittelt wurden, als Grundlage für eine Abschätzung
der damaligen Hintergrundbelastung und zur Festlegung von
Referenzwerten für β-HCH, HCB, PCB-138, -153 und -180 genutzt [Kappos et al. 1998, Ewers et al. 1999]. Ein Vergleich
dieser altersspezifischen Referenzwerte mit den aus dem Umweltsurvey 1998 vorliegenden, noch nicht endgültigen 95%
Perzentil-Werten zeigt eine recht gute Übereinstimmung,
wobei eine Tendenz zu niedrigeren Referenzwerten für die
PCBs im Jahr 1998 erkennbar wird.
Jeder Untersuchungsteilnehmer erhielt ein Befundungsschreiben, welches die Analysenergebnisse und eine umwelthygienische Bewertung beinhaltete. Allen Probanden mit erhöhten Schwermetallgehalten im Blut oder im Urin wurden
Nachuntersuchungen zur Kontrolle der Befunde angeboten.
Im Falle von erhöhten Organochlorverbindungen erfolgte der
Hinweis auf lokale Umweltambulanzen. Zwischen 3% (Blutentnahme), 20% (Morgenurin) und 40% (Trinkwasser) dieser
Personen nahmen das Angebot einer Nachuntersuchung an.
Wie bereits in den vorangegangenen Umwelt-Surveys [Becker
et al. 1997] ist auch für 1998 festzustellen, daß die Grenz-/
Richtwerte der Trinkwasserverordnung [TrinkwV 1990] am
häuslichen Zapfhahn in Deutschland nicht immer eingehalten
werden. Überschreitungen der Richtwerte für Zink und Kupfer sind bei rund 1% und 2% der untersuchten Haushalte zu
beobachten. Bei Blei wird der derzeit gültige Grenzwert der
Trinkwasserverordnung (40μg/l) in knapp 1% der Fälle nicht
eingehalten. Wie bereits aus dem Umwelt-Survey 1990/92
bekannt ist, treten in den neuen Ländern häufiger Bleiwerte
>40μg/l im häuslichen Trinkwasser auf. Legt man den Parameterwert der neuen EU-Richtlinie (EU 1998) von 10μg/l für
Blei zugrunde, ist in Deutschland von gut 5% Überschreitungen auszugehen.
Umweltmedizinische bzw. -hygienische Bewertung
Gemessen an den von der Kommission „Human-Biomonitoring“ des Umweltbundesamtes erarbeiteten Human-Biomonitoring (HBM)-Werten [Ewers et al. 1999] sind für 1998 bei
etwa 0,5% der erwachsenen Bevölkerung korporale Belastungen (Blei oder Quecksilber im Blut sowie Quecksilber oder
Cadmium im Urin) zu erwarten, bei denen eine gesundheitliche Beeinträchtigung nicht ausreichend sicher ausgeschlossen werden kann. In Einzelfällen werden Werte ermittelt, insbesondere Bleigehalte im Blut, ab denen eine gesundheitliche
Beeinträchtigung möglich ist. Bei rund 7 % der Probanden
werden auffällige Arsengehalte [zur Definition s.: Krause et al.
1987] im Urin beobachtet. Aufgrund der Ergebnisse der Nachuntersuchungen, die im Rahmen der vorangegangenen Umwelt-Surveys durchgeführt wurden [Seiwert et al. 1999],
dürfte es sich bei Arsen auch in diesem Survey um akute und
nicht um chronische Belastungen handeln.
Für eine Beurteilung von Konzentrationen an Organochlorverbindungen im Blut hat die Kommission „Human-Biomonitoring“ des Umweltbundesamtes aufgrund der bisher nicht
ausreichenden umweltmedizinischen Datenlage keine HBMWerte abgeleitet. Repräsentative Untersuchungen für die
deutsche Bevölkerung zur Beurteilung der Hintergrundbelastung und damit zur Festlegung von Referenzwerten lagen
Ausblick
In Analogie zu den vorangegangenen Umwelt-Surveys ist geplant, diverse Berichtsbände zu den Themen „Methodenbeschreibung“, „Fragebogenerhebung“, „Human-Biomonitoring“, „Trinkwasser“ und „Hausstaub“ zu publizieren. Diese
Veröffentlichungen werden vor allem die deskriptiven Auswertungen beinhalten, da diese Form der Auswertung am besten dem Hauptziel des Umwelt-Surveys – Ermittlung und
Aktualisierung von repräsentativen Daten über bestehende
Schadstoffbelastungen der Bevölkerung – gerecht wird. Die
Verteilungen der Stoffe in den jeweiligen Medien werden sowohl für die gesamte Bevölkerung als auch für diverse, unterschiedlich belastete Bevölkerungsgruppen dargestellt werden. Die Ergebnisse dienen u.a. einer bundeseinheitlichen
Vorgehensweise bei Bewertungsfragen in der umweltmedizinischen Praxis. Darüber hinaus wird die Kommission „Human-Biomonitoring“ anhand der aktuellen Daten die bisherigen Referenzwerte aktualisieren und Referenzwerte für weitere Stoffe erstmalig festlegen können.
Umwelt-Survey 1998 – Erste Ergebnisse
Literatur
1
Becker K, Müssig-Zufika M, Hoffmann K, Krause C, Nöllke P,
Schulz C, Seiwert M (1997). Umwelt-Survey 1990/92, Band V:
Trinkwasser, Deskription der Spurenelementgehalte im Haushalts- und Wasserwerks-Trinkwasser der Bevölkerung in der
Bundesrepublik Deutschland. WaBoLu-Heft 5/97. Institut für
Wasser-, Boden- und Lufthygiene des Umweltbundesamtes,
Berlin
2 EU (1998). Richtlinie des Rates über die Qualität des Wassers für
den menschlichen Gebrauch (98/83/EG) vom 3. November 1998.
Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften. L330 vom
5.12.1998, 32–54
3 Ewers U, Krause C, Schulz C, Wilhelm M (1999). Reference values and human biological biomonitoring values for environmental toxin. Int Arch Occup Environ Health 72: 255–260
4 Kappos AD, Schümann M, Angerer J (1998). Referenzwerte für
die PCB-Kongenere Nr. 138, 153 und 180 und deren Summe in
Humanblut. Versuch einer Bewertung der Datenlage in Deutschland 1996. Umweltmed Forsch Prax 3, 3: 135–143
5 Krause C, Thron HL, Wagner HM, Flesch-Janys D, Schümann M
(1987). Ergebnisse aus Feldstudien über die Belastung der Bevölkerung mit Schwermetallen durch industrielle Quellen,
Schr.-Reihe Verein WaBoLu 74, Fischer Verlag, Stuttgart, 105–
111
6 Krause C, Babisch W, Becker K, Bernigau W, Hoffmann K, Nöllke
P, Schulz C, Schwabe R, Seiwert M, Thefeld W (1996). UmweltSurvey 1990/92, Band Ia: Studienbeschreibung und HumanBiomonitoring: Deskription der Spurenelementgehalte in Blut
und Urin der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland. WaBoLu-Heft 1/96. Institut für Wasser-, Boden- und Lufthygiene
des Umweltbundesamtes, Berlin
7 Krause C, Seifert B, Schulz C (1998). Umwelt-Survey 1997/98.
Gesundheitswesen 60; Sonderheft 2: 577–582
8 Kommission „Human-Biomonitoring“ (1999). Statusbericht zur
Hintergrundbelastung mit Organochlorverbindungen in Humanblut. Empfehlungen des Instituts für Wasser-, Boden- und
Lufthygiene des Umweltbundesamtes, Kommission „HumanBiomonitoring“ des Umweltbundesamtes. Bundesgesundheitsbl
– Gesundheitsforsch – Gesundheitsschutz 42, 5: 446–448
9 Seiwert M, Becker K, Friedrich C, Helm D, Hoffmann K, Krause C,
Nöllke P, Schulz C, Seifert B (1999). Umwelt-Survey 1990/92,
Band VIII: Arsen – Zusammenhangsanalyse. WaBoLu-Heft 3/99.
Institut für Wasser-, Boden- und Lufthygiene des Umweltbundesamtes, Berlin
10 TrinkwV. Verordnung über Trinkwasser und Wasser für Lebensmittelbetriebe (Trinkwasserverordnung vom 5. Dezember
1990). Bundesgesetzblatt, Jahrgang 1990, Teil I, 2612–2629
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S215
C. Schulz, K. Becker
Umweltbundesamt
Corrensplatz 1
D-14195 Berlin
S216 WEITERE THEMEN
somatoforme und
›› Affektive,
Angststörungen in Deutschland –
Erste Ergebnisse des bundesweiten
Zusatzsurveys „Psychische
Störungen“
Zusammenfassung: Hintergrund und Fragestellungen: Bislang
fehlten bundesweite epidemiologische Studien, die eine verläßliche Prävalenzabschätzung psychischer Störungen in der
Bundesrepublik Deutschland ermöglichen. Im folgenden werden erste Prävalenzbefunde aus dem Zusatzsurvey „Psychische Störungen“ des bundesweiten Gesundheitssurveys vorgestellt und folgende Fragestellungen untersucht: 1) Wie ist
die 4-Wochen-Querschnitts-Prävalenz von affektiven, somatoformen und Angststörungen in Deutschland? 2) Wie häufig
sind diese Störungen in verschiedenen Altersgruppen bei
Frauen und Männern? 3) Lassen sich Prävalenzunterschiede
zwischen den neuen und alten Bundesländern nachweisen?
4) Welche Auswirkungen haben psychische Störungen auf die
Arbeitsproduktivität?
Methode: Aufbauend auf dem Datensatz des Bundes-Gesundheitssurveys wurden in einem 2-Stufen-Design zunächst
alle 7124 Teilnehmer des Kernsurveys mit einem ScreeningFragebogen (CID-S) und daraufhin n=4181 Probanden (100%
der Screen-Positiven und 50% der Screen-Negativen) mit dem
Composite International Diagnostic Interview (DIA-X-M-CIDI)
untersucht. Die Ausschöpfungsrate betrug 87,6%.
Ergebnisse: Affektive (6,3%), Angst- (9%) und somatoforme
Störungen (7,5%) sind in allen Altersgruppen (zwischen 18
und 65 Jahren) der deutschen Allgemeinbevölkerung weit verbreitet; Frauen sind häufiger betroffen als Männer. Der Vergleich der neuen mit den alten Bundesländern ergab geringere Prävalenzraten für somatoforme und affektive Erkrankungen in den neuen Bundesländern. Affektive Störungen
wiesen mit im Mittel 1,3 Tagen/Monat vollständiger und 7,2
Tagen/Monat teilweise eingeschränkter Arbeitsproduktivität
bedeutsam höhere Werte auf als Angst- und somatoforme
Störungen.
Schlußfolgerungen: Psychische Störungen in Form von affektiven, somatoformen und Angststörungen sind mit 17,3%
in Deutschland weit verbreitet. Der Befund einer geringeren
Morbiditätsrate an affektiven und somatoformen Störungen
in den neuen Bundesländern widerspricht einer Reihe nicht
epidemiologischer Untersuchungen mit anderer Methodik.
Die Befunde zur Einschränkung der Arbeitsproduktivität verdeutlichen die gesundheitsökonomische Bedeutung psychischer Störungen.
H.-U. Wittchen, N. Müller, H. Pfister, S. Winter,
B. Schmidtkunz
Max-Planck-Institut für Psychiatrie, Klinische Psychologie und
Epidemiologie
German National Health Interview and Examination Survey –
Mental Health Supplement (GHS-MHS): Background and aims:
The paper informs about methods and field survey procedures
used in the German National Health Interview and Examination
Survey – Mental Health Supplement (GHS-MHS) – and provides
12-month prevalence estimates of affective, anxiety and somatoform disorders in the general population. Such data have
previously not been available for Germany on a nationwide
level.
Methods: Findings are based on a two-stage design: In the
first stage all the 7124 participants of the German National
Health Interview and Examination Survey (core survey) completed the Composite International Diagnostic-Screener (CIDS) for mental disorders. In the second stage 4181 probands (all
screen-positive and a random sample of 50% of the screennegative subjects) were interviewed with the full Composite
International Diagnostic Interview (DIA-X-M-CIDI) by clinical
interviewers. The overall response rate was 87.6%.
Results: Affective (12-months prevalence estimate: 6.3%),
anxiety (9%) and somatoform disorders (7.5%) are widespread in all age groups (18 to 65 years) of the German population; women are significantly more often affected than men.
The prevalence rates of somatoform and affective disorders
were found to be significantly lower in the former East German
Länder as compared to the former West, whereas no such difference was found with regard to anxiety disorders. All disorders resulted in considerable reduction of work productivity
during the past month; affective disorders reported on average 1.3 days/month total impairment and 7.2 days/month
partial impairment, indicated significantly higher reduction in
work productivity than anxiety and somatoform disorders.
Conclusions: Affective, somatoform and anxiety disorders
are highly prevalent mental disorders (total: 17.3%) in the German population. The result of a lower morbidity of affective
and somatoform disorders in former East Germany was unexpected and requires further clarification. The findings on impairment of work productivity emphasize the economic impact of psychiatric disorders on society .
Key words: Prevalence – Mental Disorders – Depression –
Somatoform Disorders
Schlüsselwörter: Prävalenz – Psychische Störungen – Angst –
Depression – Somatoforme Störungen
Einleitung
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S216–S222
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Psychische Störungen, insbesondere verschiedene Formen
depressiver und Angsterkrankungen, gehören nach den Abschätzungen neuerer epidemiologischer Studien zu den besonders häufigen, kostenintensiven und sehr stark und oft
dauerhaft die Lebensführung Betroffener einschränkenden
Beitrag: 373.fm
Ausdruck vom 25.5.00
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S217
Affektive, somatoforme und Angststörungen in Deutschland
Formen von Erkrankungen. Neuere, methodisch besonders
sorgfältig durchgeführte Untersuchungen in den USA [Kessler
et al. 1994], Kanada [Lin et al. 1997] und Australien [Andrews
et al. 1999] lassen erkennen, daß fast ein Drittel der Gesamtbevölkerung im Verlauf eines Jahres von einer psychiatrischen Erkrankung betroffen ist – jüngere Altersgruppen
ebenso wie ältere. Diese Studien konnten auch aufzeigen, daß
[Andrews et al. 1999] psychiatrische Erkrankungen häufig mit
erheblichen psychosozialen Einschränkungen, insbesondere
hinsichtlich Arbeitsproduktivität und Lebensgestaltung, wie
auch mit deutlich erhöhten Arbeitsunfähigkeitszeiten verbunden sind und [Lin et al. 1997] nur ungefähr ein Drittel aller
Betroffenen auch eine Behandlung erhält. Auch Hochrechnungen der WHO im Rahmen der Global Burden of Disease
Studie [Murray, Lopez 1996] haben darauf aufmerksam gemacht, daß psychische Störungen insgesamt und depressive
Störungen im besonderen bereits jetzt zu der Spitzengruppe
der kostenintensivsten und am meisten beeinträchtigenden
Krankheiten gehören und offensichtlich deutlich zunehmen;
so wird geschätzt, daß vermutlich im Jahre 2020 allein Depressionen den zweiten Rangplatz unter den am stärksten belastenden Krankheitsformen einnehmen werden.
Während die herausragende Bedeutung psychischer Störungen
international seit vielen Jahren zunehmend politische und wissenschaftliche Aufmerksamkeit findet und psychische Störungen in der internationalen Public-Health-, epidemiologischen
und Grundlagenforschung einen hohen Stellenwert einnehmen, wurde diese Thematik in Deutschland lange Zeit vernachlässigt. Mit Ausnahme einer Reihe regionaler bevölkerungsepidemiologischer Studien an Kindern und Jugendlichen [Döpfner
et al. 1997; Schmidt et al. 1995; Wittchen et al. 1998], Erwachsenen [Fichter 1990, Wittchen et al. 1998; John] und Erwachsenen in höherem Alter [Bickel 1995; Fichter et al. 1996; Mayer,
Baltes 1996; Weyerer 1995] fehlen verläßliche bundesweite
Abschätzungen auf der Grundlage moderner diagnostischer
Kriterien (ICD-10 [World, Health Organization 1991] oder
DSM-IV [APA 1994]) völlig. Die genannten Studien liefern zwar
einige wenige für die aktuelle Public-Health-Forschung relevante Informationen, aber sie erlauben aufgrund ihrer methodischen Eigenheiten und Grenzen weder eine bundesweite Abschätzung der Gesamtprävalenz psychischer Störungen noch
Aussagen über einzelne Störungsformen und Prävalenzunterschiede zwischen neuen und alten Bundesländern, Behandlungsraten oder das Ausmaß der mit psychiatrischen Störungen einhergehenden psychosozialen Beeinträchtigungen und
Behinderungen. Diese Ausführungen machen deutlich, daß der
den bundesweiten Kernsurvey [Bellach et al. 1998] ergänzende
bundesweite Zusatzsurvey „Psychische Störungen“ [Wittchen
et al. 1998] eine signifikante klinische, deskriptiv-epidemiologische und gesundheitspolitische Aufwertung des Gesamtvorhabens bedeutet, die den aktuell diskutierten internationalen
Forschungsprioritäten in besonderem Maße Rechnung trägt.
Ziele und Fragestellungen
Ziel dieses Beitrags ist es, die Methodik, das Untersuchungsvorgehen, die Ausschöpfung wie auch einige erste grob orientierende Prävalenzbefunde für drei besonders häufige Störungsgruppen zu berichten. Im einzelnen werden folgende
Fragestellungen angesprochen:
1. Wie ist die 4-Wochen-Querschnitts-Prävalenz von affektiven, somatoformen und Angststörungen in Deutschland?
2. Wie häufig sind diese Störungen in verschiedenen Altersgruppen bei Frauen und Männern?
3. Lassen sich Prävalenzunterschiede zwischen den neuen
und alten Bundesländern nachweisen?
4. Welche Auswirkungen haben psychische Störungen auf die
Arbeitsproduktivität?
Methodik
Design und Vorgehen
Das Studiendesign und die Untersuchungsinstrumente wurden kürzlich ausführlicher in einer gesonderten Publikation
beschrieben, so daß hier nur kurz auf das Design eingegangen
wird.
Der Zusatzsurvey „Psychische Störungen“ wurde vom MaxPlanck-Institut für Psychiatrie auf der Grundlage der
Stichprobe des Bundes-Gesundheitssurveys (Kernsurvey) des
Robert-Koch-Instituts (RKI) in einer zeitlich getrennten, persönlichen Zusatzuntersuchung durchgeführt. Dabei kam aus
Effizienzüberlegungen heraus ein 2stufiges Untersuchungsdesign zum Einsatz: Es füllten zunächst alle 7124 Teilnehmer
des Kernsurveys einen Screening-Fragebogen (Composite International Diagnostic-Screener [CID-S]) [Wittchen et al.
1999] aus, der im Rahmen des Arztinterviews im Kernsurvey
vorgegeben wurde. Alle Screen-Positiven und eine Zufallsauswahl von 50% der Screen-Negativen wurden dann zu einem
gesonderten, knapp einstündigen klinisch-psychiatrischen
Untersuchungsgespräch eingeladen, das mittels des computergestützten Composite International Diagnostic Interviews
(DIA-X-M-CIDI) [Wittchen, Semler 1991] durchgeführt
wurde.
Untersucht wurden alle Teilnehmer des Kernsurveys mit Ausnahme der Altersgruppe 66–79jähriger, da das CIDI für diese
Altersgruppe nur unzureichend validiert ist.
Diagnostische Fallfindung mit dem CIDI
Die Untersuchungsteilnehmer wurden mit einer leicht modifizierten Fassung des computerisierten DIA-X-CIDI untersucht
[Wittchen, Pfister 1997]. Das DIA-X Composite International
Diagnostic Interview Schedule ist eine modifizierte Version des
World Health Organization – CIDI [World, Health Organization 1991; World Health Organization 1997], das in einer Papier- und Bleistiftversion und einer computerisierten Version
verfügbar ist. Für die Studie wurde aus Gründen der Kosteneffizienz und besseren Qualität der Daten die computerisierte
Version eingesetzt. Das CIDI erlaubt die standardisierte Erfassung von Symptomen, Syndromen und Diagnosen ausgewählter psychischer Störungen gemäß den Kriterien von ICD-10
[World Health Organization 1991] und DSM-IV [APA 1994],
die Beurteilung von Beginn, Dauer und Verlauf der Syndrome
sowie des klinischen und psychosozialen Schweregrades und
resultierender Komplikationen. Ferner werden standardisiert
für alle „Schlüsselsyndrome“ das Hilfesuchverhalten bei Ärzten und anderen sowie die Medikamenteneinnahme erfragt
und kodiert. Zusätzliche Standard-Prüffragen ermöglichen
zudem die Beschreibung von körperlichen Faktoren und Erkrankungen, die im Zusammenhang mit den vom Probanden
beschriebenen Symptomen stehen. Die Auswertung erfolgt
computerisiert über das Standard-DIA-X-CIDI-Programm ge-
Beitrag: 373.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S218 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
H.-U. Wittchen et al.
Abb. 1 Die Stichprobe des Zusatzsurveys
„Psychische Störungen“.
Kernsurvey-Stichprobe (RKI)
7124
Neutrale Ausfälle
965
zu alt
962
Ausgangsstichprobe
Zusatzsurvey „Psychische Störungen“
6159
fehlend
3
verweigert
71
unauffällig
2614
nicht ausgewählt
1313
auffällig
3474
ausgewählt
1301
Ausfall
423
durchgeführt
3051
durchgeführt
1130
Ausfall
171
mäß den Kriterien von DSM-IV und den Forschungskriterien
der ICD-10 und ist somit auswerterobjektiv.
ren; der Zeitabstand zwischen Kernsurvey und Zusatzsurvey
betrug im Mittel (Median) 24 Tage.
Die Reliabilität und prozedurale Validität des CIDI-Ansatzes
wurden in verschiedenen Untersuchungen überprüft [Lachner et al. 1998, Reed et al. 1998, Wittchen 1994, Wittchen et
al. 1998]. Zusätzlich wurde auch die Reliabilität und prozedurale Validität des CIDI mit seinen Ergänzungen überprüft.
Die mittlere Dauer der Durchführung des Interviews beträgt
45 Minuten.
Ausschöpfung und untersuchte Stichprobe
Interviewer, Training und Durchführung der Feldarbeit
Insgesamt 24 klinisch erfahrende Interviewer(innen) – überwiegend klinische Psychologinnen (n=18; 75%) – führten die
Untersuchungsgespräche im Feldarbeits-Zeitraum November
1997 bis April 1999 durch. Alle Interviewer – ungeachtet ihrer
Vorerfahrungen mit dem Studieninstrument – nahmen an zumindest einem der insgesamt fünf zweitägigen DIA-X-CIDIStudientrainings teil, die im Studienverlauf zur Qualitätssicherung, Nachschulung alter und Erstschulung neuer Interviewer stattfanden. Über den gesamten Studienverlauf hinweg nahmen alle Interviewer jeweils nach 25 Interviews an
klinischen Editoren-Sitzungen mit erfahrenen Feld-Supervisoren der Arbeitsgruppe teil, welche die abgegebenen Interviews auf formale und inhaltliche Korrektheit prüften. Darüber hinaus wurden alle Interviewer durch die I+G Gesundheitsforschung über Datenschutz und Feldarbeitsbelange
belehrt und trainierten in Rollenspielübungen das Kontaktverhalten, um eine möglichst hohe Ausschöpfung zu erzielen.
Die Feldarbeit und Kontaktaufnahme mit den Zielprobanden
wurde in Abstimmung mit der Kernsurvey-Organisation möglichst bald nach Beendigung der Arbeiten des Kernsurveyteams begonnen. Dabei berichteten die Kernsurvey-Interviewer der Studienzentrale die untersuchten Personen und
übergaben die für den Zusatzsurvey notwendigen Daten
(Screening-Fragebogen und Krankheitsliste, Einverständniserklärung). Daraufhin wurden auf der Grundlage der Screening-Befunde die Zielpersonen ausgewählt und möglichst innerhalb von 3 Wochen nach der Kernsurvey-Befragung nochmals von der Einsatzzentrale und den Interviewern zur
Vereinbarung eines Untersuchungstermins kontaktiert. Die
Interviewer reisten dann in den jeweiligen Sample point und
führten innerhalb von etwa 10 Tagen die Zielpersonen-Interviews durch.
Es wurden bis zu 15 telefonische, briefliche oder persönliche
Kontaktversuche unternommen, um ein Interview zu realisie-
Die Kernsurvey-Stichprobe bestand aus n=7124 Teilnehmern,
aus welchen nach Ausschluß aller älteren Teilnehmer (neutrale
Ausfälle insgesamt n=965) die für den Zusatzsurvey relevante
Ausgangsstichprobe von n=6159 resultiert (Abb. 1). N=71
Probanden verweigerten bereits vor der Kontaktaufnahme
grundsätzlich die Teilnahme am Zusatzsurvey und wurden
nicht kontaktiert. Kontaktiert wurden alle Screen-Positiven
(n=3474) und 50% der insgesamt 2614 Screen-Negativen.
Mit insgesamt 4181 Personen wurden vollständige Interviews
realisiert, mit einer außerordentlich hohen Ausschöpfungsrate von 87,6%. Bezüglich der Screen-Positiven und -Negativen ergaben sich keine wesentlichen Unterschiede in der Ausschöpfung (87,8% vs. 86,9%). Allerdings variierten die Ausschöpfungsraten leicht zwischen den Bundesländern; die
niedrigste Ausschöpfungsrate ergab sich für MecklenburgVorpommern (78,5%), die höchsten Raten mit über 90% ergaben sich für das Saarland (92,2%), Thüringen (91,7%), Niedersachsen (90,6%) und Baden-Württemberg (90,3%). Unter den
Ausfallgründen dominierte die Verweigerung (n=418; 70,4%
der Ausfälle) und das Nicht-Antreffen irgendeiner Person im
Haushalt (n=93; 15,7% der Ausfälle); alle übrigen Ausfallgründe lagen unter 7%.
Soziodemographische Charakteristik
Tab. 1 zeigt die Charakteristik der Untersuchungsstichprobe
im Vergleich zur deutschen Gesamtbevölkerung vor sowie
nach Gewichtung der Daten (entsprechend Screening-Status
und der Demographiegewichtung des Gesamtsurveys). Obwohl sich insgesamt nur marginale Unterschiede unserer Untersuchungsstichprobe gegenüber der Ausgangsstichprobe
(Kernsurvey) sowie der Gesamtbevölkerung ergeben, ist doch
tendenziell die höhere Nichtteilnahmerate der Männer, insbesondere in den Altersgruppen 25–44, bemerkenswert.
Tab. 2 gibt eine grobe soziodemographische Charakteristik
nach neuen und alten Bundesländern. Dabei fällt insbesondere eine Reihe von Unterschieden hinsichtlich des aktuellen
Berufstätigkeitsstatus auf. In den neuen Bundesländern sind
deutlich mehr Studienteilnehmer arbeitslos (12,6% vs. 4,1%)
oder vorzeitig berentet (6,6 vs. 4,6), allerdings geben in den
neuen Bundesländern signifikant weniger an, Hausfrau/
-mann zu sein (1,8% vs. 9,7%).
Beitrag: 373.fm
Ausdruck vom 25.5.00
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S219
Affektive, somatoforme und Angststörungen in Deutschland
Tab. 1 Soziodemographische Verteilung der Bundesdeutschen Bevölkerung, der Ausgangsstichprobe und der Probanden (ungewichtet und gewichtet)
deutsche Bevölkerung
31.12.97
Ausgangsstichprobe
Untersuchungsstichprobe (Zusatzsurvey)
Alter
n
%total
(Kernsurvey)
n
%total
gesamt
n
%total % aus
Screen positiv1
n
%total %Pos
Screen negativ1
n
%total & Neg
gesamt
Nw
%w
gesamt
48623582
100,0
6159
100,0
4181 100,0 67,9
3051 100,0
1130 100,0
4181 100,0
18–19
20–24
25–29
30–34
35–39
40–44
45–49
50–54
55–59
60–64
65
1555877
3726957
5120766
6429299
6162182
5408909
4992542
4156613
5577400
4745123
747914
3,2
7,7
10,5
13,2
12,7
11,1
10,3
8,5
11,5
9,8
1,5
267
454
562
755
800
668
644
561
795
601
52
4,3
7,4
9,1
12,3
13,0
10,8
10,5
9,1
12,9
9,8
0,8
181
296
374
513
555
460
454
399
525
389
35
24450239
50,3
3034
49,3
1913
18–19
20–24
25–29
30–34
35–39
40–44
45–49
50–54
55–59
60–64
65
796858
1902813
2613438
3276986
3129616
2740595
2521729
2071472
2751744
2292016
352972
1,6
3,9
5,4
6,7
6,4
5,6
5,2
4,3
5,7
4,7
0,7
142
242
262
372
395
320
310
288
387
290
26
2,3
3,9
4,3
6,0
6,4
5,2
5,0
4,7
6,3
4,7
0,4
94
152
165
230
254
215
199
190
234
165
15
Frauen
24173343
49,7
3125
50,7
2268
18–19
20–24
25–29
30–34
35–39
40–44
45–49
50–54
55–59
60–64
65
759019
1824144
2507328
3152313
3032566
2668314
2470813
2085141
2825656
2453107
394942
1,6
3,8
5,2
6,5
6,2
5,5
5,1
4,3
5,8
5,0
0,8
125
212
300
383
405
348
334
273
408
311
26
2,0
3,4
4,9
6,2
6,6
5,7
5,4
4,4
6,6
5,0
0,4
87
144
209
283
301
245
255
209
291
224
20
Männer
1
4,3
7,1
8,9
12,3
13,3
11,0
10,9
9,5
12,6
9,3
0,8
87,8
43,2
67,8
65,2
66,5
67,9
69,4
68,9
70,5
71,1
66,0
64,7
67,3
131
215
251
369
396
347
331
296
406
284
25
4,3
7,0
8,2
12,1
13,0
11,4
10,8
9,7
13,3
9,3
0,8
88,5
82,1
86,6
89,1
90,2
88,5
88,3
90,0
85,5
88,5
86,2
50
81
123
144
159
113
123
103
119
105
10
4,4
7,2
10,9
12,7
14,1
10,0
10,9
9,1
10,5
9,3
0,9
42,7
43,5
47,1
43,1
44,9
42,6
47,5
45,0
37,9
38,6
43,5
134
320
440
553
530
465
429
357
480
408
64
3,2
7,7
10,5
13,2
12,7
11,1
10,3
8,5
11,5
9,8
1,5
45,8 63,1
1255
41,1
85,9
658
58,2
42,7
2102
50,3
66,2
62,8
63,0
61,8
64,3
67,2
64,2
66,0
60,5
56,9
57,7
60
100
99
152
165
146
126
128
158
109
12
2,0
3,3
3,2
5,0
5,4
4,8
4,1
4,2
5,2
3,6
0,4
88,2
80,0
86,8
86,4
86,8
90,7
86,3
87,1
81,0
87,2
85,7
34
52
66
78
89
69
73
62
76
56
3
3,0
4,6
5,8
6,9
7,9
6,1
6,5
5,5
6,7
5,0
0,3
45,9
46,0
46,2
40,4
44,1
45,7
45,3
44,0
40,2
34,6
25,0
69
164
225
282
269
236
217
178
237
197
30
1,6
3,9
5,4
6,7
6,4
5,6
5,2
4,3
5,7
4,7
0,7
54,2 72,6
1796
58,9
89,2
472
41,8
44,0
2079
49,7
71
115
152
217
231
201
205
168
248
175
13
2,3
3,8
5,0
7,1
7,6
6,6
6,7
5,5
8,1
5,7
0,4
88,8
83,9
86,4
91,2
92,8
87,0
89,5
92,3
88,6
89,3
86,7
16
29
57
66
70
44
50
41
43
49
7
1,4
2,6
5,0
5,8
6,2
3,9
4,4
3,6
3,8
4,3
0,6
37,2
39,7
48,3
46,8
46,1
38,6
51,0
46,6
34,4
44,5
63,6
65
157
216
271
261
229
212
179
243
211
34
1,6
3,8
5,2
6,5
6,2
5,5
5,1
4,3
5,8
5,0
0,8
2,2
3,6
3,9
5,5
6,1
5,1
4,8
4,5
5,6
3,9
0,4
2,1
3,4
5,0
6,8
7,2
5,9
6,1
5,0
7,0
5,4
0,5
69,6
67,9
69,7
73,9
74,3
70,4
76,3
76,6
71,3
72,0
76,9
Screen positiv = mindestens eine der CID-S Fragen wurde bejaht, Screen negativ = keine der CID-S Fragen wurde bejaht
Ergebnisse
Affektive, somatoforme und Angststörungen in Deutschland
Im folgenden werden die 4-Wochen-Querschnitts-Prävalenzen für drei Hauptstörungsgruppen (affektive, Angst- und somatoforme Störungen) berichtet. Die affektiven Störungen
umfassen folgende spezifische Diagnosen gemäß der ICD-10Klassifikation: F30 Manische Episode, F31 Bipolare affektive
Störung, F32 Depressive Episode, F33 Rezidivierende depressive Störung sowie F34.1 Dysthymie. Dabei werden alle Subtypen der ICD-10 (Kodierungen an 3. und 4. Stelle) berücksichtigt. Die Angststörungen umfassen F40.0 Agoraphobie,
F40.1 Soziale Phobie, F40.2 Spezifische Phobie, F40.8 Sonstige
phobische Störungen, F41.0 Panikstörung, F41.1 Generalisierte Angststörung sowie F42.0 Zwangsstörung. Bezüglich
somatoformer Störungen werden hier F45.0 Somatisierungsstörung, F45.1 Undifferenzierte Somatisierungsstörung, F45.2
Hypochondrische Störung und F45.4 Anhaltende somatoforme Schmerzstörung berücksichtigt.
Abb. 2 berichtet die Prävalenzraten zusammen mit ihren 95%
Konfidenzintervallen; 9% aller 18–65jährigen erfüllten zum
Untersuchungszeitpunkt die Kriterien einer Angsterkrankung, 7,5% einer somatoformen und 6,3% die einer affektiven
Störung. Insgesamt waren 17,2% oder bevölkerungsbezogen
8,35 Millionen der deutschen Bevölkerung in dieser Altersgruppe betroffen. Dabei muß berücksichtigt werden, daß ein
bedeutsamer Prozentsatz der Untersuchten die Kriterien von
mehr als einer psychischen Störung erfüllte.
Frauen waren insgesamt – mit Ausnahme 18–35jähriger mit
affektiven Störungen – von jeder Störungsgruppe signifikant
häufiger betroffen als Männer (Tab. 3). Deutlich wird auch,
daß psychische Störungen in jeder der untersuchten Alters-
Beitrag: 373.fm
Ausdruck vom 25.5.00
S220 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
H.-U. Wittchen et al.
Tab. 2 Soziodemographische Beschreibung der Stichprobe des Zusatzsurveys
gesamt
n
Nw
%w
95% KI1
alte Bundesländer
n
Nw
%w
95% KI1
neue Bundesländer
n
Nw %w
95% KI1
1913
2268
2102
2079
50,28
49,72
(48,57 – 52,00)
(48,00 – 51,43)
1301 1669
1512 1656
50,20
49,80
(48,17 – 52,22)
(47,78 – 51,83)
612 434
756 423
50,63 (47,68 – 53,57)
49,37 (46,43 – 52,32)
1466
992
1723
1542
981
1659
36,9
23,46
39,67
(35,20 – 38,58)
(22,03 – 24,94)
(37,99 – 41,37)
1017 1236
663 773
1133 1316
37,17
23,25
39,58
(35,21 – 39,18)
(21,59 – 24,99)
(37,61 – 41,59)
449 306
329 208
590 343
35,73 (32,89 – 38,67)
24,27 (21,80 – 26,92)
40,00 (37,18 – 42,89)
2617
97
991
277
119
80
2625
95
1021
244
114
83
62,79
2,27
24,41
5,83
2,72
1,98
(61,11 – 64,44)
(1,83 – 2,82)
(22,95 – 25,94)
(5,11 – 6,64)
(2,21 – 3,35)
(1,53 – 2,54)
1738 2085
74
81
695 815
168 182
82
90
56
70
62,73
2,44
24,53
5,47
2,72
2,11
(60,74 –
(1,92 –
(22,82 –
(4,65 –
(2,13 –
(1,59 –
64,67)
3,10)
26,32)
6,42)
3,47)
2,81)
879
23
296
109
37
24
540
14
205
62
23
12
63,04 (60,10 – 65,87)
1,61 (1,03 – 2,52)
23,96 (21,43 – 26,68)
7,21 (5,89 – 8,81)
2,74 (1,90 – 3,93)
1,44 (0,93 – 2,23)
Berufstätigkeit
nein
1531
Schule
77
Hochschule
78
Altersh. Rente
175
Vorz. Rente
216
arbeitslos
307
Hausfrau/-mann 322
Wehr-/Zivildienst
9
Umschulung
34
nichts davon
228
missing
85
ja
2650
<15 h
228
15–34 h
391
2031
≥ 35 h
1466
65
87
187
211
244
340
9
24
214
86
2715
246
362
2107
35,06
1,55
2,07
4,48
5,04
5,85
8,12
0,21
0,58
5,11
2,06
64,94
5,88
8,66
50,40
(33,44 – 36,72)
(1,21 – 1,98)
(1,62 – 2,65)
(3,74 – 5,36)
(4,34 – 5,85)
(5,14 – 6,65)
(7,25 – 9,09)
(0,10 – 0,42)
(0,40 – 0,82)
(4,43 – 5,90)
(1,61 – 2,62)
(63,28 – 66,56)
(5,11 – 6,76)
(7,77 – 9,65)
(48,67 – 52,12)
988 1136
62
55
53
68
98 140
126 154
120 136
296 324
7
8
16
14
150 165
60
73
1825 2188
197 225
279 300
1349 1663
34,18
1,65
2,06
4,20
4,63
4,09
9,74
0,23
0,42
4,97
2,18
65,82
6,75
9,04
50,03
(32,28 –
(1,26 –
(1,54 –
(3,35 –
(3,84 –
(3,36 –
(8,66 –
(0,11 –
(0,25 –
(4,18 –
(1,66 –
(63,87 –
(5,82 –
(7,98 –
(48,00 –
36,13)
2,17)
2,74)
5,27)
5,58)
4,98)
10,93)
0,50)
0,69)
5,90)
2,88)
67,72)
7,83)
10,22)
52,07)
543
15
25
77
90
187
26
2
18
78
25
825
31
112
682
330
9,7
18
48
57
108
16
1
10
49
13
527
21
62
444
38,49
1,13
2,14
5,55
6,62
12,64
1,84
0,13
1,20
5,69
1,55
61,51
2,49
7,20
51,82
Geschlecht
Männer
Frauen
Alter
18–35
36–45
45–65
Familienstand
verheiratet
getrennt
ledig
geschieden
verwitwet
missing
1
(35,66
(0,64
(1,34
(4,34
(5,28
(10,85
(1,19
(0,03
(0,74
(4,47
(1,02
(58,60
(1,67
(5,89
(48,86
–
–
–
–
–
–
–
–
–
–
–
–
–
–
–
41,40)
2,01)
3,40)
7,06)
8,27)
14,67)
2,83)
0,51)
1,95)
7,20)
2,36)
64,34)
3,69)
8,78)
54,76)
(Konfidenzintervall)
Tab. 3 Prävalenz von psychischen Störungen in der Bundesrepublik in den letzten 4 Wochen nach Alter und Geschlecht
DSM-IV Störung Alter
Männer
Nw %w
Frauen
Nw
%w
95% KI2
95% KI2
Frauen vs. Männer
OR1
95% KI2
affektive
Gesamt
18–35
36–45
46–65
100
32
17
51
4,75
4,08
3,40
6,24
(3,82
(2,71
(2,01
(4,65
–
–
–
–
5,89)
6,10)
5,70)
8,33)
163
43
36
84
7,82
5,57
7,78
9,89
(6,71
(4,11
(5,67
(7,96
– 9,10)
– 7,50)
– 10,58)
– 12,24)
1,69*
1,39*
2,40*
1,65*
(1,27
(0,81
(1,27
(1,11
– 2,24)
– 2,36)
– 4,53)
– 2,44)
Gesamt
18–35
36–45
46–65
110
42
25
43
5,25
5,46
4,92
5,27
(4,37
(3,99
(3,39
(3,92
–
–
–
–
6,30)
7,41)
7,08)
7,05)
265
102
59
104
12,74
13,32
12,64
12,27
(11,38
(11,10
(9,93
(10,18
– 14,24)
– 15,92)
– 15,94)
– 14,71)
2,64*
2,66*
2,79*
2,52*
(2,09
(1,80
(1,74
(1,73
– 3,34)
– 3,93)
– 4,49)
– 3,66)
Gesamt
18–35
36–45
46–65
104
24
23
56
4,93
3,14
4,53
6,90
(4,05
(2,08
(3,04
(5,25
–
–
–
–
5,99)
4,70)
6,68)
9,01)
208
68
52
88
9,99
8,87
11,09
10,40
(8,68
(6,91
(8,45
(8,33
– 11,48)
– 11,32)
– 14,43)
– 12,91)
2,13*
3,01*
2,63*
1,57*
(1,64
(1,82
(1,58
(1,07
– 2,76)
– 4,95)
– 4,39)
– 2,29)
Gesamt
18–35
36–45
46–65
245
81
51
113
11,65
10,42
9,94
13,89
(10,25
(8,25
(7,55
(11,50
–13,21)
–13,08)
–12,98)
–16,68)
473
169
107
197
22,75
21,96
23,01
23,31
(20,92
(19,04
(19,33
(20,40
– 24,69)
– 25,19)
– 27,17)
– 26,50)
2,23*
2,42*
2,71*
1,88*
(1,86
(1,76
(1,86
(1,43
– 2,67)
– 3,31)
– 3,94)
– 2,48)
Angst
somatoforme
irgendeine
1
2
Odds Ratio kontrolliert nach Alter
(Konfidenzintervall)
gruppe ähnlich häufig auftreten und nur bei den Männern
tendenziell höhere Prävalenzraten im Alter von 45–65 Jahren
beobachtet werden.
Auswirkungen auf die Arbeitsproduktivität
Abb. 3 verdeutlicht, daß psychische Störungen mit deutlich verringerter Arbeitsproduktivität einhergehen. Auf die Frage, an
Beitrag: 373.fm
Ausdruck vom 25.5.00
Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2 S221
Affektive, somatoforme und Angststörungen in Deutschland
tio: 1,4; 95% KI: 1,06–1,87) Störungen sind in den alten Bundesländern signifikant häufiger als in den neuen Ländern
(Tab. 4). Dieser Unterschied ist sowohl bei Männern wie auch
bei Frauen nachzuweisen. Demgegenüber ergeben sich keine
Unterschiede hinsichtlich der Prävalenz von Angststörungen.
Daraus ergibt sich unter ausschließlicher Berücksichtigung
dieser drei Störungsgruppen, daß Personen in den neuen Bundesländern eine signifikant niedrigere Prävalenzrate aufweisen (Odds ratio: 1,2; 95% KI: 1,0–1,5).
4-Wochen Prävalenz in %
18,0
16,0
17,2
(16,0-18,4)
14,0
12,0
10,0
8,0
9,0 (8,2-9,9)
6,0
7,5 (6,6-8,3)
6,3 (5,5-7,1)
4,0
Diskussion
2,0
0,0
Affektive Störungen
Angststörungen
Somatoforme
Störungen
Irgendeine Störung
Abb. 2
4-Wochen-Prävalenz affektiver, Angst- und somatoformer
Störungen.
Diagnose
0,3
keine psych. Störung
0,1
3,5
Irgendeine
0,6
eingeschränkt
arbeitsunfähig
2,7
Die ersten Befunde aus dem Zusatzsurvey „Psychische Störungen“ unterstreichen zunächst, daß ungeachtet der Ausschöpfung im Kernsurvey das 2-Stufen-Vorgehen im Zusatzsurvey erfolgreich realisiert wurde. Die erzielte hohe Ausschöpfung von 87,6% macht es – auch unter Berücksichtigung
unserer zusätzlichen Prüfprozeduren hinsichtlich verschiedener soziodemographischer Variablen – unwahrscheinlich, daß
gegenüber dem Kernsurvey weitere systematische Ausfalleffekte aufgetreten sind. Weiter eröffnen sich mit dieser hohen
Ausschöpfungsrate auch methodisch attraktive Möglichkeiten zukünftiger vertiefender Analysen gemeinsam mit den
Daten des Kernsurveys.
Somatoforme
0,7
4,6
Angst
0,8
7,2
Affektive
1,3
0,0
2,0
4,0
6,0
8,0
Abb. 3 Tage mit teilweise oder vollständig eingeschränkter Arbeitsproduktivität (in den letzten 4 Wochen) bei affektiven, Angst- und somatoformen Störungen.
wie vielen Tagen in den vergangenen 4 Wochen Betroffene „wegen ihrer psychischen Probleme überhaupt nicht in der Lage“
bzw. „zumindest leicht eingeschränkt“ waren, ihrer Arbeit und
ihren beruflichen/Haushalts-Verantwortlichkeiten nachzugehen, gaben Personen mit affektiven Störungen im Mittel 1,3
(95% KI: 0,70–1,80) Arbeitsunfähigkeitstage und 7,2 (95% KI:
5,81–8,53) Tage mit eingeschränkter Arbeitsproduktivität an.
Bei Angststörungen lagen die Werte mit 0,8 bzw. 4,6 Tagen und
bei somatoformen Störungen mit 0,7 bzw. 2,7 Tagen deutlich
niedriger. Alle Angaben sind jedoch gegenüber Personen ohne
eine dieser Störungen (0,1 bzw. 0,3 Tage) deutlich erhöht.
Sind psychische Störungen in den neuen Bundesländern häufiger?
Somatoforme (alte 8,0% vs. neue 5,5%; Odds ratio: 1,5; 95%
KI: 1,13–1,99) und affektive (alte 6,7% vs. neue 4,8%; Odds ra-
Zugleich liefert dieses Ergebnis auch einen weiteren Nachweis
der Realisierbarkeit differenzierter epidemiologischer Datenerhebungen zu einem weiten Spektrum psychischer Störungen
auf der Grundlage des standardisierten Composite International Diagnostic Interviews als Fallfindungsinstrument in Allgemeinbevölkerungsstudien. Damit stehen erstmals auch für die
Bundesrepublik, ähnlich wie in den angloamerikanischen Ländern, reliable und international direkt vergleichbare Bezugsdaten zur psychiatrischen Morbidität zur Verfügung.
Obwohl wir in diesem ersten Auswertungsschritt nur diagnostisch aggregierte Daten für drei Störungsgruppen berichten
können, deuten auf der inhaltlichen Ebene unsere Befunde
schon jetzt an, daß affektive, Angst- und somatoforme
Störungen in der deutschen Allgemeinbevölkerung in allen
Altersstufen weit verbreitet sind. Nahezu jeder fünfte Bundesbürger litt zum Befragungszeitpunkt an einer der hier untersuchten psychischen Störungen. Die ermittelte Gesamtprävalenz wie auch die Häufigkeit der einzelnen Störungen
decken sich weitgehend mit entsprechenden Daten aus den
USA, Kanada sowie Australien und Großbritannien [Andrews
et al. 1999; Kessler et al. 1994; Lin et al. 1997; Meltzer et al.
1995] und stehen auch im Einklang mit unseren regionalen
Daten aus der EDSP [Wittchen et al. 1998]. Bemerkenswert
ist, daß die Prävalenzbefunde mit geringen Variationen in allen Altersgruppen ähnlich ausfallen; dies unterstreicht, daß
affektive, Angst- und somatoforme Störungen kein alters-
Tab. 4 Prävalenz von psychischen Störungen in der Bundesrepublik in den letzten 4 Wochen
DSM-IV Störung
alte Bundesländer
Nw
%w
95% KI2
affektive
Angst
somatoforme
irgendeine
221
298
265
589
1
2
6,65
8,97
7,96
17,73
(5,76
(8,01
(7,00
(16,34
neue Bundesländer
Nw
%w
95% KI2
– 7,67)
– 10,04)
– 9,04)
– 19,20)
41
77
47
128
4,82
8,98
5,46
14,99
(3,84
(7,58
(4,33
(13,17
Odds Ratio kontrolliert nach Geschlecht und Alter
(Konfidenzintervall)
Beitrag: 373.fm
Ausdruck vom 25.5.00
alte vs. neue Bundesländer
OR1
95% KI2
–
–
–
–
6,04)
10,60)
6,86)
17,03)
1,41*
1,00*
1,50*
1,22*
(1,06
(0,79
(1,13
(1,02
–
–
–
–
1,87)
1,25)
1,99)
1,47)
S222 Gesundheitswesen 61 (1999) Sonderheft 2
H.-U. Wittchen et al.
gruppenspezifisches Phänomen sind bzw. nicht auf krisenhafte entwicklungspsychologische oder -biologische Phasen
begrenzt sind.
Bemerkenswert sind auch die eindrücklichen Befunde zur vollständig und teilweise eingeschränkten Arbeitsproduktivität bei
allen Formen psychischer Störungen, insbesondere aber bei affektiven Störungen, unter denen die Typische Depression (Major depression) die häufigste Einzeldiagnose ist. Dies verdeutlicht die Größenordnung und die gesundheitsökonomische Bedeutung psychischer Störungen in unserer Gesellschaft.
Wie auch schon in früheren Untersuchungen kurz nach der
Wiedervereinigung [Wittchen et al. 1994] finden wir, daß die
Prävalenz psychischer Störungen in den neuen Bundesländern
im Vergleich zu den alten Bundesländern eher niedriger als höher ist. Signifikant niedriger fällt in unserer Untersuchung sowohl die Prävalenz affektiver als auch somatoformer Störungen
aus. Dieser Befund ist bemerkenswert und steht durchaus im
Gegensatz zu einer Reihe von nicht-epidemiologischen Untersuchungen mit anderer Methodik, die auf eine höhere oder gar
ansteigende Prävalenz in den neuen Bundesländern hingewiesen haben. Wir können nur mutmaßen, daß diese Divergenz
auf unterschiedliche Definitionen und Kriterien psychischer
Störung rückführbar ist. So könnte es sein, daß zwar subjektiv
geäußerte und über Fragebogen ermittelte psychische Beschwerden in den neuen Bundesländern durchaus häufiger
sind; nach unseren Befunden scheint dies aber nicht für manifeste Formen psychischer Störungen zu gelten.
Literatur
1
Andrews G, Hall W, Teesson M, Henderson S (1999). The mental
health of Australians: National Survey of Mental Health and Wellbeing Report 2. Commonwealth Mental Health Branch, Canberra
Act
2 APA. Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders [4th
ed] (DSM-IV) (1994). Deutsch: Saß H, Zaudig M, Wittchen HU. Hogrefe (1996)
3 Bellach BM, Knopf H, Thefeld W. Der Bundes-Gesundheitssurvey
1997/98. Das Gesundheitswesen 1998; 2 [60]: 59–68
4 Bickel H (1995). Epidemiologie der Demenzen. Psycho 21: 716–
722
5 Döpfner M, Plück J, Berner W, Fegert J, Huss M, Lenz K, Schmeck K,
Lehmkuhl U, Poustka F, Lehmkuhl G (1997). Psychische Auffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen in Deutschland – Ergebnisse
einer repräsentativen Studie: Methodik, Alters-, Geschlechts- und
Beurteilereffekte. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie
und Psychotherapie 25: 218–233
6 Fichter M (1990). Verlauf psychischer Erkrankungen in der Bevölkerung. Springer Verlag, Berlin
7 Fichter MM, Schröppel H, Meller I (1996). Incidence of dementia
in a Munich community sample of the oldest old. European Archives of Psychiatry and Clinical Neuroscience 246: 320–328
8 John U. Schwerpunktheft Sucht über epidemiologische Forschung
durch ANEPSA: Editorial. In Vorbereitung.
9 Kessler RC, McGonagle KA, Zhao S, Nelson CB, Hughes M, Eshleman S, Wittchen HU, Kendler KS (1994). Lifetime and 12-month
prevalence of DSM-III-R psychiatric disorders in the United
States: Results from the National Comorbidity Survey. Arch Gen
Psych 51: 8–19
10 Lachner G, Wittchen HU, Perkonigg A, Holly A, Schuster P, Wunderlich U, Türk D, Garczynski E, Pfister H (1998). Structure, content and reliability of the Munich-Composite International Dia-
gnostic Interview (M-CIDI). Substance use sections. European Addiction Research 4 (1–2): 28–41
11 Lin E, Goering PN, Lesage A, Streiner DL (1997). Epidemiologic assessment of overmet need in mental health care. Social Psychiatry
and Psychiatric Epidemiology 32: 355–362
12 Mayer HU, Baltes PB (1996). Die Berliner Altersstudie, Akademie
Verlag, Berlin
13 Meltzer H, Baljit G, Petticrew M, Hinds (1995). The prevalence of
psychiatric morbidity among adults living in private households.
PCS Reports 1995 1–8, London HSMO
14 Murray CJL, Lopez AD (1996). The global burden of disease. Global
Burden of Disease and Injury Series. Harvard University Press
1996
15 Reed V, Gander F, Pfister H, Steiger A, Sonntag H, Trenkwalder C,
Hundt W, Wittchen HU (1998). To what degree does the Composite International Diagnostic Interview (CIDI) correctly identify
DSM-IV disorders? Testing validity issues in a clinical sample. International Journal of Methods in Psychiatric Research 7 [3]: 142–
155
16 Schmidt M., Esser G., Laucht M (1995). Pathogenese neuropsychiatrischer Störungen mit biologischen und psychosozialen Risiken. Bericht und Finanzierungsantrag SFB 258
17 Weyerer S (1995). Wie häufig sind eigentlich psychische Erkrankungen? Praxis 14, 4–6
18 Wittchen HU (1994). Reliability and validity studies of the WHOComposite International Diagnostic Interview (CIDI): A critical review. Journal of Psychiatric Research 28 [1]: 57–84
19 Wittchen HU, Pfister H (1997). Manual und Durchführungsbeschreibung des DIA-X-M-CIDI. Frankfurt: Swets, Zeitlinger
20 Wittchen HU, Semler G (1991). Diagnostic Interview Schedule.
Beltz Test, Weinheim
21 Wittchen HU, Höfler M, Gander F, Pfister H, Storz S, Üstün B, Müller N, Kessler RC (1999). Screening for mental disorders: performance of the Composite International Diagnostic-Screener (CIDS). International Journal of Methods in Psychiatric Research 8: 59–
70
22 Wittchen HU, Lachner G, Wunderlich U, Pfister H (1998). Test-retest reliability of the computerized DSM-IV version of the Munich-Composite International Diagnostic Interview (M-CIDI). Social Psychiatry and Psychiatric Epidemiology 33: 568–578
23 Wittchen HU, Lachner G, Perkonigg A, Hoeltz J (1994). Sind psychische Störungen in den neuen Bundesländern häufiger? Verhaltenstherapie – Praxis, Forschung, Perpektiven 4: 96–103
24 Wittchen HU, Müller N, Storz S (1998). Psychische Störungen:
Häufigkeit, psychosoziale Beeinträchtigungen und Zusammenhänge mit körperlichen Erkrankungen. Gesundheitswesen 1998;
2 [60]: 85–100
25 Wittchen HU, Nelson CB, Lachner, G (1998). Prevalence of mental
disorders and psychosocial impairments in adolescents and
young adults. Psychol Med 1998; 28:109–126.
26 World Health Organization (1991). International Classification of
Diseases (ICD-10). Geneva: World Health Organisation
27 World Health Organization (1990). Composite International Diagnostic Interview (CIDI, Version 1.0). Geneva: World Health Organization
28 World Health Organization (1997). Composite International Diagnostic Interview (CIDI, Version 2.1). Geneva: World Health Organization
H.-U. Wittchen
Max-Planck-Institut für Psychiatrie, Klinische Psychologie und
Epidemiologie
Kraepelinstraße 10
D-80804 München
Beitrag: 373.fm
Ausdruck vom 25.5.00