Nikolaus von Kues Leben in Krieg und Frieden

aus der anthroposophischen Arbeit in Deutschland
Ausga b e 5 / 2 0 15 Ma i
Erlösung und Auferstehung
(an) Wie oft hört man von den Texten Rudolf
Steiners diese seien zu schwierig, und man
könne heute damit in der Öffentlichkeit nicht
mehr wirken. Doch so einfach liegen die Dinge
bei Steiner nicht. Im sogenannten «Hüllenzyklus» (20.3. 1913, GA 145) macht er deutlich, dass durch eine esoterische Entwicklung
im Sinne der Anthroposophie sich die inneren Organe, vor allem das Gehirn innerlich
zu lockern und zu differenzieren beginnen.
Dadurch entstünde aber die Tendenz, sich vom
Irdischen lösen zu wollen. Um eine Entfremdung dem Irdischen, auch dem eigenen Gehirn
gegenüber zu verhindern, habe er seine Texte,
z.B. die «Theosophie» bewusst so kompliziert
und auch abstrakt schreiben müssen, damit
der denkende Mensch dadurch die sich differenzierenden Teile seine Gehirns weiter nutzen
und bewusst ergreifen könne. Nicht nur um
die Erlösung, sondern eben auch um die Auferstehung geht es in der Anthroposophie.
«Probierendes Bildschaffen»
nennt Christof Lindenau seine Methode des
Umgangs mit Mantren. Seine Thesen dazu auf
Seiten 2 und 3
Neues aus der Meditationsszene
berichtet Anna-Katharina Dehmelt aus ihrem
regelmäßig online erscheinenden Rundbrief.
Seite 3
Neues aus Dornach
erfahren wir durch Hartwig Schillers Bericht von
der Generalversammlung und dem Treffen der
Generalsekretäre vor Ostern.
Seite 4
«Aenigma»
nannte sich eine Künstlergruppe, die zu Lebzeiten Rudolf Steiners seine künstlerischen
Impulse aufgriff und weiter entwickelte. Eine
Ausstellung in Olmütz in Tschechien stellt
diese anthroposophischen Künstler nun erstmals ins Licht der Öffentlichkeit. Ein Bericht
von Hartwig Schiller auf
Seite 4 und 5
Nikolaus von Kues
Leben in Krieg und Frieden
Barbara Messmer
In den Mitteilungen April/2015 versuchte ich im Aufsatz «Kein Friede ohne Denken», das
Vermögen und die Grenzen des Denkens in Bezug auf den Frieden zu zeigen. Der größte
Konflikt entsteht immer wieder dadurch, dass etwas leicht und schnell begriffen, aber
damit noch lange nicht im Leben realisiert werden kann. Aspekte aus dem Leben des
Nicolaus Cusanus (auch Nikolaus von Kues genannt, 1401 – 1464) fügten sich für mich zu
einem Beispiel für diese Diskrepanz von Denken und Handeln zusammen.1 So soll hier
anhand einer biographischen Skizze gezeigt werden, wie ein hervorragender Denker, dem
Rudolf Steiner die modernste Ausformung der Denkmystik im ausgehenden Mittelalter und
tiefe geistige Erlebnisse bescheinigte, gegen Lebensende bei der Konfrontation mit Krieg
und Frieden ins Stolpern geriet. Diese Gedanken sind als Vorbereitung auf die Tagung der
Deutschen Landesgesellschaft in Kassel gedacht.
Nikolaus aus Bernkastel-Kues war in unserer
heutigen Terminologie Erkenntnistheoretiker,
Mystiker und Mediator zugleich. Als promovierter Rechtsgelehrter, studierter Theologe
und Priester stieg er in den Kirchenämtern bis
zum Kardinal auf. Bereits mit 31 Jahren wurde
er zum Reformkonzil nach Basel entsandt, wo
er es nach vier Jahren verstand, durch seinen
Wechsel von der gegenpäpstlichen Partei auf
die Seite des Papstes das ganze Konzil in
diese Richtung zu leiten. Schlagartig wurde er
berühmt und hohe Kirchenfürsten, sogar der
Papst, setzten ihn als Vermittler bei Fehden
um Bistümer ein, als Vertreter auf Reichstagen,
als Schlichter zwischen christlichen Sondergruppen und Rom. Auch bei Streitereien unter
weltlichen Herrschern oder ganzen Ländern,
ja selbst bei Heiratsvermittlungen von Adligen
soll sein Verhandlungsgeschick und sein weitreichender Scharfsinn gefragt gewesen sein. So
zieht sich die Aussöhnung von Gegensätzen,
das Vermitteln in Konflikten, also Friedens­
arbeit, als ein Motiv durch sein Leben.
Auf seiner großen «Reformreise» 1451/52
zog er kreuz und quer durch die deutsch­
sprachigen Lande (zu Pferd!) und führte in
Kirchen und Klöstern «Visitationen» durch,
bei denen er Glaubensfestigkeit, Kirchentreue,
religiöses und sittliches Leben (z.B. Einhaltung
der Kloster­regeln) überprüfte. Als päpstlicher
Gesandter war er befugt, disziplinarische Maßnahmen anzuordnen und notfalls Ämter neu zu
besetzen. Er verstand sich als Reformator zum
Heil der Kirche und wusste, dass er dabei in
heftige Auseinandersetzungen geraten würde.
An diesen Fronten musste er all sein in der
Scholastik geschultes Denken, seine glänzende
Redekunst und seine feurige Über­zeugung
von der Einheit der Kirche einsetzen, um
erfolgreich zu sein. So war auch der Kampf auf
geistig-moralischem Gebiet ein Lebensmotiv.
Da Nikolaus von Kues zeit­lebens mit Vermittlungs- und Reform-Aufgaben betraut wurde,
schuf er sowohl Frieden als auch Krieg.
Das Interessante an seiner Biographie ist nun,
dass diesem tätigen Mann und scharfen Denker
drei höhere Denkerlebnisse zuteil wurden, die
alle die Möglichkeit beinhalteten, die Gegensätze und Streit auf einer höheren Stufe zu
vereinen. Diese geistigen Erlebnisse schildert
er (verschlüsselt in der dritten Person) in seinen Werken. Das erste davon erlebte er mit 37
Jahren, zwei Jahre nachdem er das Konzil zu
Basel «reformiert» hatte. Als Vermittler zwischen dem römischen Papst (Westkirche) und
dem byzanti­nischen Patriarchen (Ostkirche)
wurde er nach Konstantinopel geschickt. Auf
der Rückreise, auf dem Schiff im Mittelmeer,
hatte er ein Denk­erlebnis, das er «visio intellectualis» nannte. Es eröffnete ihm die Vereinigung
aller Widersprüche auf der höchsten Stufe der
«Einfachheit», die heute berühmte «coincidentia oppositorum», die er in dem Werk «Von der
gelehrten Unwissenheit» (De docta ignorantia,
1440) darlegte. Anhand von geometrischen Beispielen demonstrierte er, dass im Unendlichen
(in Gott) die Polaritäten in eins zusammen­
fallen. Dies warf ein neues Licht auf die GegenFortsetzung Seite 2
1
Anthroposophische Gesellschaft
Fortsetzung von Seite 1
sätze Krieg und Frieden und half ihm sicher bei
seinen Schlichtungsaufgaben.
1450, zwölf Jahre später schilderte er in den
sogenannten «Idiota»- Schriften, wie ein Laie
(lateinisch «idiota») einen gelehrten Humanisten und ihn selbst als geschulten Denker
weisheitsvoll belehrt. Ein einfacher Mann aus
dem Volk äußert sich zu den schwierigsten
Themen so, dass die beiden anderen Einsicht
um Einsicht gewinnen und merken: dieser ist
in die unbegreiflichsten Dinge eingeweiht, aber
wir wissen nichts! Indem Nikolaus von Kues
diesen Vorgang als Dreier-Gespräch (nicht
als Dialog) gestaltet, misst er Erkenntnisfort­
schritten in einer Gemeinschaft viel Bedeutung
zu. Das intuitive Eintauchen in die geistige
Aktivität eines anderen, das er so lebendig
beschreibt, muss er gekannt haben. Wir würden mit den Worten Rudolf Steiners sagen:
er hat das Erwachen am Seelisch-Geistigen
eines anderen erlebt. Nikolaus von Kues stellte damit nicht nur das Bildungsverständnis
auf den Kopf, sondern demonstrierte Bildung
als geistiges Entwickeln des einen durch den
anderen. Auch hier werden die Gegen­sätze
zwischen Menschen überwunden, wenn
erst die Verständigungsebene erreicht ist, die
Rudolf Steiner fast 450 Jahre später in seiner
«Philo­sophie der Freiheit» als «gemeinsame
Ideenwelt» bezeichnet.
Bereits drei Jahre später widerfuhr Nikolaus
von Kues das dritte Erlebnis, das er «visio»
nannte, am ehesten vielleicht als reines, zum
Bild gewordenes Denkerlebnis zu verstehen.
Er weilte in Rom und erfuhr von der Eroberung
Konstantinopels am 29. Mai 1453 durch den
türkischen Sultan. Es hieß, 40.000 christliche
Einwohner wären ermordet, 50.000 versklavt
worden. Nikolaus von Kues, der die Stadt und
ihre Kunstschätze kannte und liebte, wurde
durch die Kunde von ihrer Zerstörung, vom
Sieg des Islam und von der Christenverfolgung
so erschüttert, dass er tagelang mit einem
tiefe­ren Verstehen dieses Geschehens, das
heißt mit Gott rang. Später berichtete er in seiner Schrift «de pace fidei» (Über den Frieden
im Glauben), wie er den Schöpfer anflehte,
den Religionskriegen Einhalt zu gebieten. Da
wurde er zu einer geistigen Höhe entrückt
(«quandam intellectualem altitudinem»2 und
nahm an einer Art Konferenz von Vertretern
unterschiedlicher Religionen vor Gottes Thron
und in Anwesenheit von Heiligen und himmlischen Wesen teil. Durch diesen Disput wurde
ihm aus kosmischer Perspektive eine Möglich­
keit für einen dauerhaften Frieden unter den
Religionen klar. «de pace fidei» ist heute hochaktuell, weil es einen Weg zeigt, «Interreligiö­
sität» und religiöse Toleranz zu denken.3
Doch was passierte nun im Leben dieses
Mannes, der mit solch tiefen Einsichten in
Möglichkeiten zum Frieden beschenkt wurde?
Er erlebte Streit, Flucht, Krieg, Belagerung,
Gefangenschaft und Lebensgefahr und hatte
das alles mit verursacht. Worum ging es? Um
den Besitz des Fürstentums Brixen (in etwa das
heutige Mittelösterreich und Südtirol), also um
Grundbesitz, Einkünfte aus Ländereien und
Verfügung über Klöster.
Nikolaus von Kues wurde 1452 vom Papst
zum Bischof von Brixen ernannt und sollte
das Bistum wirtschaftlich sanieren, das Herzog
Sigismund von Tirol finanziell ausgeblutet hatte.
So begann er wieder mit Kloster- und Kirchenreformen durchzugreifen. Er hatte jedoch in
dem Herzog und einer adligen Äbtissin (Verena
von Stuben) erbitterte Gegner, so dass ein jahrelang schwelender Rechtsstreit 1457 eskalierte.
Nikolaus fühlte sich nach einem Überfall so
bedroht, dass er sich auf eine Burg am Rande
des Bistums zurückzog. Zunächst revanchierte
er sich mit Interdikt und Bann gegen Verenas
Kloster (Verbot aller kirchlichen Amtshandlungen). Als das nichts nützte, veranlasste er
den Papst, das ganze Sigismund zugehörige
Gebiet mit dem Interdikt zu belegen. Daraufhin brach im Frühjahr 1458 ein bewaffneter
Kampf aus, bei dem unter den Truppen beider
Seiten und mitkämpfenden Bergbauern Blut
vergossen wurde.
Der Bischof konnte nicht gewinnen und verließ im Herbst das Bistum. Was passierte nun?
Nikolaus von Kues kehrte eineinhalb Jahre
später zurück, um den Machtkampf fortzusetzen. Diesmal geriet er in Lebensgefahr, denn
Herzog Sigismund belagerte den Ort Bruneck,
in dessen Schloss Nikolaus weilte, und eroberte
ihn am Karsamstag 1460. Nikolaus von Kues,
gefangen und ausgeliefert4, verzichtete auf das
Fürstentum und alle Ansprüche, um sein Leben
zu retten, und verließ Brixen für immer.
Wie konnte es geschehen, dass ein so klarer
Denker, der einen dreifachen Weg zum Frieden
kannte, sich hinreißen ließ, mit kriegerischen
Mitteln um Ländereien zu streiten? Zwar ging
es ihm nie um persönlichen Wohlstand, denn er
lebte immer bescheiden und asketisch. Auch ist
seine Identifikation mit dem Reichtum der Kirche sowie sein Eifer im Einsatz aus der damaligen Zeit und seinem Amt verständlich. Doch
muss mehr Durchsetzungswille als sinnvoll ist
ihn geleitet und ihn aus der Ruhe des Denkers
gebracht haben, so dass er die Lage nicht mehr
realistisch einschätzen konnte. Liegen Friede
unter den Religionen und Bistumskrieg so weit
auseinander? Für mich wurde dies zum Beispiel,
wie schwer es ist, Einsichten bis in den letzten
Winkel des Lebens umzusetzen.
Doch er wäre nicht Nikolaus von Kues gewesen, wenn er diese alptraumartigen Erlebnisse
nicht denkend verarbeitet hätte. Er zog aus
dem Scheitern und Gesichtsverlust einen spirituellen Gewinn, wie er im bereits im Juni
1460 an einen befreundeten Bischof schrieb.5
In dem Brief bejahte er alle Schrecken und
Todesängste, da sie ihn belehrten, dass seine
Absicht, Kirchengüter zu vermehren, ein Irrtum war. «Das Almosen für die Armen, nicht
der Reichtum der Bischöfe muss durch die ...
Einnahmen der Kirche vermehrt werden.»
1 Dabei dienten mir als Quelle neben Schriften des Nikolaus
vor allem Ekkehard Mefferts Buch: «Nikolaus von Kues. Sein
Lebensgang. Seine Lehre vom Geist», Stuttgart 1982 sowie diverse
Schriften von Prof. Dr. Harald Schwaetzer (Trier), der mir zudem
wertvolle Hinweise für diesen Text gab. Dafür danke ich ihm sehr!
2 Vgl. Meffert, S.79. Meffert interpretiert das Erlebnis als Einblick
in die «übersinnliche Michaelschule», wie sie von Rudolf Steiner
geschildert wird.
3 Diesen Standpunkt legt Harald Schwaetzer in «Toleranz als Spiegel
der Wahrheit» (2005) dar.
4 Ausgerechnet in der Karwoche erlebte Nikolaus die Todesgefahr.
Meffert weist darauf hin, dass der Krieg während Nikolaus‘ 3.
Mondknoten (mit 56 Jahren) begann.
5 Vgl. Meffert, S. 84
Vom «probierenden Bildschaffen» der meditativen Arbeit
Sieben Thesen zur mantrischen Kunst
Die von Rudolf Steiner inaugurierte Geistes­
forschung – bis in die Karmaforschung hinein
– unterscheidet sich von einer auf Sinnes­
beobachtung und Verstandestätigkeit gestützten
Naturforschung dadurch, dass sie die sinnenfällige Wirklichkeit um uns als ein Spiegelbild der
von ihr zu erforschenden geistigen Wirklichkeit
auffasst. Demgemäß sieht sie die Aufgabe ihres
Forschens darin, bewusst den Weg von dem
jeweiligen Spiegelbild zu dem zu finden, was
sich in diesem Bild spiegelt.1
Das Finden dieses Weges durch meditative
Arbeit und deren «mantrische Kunst» vor-
2
zubereiten, setzt daher verständlicherweise
ebenfalls voraus, alles sinnenfällig Gegebene,
an das diese Arbeit anknüpft – sei es ein Bild,
sei es ein Spruch – auch als Spiegelbild zu
behandeln. (Sogar dann, wenn dabei an eine
einzige sinnenfällige Wahrnehmungsqualität
angeknüpft wird.) – «Was ich hier gegeben
habe, ist nur die eine Hälfte», sagt Rudolf Steiner sinngemäß einmal bei der Übergabe eines
zur Meditation bestimmten Spruches. «Die
andere Hälfte jedoch müssen Sie aus eigener
spiritueller Aktivität hinzufügen.» Das aber
setzt voraus, dass jeder meditativ Arbeitende
in sich die Frage entzündet, worin denn diese
Aktivität konkret zu bestehen hat. – «Das Was
bedenke, mehr bedenke wie! » sagt Goethe
auch hier wegweisend. Denn indem sich der
meditativ Arbeitende zunächst auf das jeweils
vorgegebene Bild oder Spruchwort usw. konzentriert, knüpft er eindeutig an ein «Was»
an. Will er aber die an diese Konzentration
anschließende Meditation dadurch beginnen,
dass er dieses sinnenfällig Vorgegebene als ein
Spiegelbild von etwas auffasst, so kommt sogar
ein dreifaches «Wie» in Betracht.
Denn indem er fragt, was sich in diesem Bilde
Anthroposophie Weltweit • Mitteilungen Deutschland, Mai 2015
Anthroposophische Gesellschaft
spiegelt, ist er nicht nur darauf angewiesen,
nach etwas zu fragen, was er noch nicht kennt;
sondern – ungewiss, ob es ihm wohl gelingt,
sogleich taugliche «Antworten» auf dieses Fragen zu finden – auch darauf angewiesen,
auf dreimal unterschiedliche Weise etwas zu
praktizieren, was Rudolf Steiner einen «probierenden Glauben» nennt! – Da ja hier jeweils als
das Übersinnlich-Lebendige in das Spiegelbild
eines sinnenfällig Gegebenen verzaubert und
verbannt ist, stehen jeder von uns zunächst
vor der Frage, wie es gelingen kann, dieses
übersinnlich Lebendige zu entzaubern und
zu befreien? Zuallererst dadurch, dass wir
lebendige «Gebärdenbilder» erfinden, um sie
versuchsweise («probierend») an jenes noch
Unbekannte heranzutragen, mit dem unser
strebendes Ich ohne unser Wissen intuitiv
verbunden ist. – Indem wir uns nun darum
bemühen, bemerken wir allerdings über kurz
oder lang, dass und wie wir auch selbst in
unsere Vorlieben und Abneigungen «verzau-
bert», selbst in die Einseitigkeiten unserer
Vorurteile «gebannt» sind. Und so entsteht als
ein zweites für jeden von uns die Frage, wie wir
uns selber von diesem Zauberbanne befreien.
Um diese Befreiung zu ringen beginnen wir
bereits, wenn wir den aufrichtigen Mut finden,
uns selber versuchsweise Bilder unserer eigenen Einseitigkeiten und Vorurteile – kurz also:
«Selbstbilder» – zu machen.
Wie jedoch das eigentliche Gelingen eines
Kunstwerkes stets auch davon abhängt, dass
wir dabei über das jeweils vorher Erübte
hinauskommen, so verhält es sich auch in
der «mantrischen Kunst». Im Klartext: Damit
wir uns jenen «Wahrbildern» dessen, was sich
eigentlich in jenen «Spiegelbildern» spiegelt,
immer mehr nähern können, müssen wir über
das wiederholte Erfinden jener lebendigen
«Gebärdenbilder», aber auch über den notwendigen Mut, uns die beschriebenen «Selbstbilder» zu machen, noch hinauswachsen. Dies
aber können wir – wie in aller anderen künst-
lerischen Arbeit auch – letztlich nur erbitten.
Statt einer Zusammenfassung: Je mehr die hier
aufgezeigte Art meditativer Arbeit zu einem
meditativen Forschen wird, um so deutlicher
zeigt sich, dass die eigentlichen «Lehrer» der
hier gemeinten «Meditations-Kunst» dieselben
Geistwesen sind, an die sich vor der Abend­
meditation und nach der Morgenmeditation zu
wenden – um jeweils die Arbeit des nächsten
Tages vorzubereiten – Rudolf Steiner geraten
hat. (So am 9. September 1919 – um 9 Uhr
vormittags. Und zwar jenen seiner Mitarbeiter,
die im Begriff waren, an diesem Tage die Arbeit
der ersten Waldorfschule zu beginnen.)
Christof Lindenau, Bochum
1 Vgl. dazu auch Rudolf Steiner im Autoreferat seines Vortrages
Die psychologischen Grundlagen und die erkenntnistheoretische Stellung der Anthroposophie vom 8. April 1911 vor dem
Philosophenkongress in Bologna (in GA 35).
Aktuelles aus dem Bereich der Anthroposophischen Meditation
Meditation im Kino – das ist noch relativ neu,
insbesondere wenn nicht nur beiläufig meditiert
wird, sondern Meditation das Thema des Films
ist. «Stopping – Wie man die Welt anhält – Wege
zur Meditation» startete am 26. Fe­bruar in den
deutschen Kinos; sicherlich wird es ihn demnächst auch als DVD geben. Der Film begleitet vier Personen zu ihren Meditationskursen,
in denen sie Vipassana- und Zen-Meditation
lernen, einen MBSR-Kurs nach Jon Kabat-Zinn
besuchen und an den Quellhof fahren zu einem
Kurs mit Thomas Mayer und Agnes Hardorp in
anthroposophischer Meditation. Die Gruppe
beschäftigt sich in diesem Kurs unter anderem
mit einem Stein, und die Erfahrung, die Welt
und den Alltag als beseelt zu erleben, wird als
Besonderheit anthropo­sophischer Meditation
deutlich. Man bekommt von den verschiedenen
Ansätzen durchaus einen plastischen Eindruck,
weil auch die Kurs- und Meditationshäuser und
die dort jeweils Lehrenden gezeigt werden.
Während sich «Stopping» in erster Linie an
Menschen wendet, die bereits ein erstes Interesse an Meditation entwickelt haben, geht
«From Business to Being» davon aus, dass es
«in unserer Gesellschaft eine Überinterpretation der Leistung und eine Unterbetonung
des Seins» gibt, wie die Neurowissenschaft­
lerin Tania Singer es formuliert. «Gute Führung
heißt, in sich zu ruhen», so Rudi Ballreich, der
die Entstehung des Films begleitet hat und
Gesprächspartner eines der drei Protagonisten
mit der Frage «Wie will ich leben und arbeiten?»
ist. Dabei spielt Meditation eine Rolle, aber
auch Coaching und das Nachdenken über die
(Wirtschafts)-Welt. Zu Wort kommen unter
anderem Friedrich Glasl, Claus Otto Scharmer,
Götz Werner und Arthur Zajonc, die alle von der
Anthroposophie inspiriert sind, was aber vor
allem in der originellen und eigenständigen
Art ihres Umgangs mit den angesprochenen
Fragen zum Ausdruck kommt.
«From Business to Being» war bereits vorab
vereinzelt zu sehen, zum Beispiel auf der
Ost-West-Mediationstagung im März in Stuttgart, die offizielle Premiere wird auf dem
Dokumentar­filmfestival in München sein. Auch
diesen Film wird es mittelfristig sicherlich als
DVD geben. (www.business2being.com)
Die Bildsprache der beiden Filme ist ähnlich, indem sie – neben den Menschen – vor
allem Natur filmen: als wogenden Baum, plätschernden Bach oder beeindruckende Alpenkulisse mit stets blauem Himmel, in dem
manchmal ein Vogel kreist. Bei «From Business
to Being» gibt es zwischendurch gelegentliche
Kamerafahrten durch Hochhauslandschaften.
Wenn sich auch beide Filme bemühen, ihr
Thema ruhig und achtsam anzugehen, ist man
am Ende doch abgefüllt mit einer Menge an
Inhalt und an Eindrücken. Man darf gespannt
sein, wie sich das Medium Film für das Thema
Meditation bewähren wird.
Von der Ost-West-Meditationstagung Anfang
März in Stuttgart wurde bereits von Andreas
Neider in der letzten Nummer berichtet, und
im Aprilheft von «Die Drei» gibt es einen
Bericht von Terje Sparby. Dieser Bericht hat
die Aufmerksamkeit des Portals «Buddhaland»
(www.buddhaland.de) im Internet erweckt,
wo der Bericht eifrig diskutiert wurde (man
findet diese Diskussion, wenn man auf dem
Portal nach Terje Sparby sucht). Dabei finden sich auch Äußerungen wie «Ich finde
es interessant, wie die Anthroposophie sich
verbiegen wird, um den Buddhismus zu vereinnahmen» oder «Ich sehe im Institut für
anthroposophische Meditation einen Weg der
Vermarktung der Anthroposophie, in dem man
sich an die Achtsamkeits­bewegung anhängt,
denn das Interesse an der Anthroposophie
ist ja rückläufig.» Solches liest man denn
doch mit Erstaunen. Immerhin zitiert dann
ein aufmerksamer Leser aus dem Flyer der
Anthroposophie Weltweit • Mitteilungen Deutschland, Mai 2015
Tagung, dass es weniger um «das Bekräftigen
von vermeintlichen Übereinstimmungen als
ein deutliches Bewusstsein der Differenzen
zwischen Buddhismus und Anthroposophie»
gehen sollte. Der diesbezügliche Beitrag von
Anna-Katharina Dehmelt auf der Ost-WestTagung ist mittlerweile auf der Website des
Instituts für anthroposophische Meditation
nachzulesen.
Ebenfalls im März fand das sechste Kollo­
quium «Anthroposophische Meditation und
akademische Meditationsforschung» im
Rahmen des Instituts für anthroposophische
Medita­tion statt. Die mitwirkenden Anthropo­
sophen gaben je eine Kurzdarstellung zu den
Gründen und Eigenarten ihrer anthropo­
sophischen Meditationspraxis – Aufgabe war,
die Besonder­heit anthroposophischer Medita­
tion durch die konkreten Erfahrungen in den
Blick zu bekommen. Die verschiedenen Beiträge, die sehr individuell waren, hatten doch
eine Reihe gemeinsamer Aspekte, die sich
so zusammen­fassen lassen: «Die bewusste
Erfahrung des denkenden Ichs ist der
Ausgangs­punkt, von dem aus der Inhalt der
Medita­tion auf­blühen kann. Im Halten dieses
auf­blühenden Inhaltes kommt so etwas wie
Sinn entgegen, der wiederum bewusst ergriffen bzw. gestiftet werden kann und – soweit
das Bewusstsein sich halten kann – bis zu einer
nondualen Sinn- bzw. Einweihungs­erfahrung
gesteigert werden kann. Dabei weitet sich
das Ich, und in das (denkende) Bewusstsein
integrieren sich mehr und mehr auch Fühlen
und Wille. Der eigentlichen Meditation gehen
Übungen zur Erfassung des Ich selbst voraus,
und die Meditation kann Grundlage werden
für geistige Forschung.»
Anna-Katharina Dehmelt, Alfter
Dieser Bericht lehnt sich an den Newsletter des Instituts für
anthroposophische Meditation www.InfaMeditation.de an.
3
Anthroposophische Gesellschaft
Gewonnene Zeit
Ein von Rudolf Steiner an Ita Wegman am 24.
Dezember 1920 gegebener Spruch beginnt:
«Eine Brücke ist der Mensch
Zwischen dem Vergangenen
Und dem Sein der Zukunft.
Gegenwart ist Augenblick;
Augenblick als Brücke. ...»
Während das Bild der Brücke als Fähigkeit
des Menschen, Vergangenheit und Zukunft
zu verbinden, dem Leser vielleicht unmittelbar einleuchtet, muss ihm der Hinweis auf
das Augenblickliche dieses Geschehens Rätsel
aufgeben.
Wie kurz, lang oder fassbar ist ein Augenblick? Noch ehe er denkend erfasst wird, ist
er entschwunden. Die Brücke, die der Mensch
da baut, ist äußerlich nicht fassbar. Sie ist
ein inneres Geschehen, jenseits der äußeren
Wirklich­keit. Zeit in ihrer Wirklichkeit vollzieht
sich jenseits des Sinnesteppichs und wird nur
in diesem Jenseits erfasst.
Die Waldorflehrer hat Rudolf Steiner in einer
sehr bestimmten Weise auf dieses Geheimnis
hingewiesen. Um eine pädagogisch tragfähige
Brückenfunktion für die Jugend entwickeln
zu können, müssen Lehrer über «ihre» Zeit
hinauskommen:
«Ohne zeitgemäße Gewissenserforschung
können wir nicht über dasjenige hinaus­
wachsen, was uns die Zeit geben kann. Und
wir müssen hinauswachsen über dasjenige,
was uns die Zeit geben kann. Wir dürfen
nicht Hampelmänner der Zeitrichtung sein,
die sich am Ende des 19. und am Anfang des
20. Jahrhunderts herausgebildet hat.» (GA 302,
17.6.1921) Die Zeit in ihrer Wirklichkeit wird
nur aus den Adlerhöhen des Geistes erfasst.
Die Woche vom 23. bis 30. März 2015 am
Goethea­num bestand aus so zeiterfüllten
Tagen, dass hier nur in komprimierter Form
von ihnen berichtet werden kann. In diesen
Tagen fand das Treffen der Generalsekretäre
und Landesvertreter, die Zusammenkunft der
Verantwortungsträger von Gruppen und Zweigen, eine Konferenz der Landesvorstände und
die Generalversammlung 2015 statt.
Selten waren Versammlungen durchgängig von
einem so positiven Geist der Zusammenarbeit
und des Verständigungswillens geprägt wie
diese. Eine Konzentration auf wenige Themen
bewirkte eine gute Gesprächsfähigkeit und die
Mitwirkung Vieler.
Bei den Generalsekretären standen die Themen
«Das Zeitgeschehen» und «Der Generations­
wandel in der Anthroposophischen Gesellschaft» im Vordergrund. Beeindruckend war
die Besonnenheit mit denen die Vertreter Russ­
lands, Estlands, Tschechiens und Polens über
die gegenwärtig angespannte Lage in ihrer
Region sprachen.
Die Verantwortungsträger beschäftigten sich
mit der Fortentwicklung des Jahresthemas,
das seinen ersten Ausdruck in einem Spruch
fand, den Rudolf Steiner Elisabeth Vreede zum
Seelenkalender gab:
«Erkennt der Mensch sich selbst:
Wird ihm das Selbst zur Welt;
Erkennt der Mensch die Welt:
Wird ihm die Welt zum Selbst.»
Bei den Landesvorständen wurde nach einer
anhaltenden Zusammenarbeit an wichtigen
Fragen der Weltgesellschaft mit dem Goethea­
num gesucht. Dieser erste Versuch eines Treffens soll fortgesetzt werden.
In der Generalversammlung bildete der Rückblick von Virginia Sease auf 31 Jahre kontinuier­
licher Vorstandstätigkeit einen ersten Höhepunkt. Selten ging es in einer Versammlung
so generös und humorvoll zu. Anhaltender
Applaus und Standing Ovations brachten die
Dankbarkeit der Mitglieder für diese Lebensleistung zum Ausdruck.
Constanza Kaliks zeichnete am nächsten Tag
ein biographisches Selbstportrait in lebhaften
Farbtönen und wurde mit ebenso großer Freude als neues Vorstandsmitglied begrüßt.
Ausführungen zum veränderten Verhältnis
von Anthroposophischer Gesellschaft und
Lebensfeldern (Bodo von Plato) sowie zum
Zusammenwachsen der Weltgesellschaft (Joan
Sleigh) schilderten aktuelle Entwicklungen und
ersetzten die oftmals als steif empfundenen
Tätigkeitsberichte früherer Zeiten.
Der durch Justus Wittich gegebene Finanz­
bericht zeichnete sich durch Klarheit und
Übersichtlichkeit aus. Dabei verschwieg er
auch die Klippen und Risiken für die weitere
Entwicklung (Bau, Wechselkursproblematik,
Faust, Mysteriendramen) nicht.
In einem liebevollen Totengedenken würdigten
Virginia Sease die Lebensleistung von Sergej
Prokofieff und Martina Maria Sam den Einsatz
von Hella Wiesberger für die Rudolf Steiner
Gesamtausgabe.
Ron Dunselman schilderte seinen Weg als
General­sekretär der Niederlande und wie
er durch eine Bemerkung Manfred SchmidtBrabants die Meditation als Aufgabenstellung
fand.
Gioia Falk stellte sich den Mitgliedern mit einem
Beitrag zu «Motive für die Verantwortungs­
übernahme in der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland» vor.
Berichte von Paul Mackay, Stefan Hasler, Michaela
Glöckler und Oliver Conradt wiesen auf eine für
Herbst 2017 geplante Michaelitagung sowie
auf vollzogene (redende und musizierende
Künste) oder geplante (medizinische Sek­tion)
Leitungswechsel in den Sektionen sowie auf
Forschungsergebnisse (mathematisch-astrono­
mische Sektion) hin.
Stil und Durchführung dieser Versammlungen
zeigten einen ermutigenden Beginn für die
Aufgaben der nächsten Jahre. Es bleibt der
Eindruck einer Zeit, wie sie aus Aufgabenbewusstsein jenseits von Befindlichkeiten
gewonnen werden kann.
Hartwig Schiller
Olomouc? – Olomouc!
Wenn die fünf Finger einer Hand die fünf
größten tschechischen Städte repräsen­tieren,
dann steht der kleine Finger für Olmütz,
wohlgemerkt: der rechten Hand. Denn wenn
man diese Hand vor sich hält, dann zeigt
der kleine Finger diese Stadt im äußersten
Osten Tschechiens, in Mähren an. Olomu­
cium oder Eburum, Olomouc, Olmütz, – schon
der Name der 100.000 Seelen-Stadt weist
auf eine lange, wechselvolle Geschichte hin.
Aus dem Tschechischen übertragen heißt die
Stadt «kahler Berg», aus dem Lateinischen «die
Elfenbeinfarbene». Sie liegt in einer Aue der
March, an der Einmündung der Feistriz. Von
der March schließlich hat die gesamte Region
ihren Namen «Mähren» erhalten.
Dort also, ausgerechnet dort, wurde am 19.
März 2015 die höchst bedeutende Ausstellung
AENIGMA mit Werken anthroposophischer
4
Künstler aus 100 Jahren Werkgeschichte eröffnet. Vielleicht ist es so wie mit Stuttgart. Wer
hätte für möglich gehalten, dass dort, aus­
gerechnet dort, Anfang des 20. Jahrhunderts
der erste anthroposophische Bau und die
ersten bedeutenden öffentlichen Durchbrüche
der Anthroposophie gelingen würden, nicht in
Berlin, nicht in der Metropole, sondern in einer
eher abgelegenen Provinz in Schwaben.
In einem solchen Winkel also erblüht im Frühjahr 2015 die anthroposophisch fundierte Kunst
aus drei Künstlergenerationen, die seit dem
Beginn des vorigen Jahrhunderts ent­standen
ist. Es sind Werke schweizerischer, deutscher,
österreichischer, tschechischer, schwedischer,
russischer und polnischer Künstler ausgestellt.
Das nicht zu große, nie kalte oder indifferente
«muo» (muzeum umění olomouc – Mu­seum
für Moderne Kunst Olmütz) leuchtet von
den Bildern, Kleinodien, Skulpturen, Möbeln,
Architekturmodellen, Musikinstrumenten, dem
Kunsthandwerk, Spielzeug und der Bekleidung, die dort ausgestellt sind. Das Leuchten geht auch von der liebevollen, gekonnten
Ausstattung aus. Hier wurde eine Ausstellung
geschaffen, die sowohl Kunstwelt als Kunstwerk ist. Unter der Leitung von Christian und
Andrea Hitsch wurden die Räume farblich so
hergerichtet, dass das, was sie zur Erscheinung
bringen möchten auch er «scheinen» kann.
Wie alles Schöne in der Welt ist dieses Erlebnis
bestimmten Menschen zu verdanken. Zu nennen sind in erster Linie die Kuratoren Reinhold
Fäth und David Voda, die Museumsdirektoren
Michael Soukup (Olmütz) und Thomas BauerFriedrich (Halle), diverse Stiftungen, Archive
und Privatbesitzer.
Es sind Werke u.a. von Hilde Pollak-Karlin,
Anthroposophie Weltweit • Mitteilungen Deutschland, Mai 2015
Anthroposophische Gesellschaft
Joseph Prinke, Walter Besteher, Felix Kayser, Andrei
Bely, Hilma af Klint, Hans Itel, Walter Kniebe,
Albert Baravalle, Maria Strakosch-Geisler, Rudolf
Michalik, Fritz
Schulte, Beppe
Assenza, Gerard
Wagner, Ju­lius
Hebing
und
vielen anderen
ausgestellt.
Selten wird die
Vorfreude auf
ein Ereignis von
seiner Erfüllung
übertroffen.
Hier ist es so.
Als ich am
Morgen des 19.
März erwache,
um die lange Reise nach Olmütz anzutreten,
kommen mir zwei Motive in den Sinn. Es sind
lang erinnerte Motive. Das eine hängt mit
einem Namen zusammen: Karl Marx.Von ihm
war in den sechziger
und siebziger Jahren
viel zu hören. Er habe
die Welt vom Kopf auf
die Füße gestellt. Von
Rudolf Steiner wurde
allerdings häufig dasselbe gesagt. Für wen
trifft es nun zu? In
Bezug auf die Kunst
hat sich Marx jedenfalls nicht hervorgetan.
Auch da beschäftigte ihn das Verhältnis von
Sein und Bewusstsein als Gesellschaftskritik
mehr als dass ihn ein künstlerisches Gestalten und Erleben erreichte. Wenn Marx den
Menschen vom Kopf auf die Füße gestellt
hat, dann jedenfalls ohne
Mitte, ohne einen Bereich
des Schönen und Schöpferisch Freien. – In Olmütz
indessen stehen wir vor den
Spuren der Wirklichkeit,
nämlich der Inspiration des
Schönen durch Rudolf
Steiner.
Ein anderes, das ich
in meiner Jugend oft
hörte, war, dass Steiner
ein Guru sei, dessen
Botschaft von anderen
nicht verifizier­bar und
fortsetzbar sei. Den
Beweis dafür könne man in der Tatsache
finden, dass er keine ebenbürtigen Schüler oder Mitarbeiter gefunden habe. – Jetzt
blickt man
auf diese
Ausstellung
und erkennt
lauter Meis­ter,
die ihren Lehrer
auf bestimmte
Weise übertroffen
haben. Das suche
man anderswo:
Schüler, die ihren
Lehrer übertreffen und das nicht
einmal, zweimal,
– vielfach! Zuletzt bemerkt man vielleicht auch
das «Wie». Oft ist zu hören, Anthroposophen
seien weltfremd. Die Ausstellung zeigt das
Gegenteil. Die Künstler übertreffen nicht nur
ihren Lehrer, sondern geben sich zugleich als
Zeitgenossen zu erkennen. Das wird in Details
des individuellen Stils, der Formen- und Farbbehandlung der ganz unterschiedlich arbeitenden Persönlichkeiten sichtbar.
Reinhold Fäth gebühren die Anerkennung und
der Dank, dieses Potential als erster erkannt
zu haben und den Direktoren in Olmütz und
Halle gilt Ehrung für ihren Mut, sich auf
dieses Experiment ohne Vorbild eingelassen
zu haben.
Die Ausstellung in Olmütz ist noch bis zum
26. Juli geöffnet. Am 16. August übernimmt
dann die Moritzburg in Halle sie bis in den
Oktober hinein. Es gibt etwas, worauf man
sich als Anthroposoph (und natürlich nicht nur
als solcher) freuen darf. Nähere Infos: www.
olmuart.cz/en/
Hartwig Schiller
Einladung zur Mitgliederversammlung 2015
Liebe Mitglieder und Freunde der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland!
Einem langjährigen Brauch der Deutschen
Landesgesellschaft folgend findet auch die
diesjährige Mitgliederversammlung in Verbindung mit einer größeren Tagung statt. Ihr
Thema lautet: «Impuls Frieden – Kultur­
arbeit Anthroposophie», ein angesichts der
dramatischen Zeitgeschehnisse hochaktuelles
Thema. Zu beidem – der Tagung wie der
Mitgliederversammlung – möchten wir Sie
herzlich einladen.
Das ausführliche Programm der Tagung lag
den Mitteilungen des vergangenen Monats
bei. Hier möchten wir die Tagesordnung der
Mitgliederversammlung bekannt geben. Ein
Vorschlag zur Satzungsänderung, den das
Arbeitskollegium an der Mitgliederversammlung einbringen möchte, wird in der Juni-Ausgabe zusammen mit den Geschäftsberichten
erscheinen.
Es sind drei Abschnitte für die Mitgliederversammlung vorgesehen, die sich in ihren
Schwerpunkten unterscheiden und jeweils
einem bestimmten Motiv folgen.
In diesem Jahr endet die Amtszeit von Peter
Krüger als Vorstand und Schatzmeister. Da er
für keine weitere Wahlperiode kandidieren
möchte, wird die Neuwahl eines Vorstandes/
Schatzmeisters erforderlich. Für die Neu­
besetzung schlagen Arbeitskollegium und
Gesamtkonferenz gemeinsam Herrn Julian
Schily vor. Ein Stimmrecht kann nur von Mitgliedern der deutschen Landesgesellschaft
ausgeübt werden. Bitte bringen Sie Ihre rosa
Mitgliedskarte mit.
Information zur Finanzlage und Erläuterung
des Budgets 2016
· Bericht des Rechnungsprüfers
· Aussprache
· Genehmigung der Jahresrechnung 2014
· Entlastung des Arbeitskollegiums für das
Geschäftsjahr 2014
· Bestellung des Rechnungsprüfers für das
Geschäftsjahr 2015
· Vorstellung von Julian Schily als Kandidat
für das Schatzmeisteramt
Die Tagesordnung sieht folgende Themen vor:
MV III – 20. Juni von 15h bis 16h30
Zukunftsfragen
MV I – 19. Juni von 17h bis 18h30
Entwicklungsfragen der Anthropo­
sophischen Gesellschaft
·
·
·
·
Jugend
Gesellschaftsentwicklung
Öffentlichkeitsarbeit
Zeitschriften
MV II – 20. Juni von 11h30 bis 13h
Finanzbericht
· Rechenschaftsbericht des Schatzmeisters
und Geschäftsführers:
Anthroposophie Weltweit • Mitteilungen Deutschland, Mai 2015
·
·
·
·
Wahl des Schatzmeisters
Satzungsänderung
Zukunftsaussichten
Ort und Termin der MV 2016
Wir hoffen auf ein gutes Gelingen und freuen
uns auf Ihre Teilnahme.
Das Arbeitskollegium (Vorstand):
Reinhold Fäth, Gioia Falk, Benjamin Kolass,
Peter Krüger, Jasmin Mertens, Angelika Sandtmann,
Hartwig Schiller, Michael Schmock, Falk Zientz
5
Anthroposophische Gesellschaft
Heileurythmie als Staatsaufgabe
Neues zur Willkommenskultur von Flüchtlingen
Nicht nur in Bonn, auch in anderen deutschen Städten wird sich in diesen Wochen und
Monaten ein Problem entfalten, das, wie es
aussieht, wohl nicht mit vertrauten Möglichkeiten der Integration abgebaut werden kann.
Worum geht es? Die Stadt Bonn gewährt etwa
1000 Flüchtlingen aus mehr als 30 Nationen
Zuflucht, diese werden dezentral im gesamten
Stadtgebiet untergebracht – in Übergangs­
heimen, in Notunterkünften oder in Wohnun­
gen und Hotelzimmern.
Es ist die Schreckensherrschaft der IS-Dschiha­
disten die diese Menschen – zumeist Jesiden
und Christen – zu Hunderttausenden in die
Flucht getrieben hat. Diese Menschen haben
Vertreibungen, Verschleppungen und Massenhinrichtungen erlebt. Weit über die Hälfte
sind Kinder und Jugendliche, die durch ihre
Erlebnisse schwer traumatisiert wurden. Sie
haben Todesängste durchlebt, Todesopfer in
der Familie und im Freundeskreis zu beklagen
und vielleicht ihr Zuhause verloren.
Traumatisierte Menschen haben häufig Ängste,
die mit der erlebten Gewalt in Zusammenhang
stehen oder sich hier von bereits abgekoppelt und verselbständigt haben. Auch kann
es zu einem ausgeprägten Vermeidungsverhalten kommen, um nicht mit Erinnerungen
oder Ängsten konfrontiert zu werden. Schlaf­
störungen, deutlich erhöhte Wachsamkeit und
Schreckhaftigkeit, Übererregbarkeit, Reizbarkeit, Stimmungsschwankungen, verminderte
Belastbarkeit und Erschöpfung sind weitere
häufige Symptome. Es kann zu Depressionen
und sozialem Rückzug kommen sowie dem
Gefühl, mit der Alltagsbewältigung über­
fordert zu sein. Auch Suchterkrankungen, EssStörungen, Lebensüberdruss und Suizidalität, selbstverletzendes Verhalten oder weitere
selbstschädigende Verhaltensweisen können
die Folge sein.
Anzunehmen ist demnach, dass diese Menschen, die nun als Flüchtlinge zu uns kom-
men, traumatisiert sind und sich noch lange
Zeit in ständiger, nervöser Alarmbereitschaft
befinden, sie werden erkennbar unter Angststörungen, Panikattacken und Albträumen leiden, was sich auch in seelischen, körperlichen
und sozialen Symptomen und Auffälligkeiten
auslebt wie etwa Bettnässen, zittern, stottern, Schlaflosigkeit, Nahrungsverweigerung,
agressives Verhalten, Gewaltbereitschaft – der
Seelendruck muss raus.
Das Problem, welches sich entfaltet, hängt
mit dem naheliegenden Ansatz zusammen,
trauma­tisierte Menschen, hier besonders
Kinder und Jugendliche aus Flüchtlings­
familien, entweder durch erzieherische(!) oder
gesprächstherapeutische Maßnahmen von
ihren mitgebrachten seelischen Belastungen
zu mindest etwas zu befreien. Am Rudolf
Steiner-Haus in Bonn versuchen wir dies mit
heileurythmischem Ansatz als Ergänzung zur
Notfallpädagogik oder Kunsttherapie.
Sicherlich, die Integration des traumatisierten
Flüchtlings in die deutsche Gesellschaft bedarf
neben beispielsweise gutem Sprach­unterricht
auch ein sicheres Umfeld – aber eben auch
angemessenes therapeutisches Bemühen,
diesen geplagten Menschen mit adäquaten
Methoden erst einmal überhaupt zu ermöglichen, sich von dem inneren, aufgestauten
Trauma und dem damit einhergehenden inneren Seelendruck befreien zu können – hier
sieht das Rudolf Steiner-Haus Bonn seine
Verantwortung wie Aufgabe.
Deshalb: das in Gründung befindliche «Arbeitszentrum Flüchtlinge» im Rudolf Steiner HausBonn wird sich in einem ersten Arbeitsschwerpunkt mit der Umsetzung «Heileurythmischer
Traumatherapien in Ergänzung der Notfall­
pädagogik» zu befassen haben. Diese arbeitet,
gemäß der Heileurythmie, mit rhythmischen
Bewegungsformen, angepasst auf die jeweilige individuelle Situation des (traumatisierten)
Menschen. Eine therapeutische Herangehens-
weise, die sich grundsätzlich von methodischdidaktisch bestimmten Vorgehensweisen des
Lehrers und Erziehers unterscheidet – diese
haben andere Aufgaben, sind ganz anders
ausgebildet.
Wir sehen uns in Bonn in der glücklichen
Lage, heileurythmisch qualifizierte Persönlichkeiten in unseren Reihen zu haben, die an der
Alanus Hochschule in Alfter bei Professorin
Annette Weisskircher ihren Masterabschluss in
Heileurythmie gemacht haben und sich laufend – auch am Goetheanum – weiterbilden,
etwa zum Thema: «Traumafolgestörungen und
die Welt der Bildekräfte – Bleibende Spuren im Ätherischen infolge von Beziehungs­
traumata».
Dazu passt sehr gut, dass die Stadt Bonn jetzt
dazu aufgerufen hat, sich an der anstehenden
Fortschreibung des Integrationskonzeptes aus
dem Jahre 2009 zu beteiligen. Ausgehend von
der dargestellten therapeutischen Integrations­
lücken hat das Rudolf Steiner-Haus diese
Chance genutzt und der Stadt Bonn begründet vorgeschlagen, ein neues Handlungsfeld
«Heileurythmische Traumatherapie» ins Leben
zu rufen.
Wir glauben, dass es eine Bringschuld des
Staates zu sein hat, die jungen, traumatisierten
Menschen, die als Flüchtlinge zu uns kommen,
und die wir aus demographischen Gründen
brauchen, zunächst einmal, eben auch als
Teil der Willkommenskultur, von ihren mitgebrachten seelischen Ängsten und Belastungen
zu befreien. Dann, erleichtert, stabilisierter und
wieder focussierter können sie sich den neuen
auch pädagogischen Herausforderungen bei
uns erfolgreicher und sicherlich auch nachhaltiger stellen. So gesehen öffnet sich der
Heileurythmie als neue Staatsaufgabe in diesen unruhigen Zeiten ein wichtiges neues
Aufgabengebiet.
Otto Ulrich, Rudolf Steiner-Haus Bonn
Zurück im Nordirak: Notfallpädagogik an Flüchtlingsschulen
Ende März hat ein notfallpädagogisches Team der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners erneut traumatisierte Kinder und Jugendliche in Flüchtlingslagern in der Provinz Dohuk im Nordirak besucht. In vier UNICEF Schulen konnten 1300 Kinder in der Verarbeitung
ihrer schrecklichen Erlebnisse unterstützt und Lehrerkräfte im Umgang mit traumatisierten Kindern geschult werden. Der Einsatz fand in
Kooperation mit «Aktion Deutschland hilft» statt.
Seit dem letzten notfallpädagogischen Einsatz
der Freunde der Erziehungskunst im Nordirak
im September 2014 hat sich vieles verändert. Die Binnenflüchtlinge, die Großteils in
Rohbauten und auf freiem Feld campieren
mussten, haben nun in den neu errichteten Flüchtlingslagern Zuflucht gefunden. Seit
Mitte Februar hat UNICEF mehrere Schulzelte
errichtet, so dass die Flüchtlingskinder wieder
eine Schule besuchen können.
In den Flüchtlingslagern Berseve I und Berseve II hat ein notfallpädagogisches Team von
6
6. bis 20. März vier dieser UNICEF Schulen unterstützt. Die Schulen arbeiten unter
schwierigen Bedingungen: viele der Schulzelte
haben weder Tische noch Stühle, der Unterricht findet auf dem Boden statt. In einigen
Schulen kommen auf 1300 SchülerInnen nur
3 Lehrkräfte und viele der SchülerInnen sind
schwer traumatisiert. Die traumabedingten
Verhaltensänderungen der Kinder sind überall
sichtbar, viele legen aggressives Verhalten an
den Tag oder isolieren sich selbst.
Um diese Kinder und Jugendlichen in der
Verarbeitung ihrer Erlebnisse zu unter­stützen,
wurden täglich verschiedene pädagogische und
therapeutische Angebote gestaltet: Erlebnis­
pädagogik und Bewegungsübungen geben den
Kindern ihr Vertrauen in sich selbst und ihre
Umwelt zurück und lösen innere Blockaden.
Kunsttherapie bietet non verbale Möglichkeiten
Erlebtes auszudrücken und zu verarbeiten.
Insgesamt konnten ca. 1200 Kinder im Alter
zwischen 5-17 Jahren mit verschiedenen Workshops erreicht werden und ihnen etwas Freude
zurück gegeben werden. Das Lachen der Kin-
Anthroposophie Weltweit • Mitteilungen Deutschland, Mai 2015
Anthroposophische Bewegung
der, die bunte Tücher, Farben und Bälle zeigen
ein Bild der Hoffnung im grauen Umfeld der
Flüchtlingslager.
Um nachhaltige notfall­
pädagogische Strukturen
zu etablieren wurden para­
llel dazu 39 LehrerInnen im
Rahmen einer dreitägigen
Fortbildung in Psycho­
traumatologie und den
Methoden der Notfall­
pädagogik im Umgang mit
traumatisierten
Kindern
geschult. Die meisten Lehrkräfte sind selbst Flüchtlinge aus dem umkämpften
Sinjar-Gebirge und ebenfalls
trauma­tisiert. Die Fortbildung
kann sie darin unterstützen,
mit ihren eigenen und mit
den Traumatisierungen der
Kinder besser umzugehen.
Aber nicht nur Kinder und Lehrer sind betroffen, auch viele Erwachsenen sind schwer
traumatisiert. Elternberatung und psycho-
soziale Hilfe vor allem für Frauen sind ein
weiterer wichtiger Baustein der Arbeit der
Freunde der Erziehungskunst im Nordirak. In
Zusammen­arbeit mit einer lokalen NGO konnten Frauengruppen
aufgebaut werden, die den Frauen
die Gelegen­heit bieten, über ihre
Erlebnisse und Erfahrungen zu
sprechen und sich auszutauschen.
Für diejenigen, die durch ihre
Erlebnisse während Vertreibung
und Flucht schwer traumatisiert
sind, wurden Einzelgespräche mit
einer erfahrenen Psychotherapeutin angeboten.
Im Laufe des Jahres planen die
Freunde der Erziehungskunst weitere notfallpädagogische Einsätze
in der Region.
Clara Krug, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit für Notfallpädagogik
[email protected] , www.freunde-waldorf.de
Neue Literatur
Verlag Freies Geistesleben
Karl König: Imaginative Dramatik. Spiele zu den
Jahresfesten. Hrsg. von Richard Steel.
(an) Karl Königs Spiele und Stücke zu Jahres­
festen gehören zum Originellsten seines Schaffens: Es sind tiefgehende szenische Bilder, die
für Gemeinschaften geschrieben sind und ein
vertieftes Verständnis der Jahresfeste sowie
eine soziale Wirkung des Christlich-Religiösen
suchen. Bis auf eine Ausnahme entstanden die
14 Spiele Karl Königs in der Gründerzeit der
Camphill-Bewegung. In ihrem Charakter wirken sie stark gemeinschaftsbildend: ob als einfach zu inszenierende Laienspiele oder auch
zur intensiven Vorbereitung der Jahresfeste.
Inzwischen haben die Spiele ihren Weg in viele
Sprachen und zahlreiche weitere Gemeinschaften und Gemeinden auch außerhalb der
Camphill-Bewegung gefunden, weshalb hier
erstmals eine ausführlich kommentierte Ausgabe der Originaltexte vorgelegt wird. Die
Stücke sind mit detaillierten Einleitungen
und Kommentaren versehen und werden mit
Bildmaterial aus dem Karl-König-Archiv und
Einträgen aus Königs Notizbüchern editiert.
Daneben finden sich zahlreiche praktische
Hinweise für Regisseure und die Erarbeitung
der Inhalte.
Peter Norman Waage: Ich. Eine Kulturgeschichte
des Individuums
Ich bin Ich – das Persönlichste und Allgemeinmenschlichste zugleich. Aber von der Antike
bis zur Gegenwart hat sich die Selbstwahrnehmung des Menschen stark verändert. Pointiert
und sicher folgt Peter N. Waage den Spuren des
Individuums in der europäischen Geschichte, Philosophie und Literatur, beleuchtet neu,
bringt nahe, macht verständlich, begeistert und
inspiriert. In der Antike stochert Tragödienheld
Orest in unserem Gewissen und Sokrates in
unserer Sicherheit; Platon führt uns auf den
rechten Weg, aber Alexander sprengt jegliches
Maß. In der Neuzeit weisen Descartes, Luther
und Calvin uns den Weg zu uns selbst; Kant
enthüllt unbekannte Seiten, Lessing nimmt uns
in die Schule und wir besuchen Hume, Fichte,
Goethe und Hegel. Außerdem begegnen wir
dem Doppelgänger Europas im Schicksal Peter
des Großen und Dostojewskijs. Stirner, Kierke­
gaard und Ibsen bitten uns darum, uns selbst
zu wählen, ebenso Nietzsche, Steiner, Sartre
und Beauvoir. Im 20. Jahrhundert stützen uns
Belyi und Joyce, ehe wir uns mithilfe Spenglers,
Wittgensteins und Foucaults selbst auflösen.
Viktor Frankl, Hans und Sophie Scholl sowie
Solschenizyn lehren uns, dagegenzuhalten. Das
beginnende 21. Jahrhundert sagt: Wenn die
Zukunft nicht dem Individuum gehört, so hängt
sie vom Einzelnen ab.
Verlag Urachhaus
Holger Wolandt: Selma Lagerlöf. Värmland und die
Welt – eine Biographie
Der 75. Todestag der Nobelpreisträgerin ist ein
dringender Anlass, diese starke Persönlichkeit
wiederzuentdecken. Auf Grundlage ihrer Briefe,
die bis heute auf Deutsch nicht zugänglich
sind, zeichnet der Autor hier das umfassende
Porträt einer Frau, die mit wachem Interesse
am Geschehen ihrer Zeit teilnimmt und es oft
polemisch kommentiert. So kannten wir Selma
Lagerlöf bislang noch nicht.
Info3 Verlag – Mayer
Axel Ziemke: Alle Schöpfung ist Werk der Natur. Die
Wiedergeburt von Goethes Metamorphosenidee in
der evolutionären Entwicklungsbiologie
Das Geheimnis einer kleinen Blume, die Evolu­
tion des Lebens und des Menschen, die Entwicklung der Evolutionsforschung selbst und
die letzten Fragen nach Verlauf und Sinn der
Schöpfung – dies sind die anspruchsvoll verfolgten und künstlerisch verwobenen Motive
dieses Buches. Der Autor zeichnet ein anschauliches Bild der modernen Evolutionsforschung,
Anthroposophie Weltweit • Mitteilungen Deutschland, Mai 2015
in dem weder ein außerweltlicher Schöpfergott noch das blinde Wirken des Zufalls die
Evolution bestimmt, sondern individuelle
Entwicklungs­fähigkeit, Lernen und Bewusstsein
mehr und mehr zu den treibenden Kräften einer
intelligen­ten Selbstentwicklung des Lebens
werden. Am Ende erweist sich das Goethesche
Wort «Alle Schöpfung ist Werk der Natur» als
ebenso wissenschaftlicher wie tief mystischer
Blick in das Rätsel alles Seins.
Fritz Helmut Hemmerich: Hervor aus dem dunklen
Spiegel! Innehalten für eine geistige Gesundung
Diese Meditation für ein erstes Erwachen
knüpft an das Ostergeschehen an – nicht
jedoch in einem religiösen Zusammenhang,
sondern als Anregung für jeden Tag. Nüchtern
und doch innerlich kraftvoll beschreiben diese
Text-Miniaturen und die dazugehörigen Anleitungen auf neue Weise das Mysterium von Tod
und Auferstehung des Selbst.
Novalis Verlag
Peter Schraud: Mein Freund fürs Leben. Goethe als
Partner der Selbsterkenntnis und Selbsterziehung
In diesem Buch geht es um Spiegelung, ein
Verfahren, wie der moderne Mensch sich seiner
selbst bewusst wird, möglichst ohne Selbst­
täuschung. Und wie könnte er Treffenderes
über sich erfahren als mithilfe anderer Menschen, seien es Mitlebende – «Die Existenzen
fremder Menschen sind die besten Spiegel,
worin wir die unsrige erkennen können»(an
Charlotte von Stein, 9. September 1783) – oder
Vertrauensleute, die sich bewährt haben –
wie Goethe. Er wird nach 200 Jahren immer
aktuel­ler, und woran mag das liegen? Weil
er selbst unablässig bemüht war, nur das
Menschliche gelten zu lassen, unabhängig
von Rang und Stand, Alter und Geschlecht,
Hautfarbe und Religion. «Sinn und Bedeutung
meiner Schriften und meines Lebens ist der
Triumph des rein Menschlichen».
7
Anthroposophische Bewegung
Erich-Fromm-Preis
für Götz Werner
(an) Der Gründer der dm-Drogeriemärkte Prof.
Götz W. Werner erhielt am 23. März 2015 (dem
115. Geburtstag von Erich Fromm!) im Stuttgarter Neuen Schloss den Erich Fromm-Preis für
die von ihm geprägte Unternehmenskultur und
für sein Engagement für ein Bedingungsloses
Grundeinkommen. Die mit der öffentlichen
Preisverleihung verbundene Fromm-Lecture
hielt Götz Werner selbst zum Thema: «Wie
schaffen wir Initiative weckende Rahmen­
bedingungen? » Den Menschen zum Maßstab
wirtschaftlichen Handelns zu machen, schreiben sich die meisten Firmen auf ihre Fahnen.
Götz Werner hat diesen Leitwert in seinem
Unternehmen jedoch auf einzigartige Weise
auch umgesetzt. Aus der Überzeugung heraus,
dass der arbeitende Mensch nicht Mittel, sondern Zweck ist, hat er eine Arbeitsorganisation,
Führungs- und Unternehmenskultur geschaffen, «die der Arbeit ihre kreativen Dimensionen
und ihre menschliche Würde wieder zurückgibt» – so die Jury in ihrer Begründung.
Mit dem bereits vor 60 Jahren von Erich Fromm
konzipierten «garantierten Einkommen für alle»
wird Arbeit auch unabhängig von Erwerbsarbeit Ausdruck einer produktiven Lebens­
orientierung. Götz Werners Initiative zum
Bedingungslosen Grundeinkommen will dies
einem jeden Menschen ermöglichen.
Die jährlich von der Internationalen ErichFromm-Gesellschaft vergebene Auszeichnung
ehrt mit dem Preis Menschen, «die Hervor­
ragendes für den Erhalt oder die Wieder­
gewinnung humanistischen Denkens und Handelns im Sinne Erich Fromms geleistet haben
bzw. leisten.» (Quelle: anthromedia, ErichFromm-Gesellschaft)
«Die Wegwerfkuh»
(an) Tanja Busse steht nicht im Verdacht, Bauern-Bashing zu betreiben. Die Autorin – aufgewachsen auf einem Bauernhof – stellt Fragen,
recherchiert gründlich Zusammenhänge und
scheut sich nicht, deutlich Position zu beziehen. In ihrem gerade erschienenen neuen Buch
«Die Wegwerfkuh – Wie unsere Landwirtschaft
Tiere verheizt, Bauern ruiniert, Ressourcen verschwendet und was wir dagegen tun können» (Blessing Verlag) verknüpft sie das eigene, durchaus emotional gefärbte Erleben rund
um ein «untaugliches» Kalb mit tiefgründigen
Einblicken in die real existierenden Automatismen der Landwirtschaft, mit wissenschaftlichen
Erkenntnissen inklusive deren Irrungen und mit
entschlossenen Forderungen für ein Umsteuern.
Sie stellt Zusammenhänge her zwischen dem
Imperativ der Leistung, der zu verinnerlich­ter
Gewalt führt, und neben Wegwerfkühen auch
Wegwerflandwirte hervorbringt, der dank irregeleiteter Züchtung erschöpfte Kühe für eine
erschöpfte Gesellschaft produziert.
Letztlich war es ein Vortrag von Staats­sekretär
8
Griese, der der Autorin klar gemacht hat, welche Verschwendung in der Landwirtschaft
betrieben wird. Sie möchte gern innerhalb der
Agro-Industrie, in dieser Szene stolzer Unternehmer, eine Debatte anstoßen. Sie möchte
die Bauern erreichen, die bereits Zweifel haben
und Ungereimtheiten in ihren angeblichen
Fortschritts­rechnungen entdecken. Sie packt
sie an ihrem eigenen Anspruch eines hoch­
effizienten Systems und führt ihnen ihre eigenen «Rechenfehler» vor.
Aber auch in der Bio-Landwirtschaft muss darüber gesprochen werden, wie wir Tiere nutzen.
Auch auf Bio-Höfen und selbst auf DemeterHöfen werden Bullenkälber der Milchkühe in
die konventionelle Vermarktung abgegeben. Der
Kreislaufgedanke muss auch in diesem Bereich
stärker werden. So wünscht sich die Autorin,
dass mehr Forschung und mehr Versuche laufen
zum Nutzen ohne töten. Wie lange kann ich
melken, ohne wieder ein Kalb zu produzieren,
für das kein gutes Leben vorgesehen ist?
Die solidarische Landwirtschaft sei ein groß­
artiges Konzept. Das gehe genau in die Richtung,
dass Konsumenten zu Koproduzenten werden.
So lasse sich die Kluft zwischen Landwirtschaft
und Verbrauchern schließen. Und sie passe gut
zu ihrer Wunsch-Vorstellung, dass jeder Schule
einen eigenen Bauernhof bekommt, zur Versorgung und als außerschulischer Lernort. (Quelle:
Renée Herrnkind, Demeterverband)
Neuer Film
über Joseph Beuys
(nna) Die Biographie des Menschen und Künstlers Joseph Beuys steht im Mittelpunkt des
neuen Films von Rüdiger Sünner. «Zeige deine
Wunde – Kunst und Spiritualität bei Joseph
Beuys» zeigt den Werdegang von Beuys, der
oft in den Medien als der wichtigster Künstler des letzten Jahrhunderts bezeichnet wird.
Dennoch blieb und bleibt er den Besuchern
seine Ausstellungen oft wenig verständlich. Mit
dem Film steigen die Chancen des Betrachters auf Verständnis, denn Zeichnungen oder
Installa­tionen in Ausstellungen sind oft nur ein
Moment, natürlich eine Essenz, eines längeren
Prozesses im Schaffen des Künstlers; ohne
weiteren Hinter­grund vielleicht verwirrend und
rätselhaft. Zu stimmungsvollen Bildern und
Ausschnitten aus Beuys Werk kommen Erzählungen von Erlebnissen durch verschiedene
Zeitzeugen. Die Kunsthistorikerin Rhea ThöngesStringaris, die Beuys 1972 kennen lernte, kommt
u.a. zu Wort, sie beschreibt seine Menschlichkeit und seinen von Empathie-Kräften gekennzeichneten Charakter.
Johannes Stüttgen, Meisterschüler und Mitarbeiter von Beuys und auch Mitbegründer des
«Omnibus für Direkte Demokratie», beschreibt
Beuys’ Wesensart als nomadisch.
Parallel zum Erkenntnisweg der Anthropo­
sophie arbeitete Beuys mit der Wahrnehmung,
richtete sich dabei aber nicht nach einem Schema. Es lebe das Ätherische und das Astralische
teil­weise in seinen Zeichnungen umgesetzt,
so kommentiert Wolfgang Zumdick im Film,
ein Kunst­philosoph, der mehrere Bücher über
Beuys und sein Verhält­nis zu Rudolf Steiner
verfasst hat. Obwohl Beuys sich zeitlebens mit
der Anthropo­sophie auseinandergesetzt habe,
hat er, so Zumdick, keine anthroposophische
Formen­sprache entwickelt. Beuys berühmte
Sentenz, die eigentlichen Mysterien fänden
nicht im Goetheanum, sondern am Hauptbahnhof statt, resultiere aus seiner Abwehr
gegen das Ein­engende, das er in Dornach empfunden habe.
Über die Eindrücke der Zeitgenossen hinaus
erfährt der Zuschauer durch Filmdokumente
von Aktionen und ihrer Bedeutung, zum Beispiel
welche Aussage hinter der Fußwaschung steht,
oder warum Beuys die Bilder eines toten Hasen
zeigt. Der Film ist ab sofort auf DVD lieferbar.
Veranstaltungstermine
Rudolf Steiner-Haus Frankfurt
Samstag, 2. Mai 2015, 11 – 18 Uhr
Der Hüter der Schwelle – 3. Mysteriendrama von
Rudolf Steiner
Aufführung der Goetheanum-Bühne, Dornach
Kartenbestellung: 069 53093-584 oder -580
E-Mail: [email protected]
Veranstalter: Anthroposophische Gesellschaft Frankfurt.
Ort: Hügelstraße 67, 60433 Frankfurt
Rudolf Steiner-Haus Stuttgart
Samstag, 9. Mai 2015, 10-17 Uhr
Beobachtungsübungen zur Metamorphose der
Pflanze
Tagesseminar mit Martin Merckens
Information und Anmeldung: Tagungsbüro im Rudolf SteinerHaus Stuttgart, Tel. 0711 248 50 97, email [email protected]
Veranstalter: Anthroposophische Gesellschaft Stuttgart.
Ort: Zur Uhlandshöhe 10, 70188 Stuttgart.
Rudolf Steiner-Haus Hamburg
Freitag, 15. Mai 2015, 18.00 Uhr bis
Sonntag 17. Mai 2015, 13.15 Uhr
Am sozialen Tempel der Zukunft bauen
Himmelfahrtstagung zur Zukunft der anthropo­
sophischen Bewegung und Gesellschaft
Mitwirkende: Torben Maiwald, Matthias Bölts,
Ruben Bollmann, Sharon Karnieli, Sivan Karnieli,
Jens Göken, Gunhild von Kries, Annemarie Richards,
David Richards, Anton Kimpfler, Johannes Greiner,
Steffen Hartmann u. a.
Anmeldung unter: Tel. 040 4133 1621.
Veranstalter: Zweig am Rudolf Steiner Haus Hamburg.
Ort: Mittelweg 11-12, 20148 Hamburg.
Impressum
Die «Mitteilungen aus der anthroposophischen Arbeit in
Deutschland» sind Bestandteil der Zeitschrift «Anthroposophie
weltweit». Herausgeber ist die Anthroposophische Gesellschaft
in Deutschland e. V., Zur Uhlandshöhe 10, 70188 Stuttgart.
Redaktion: (an) Andreas Neider (verantwortlich), Sylvain Coiplet.
Zur Uhlandshöhe 10, 70188 Stuttgart., Tel.: 0711/248 50 97, Fax:
248 50 99, e-Mail Redaktion: [email protected]. Adressänderungen und Administration: [email protected].
Gestaltung: Sabine Gasser, Hamburg. Der Bezug ist sowohl
durch ein Abonnement der Wochenschrift «Das Goetheanum»
als auch durch gesonderte Bestellungen beim Verlag möglich.
Jahres­kostenbeitrag Nicht-Mitglieder: 40 €. Verlag: mercurialPublikations­gesellschaft, Alt-Niederursel 45, 60439 Frankfurt/M.,
Tel: 069/58 23 54, Konto Nr. 101 670 901 bei der GLS Gemeinschaftsbank eG, BLZ 430 609 67.
Beilage: Ernst-Michael Kranich-Stiftung zum Buch von Frank Linde
Anthroposophie Weltweit • Mitteilungen Deutschland, Mai 2015