The next big Trend - Lokale Agenda 21 Trier eV

STADTGÄRTEN
ELISABETH MEYER-RENSCHHAUSEN
The next big Trend
Urban Agriculture – Rückkehr der Subsistenzwirtschaft?
Selbstversorger-Landwirtschaft, bisher als
Subsistenzökonomie der Frauen von links
bis rechts verachtet, kehrt zurück. Guerilla
Gardening, »Urban Agriculture«, interkulturelle Gärten sind in. »Mein Leben als
Schrebergärtner« wird ein Bestseller. Weltweit sehen wir ein längst erloschen geglaubtes Interesse am Eigenanbau von Gemüse.
Oft nachbarschaftlich gemeinsam. Es geht
um grüne Städte und »essbare Landschaften«. Vor allem in den USA ist das ein
demonstrativer Protest gegen die Diktate
der großen Lebensmittelkonzerne.
V
Kommune 3/2010
or glitzernden Hochhäusern ein Gemüsebeet inmitten eines ansprechenden
Parks: Schulgärten in Chicago. Ohne
Zaun wachsen zarte Gemüsepflänzchen für jedermann sichtbar. Der Gemüsegarten prangt
auf dem Titel des Buches Urban Agriculture –
Cities Farming for the Future, herausgegeben
vom Institut für Rural and Urban Agriculture
RUAF. Eines der wenigen agrarwissenschaftlichen Institute in der Welt, das sich um städtische Landwirtschaft kümmert. Die Idee
stammt aus den Städten des globalen Südens,
vor allem aus Südamerika. Dort ernährt städtische Subsistenzwirtschaft viele erwerbslose
Menschen in den Spontansiedlungen. In den
Favelas. Bereits seit Jahrzehnten.1
Mittlerweile hat der innerstädtische Gemüseanbau auch uns erreicht. Dessau und
Leipzig sind mit die ersten Städte, die aus der
Krise eine Chance zu machen verstehen und
die neu entstandenen Brachflächen nutzen,
um die Lebensqualität in der Stadt zu erhöhen. Sie bieten die Brachflächen den Bürgerinitiativen aufgeteilt in 400 Quadratmeter großen Stücken an. Die Bürger können Gemeinschaftsgärten, Krautäcker oder, wenn sie unbedingt wollen, auch Agrardieselfelder anlegen. Sie können auch Skaterbahnen bauen
oder aufforsten. Die Kleinstadt Pulheim bei
Köln hat das Konzept übernommen und plant
dezidiert einen Parkgürtel, in dem die Menschen auch gärtnern können.
Die Idee des »sich selbst tragenden Parks«
stammt von dem berühmten Landschaftsarchitekten der 1920er-Jahre, Leberecht Migge,
der dafür eintrat, öffentliche Parks durch Anhängsel aus Kleingartenkolonien zu erweitern.2
Wichtig war ihm, dass die Kleingärten von Anfang an eine spaziergängerfreundliche Durchwegung erfuhren und im Sommer bis zum Sonnenuntergang offen gehalten wurden. Diese
Idee wurde in sozialdemokratisch dominierten
Großstädten der 1920er-Jahre verschiedentlich
umgesetzt, in Frankfurt am Main ebenso wie in
Berlin. Heute gibt es wieder in Toronto, Seattle,
München oder Berlin interkulturelle GemüseGärten in öffentlichen Parks. In München hält
die Kommune am Stadtrand Äcker als Grabeland oder für Selbsternteprojekte bereit und
ist auf diese neuen »Krautgärten« mordsstolz.
Meist jedoch ist das Verständnis für das
neue Gärtnern von öffentlichen Bauherren noch
unterentwickelt. Die Landschaftsplaner in den
Verwaltungen halten Gärten für etwas »Privates«. Sie kommen nicht weg von der Idee, dass
Schrebergärten spießig sind. Sogar rot-grüne
Behördenvertreter haben wenig Verständnis
für die Begeisterung der Jugend für städtische
Landwirtschaft. Stattdessen, so der Hannoveraner Stadtsoziologe Wulff Tessin, schwärmen
die städtischen Landschaftsplaner immer noch
für eine Parkgestaltung nach den Prinzipien
des Minimalismus. Obwohl diese Gärten für die
meisten Menschen grässlich langweilig sind.3
Imponierende Weiten
oder Eigenarbeit und Selbsthilfe?
Food Not Lawns – How to Turn your Yard into a
Garden and Your Neighbourhood into a Community (Essen statt Rasen – Wie Du Deinen Hof
in einen Gemüsegarten verwandeln kannst und
Deine Nachbarschaft in eine lebendige Gemeinschaft) – so das neue Buch der Landschaftsplanerin Heather C. Flores. Für die Ökoaktivisten
von der Westküste der USA sind Rasenflächen
eine aristokratische Attitüde von Adeligen.
Die wollten vor etwa 250 Jahren damit imponieren, wie viel Land sie besaßen. Da die Adeligen den französischen Bauern infolge ihrer
Gier nach Grund und Boden zu wenig Ackerland ließen, waren entschädigungslose Landreformen eines der ersten Ergebnisse der französischen Revolution. Heute, so die US-amerikanischen »food-not-lawns«-Umweltaktivisten, können wir es uns nicht mehr leisten, Land
und Wasser für stupide Rasenwiesen zu verschwenden.Was jetzt ansteht,ist die lokale Lebensmittelproduktion für die Selbstversorgung.4
Dieses Verständnis fehlt dagegen der Broschüre »Das Grüne Berlin« der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. Hier werden die
alten Horte städtischer Landwirtschaft, die
berühmten Berliner Schrebergärten, wie auch
die neuen, die Gemüse anbauenden interkulturellen Gemeinschaftsgärten, auf gerade mal
zwei bis drei Seiten abgehandelt.5 Das ist erstaunlich.
Denn Berlin wurde innerhalb von nur
sechs Jahren die Hauptstadt einer neuen Gartenbewegung. In Berlin entstanden binnen
von nur sieben Jahren 20 interkulturelle Gärten, also gemeinschaftlich bestellte Gemüsegärten. Den ersten gründeten bosnische Flüchtlinge 1996 in Göttingen auf Kirchenland. Heute
gibt es über 90 interkulturelle Gärten von Migrantengruppen in der Bundesrepublik.
Berlin ist traditionell eines der Zentren der
über hundertjährigen Schrebergartenbewegung. Zu Kule Wampes Zeiten hießen Berlins
Gemüseproduzenten liebevoll ironisch »Laubenpieper«. Wilde oder seit 1919 in Kolonien
zusammengefasste Kleingärten waren der Ort
tröstender Selbstbetätigung in erwerbslosen
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Wie in anderen US-Großstädten gibt es auch in New York verschiedene Gemeinschaftsgärten und auch
Jugendfarmen, die biologisches Gärtnern lehren und auch für den Vertrieb sorgen.
Zeiten. Wie damals berühmte Romane beispielsweise von Clara Viebig schilderten: Eine
Handvoll Erde. Heute entzückt die Jugend ein
erster Roman zum Guerilla Gardening: Die
Wassergärtnerin.
Warum dennoch diese administrative Unterbewertung des Selbsthilfepotenzials der Menschen? Gärten gehören als Nutzgärten wie die
Kleinstlandwirtschaft wesentlich zur häuslichen Sphäre. Sie gehören zu Haushalt und Hauswirtschaft, dem Bereich, der traditionellerweise den Frauen zugeordnet wurde und noch
wird. Während die »Haus-Wirtschaft« im
Zuge des Triumphs der industriellen Revolution unterdrückt, verdrängt und endlich vergessen wurde, kommt sie in Krisenzeiten offenbar umso lebendiger zurück. Das Implodieren, das Schrumpfen der industriellen Welt, das
Nachlassen der ökonomischen Expansion, verschafft informellen Tätigkeiten wie dem Gärtnern neuen Raum und neue Notwendigkeit.
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Literatur:
Peter Lamborn Wilson, Bill Weinberg (Ed.): Avant Gardening, Ecological Struggle in the City and the World, Brooklyn NY: Autonomedia 1999
Nico Bakker, Marielle Dubbeling, Sabine Gündel, Ulrich SabelKoschella, Henk de Zeeuw für die Deutsche Stiftung für internationale Entwicklung (DSE) (Ed.): Growing Cities, Growing Food
– Urban Agriculture on the Policy Agenda, Feldafing: Zentralstelle für Ernährung und Landwirtschaft 2000
Wladimir Kaminer: Mein Leben im Schrebergarten, München 2007
Tania Krätschmar: Die Wassergärtnerin, München 2008
Karl Linn: Building Commons and Community, Oakland, Cal.:
New Village Press 2007
Elisabeth Meyer-Renschhausen, Renate Müller und Petra Becker
(Hrsg.): Die Gärten der Frauen – Zur sozialen Bedeutung von
Kleinstlandwirtschaft in Stadt und Land weltweit, Herbolzheim:
Centaurus 2002
Elisabeth Meyer-Renschhausen: Unter dem Müll der Acker –
Community Gardens in New York City, Königstein im Taunus:
Ulrike Helmer Verlag 2004
Rob Hopkins: Energiewende – Das Handbuch. Anleitung für zukünftige Lebensweisen, Frankfurt am Main 2008
Gerhard Waldherr: »Die Bauern von New York«, in: brand eins
Nr. 5/09, S. 48–55
Daher ist die subsistenzorientierte Kleinlandwirtschaft nicht mehr eine bloß ländliche
Realität, die von den Behörden und der industriellen Landwirtschaft ignoriert, verdrängt
oder auch toleriert wird. »Urban agriculture«
wird zunehmend eine städtische Realität und
zeigt die Kehrseite einer rasant voranschreitenden globalen Verstädterung auf. Inmitten
dieses Prozesses verwildern die Städte: in ihrem Inneren und an ihren Rändern beobachten wir eine Art Reruralisierung.
Die legalen Formen von Eigenarbeit in
Haus und Garten oder im Ehrenamt wurden
jedoch vom bundesdeutschen Gesetzgeber brutal negiert. Die derzeitige Sozialhilfe-Gesetzgebung (»Hartz IV«) sowie das neue Scheidungsrecht implizieren die gesellschaftliche
Verzichtbarkeit von Hausarbeit. Sogar als allein erziehende Mütter oder wenn sie Alte versorgen, müssen sich erwerbslose Frauen rund
um die Uhr dem Arbeitsmarkt zur Verfügung
stellen. Obwohl es für sie nachweislich keine
anständig bezahlte Arbeit gibt. Daher kommen
sogar rot-rote oder rot-grüne Stadtregierungen auf die Idee, wie derzeit in Berlin, innerstädtische Kleingartenanlagen der Bodenspekulation opfern zu wollen. Obwohl es nachweislich die Gemüsegärten sind, die Menschen
über Notzeiten vor allem auch seelisch hinweghelfen.
Der neue landwirtschaftliche Diskurs
Unter »Urban Agriculture« oder »Städtischer
Landwirtschaft« verstehen wir daher statt Erwerbslandwirtschaft mehr die Gemüsegärtnerei für den Eigenbedarf. Aber nicht nur. Die
neue städtische Landwirtschaft ist mehrheitlich mit neuen Organisationsformen, wie dem
Community Gardening, verbunden. Aber na-
türlich gibt es Urban Agriculture weltweit: In
Caracas und Havanna wird innerstädtische
Landwirtschaft staatlich unterstützt, in zahlreichen afrikanischen Städten ernährt der wilde Gemüseanbau auf Brachen große Teile der
Spontansiedlungsbewohner. Die Stadtziegen
auf den Müllhalden Nairobis fungieren wie
ein Sparkassenkonto hierzulande.
Städte Asiens wie Shanghai und Singapur
bemühen sich, hinsichtlich ihrer Produktion
von Gemüse autark zu bleiben. Ihnen ist extrem wichtig, immer absolut frisches Gemüse
auf dem Teller zu haben. In Hongkong werden
45 Prozent des örtlich verzehrten Gemüse in
der Stadt selbst erzeugt. Shanghai hat sich bereits vor Jahrzehnten eine so große Stadtfläche
gesichert, dass 85 Prozent im Stadtgebiet erzeugt werden können. Und obwohl natürlich
auch in China der Beitrag der landwirtschaftlichen Produktion zum Bruttosozialprodukt
sinkt, wächst der Anteil, den die örtlichen
Bauern und Agrarnomaden zur Ernährung
von Megastädten beitragen, stetig.6
Anders als die Behörden haben die Medien
hierzulande die Zeichen der Zeit erkannt. Den
Anfang machte das Wirtschaftsmagazin brand
eins, es brachte ein ganzes Heft zum Thema
»Essen«. Gleich der zweite Artikel war über die
»Bauern von New York«. Das sind engagierte
Community Gärtnerinnen wie beispielsweise
Karen Washington in der Bronx und ihre universitären Berater wie John Amoroso. Karen
hat zwei Jugendgärten gegründet und hat zudem kleine Frischgemüse-Verkaufsstände einrichten können. Ausschließlich verkaufsorientiert arbeitet der Imker David Graves. Er stellte
seine Bienenkörbe auf den Dächern von New
York City auf, nachdem ihm der Honig in seiner ländlichen Kleinfarm von Braunbären geklaut wurde.
»Gurken statt Kapitalismus« titelte am 18.
Mai 2009 die SZ. Mehrfach meldete sich die
Berliner Zeitung zum »medienträchtigen Guerilla Gardening«. Und schließlich erfahren wir
am 13. August 2009 auch im Zeit-Magazin:
»Michelle Obama tut es«, nämlich Gemüse anbauen. Die Gattin des Präsidenten Obama rackert zusammen mit Schulkindern auf den
Rasenflächen hinter dem weißen Haus. Zum
Eigenverbrauch.
Das ist mutig. Denn Selbsterzeugtes zu verspeisen ist für Städter heute keine Selbstverständlichkeit. Die von der Erde entfremdeten
Büromenschen ekeln sich vor der Erde mit ihren Plastikresten und Hundekot. Womit sie
auch nicht ganz Unrecht haben. So aber gerät
das Gartengemüse, das ungewaschen aus der
Erde kommt, in den Verdacht, selbst unhygie-
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ZUR ZEIT
STADTGÄRTEN
Der Garten »Rosa Rose« in Berlin muss umziehen – hat aber schon ein neues Domizil gefunden. Hier kommt auch das Gemüse wieder in die Erde. – Alle Fotos: Elisabeth
Meyer-Renschhausen
nisch zu sein. Solche Überempfindlichkeiten
sind Entfremdungszeichen einer Konsumpopulation, die in den letzten Jahrzehnten systematisch dran gehindert wurde, sich um das
eigene Gemüse zu kümmern. Dort, wo die Verstädterung noch nicht mehrere Generationen
her ist, sieht das anders aus. Vier von zehn Italienern bauen schon wieder ihr eigenes Gemüse an. Egal ob im Garten oder auf dem eigenen
Balkon, es sind vor allem Kräuter, Tomaten,
Salat, Paprika und Radieschen.
»Avant Gardening!«
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Während sich im letzten Jahr die meisten Zeitungsartikel noch auf Nordamerika bezogen,
wird in diesem Jahr über Subsistenz-Landwirtschaft auch in hiesigen Städten geschrieben. Während die Aufforderung zum »Avant
Gardening« 1999 in New York City (auf Kunst
und revolutionäre italienische Gesänge wie
»Avanti Popolo« anspielend) noch von einer
kleinen Gruppe von »artists and activists«
kam,ist der Hype für selbst gezogene Tomaten
unterdessen bei den Yuppies angekommen.
Tatsächlich wird in den bald 40 Jahre alten
nordamerikanischen Gemeinschaftsgärten seit
Beginn der Neunzigerjahre immer gezielter
und fast ausschließlich Gemüse angebaut. In
zahlreichen nordamerikanischen Großstädten
wurden zudem sogenannte Jugendfarmen als
Gartenbaubetriebe zur Versorgung armer Stadtteile gegründet. Diese Umweltprojekte für chancenlose Jugendliche versorgen die sogenannten »food deserts«. Das sind Quartiere ohne
Frischgemüseversorgung, wo der örtliche Supermarkt aufgegeben hat, weil mit den Stützeabhängigen zu wenig Geschäft zu machen ist.
»Urban farming« ist die Antwort auf dieses
Kneifen der Lebensmittelgiganten. Eine von
ihrer Politik zutiefst enttäuschte Gesellschaft
wie die US-amerikanische fängt sozusagen bei
den Wurzeln wieder an. Sozial und antirassistisch Engagierte, Künstlerinnen oder Sozialarbeiter gründeten in Chicago, Detroit, Philadelphia, Boston oder New York berühmte Projekte wie den »Detroit Summer« der Philosophin
und Aktivistin Grace Lee Boggs und ihrem
Mann, dem Autoarbeiter, der jeden Sommer
Hunderte von freiwilligen Gartenarbeitern und
anderen freischaffenden Künstlerinnen nach
Detroit holt. Gartenaktivisten betreiben auf
innerstädtischen Brachen Gärtnereien, in denen Teenager das biologische Gärtnern erlernen. Meistens erhalten die Jugendlichen sogar
einen Lohn von etwa fünf Dollar die Stunde.
Das Gemüse wird auf von den Kindern und Jugendlichen selbst betriebenen »Bauernmärkten« verkauft. So entstehen inmitten der Zentren des Nordens Varianten einer informellen
Ökonomie, wie wir sie bisher nur aus den
Städten des globalen Südens kannten.
Die Initianten verstehen sich als Polit-Aktivisten. Sie sehen den innerstädtischen Gemüseanbau als Form eines Sich-am-eigenenSchopf-aus-dem-Sumpf-Ziehens. Vor allem
aber als Protest gegen die erdrückende Dominanz der Lebensmittelkonzerne. »Reclaim the
Commons!« – »Fordern wir die Allmenden
zurück!« Wir bestimmen selbst, was wir essen
wollen! Denn entgegen aller Lügen der Statistik ist die Erwerbslosigkeit in den Innenstädten so hoch, sind die Löhne so gering und die
Mieten so extraverrückt, dass sich immer
mehr Nordamerikaner so helfen müssen.
Bei den US-amerikanischen Landschaftsplanern, der »American Planning Association« ist der »food factor« angekommen.7 Ihre
Monatsschrift verkündete im September 2009
»The next big trend«. Die Planer konstatieren
in immer mehr Städten und Planungsämtern
»A serious flirt with the dirt – urban Farming
makes a come back.« Es wird referiert, wie
viele Städte bereits Schulgärten subventionieren oder Gärten einplanen. Schrumpfende
Städte wie Detroit oder Staaten wie Michigan
haben städtische Landwirtschaft und Gemeinschafts-Gärten in ihre Flächennutzungspläne
aufgenommen. Die Stadt Milwaukee hat beschlossen, künftig zehn Prozent der Fläche der
städtischen Landwirtschaft und den Gärten
vorzubehalten.
Urban Agriculture weltweit –
die neue Notwendigkeit
Städtische Subsistenz-Landwirtschaft kommt
heute gewissermaßen aus den Megacitys des
Südens zu uns zurück.Bereits vor über dreißig
Jahren entdeckten Entwicklungshelfer, dass
etwa afrikanische Städter keine Zeit für Alphabetisierungskurse hatten. Weil sie ihre innerstädtischen Felder bestellen mussten. Im
globalen Süden ist »urban agriculture« zwecks
Selbstversorgung sowie für den direkten Verkauf eine lange beschwiegene Realität. In Städten wie Nairobi, der Hauptstadt Kenias, wo 80
Prozent der Bewohner erwerbslos sind und
von sozialversicherungsfähigen Tätigkeiten
nur träumen können, ist seit Jahren bekannt,
dass die Armen sich in den Flusstälern, auf
Müllkippen oder entlang der Eisenbahnschienen das Nötigste selbst anbauen. Auf Reputa-
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ZUR ZEIT
50 Jahre Unabhängigkeit
I
NORD-SÜD
n diesem Jahr feiert Afrika seine 50-jährige Unabhängigkeit. In Berlin haben die
afrikanischen Botschafter Festlichkeiten
vorbereitet – wer weiß hierzulande schon,
dass 1960 17 Länder unabhängig wurden?
Eher ist 1963 als postkoloniales Datum in
Erinnerung. Im Mai 1963 wurde in Addis
Abeba die Organisation für Afrikanische Einheit/OAE gegründet. 32 Staatsund Regierungschefs von inzwischen
unabhängigen Staaten unterzeichneten das Gründungsdokument, welches
die souveräne Gleichheit aller Mitgliedsstaaten, die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, die Achtung der Souveränität und territorialen Integrität und
das strikte Gebot der Nichtintervention festhält. Mit der Unantastbarkeit der kolonialen Grenzen wollen sich viele AfrikanerInnen hauptsächlich in Kreisen der Diaspora
in Deutschland immer noch nicht abfinden.
Sie fordern immer wieder eine neue Berliner Kongo-Konferenz, was politisch Verantwortliche in Afrika genauso regelmäßig
zurückweisen.
Der erste Versuch, koloniale Grenzen zu
verändern, die Loslösung Biafras von Nigeria zwischen 1967 und 1970, endete in einer
der größten postkolonialen Tragödien. Viele
von uns erinnern sich an die Schreckensbilder, als infolge der nigerianischen Blockadepolitik fast zwei Millionen Menschen,
vor allem Kinder, verhungerten und rund
750 000 Menschen im Kampf oder durch
Massaker der nigerianischen Truppen starben. Der zweite Versuch einer Grenzrevision
konnte nach dreißig Jahren beendet werden: Obwohl Nigeria die Kolonialgrenzen
als Gründungsmitglied der OAE anerkannt
hatte, beanspruchte es mit militärischem
Nachdruck die kamerunische Bakassi-Halbinsel, begehrt wegen ihres Fisch-, Gas- und
Erdölreichtums und ihrer strategischen
Lage. Mit der Übergabe der Halbinsel an
Kamerun wurde der Konflikt 2008 beendet.
Den letzten Versuch, die Grenze zwischen
Äthiopien und Eritrea zu verändern, bezahlten über 100 000 SoldatInnen zwischen
1998 und 2000 mit ihrem Leben. Mit dem
Friedensabkommen von Algier legten sie
den Konflikt in die Hände einer Haager
Grenzkommission und verpflichteten sich,
deren Schiedsspruch anzuerkennen. Diese
legte 2002 die Grenze fest und schlug Bad-
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me, ein Gebiet von wenigen Hundert Quadratkilometern, Eritrea zu. Da Äthiopien
diese Grenzziehung bisher nicht anerkennt,
ist dieser Konflikt Quelle ständiger Unruhe
am Horn von Afrika. Bedauerlich ist, dass
die internationale Gemeinschaft aus strategischen Interessen im Kampf gegen den
islamistischen Terrorismus davor zurückschreckt, Druck auf Äthiopien zur Anerkennung des Schiedsspruches auszuüben –
eine verpasste Chance für den Frieden am
gesamten Horn von Afrika.
Den 50. Geburtstag kann man nicht
feiern, ohne einen Blick auf zwei ungelöste
Kolonialprobleme zu werfen. Da ist Somalia, hierzulande immer nur unter dem
Aspekt des zerfallenen Staates und der Piraterie gesehen. Völlig ausgeblendet wird die
Statusfrage der Republik Somaliland, die
am 18. Mai 1991 ihre Unabhängigkeit von
Somalia erklärt hat. Somaliland, als ehemalige britische Kolonie 1960 kurze Zeit unabhängig, hat dann in der Hoffnung auf ein
»Großsomalia« (aus Teilen Nordkenias,Französisch-Somaliland/Dschibuti und den
Ogaden in Äthiopien) eine Entscheidung
zugunsten eines »einzigen« Somalias gefasst. Im Dezember 2005 hat der Präsident
von Somaliland bei der Afrikanischen Union
einen Mitgliedsantrag gestellt, in dem Somaliland gemäß den Prinzipien der OAE/AU
als Territorium innerhalb der kolonialen
Grenzen von Britisch-Somalia definiert ist.
Obwohl eine AU-Erkundungsmission den
Antrag »in der Sache gerechtfertigt« befand,
wurde bis heute nicht darüber entschieden.
Auf seine Unabhängigkeit wartet die
Demokratische Arabische Republik Sahara/Westsahara, die seit dem Abzug der Spanier 1975 von Marokko beansprucht wird.
Die Bewohner der Westsahara leben zum
größten Teil bis heute in desaströsen Verhältnissen in algerischen Flüchtlingslagern
in der Wüste, abhängig von internationaler
Hilfe und ohne Hoffnung auf eine einvernehmliche Lösung. Seit 1991 überwacht
eine internationale Friedensmission die
Einhaltung des Waffenstillstandes, der
nach 16 Jahren Krieg zwischen Marokko
und der politischen Vertretung der Saharauis damals geschlossen wurde mit der
Maßgabe, nach sechs Monaten ein Unabhängigkeitsreferendum durchzuführen. Es
ist eine Schande, dass der UNO-Sicherheitsrat seine damalige Zusage bis heute
nicht umgesetzt hat. Die endgültige Terminierung und ernsthafte Vorbereitung dieses
Referendums wären zum 50. Geburtstag
der afrikanischen Unabhängigkeit
angemessen.
tion bedachte frühere
Stadtregierungen ließen diese wilden Felder in
den Siebziger- und Achtzigerjahren noch wegbaggern. Später erlaubten die gleichen Herren
den Maisanbau sogar auf den Mittelstreifen
und Verkehrsinseln der großen Straßen sowie
zeitweilig im Uhuru-Stadtpark.Anfang Oktober
2009 brachte sogar das ZDF eine kurze Nachricht über geförderten Kohlanbau im großen
Slum Nairobis, Kibera. Dort wird alleinstehenden Müttern nun beigebracht, was die Armen
bisher auch von selber taten, wie man den
Kohl möglichst platzsparend anbauen kann.
In der Fünf-Millionen-Metropole Äthiopiens, Addis Abeba, sind die meisten Menschen erwerbslos. Das Durchschnittseinkommen beträgt 160 Dollar im Jahr. Seit Jahrzehnten helfen sich die Armen durch Gemüseanbau
in den Flusstälern. Nun erstrebt die Regierung
eine Image-Aufwertung der Stadt als Sitz der
Afrikanischen Union. Sie verkauft die Grundstücke am Fluss an Private. Wer dabei vor allem verliert, sind die bisherigen FlussbettGärtnerinnen. Die meisten von ihnen sind
völlig einkommenslos. Für sie bleibt nur Bettelei oder Prostitution.
Fortsetzung von Seite 35
Verbraucherrevolution
London ist derzeit nicht nur die Hauptstadt
des neuen Guerilla Gardening, sondern auch
Zentrum praktischer Energiewende-Initiativen.
Es heißt: Mit zwei vegetarischen und zwei veganen Mahlzeiten pro Woche könne jeder seinen durchschnittlichen Verbrauch an fossilen
Energien um zehn Prozent senken. Die Transition-Town-Bewegung bezieht ihr Wissen unter anderem aus dem Buch von Rob Hopkins,
Transition Handbook. From oil dependency to
local resilience (Energiewende. Anleitung für
zukünftige Lebensweisen).Es geht darum,mittels 1000 kleiner »Energiewendeschritte« im
Alltag die Widerständigkeit gegen eine falsche
Klimapolitik zu stärken. Und es geht darum,
sich darauf vorzubereiten, dass künftig weder
die Lebensmittel noch wir selbst groß reisen
werden können. Eine in der Region vielfältige
Landwirtschaft mit modularen Vermarktungsstrukturen könnte das auffangen.Wichtig wäre,
dass kleine Vermarkter erhalten blieben.
Die neuen Schrebergärtner
und der interkulturelle Gemüsebau
Die Bundesrepublik Deutschland ist wie auch
viele andere Staaten Mittel-, Ost- und Nordeuropas ein ausgesprochenes Gartenland. Insgesamt gibt es etwa 20 Millionen Gärten, die
meisten davon Hausgärten. 45,3 Millionen
Menschen bewirtschaften hierzulande einen
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USCHI EID
STADTGÄRTEN
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Garten. Tendenz steigend, der Zuwachs lag in
der letzten Zeit bei 19,8 Prozent. Eine Million
Kleingärtner bewirtschaften zusammen 15 000
Gärten, die – zu Kolonien zusammengefasst –
in 19 Landesverbänden organisiert sind. Ein
bundesdeutscher Koloniegarten – nimmt man
seitens des größten Dachverbandes, des Bundesverbandes der deutschen Gartenfreunde
an – hat in der Regel etwa vier Nutzer. Das bedeutet, dass etwa vier Millionen Bundesbürger Nutznießer eines Schrebergartens sind.
Im Gegensatz zu den Eigenheimbesitzern
sind die Kleingärtner qua Gesetz dazu verpflichtet, zumindest etwa 36 Prozent der Fläche ihres Gartens für den Obst- sowie Gemüseanbau zu verwenden. Andernfalls verlieren sie
ihre Vergünstigungen wie insbesondere die
geringe Jahrespacht, die erheblich unter den
ortsüblichen Jahrespachten liegt.
Das gängige Vorurteil hält die Koloniegärtner gerne für ein Volk ungebildeter »Prolls«,
die bis heute übermäßigem Gifteinsatz frönen.
Der Gifteinsatz ist Stadtgärtnern bereits seit
einigen Jahren verboten. Allerdings: skrupellose Gartencenter bieten es weiterhin an und
unüberlegte Kleingärtner benutzen weiterhin
Blaukorn und andere frei verkäufliche Pflanzendrogen. Aber es vollzieht sich derzeit ein
»Generationenwechsel im Kleingarten«, wie
eine Stadtteilzeitung aus Hannover im Sommer 2009 titelte. Die heute am stärksten zunehmende Nutzergruppe sind junge Erwachsene mit Kindern (+ 58 %). Und: der Anteil
an Migranten nimmt zu. Die besten Gemüsegärtner unter den Kleingärtnern sind heute
die Türken und die Russen. Autor des Kleingartenromans Mein Leben im Schrebergarten
ist ein gebürtiger Russe.
Auftrieb bekamen die Koloniegärtner durch
die Bewegung der interkulturellen Gärten, die
in der Bundesrepublik 1996 respektive 2002
entstand. Die interkulturellen Gärten richten
sich besonders an zwangserwerbslose Migranten. Also an Flüchtlinge, die etwa als nur Geduldete vielfach jahrelang nicht arbeiten durften. Anschließend hatten sie kaum noch die
Chance, eine einigermaßen bezahlte und ihrem
Alter angemessene Tätigkeit zu finden. Für sie
ist es meistens unmöglich, einen Kleingarten
zu übernehmen. Besonders weil die Vorbesitzer für die darauf gesetzte Hütte oft Abstandszahlungen von 3000 bis 10 000 Euro verlangen. Die interkulturellen Gärtnerinnen bauen
auf Grundstücken, kaum größer als ein oder
zwei Kleingärten, die manchmal den Kirchen
oder den Kommunen gehören, im Wesentlichen Gemüse an. Der oder die Einzelne erhält,
je nach Gartengröße, ein Beet, das mindestens
In Berlin entstanden innerhalb von nur sieben Jahren 20 interkulturelle Gärten, also gemeinschaftlich bestellte
Gemüsegärten. – Foto: Elisabeth Meyer-Renschhausen
anderthalb mal zwei Meter bis zu vier mal vier
Meter ist. »Wiederverwurzeln in der Fremde«
durch aus der Heimat mitgebrachten Samen.
Die langsam mahlenden Mühlen der Bürokratien etwa in Berlin: innerstädtische Brachen
wie etwa das Gelände des Gleisdreiecks am
Potsdamer Platz lagen fast 20 Jahre brach. Die
privatisierte Bahn betätigte sich als Bodenspekulant. Auf dem Tempelhofer Feld – dem ehemaligen Flughafen – droht nun Ähnliches.
Daher wenden sich die Jungen von der Gemeinschaftsgärtnerei schon wieder ab. Guerilla Gardening als Gartenpiraten. »Squat Tempelhof«
warf Samenbomben (seed bombs) auf die
Flughafen-Brache. Das Problem ist, dass die
Guerilla Gardeners auf ihre Ernte oft verzichten müssen …
Daher ist die Orientierung auf das nomadische Gärtnern vielleicht die Lösung. Zumindest solange die Betonköpfe in den Liegenschaftsämtern sich nicht bewegen. Solange die
Bundesregierung dem von keineswegs linken
Ökonomen wie Paul Krugman bereits ausführlich widerlegten Irrglauben anhängt, das
Privatisieren von Grund und Boden würde die
Wirtschaft ankurbeln. Am Kreuzberger Moritz-Platz in Berlin entstand auf einer Brache
eine nomadische Gärtnerei, die »Prinzessinnengärten« – zurzeit der absolute Liebling der
Szene und »Opfer« zahlreicher Interviews.
Das Grundstück gehört dem Land Berlin, das
es dem Bezirk – der kommunalen Ebene –
entzog, um es zu versilbern. Der Verwalter ist
der Liegenschaftsfond. Der allerdings nimmt
der Gärtnerei, die versucht, mit Jugendlichen
aus der Nachbarschaft zu arbeiten und helfenden Kindern einen Stundenlohn von 12 Euro
bezahlt, eine unrealistisch hohe Pacht ab.
Aber die Begeisterung für das Projekt »Prinzessinnengärten« ist stadtweit riesig. Im Sommer 2009 kamen jeden Sonntag regelmäßig
Dutzende Unbekannte zu den ausgerufenen
Subotiks, im Frühjahr 2010 wurden es über
100. Ein neues »Mitgärtnern auf Zeit«. Frauen
mit Migrantionshintergrund kamen, um zu
ernten. Ihnen leuchtete die Idee vom frischen
Salat – angebaut in Bäckerkisten von »Märkisch Landbrot« – vollständig ein. Gerne wollen sie demnächst mitmachen und zumindest
die Ernte in einer Kiezküche verkochen …
Was wir brauchen, ist eine Politik, die die
weltweite Wirtschaftskrise, wie sie für über
Zweidrittel der Menschheit schon länger Realität ist, nicht länger leugnet. Wir brauchen
eine Rückkehr zu einer städtischen Bodenvorratswirtschaft. Der Bodenspekulation – einer
der Ursachen der Krise in den USA – muss
entgegengewirkt werden. Für Erwerbslose und
für Klimaschutzgärten muss Land in petto gehalten werden. Die Städte sollten jeden und
jede Garteninitiative fördern, die aus Freude
jetzt tun, was schon ziemlich bald Notwendigkeit werden wird.
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René van Veenhuizen (Ed.): Cities Farming for the Future – Urban
Agriculture for Green and Productive Cities,Ottawa/Cairo/Dakar/Montevideo/Nairobi/New Delhi/Singapur: Ruaf Foundation/International Institute for Rural Construction/International Development Research Center 2006.
Gert Gröning,Joachim Wolschke-Bulmahn: Von Ackermann bis Ziegelhütte. Ein Jahrhundert Kleingartenkultur in Frankfurt am Main,
Frankfurt am Main 1995.
Wulff Tessin: Ästhetik des Angenehmen,Wiesbaden 2008.
Heather C.Flores: Food not Lawns – How to Turn your Yard into a
Garden and Your Neighborhood into a Community,White River
Junction/Vermont: Chelsea 2006.
»Das Grüne Berlin – The Green Berlin«,Senatsverwaltung für Stadtentwicklung,Werkstatt Kommunikation,Berlin 9/2009,S.57,59,61.
Siehe FN 1,S.197.
Planning,No 8,August/September 2009.
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