XXIV A ls Lotte am nächsten Morgen d ie H austü r öffnete, hörte sie schon d as Gezeter. Mam a u nd Lea stritten sich in d er Küche. Lotte seufzte. Bei Paul w ar es so schön gew esen. N ach ihrem nächtlichen Abenteu er w aren sie noch lange au fgeblieben. Sie hatten einfach nicht einschlafen können. Pau ls Mutter hatte d as nicht gestört. Sie war nur einm al in Pau ls Zim m er gekom m en, u m gu te N acht zu sagen, d ann hatte sie sich nicht m ehr blicken lassen. Dem entsprechend sp ät w aren sie am Morgen aufgestand en. Jetzt ging es schon au f zehn Uhr zu . “Ich verstehe nicht, w ieso d u m ir d ein Referat nicht zeigen w illst!” Mam a klang empört. “Dass d eine Mu tter Deutschlehrerin ist, kann d och in d iesem Zusam m enhang nur von Vorteil sein. Wir könnten alle Fehler gem einsam au sbessern.” “Mam a, jetzt hör end lich auf zu nerven!” Die Kü chentü r w u rd e aufgerissen, und eine w ü tend e Lea stürm te heraus. “Ich geh jetzt in d en Ort! H ier kann m an es ja nicht au shalten.” “Ja, im Ort gibts echt coole Bu chhand lungen.” Oliver kam d ie Trep pe heru nter sp aziert. “Eine d avon heißt ü brigens Lars.” “Was soll d as heißen?” Mam a schoss aus d er Küche und schü ttelte Oliver an d en Schu ltern. “Was w illst d u d am it sagen?” Oliver grinste nur und zuckte m it d en Achseln. “Du verlässt unter keinen Um ständ en d ieses H au s, u nd ich w ill au f d er Stelle d as Referat sehen.” Mam a versperrte Lea d en Weg. “Und w er ist d ieser Lars?” “Ich kann d ir d as Referat nicht zeigen”, sagte Lea kleinlau t. Jetzt sah sie gar nicht mehr w ü tend aus, sond ern eher etw as 94 ängstlich. “Es ist nicht fertig.” “N a, d ann zeig m ir eben, w as d u bisher geschrieben hast.” Mam a ließ nicht locker. “Ich hab noch nicht so viel”, sagte Lea leise. “Was soll d as heißen?” Jetzt roch Mam a, d ass etw as fau l war. “Ich hab nu r eine Seite od er so.” “Eine Seite?” Mam as Stim m e ü berschlug sich. “Was hast d u denn d ie ganze Zeit gem acht? Du hast d och stu nd enlang in deinem Zim m er gesessen und gearbeitet!” Lea brach in Tränen au s u nd raste d ie Trep pe hinau f in ihr Zim m er. “H ans! H ans, kom m st d u m al!”, rief Mam a m it zitternd er Stim m e. “Oh, oh, d as gibt Ärger.” Oliver zw inkerte Lotte verschw örerisch zu . Lotte schau te ihren Bru d er fragend an. “Woher w eißt d u von Lars?”, Áüsterte sie. “Man hat eben seine Quellen”, sagte er geheim nisvoll. “Glaubst d u , d u bist d ie einzige, d ie hier Freu nd e hat?” Dam it schlend erte er d avon. Lotte hätte zu gern gew u sst, w as sich in Leas Zim m er gerad e abspielte. Die Eltern w aren hinauf gegangen u nd hatten d ie Tür zugem acht. Mehr als einzelne Wortfetzen konnte Lotte nicht verstehen. Dann hörte sie Lea m it zornig erhobener Stim m e sagen: ”Glaubt ihr allen Ernstes, Menschen in m einem Alter verbringen ihre Zeit in Buchhand lungen? Ihr seid echt aus d em letzten Jahrhund ert!” “Eins haben w ir jed enfalls verstand en, an d einem Referat hast du nicht gearbeitet!” Das w ar Papa. So w ü tend hatte Lotte ihn nicht m ehr erlebt, seitd em sie heim lich bei Pau l gew esen w ar. “Und d ass d u uns d ie ganze Zeit angelogen und d ich heim lich m it d iesem Lars getroffen hast, haben w ir auch verstand en! Ist so ein Verhalten jetzt m od ern? Dann bin ich d och lieber aus dem letzten Jahrhu nd ert.” 95 Das hörte sich nach einem entsetzlichen Krach an. Und d abei hätte d ieser Urlau b so schön zu End e gehen können. Eigentlich w ar d och jetzt alles in Ord nung. Das H au s w urd e nicht verkau ft, u nd jed e Ferien konnten sie w ied er herkom m en. Kap itän Krim son m u sste sich nicht m ehr ärgern u nd konnte au ch hier w ohnen bleiben. Wo er w ohl gerad e steckte? Sie m u sste ihm u nbed ingt d avon erzählen. Sie stürm te d ie Trep pe zum Dachbod en hinau f und riss d ie nied rige w eiße Tü r au f. Das erste, w as sie sah, w ar etw as kleines Rotes, d as d urch d ie Luft w irbelte. Es zischte u nd fau chte w ie eine zornige Katze. Kapitän Krim son saß ganz hinten an d er Wand , zusam m engekauert auf einem alten, verstau bten Kleid erschrank. Er hielt sich d ie Ohren zu und hatte d ie Au gen fest zusam m engekniffen, so w ie Lotte es im m er tat, w enn es Ärger gab. “Rotzp uschkim ”, sagte Lotte m it fester Stim m e, “w illst d u d ich w ohl benehm en! Es gibt überhaupt keinen Grund m ehr, so ungezogen zu sein.” Sie versuchte ein bisschen w ie Mam a zu klingen, w enn sie ihre Schu lkind er zu rechtw ies. Vielleicht konnte sie d en Kobold d am it ja beeind ru cken. Rotzpu schkim sau ste au f sie zu, hü pfte vor ihr auf u nd ab u nd schw ebte langsam zu Bod en. Er blickte sie frech an und streckte ihr d ie Zu nge rau s. “Du w irst hier nicht m ehr gebraucht. H ast d u verstand en? Es kom m en keine Makler m ehr u nd au ch keine and eren Leute, w eil w ir d as H aus näm lich behalten”, fügte sie etw as ruhiger hinzu. “Kapitän Krim son, d u m usst jetzt aber auch m al w as sagen!”, rief sie d em H äu fchen Elend au f d em Schrank zu. Der Kapitän öffnete langsam d ie Au gen und richtete sich auf. “Algengrü tze und WalÀschd reck! Das H au s w ird nicht verkau ft?” Er sp rang m it einem Satz vom Schrank herunter. “Zollm op s u nd Zillenschlachter! Diese gu te N achricht m u ss gefeiert w erd en! Aber vorher habe ich noch w as zu erled igen.” Mit einem gew altigen Satz stü rzte er sich auf Rotzpuschkim . Er packte d en roten Kobold am Kragen und schüttelte ihn. “N ein! N icht! Lass ihn!”, rief Lotte verzw eifelt. Sie hatte an diesem Tag schon genu g Streitereien erlebt. Aber in seinem Zorn hörte d er Kap itän sie nicht. Er w arf sich au f Rotzpuschkim u nd begrub ihn unter sich. “Jetzt m ach ich Fischfutter aus dir, d u H alu nke!”, schrie er. Rotzpu schkim rollte sich zu einem kleinen roten Ball zusam m en und kullerte einfach unter d em Kap itän d avon. Dann sauste er d u rch d ie Luft w ie eine w ild gew ord ene H um m el und traf d en Kapitän an d er linken Schläfe. Au ßer sich vor Wu t jagte d er Kapitän hinter ihm her. Alles ging so schnell, dass Lotte es kaum verfolgen konnte. Plötzlich w ar von Rotzpu schkim nichts m ehr zu sehen. “H icks”, m achte Kapitän Krim son u nd faselte u nverständlich: “Ich glau be, ich habe ihn verschluckt. H icks. Jetzt brauche ich unbed ingt einen Schlu ck Rum . H icks.” Er schleppte sich zu einer verstaubten Kiste, kram te eine kleine Flasche hervor u nd setzte sie sich an d en H als. “Kapitän Krim son, d u sollst nicht im m er Ru m trinken!”, erm ahnte Lotte ihn streng. “Wenn d u w illst, m ache ich d ir einen Kräu tertee. Den trinkt d ie Mam a im m er, w enn sie …” 96 97 “Filzlausgeschw ad er und Flottenforz! Kräutertee! Kom m m ir nicht m it so w as, Deern! Ich brau ch jetzt einen anständ igen Schluck.” Der Kapitän griff w ieder nach d er Flasche. “Mir ist nicht gu t”, brum m elte er schw ankend u nd m u rm elte w ied er: “Ich glau b, ich hab ihn verschluckt, hicks.” “Wen? Rotzp u schkim ?”, fragte Lotte entsetzt. Der Kapitän taum elte zu seiner Pup p enw iege u nd ließ sich auf d as Polster fallen. Lotte beu gte sich besorgt ü ber ihn. Der Kapitän w ar bleich im Gesicht und raunte m it geschlossenen Au gen: “N icht gu t, gar nicht gut.” “Bleib einfach ganz ruhig liegen u nd w arte hier. Ich hole H ilfe”, sagte Lotte. Dann sauste sie d ie Trepp e hinu nter. 98 XXV W „ ie kann so w as passieren?” Paul w ar im m er noch ganz du rcheinand er, als er hinter Lotte her d ie Straße entlang hastete. “Weiß ich nicht”, sagte Lotte atem los. “Er hat ihn irgend wie verschlu ckt, u nd jetzt ist er krank.” Sie w ar d en ganzen Weg zu Paul gerannt, und nun liefen sie zu rück zu ihrem H aus. Frau Petersen hatte ihnen einen Korb m itgegeben, d am it sie den kranken Kapitän zu ihr bringen konnten. Als sie in d en H ausÁu r traten, w ar es ganz still. Was ist w ohl au s d er Sache m it Leas Referat gew ord en, d achte Lotte, als sie die Trep p e hinaufgingen. Vielleicht w ar ja alles w ied er gut. Aber sie hatte jetzt keine Zeit, d arüber nachzu d enken. Kapitän Krim son lag in seiner Wiege. “Er ist ja ganz rosa”, sagte Pau l erstau nt, “u nd seine Mü tze sieht ganz and ers aus.” Statt seiner d u nkelblauen Kap itänskappe trug er eine rot-violette Zip felm ü tze, d ie ihm halb ins Gesicht geru tscht w ar. “Oh je, er verw and elt sich in Rotzpu schkim !”, rief Lotte entsetzt. “Schnell! Wir m üssen ihn zu Frau Petersen bringen. Hoffentlich w eiß sie, w as m an d a m achen kann.” In Wind eseile hatten sie d en Kapitän in d en Korb gelegt und w aren d ie Treppe w ied er hinu nter gesaust. Frau Petersen saß an ihrem Kü chentisch u nd blätterte in einem dicken Buch m it einem alten Led eru m schlag, d er am Rand m it geheim nisvollen gold enen Schriftzeichen verziert w ar. Als sie d ie Kind er sah, blickte sie au f. “Ich habe inzw ischen ein p aar N achforschu ngen angestellt, u nd ich glaube, ich weiß, 99 w as zu tu n ist. Ich habe euch ja neu lich schon gesagt, d ass ich eine Id ee habe, w as w ir m it Rotzpu schkim m achen können. Ich glaube, ich hatte recht d am it.” “Wir m üssen u ns beeilen!”, rief Lotte. “Der Kap itän verw and elt sich in Rotzpu schkim . Er w ird schon ganz rot.” Frau Petersen stand auf und w arf einen Blick in d en Korb. “Oh ja, es w ird Zeit”, sagte sie. “Ihr beid e geht jetzt brav nach H ause u nd ü berlasst diese Sache m ir.” “N ach H ause?”, riefen d ie Kind er entsetzt. Wie kam Frau Petersen nur auf so eine Id ee? Gerad e jetzt, w o es so aufregend w ar. “Ja, nach H ause”, sagte sie freund lich, aber bestim m t. “Ich habe schon m it m einem Bekannten telefoniert, und er erw artet m ich.” Dam it griff sie nach d em Korb u nd ging zur Tür. Obw ohl d ie Kind er vor N eu gier fast platzten, m u ssten sie w ohl od er ü bel zu rückbleiben. Lotte, d ie w ied er einm al ohne Bescheid zu sagen von zu H au se w eggegangen w ar, plagte d as schlechte Gew issen. Sie hastete zurü ck. Zu m Glü ck hatte außer Oliver niem and bem erkt, d ass sie w eg gew esen w ar. Die Eltern w aren viel zu sehr d am it beschäftigt zu verd au en, d ass ihre große Tochter in der letzten Zeit ein Geheim nis gehabt hatte, von d em sie nichts geahnt hatten. Und Lea hatte jetzt and ere Sorgen. “Und d as Referat?”, fragte Lotte Oliver, d er in d er Kü che stand u nd sich eine heiße Schokolad e m achte. “Du kennst d och Mam a. Die m acht sich jetzt m it Volld am p f an d ie Arbeit, ein paar Wochen bleiben ihr ja noch.” “Schreibt Mam a jetzt das Referat fü r Lea?”, fragte Lotte erstaunt. Oliver grinste und zuckte m it d en Achseln. “Sie hilft ihr.” “Und d ie Sache m it Lars?” “N a, d er m u ss hier w ohl m al zu einem Besuch antreten.” “Also ist alles w ied er gu t?” Lotte ließ nicht locker. “H örst d u noch irgendw elche Schreie?” Lotte schü ttelte d en Kop f. “N a siehst d u . Blut ist jed enfalls nicht geÁossen. Prost.” Oliver hob seinen Becher u nd ging hinau s. Lotte stand etw as u nschlüssig in d er Küche heru m . Dann beschloss sie, in ihr Zim m er zu gehen. Sie hätte zu gern gewu sst, w as Frau Petersen m it Kapitän Krim son vorhatte. Sie hasste es, w arten zu m ü ssen und nichts zu tun. Aus Leas Zim m er d rangen Stim m en, d ie alle d u rcheinander red eten. “Klick d och m al d a d rau f. Da stand d och w as zu d em Them a … N ein, d as w ar d och w as ganz and eres … Also, jetzt lasst m ich d och m al d a ran … Papa, d u kennst d ich m it d er Seite d och gar nicht au s … Das ist sow ieso alles ganz unseriös. Da brau cht m an ord entliche Bü cher. Also ich geh jetzt in die Bü cherei und schau m al nach, w as ich d a Ànd e … Mam a, bitte! Das m acht heutzutage niem and so!” Lotte steckte ihren Kopf d urch d ie Tür. Mam a, Papa u nd Lea saßen d ichtged rängt vor Leas Laptop. Die Arbeit an d em Referat w ar offensichtlich schon in vollem Gange. Pap a blickte ku rz au f u nd sagte: “H allo, Lottchen, alles klar?” Lotte nickte. In ihrem Zim m er versuchte sie vergeblich, ein Buch zu lesen. Ihre Ged anken schw eiften im m er w ied er zu Kapitän Krimson. Jetzt, w o end lich alles and ere w ied er gu t w ar – d as H aus wu rde nicht verkau ft, d ie Sache m it Leas Referat w u rd e in Ordnu ng gebracht –, au sgerechnet jetzt w ar Kapitän Krim son in Gefahr. N icht auszu d enken, w enn er sich w irklich in Rotzp uschkim verw and eln w ü rd e. Dann w ü rd en sie Rotzpuschkim nie w ied er los, u nd er w ürd e ihnen d as Leben im H aus zu r H ölle m achen. Und ohne Kapitän Krim son hier zu w ohnen, d as konnte Lotte sich nicht vorstellen. “Lotte! Lotte, kom m runter! Du hast Besu ch!” Lotte raste d ie Trep pe hinunter. Oliver erw artete sie u nten im Hau sÁu r. “Da steht eine kom ische Frau vor d er Tür m it einem Katzenkorb u nd d einem Freu nd Pau l.” Oliver grinste. Lotte m u sste lachen. Mit ihren langen w eißen H aaren u nd ihrem Regenm antel, d er ihr bis zu d en Knöcheln reichte, sah 100 101
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