Berno Odo Polzer und Andreas Lewin Ein Interview mit Frank Scheffer

Berno Odo Polzer und Andreas Lewin
«how to improve the world (you will only make matters worse)»
Ein Interview mit Frank Scheffer
Die filmische und dokumentarische Arbeit des 1956 geborenen niederländischen Filmemachers Frank Scheffer ist mit
der Musik des 20. Jahrhunderts aufs Engste verbunden. Sein ­unablässiges Befragen der kinematographischen Mittel
bei der oft diffizilen Begegnung von Musik und Bild hat die Möglichkeiten der filmischen Beschreibung und Umsetzung von Musik entscheidend erweitert. In über 20 Jahren ist durch Scheffers filmische Arbeit eine musikalische
Kartographie entstanden, die Schlüsselfiguren wie Gustav Mahler, Arnold Schönberg, Igor Strawinsky, Elliott Carter,
Edgard Varèse, John Cage, Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen, Luciano Berio, Brian Eno oder Frank Zappa ebenso
umfasst wie die neuesten ­Entwicklungen der elektronischen Musik. Anlässlich der ­viertägigen Retrospektive sprachen Berno Odo Polzer und Andreas Lewin mit Frank Scheffer über dessen Arbeit und die Hintergründe des gemeinsam konzipierten Filmprogramms.
Andreas Lewin: Wir beginnen die Retrospektive mit Time is Music, einem Film über Elliott Carter und John Cage. Als
ich deine Filmographie studierte, ist mir aufgefallen, dass zwischen dem allerersten Filmprojekt über Francis Ford
Coppolas und George Lucas’ Zoetrope-Studios und diesem ersten Komponistenportrait, das sieben Jahre später entstanden ist, sehr viel Zeit liegt. Was hast du zwischen diesen beiden Projekten gemacht? Wie bist du überhaupt zur zeitgenössischen Musik gekommen? Dein Interesse galt natürlich dem Kino, und da vor allem dem Spielfilm. Und dann hast
du eine Richtung ­eingeschlagen, die du nunmehr seit zwanzig Jahren verfolgst – die Erforschung der Geschichte der
modernen Musik.
Frank Scheffer: Ich habe Musik schon immer geliebt. Dabei wollte ich zuerst Maler werden, weil das irgendwie in
der Familie liegt. Ary Scheffer ist ein berühmter holländischer Maler des 19. Jahrhunderts, auch Neffen von mir sind
Maler. Aber eines Tages – ich weiß, das klingt jetzt wie ein Klischee, aber es ist tatsächlich so passiert –, also eines
Tages sah ich im deutschen Fernsehen Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin und stellte fest, dass dieser Film in Wirklichkeit Musik ist. Der Filmschnitt, der Rhythmus der Montage waren Musik für mich. Also dachte ich, dass ich
unbedingt Filmemacher werden müsse. Ich kann meine Liebe zur Musik in einem dynamischen Medium zum Ausdruck bringen und nicht in einem statischen ästhetischen Gemälde. So ist es passiert!
B.O.P.: Wie alt warst du damals?
Ich glaube, 16. Ich wollte dann an die Filmakademie gehen, wurde aber drei Jahre lang nicht aufgenommen. Ich
bekam jedes Jahr zu hören: «Viel Glück.» Im Jahr bevor ich schließlich aufgenommen wurde, verbrachte ich viel Zeit
in der Bibliothek des Filmmuseums. Ich beschäftigte mich dort mit Eisensteins Essays über die Filmmontage. Sein
Prinzip des «eins und eins ist drei» faszinierte mich. Man hat zwei Ein­stellungen, und die Verbindung der zwei Einstellungen, der Schnitt, gibt ihnen eine dritte, neue Bedeutung. Jedenfalls beschreibt es Eisenstein so.
Ich wollte dieses grundlegende Prinzip des Filmemachens auf einer höheren Ebene anwenden. Was würde passieren, wenn ich zwei Menschen hernehme, Portraits über sie mache und diese zwei Portraits in einem Film zusammenführe? Es würde ein größeres Bild ergeben als jeder für sich allein. Und so drehte ich 1980, in meinem zweiten Jahr
an der Akademie, einen Film über Francis Ford Coppola und Wim Wenders, weil Coppola sozusagen ein amerikanischer Regisseur war, der nach Europa blickte, und Wenders ein europäischer Regisseur, der nach Amerika blickte,
mit Der amerikanische Freund. Die beiden Portraits ergaben zusammen ein größeres Bild über das Filmemachen im
Westen.
Gegen Ende meiner Zeit an der Filmakademie, im Jahr 1982, las ich in einer Zeitung einen Artikel von meinem
­Helden Frank Zappa, in dem er sagte, dass es einen sehr interessanten amerikanischen Komponisten namens Elliott
Carter gebe, den nur wenige Leute kennen. Ich fand heraus, dass das Holland Festival 1982 Carter einen Schwerpunkt
widmete. Das war interessant – ich wollte etwas über Carter machen. Damals arbeitete ich gerade mit der Performancekünstlerin Marina Abramovi ´c, die meine Idee, mit zwei Personen zu arbeiten, kannte. Sie sagte: «Du musst dich
mit John Cage beschäftigen. Er ist das Gegenteil von Elliott Carter, und ich mag ihn sehr gerne und habe mit ihm
gearbeitet.» Zufällig war John Cage nur zwei Tage, nachdem mir Marina das gesagt hatte, ebenfalls beim Holland
Festival 1982. Ich verabredete mich also mit ihm zu einem Interview, ohne genau zu wissen, was er eigentlich macht.
Vor dem Interview lief ich schnell in eine Bibliothek und las ein bisschen über ihn. Ich kam zum Interview und sagte
zu John: «Also, das ist mein Konzept, und Marina hat mir sagt, dass ich Sie interviewen solle, aber ich muss Ihnen
gestehen, ich weiß nicht sehr viel über Sie.» Er mochte die Idee, weil es ein Interview ohne vorgefasste Meinungen
war. Er gab mir also dieses phantastische, lange Interview. Und dieses Interview hat mein Leben verändert, ich habe
es verinnerlicht. Deine Frage war doch: Was hast du zwischen 1980, Zoetrope People, Francis Ford Coppola, Wim
Wenders und 1987 gemacht …
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A.L.: … dem Jahr deines ersten und sehr erfolgreichen abendfüllenden Dokumentarfilms Time is Music, der auf zahlreichen internationalen Filmfestivals gezeigt wurde, viele Preise ­gewonnen hat und Musik in bewegten Bildern ausdrückte …
Dazwischen habe ich einiges gemacht: Nach der Filmakademie hatte ich das Gefühl, dass man genauso lange
braucht, um aus einer geschlossenen Institution wieder herauszukommen, wie man drinnen war, in meinem Fall vier
Jahre. Ich fand also in dieser Zeit heraus, was ich tatsächlich tun wollte. 1982 drehte ich mit Marina Abramovi ´c
Avalokiteshvara, einen Dokumentarfilm über den Dalai Lama. Später schnitt ich die Interviews von Elliott Carter
und John Cage zu einer ersten Fassung zusammen. Ich setzte mich intensiv mit dem Material auseinander und stellte
bald fest, dass das Ganze ein ausreichend finanziertes, professionelles Projekt werden müsse. Ich schrieb daher ein
Drehbuch und beschloss, die beiden zu trennen, jedem seinen eigenen Kontext zu geben. Danach drehte ich Time is
Music als eigenständigen Film. So ist mein erster Film entstanden …
A.L.: Und du drehst weiterhin in klassischer Arbeitsweise auf Film …
Ja. Film hat eine Seele. Für mich ist das wie ein Ölgemälde. Ich finde Film als Medium viel lebendiger und intensiver als digitales Material. Andererseits verwende ich natürlich digitale Produktionsmittel, wenn es das Thema verlangt, wie bei Sonic Acts, einem komplett digital gedrehten Film, weil er von elektronischer Musik handelt. Das Thema bestimmt sozusagen, welche Farbe ich verwende. Ich kann mir zum Beispiel nicht einmal vorstellen, Elliott Carter
auf HD zu drehen, weil er noch immer mit Bleistift und Papier komponiert. Es ist eine Sache des Gefühls, und Film
kann auf ganz natürlich Weise mit Elliott Carter in Verbindung gebracht werden. Dasselbe gilt auch für meinen aktuellen Film über Edgard Varèse. Zwar beschäftigte er sich mit Elektronik, aber zu seiner Zeit gab es Video noch nicht,
und daher ist mit seiner Ästhetik Film verbunden. Allerdings kommt im Varèse-Film auch DJ Scanner vor, den ich
auf HD filmte, ich arbeitete das erste Mal mit ­diesem Medium – und das passt zu ihm. Es ist das richtige Medium für
einen DJ von heute.
B.O.P.: Als Time is Music fertiggestellt war, hattest du aber noch nicht vor, dich in deiner Arbeit hauptsächlich auf
­zeitgenössische Musik zu konzentrieren – oder war dir bereits bewusst, dass das ein Gebiet sein könnte, das sich systematisch erforschen ließe?
Nach meiner Erfahrung mit John Cage und Elliott Carter beschloss ich, Dokumentarfilme über Musik zu machen.
Ich wollte mich auf Musik konzentrieren, weil ich dachte, dass sich Komponisten bereits Hunderte von Jahren mit
den ­Themen Komposition, Struktur, Rhythmus und Erinnerung beschäftigen, viel länger als wir Filmemacher. Film ist
Kunst in der Zeit, wie Musik. Es gibt so viele Gemeinsamkeiten. Ich dachte, dass ich auf das zurückgreifen könnte,
was von Komponisten schon jahrhundertelang erarbeitet worden ist.
A.L.: Noch dazu können in der modernen Musik die kompositorischen Strukturen recht komplex sein. Deine Filme sind
aber nie reine Komponistenportraits, sie gehen immer darüber hinaus. Du beschränkst dich dabei nicht nur auf den
Bereich der Musik, sondern experimentierst auch mit den filmischen Kunst- und Arbeitsmitteln. Du hast mit Persönlichkeiten wie Coppola, Wenders, Abramovi c´, dem Dalai Lama etc. gearbeitet. Wie denkst du über die Beziehungen zu
diesen bedeutenden Menschen, die sich dir erstaunlich leicht öffneten? Du galtst in diesen Kreisen sehr bald als anerkannter Regisseur. Ich habe mich immer gefragt, wie du dich als Filmemacher neben diesen Künstlern und Persönlichkeiten, die sich gewissermaßen in einem Paralleluniversum befinden, gefühlt hast.
Ich betrachte es als großes Glück, dass ich von diesen Menschen lernen durfte, nicht nur als Handwerker, sondern
auch als Künstler. Sie wurden Teil meiner Erfahrungen. Als Filmemacher mit Komponisten zu arbeiten, ist keine Konfliktsituation, ­sondern vielmehr ein sehr interessanter Dialog. Ich versuche, in die Seele oder die Essenz der Musik
einzudringen, sodass auch die Komponisten mit Interesse verfolgen, was ich mit ihrer Musik mache und wie ich
darüber denke. Wenn ich mit ihnen in der Phase der Vorbereitung und Recherche zu Beginn eines Filmprojekts spreche, verstehen sie sofort meinen Ansatz, den ich als principle transformation bezeichne.
B.O.P.: Würdest du uns kurz erklären, was du mit diesem Begriff meinst?
Ich habe diesen Begriff aus Wassily Kandinskys theoretischer Schrift Über das Geistige in der Kunst, in dem er
sagt, dass Musik die reichste aller Musen ist, weil sie die immateriellste Kunst ist, besonders weil man sich nicht mit
der Reproduktion der Natur beschäftigt, sondern nach dem Prinzip der inneren Notwendigkeit arbeitet. Der Komponist bringt etwas auf die abstrakteste Weise zum Ausdruck, alle anderen Künste beneiden ihn darum, und wir Filmemacher können davon lernen. Bei der principle transformation fokussiere ich die Struktur und den Charakter der
Musik, die Methode, mit der der Komponist arbeitet. Ich nehme das als Prinzip und transformiere es in meine eigene
Kunst, das Filmemachen. Denn ich kann einen Film natürlich nicht wie Musik machen. Ich glaube, dass es Unsinn
ist, Musik durch Film zu interpretieren. Das sind zwei verschiedene Kunstformen. Man kann aber nach dem gleichen
Prinzip arbeiten.
Ich werde die Methode der principle transformation anhand eines konkreten Beispiels veranschaulichen, und zwar
anhand von Strawinskys Symphonies d’instruments à vent. Die Komposition selbst ist schon eine Montage, und sie
legt bereits in ihrer Struktur nahe, die Montage ebenfalls zum filmischen Prinzip zu erheben. Ich verbinde also mit
jeder «Familie» von musikalischem Material bestimmte Familien von Filmmaterial, so werden zum Beispiel die
«Fanfare»-Teile in der Musik mit Archivmaterial verknüpft. Hat man einmal diese Denkweise etabliert, wird auch die
Analogie zwischen Film und Musik klar, sie ergibt sich einfach daraus, ist eine natürlich Folge davon. Im Film über
Strawinsky spürt man irgendwie, dass die ganze Struktur und die ganze Art und Weise, wie alles zusammengefügt
wurde, in direktem Zusammenhang mit dem ­Thema steht, selbst wenn man nicht genau weiß, wie es gemacht wurde. Ich glaube, dass das ein allgemeines künstle­risches Prinzip ist, das noch dazu überaus faszinierend ist.
B.O.P.: Wie weit gehst du da ins Detail? Wie tief dringst du in die musikalische Struktur ein? Bis zu welchem Grade
stimmst du deine filmische Struktur auf die musikalische Struktur ab? Nehmen wir als Beispiel den Film über Schönberg, Five Orchestral Pieces, bei dem du ebenfalls der Struktur der ­gleichnamigen Komposition folgst.
Beim Schönberg-Film bin ich zunächst von den Titeln der Fünf Orchesterstücke op. 16 ausgegangen: I. Vorgefühle,
II. Vergangenes, III. Akkordfärbungen, IV. Peripetie, V. Das ­obligate Rezitativ. Obwohl Schönberg die Verwendung von
programmatischen Titeln ablehnte, erkannte ich in ihnen seine Ideen, die ich dann auch in der Musik wiederfinden
konnte. Ich strukturierte den Film nach den emotionalen Essenzen, die er musikalisch zu beschreiben versuchte. Im
Film über Strawinsky transformierte ich alles in einer rituelleren oder strukturierteren, nicht-emotionalen Weise. Im
Film über Schönberg suchte ich nach einer bestimmten Art von Gefühl, von Aufmerksamkeit und Emotion, also das
genaue Gegenteil meines Ansatzes bei Strawinsky. Zum Beispiel verweist «Vergangenes» zurück auf die romantische
Musik, die Schönberg sehr mochte. Er blickte demnach voller Nostalgie auf das zurück, was er zerstören wollte. In
meinem Film sieht man den Kuss von Klimt, der meiner Meinung nach von derselben Nostalgie durchdrungen ist,
und im Soundtrack kann man sogar das Flüstern ­meines kleinen Sohnes hören. Ich hielt ihn auf dem Arm und stand
im Hintergrund, als diese Einstellung gedreht wurde, auch das ist für mich nostalgisch. So fordert mich jedes Thema
auf eine andere Weise heraus, und es ergibt sich eine unge­heure Zahl von Möglichkeiten, wenn man über diese Analogie zwischen den beiden Künsten nachzudenken beginnt.
Ein anderes Beispiel ist Helicopter String Quartet, der Stockhausen-Film. Als ich zu drehen begann, hatte es noch
­keine Aufführung dieses Stückes gegeben. Sie hatten eben erst mit den Proben begonnen. Die Frage war daher:
«Was mache ich, wenn ich mit einem Thema konfrontiert bin, das ich nicht analysieren kann?» Was ist die Essenz,
das Prinzip dieses ­Projektes? Stockhausen denkt an vier fliegende Hubschrauber mit jeweils einem Mitglied des
Arditti String Quartet an Bord – dieser ganze Apparat, eine nahezu unmögliche Organisation, und man weiß nicht,
ob es gelingen wird. Ich musste an diese Raketen denken, die abheben und nach zwei Sekunden wieder auf die Erde
stürzen. Das war also ein Film über das Abenteuer. Ich dachte daher, dass der Ansatz im Stil des Cinéma Vérité sein
könnte, dass ich wie das Direct Cinema einfach beobachte, was passiert, sozusagen mit der Kamera fliege. Das war
sehr aufregend.
Die Dreharbeiten für den Stockhausen-Film fanden im Jahr 1995 zur selben Zeit wie das Mahler Festival in
Amsterdam statt. Vormittags drehte ich die Zweite Symphonie von Mahler mit Bernard Haitink und danach fuhr ich
mit dem Auto nach Den Haag, wo Stockhausen mit dem Arditti Quartett probte. Ich habe also in einer Stunde ein
Jahrhundert übersprungen. Und ich wollte diesen totalen Kontrast haben. Beim Dreh
von Mahler arbeiteten wir mit statischen und ästhetischen ­Einstellungen, am Nachmittag hingegen wollte ich mit der
Kamera fliegen.
A.L.: Wenn du ein Orchester filmst und nur eine bestimmte Anzahl von Kameras hast und du die Musik kennst, die von
diesem Orchester gespielt wird, worauf basieren dann deine Entscheidungen? Wo wird da das Konzept der principle
­transformation wirksam?
1995 trat man an mich mit der Bitte heran, mir Gedanken über einen Film über das Mahler Festival in Amsterdam
zu machen, in dessen Rahmen alle seine Symphonien aufgeführt wurden. Ich spürte sofort, dass das eine große Verantwortung war. Davor hatte ich die Einstellung vertreten, mich filmisch nur mit jener Musik zu beschäftigen, die ab
dem Moment ­entstanden war, als der Film geboren wurde, angefangen mit Schönberg. Ich habe nie daran gedacht,
Filme über irgendeinen Komponisten vor dieser Zeit zu drehen. Aber Mahler ist eine Übergangsfigur, er steht am
Übergang von der musikalischen Romantik zur Moderne. Ich halte ihn für den ehrlichsten Komponisten überhaupt.
Er hat in seiner Musik alle seine tiefsten Gefühle und Gedanken zum Ausdruck gebracht. Und er verlangte nach
einer anderen principle transformation als Schönberg oder Strawinsky. Ich fragte mich: «Welche Art, ein Orchester zu
betrachten, ist am uninteressantesten – wann wechsle ich bei Musik-Dokumentarfilmen immer den Kanal?» Das passiert dann, wenn ich die Instrumente sehe, die ich gerade höre. Wenn die Kamera wie ein Sklave der Musik folgt.
Film als Kunst, als Sprache wird in solchen Momenten völlig uninteressant. Ich präsentierte daher die Idee, hauptsächlich auf den jeweiligen Dirigenten zu fokussieren, der gewissermaßen die Reinkarnation des Komponisten ist.
Wenn man seinen Gesichtsausdruck betrachtet, die Choreographie des Mienenspiels, die Intensität des Blicks, findet
man alles, was diese Musik ausmacht. Bei Conducting Mahler habe ich das richtiggehend auf die Spitze getrieben. Es
gibt lange Einstellungen, ­in denen die Dirigenten in extremen Nahaufnahmen gezeigt werden, alles ist wunderschön
ausgeleuchtet und in einem sehr ästhetischen Kinostil gedreht. Symphonische Musik ist so ­komplex, dass die Filmsprache ganz einfach sein muss, damit man wirklich zuhören und die Musik erleben kann.
B.O.P.: Du hast über Schönberg, Mahler, Strawinsky gesprochen; was alle diese Komponisten verbindet, ist unter anderem die Tatsache, dass sie bereits tot waren, als du Filme über sie gedreht hast. Du konntest dich auf ihre Musik, ihre
Partituren und auf Aufführungen ihrer Kompositionen stützen. Bei den meisten anderen Komponistenportraits geht es
um Menschen, die noch am Leben waren, als du die Filme gemacht hast. Inwieweit wirkt sich das Zusammentreffen mit
dem ­Komponisten auf die principle transformation und das Gesamtkonzept des Filmes aus?
Alle Komponisten, mit denen ich gearbeitet habe, waren für mich wichtig. Aber John Cage, der mich maßgeblich
beeinflusste, und Elliott Carter, der ein sehr guter Freund wurde, sind besonders bedeutsam. Zu Beginn meiner Laufbahn machte ich Time is Music und 25 Jahre später A Labyrinth of Time – beides sind Filme über Elliott Carter. Er ist
eine übergreifende Figur, er steht für ein Jahrhundert Musikgeschichte. Alle Filme, die ich zwischen diesen beiden
Carter-Filmen gedreht habe, sind für mich wie ein einziger Film, eine Symphonie, eine Komposition. Ich betrachte
meine Arbeiten als ein zyklisches Phänomen.
Wir hier im Westen sind es nicht gewohnt, in Zyklen zu denken, unser Denken ist eher linear. Im chinesischen
Denken werden Veränderung und Entwicklung anders gesehen. Man kann zum Beispiel zu einem früheren Augenblick im Leben, der sehr wichtig für einen war, zurückgehen und ihn mit der Erfahrung, die man im späteren Leben
gemacht hat, noch einmal durchleben. Im Westen meint man, in die Vergangenheit zurückzugehen – das ist nicht
interessant. Aber genau das Gegenteil ist der Fall, man durchlebt diesen Augenblick der Vergangenheit mit der
inzwischen gewonnenen Erfahrung, sodass man den nächsten Schritt machen kann, in den ­nächsten Zyklus gelangt.
Genau das mache ich gerade, ich arbeite an einem Film über Frank Zappa, mit dem ich mich bereits beschäftigt
habe, als ich vierzehn war und sein Album We’re Only in It for the Money hörte. Das war wie eine Explosion in
meinem Kopf. Mit einem Mal erkannte ich: «Mensch, es gibt viel mehr Musik!» Auf dem Plattencover stand: «The
present day composer refuses to die – Edgard Varèse» [«Der Komponist von heute weigert sich zu sterben – Edgard
Varèse»]. Am nächsten Tag kaufte ich mir eine Platte von Varèse, und als ich sie hörte, dachte ich: «What the fuck is
this! Das klingt sehr interessant und geheimnisvoll, aber ich verstehe es nicht!» Zappa konnte ich verstehen, aber
Varèse war ein völliges Mysterium. Das ­stachelte natürlich meine Neugierde an. Ich wollte verstehen, was hinter dieser Musik ist. Erst als ich 37 Jahre später am Film über Varèse arbeitete, hatte ich das Gefühl, dass ich bereit bin,
mich dieser Musik filmisch zu nähern. Der Prozess, durch Musik erleuchtet zu werden, verläuft kontinuierlich.
B.O.P.: Ich würde gerne mehr über dieses Langzeitprojekt über Frank Zappa wissen. Im Rahmen der Retrospektive
­widmen wir Frank Zappa ein ganzes Programm. Wie hat alles ­begonnen, und wie hat sich der Kontext und das
Material nach Zappas Tod weiterentwickelt?
Das ist ein sehr persönliches Thema, weil ich mit der Musik Zappas aufgewachsen bin. Wie gesagt, ich entdeckte
Zappa, als ich jung war. Damals konnte man zwischen verschiedener Musik wählen; man konnte zum Beispiel ein
Beatles-Fan sein oder ein Rolling-Stones-Fan. Ich aber stand auf Frank Zappa, weil seine Musik mich geistig inspirierte. Als das Holland ­Festival 2000 seine Arbeit in den Mittelpunkt stellte, beschloss ich, einen Film über Frank
Zappa zu machen. Ich las in seiner Autobiographie, dass er drei seiner Alben als Meisterwerke betrachtete: We’re
Only in It for the Money (1968), Phase eins; Lumpy Gravy (1968), Phase zwei; und Civilization Phaze III (1994). Diese
drei Alben wurden also zur Grundidee für ein dreiteiliges Filmprojekt. Ich ließ mich von dem inspirieren, was Zappa
«conceptual continuity» nannte. In seiner Musik gibt es bestimmte Tunes, die in verschiedenen Gruppierungen und
Formen immer wieder in seinem Œuvre auftauchen. Der Be-Bop Tango ist ein gutes Beispiel für conceptual continuity. Er begann als Komposition für eine einzige Trompete und ­entwickelte sich später zu einem riesigen Ensemblestück. Genauso arbeite ich auch an diesem Filmprojekt über Frank. Phase drei muss dann ein großer Kinofilm werden.
B.O.P.: Du hast Frank Zappa aber nie getroffen, oder?
Nein. Als ich in Los Angeles den Film über Schönberg ­drehte, schrieb ich ihm einen Brief, aber er war zu krank.
Ich hätte ihn so gerne getroffen. Er hat mich stark beeinflusst und ich möchte natürlich zeigen, dass sein Platz im
Pantheon der modernen Komponisten ist. Für mich sind Frank Zappa und Captain Beefheart der Strawinksy und
Schönberg des ausgehenden 20. Jahrhunderts.
A.L.: Das bringt uns zum Titel unseres Zappa-Programms, work in process. Du greifst auf unterschiedlichste Plattformen zurück, um deine Filme zu zeigen. Eine wichtige Plattform ist natürlich das Fernsehen. (Vielleicht sollten wir an
dieser Stelle erwähnen, dass wir alle deine Filme in digitaler Form projizieren.) Dann gibt es Musikfestivals, wie das
Holland Festival, das bereits im Jahr 2001 eine Retrospektive deines filmischen Schaffens präsentierte. Damals warst du
Mitte 40, was für eine Retrospektive ein ungewöhnliches Alter ist. Mit dem ­Filmprojekt über Frank Zappa wiederum
willst du Film als kontinuierlichen Prozess zeigen. Haben diese unterschiedlichen Plattformen damit zu tun, dass du
auch nach verschiedenen Präsentationsmöglichkeiten suchst, um das Publikum auf deine Filme aufmerksam zu
machen? Der Film über Elliott Carter wurde letztes Jahr etwa im Museum of Modern Art gezeigt. Du scheinst da sehr
offen zu sein. Steht das mit deiner ­Arbeits­weise in Zusammenhang?
Ich habe vor Kurzem einen kleinen Film für das Doku.Arts Festival in Berlin gemacht: In Conversation with Walter
Murch, ein Interview mit dem Cutter und Tonmeister Walter Murch aus dem Jahr 1980, den wir im ersten Programm
der Retrospektive als Vorfilm zeigen. Darin behauptet er, dass die technologische Entwicklung die Filmemacher in
die Lage versetzen werde, wie Animatoren zu arbeiten, dass die Freiheit, die bei der Tonmischung bereits bestehe,
auch der Entwicklung der Bilder neue Impulse verleihen würde. Da wurde mir mit einem Male klar, dass ich genau in
diesem Geiste aufgewachsen bin, weil der Coppola-Film ein sehr früher Film in meiner Laufbahn ist. Ich bin von dieser Art zu denken durchdrungen. Ich war mir immer bewusst, dass die digitale Revolution das Filmemachen beeinflussen würde. An einem bestimmten Punkt erkannte ich, dass die Revolution nicht von den kleinen digitalen Kameras ausgehen würde, die hatte ja schon zu Beginn der 1960er Jahre stattgefunden, als leichte Handkameras entwickelt wurden, was auch gleich eine neue Dokumentarfilmsprache provozierte: Cinéma Vérité und Direct Cinema gingen aus dieser Technologie hervor. Ich glaube, dass die digitale Revolution vor allem die Postproduktion und den
Schnitt ­revolutioniert hat.
Wenn man früher am Schneidetisch gearbeitet hat, machte man aus dem gedrehten Filmmaterial eine fertige Fassung, und das war auch die Einzige, die es von einem Film gab, denn sobald man diese Fassung neu schneiden würde, würde es auch die vorherige nicht mehr geben. Sie verschwindet einfach. Durch die digitalen Produktionsmittel
sind jedoch alle vor­herigen Fassung noch immer vorhanden. Daraus ergeben sich natürlich neue Ideen, neue Entwicklungen. Ich schneide meine Filme derzeit selbst, weil diese Technologie dazu herausfordert. Haben nicht auch
Komponisten wie Mahler nie aufgehört, eine Komposition zu revidieren? Die Fünfte Symphonie zum ­Beispiel, er hat
weiterhin daran gearbeitet, sie weiter verändert, weil er damit nicht ganz zufrieden war. Natürlich beschäftige ich
mich auch mit neuen Präsentationsmöglichkeiten.
A.L.: Auf Film zu drehen ist sehr teuer. Siehst du in Zusammenhang mit deiner Arbeit eine Perspektive für Film als
­Medium? Es gibt nicht mehr viele Kreative, die weiterhin auf Film ­drehen.
Ich bin mir sicher, dass das irgendwann einmal Vergangenheit sein wird. Wie bereits Schönberg sagte: «Es ist so
viel Schönes verloren gegangen.» Das ist die Evolution. Film als Material wird es ab einem bestimmten Zeitpunkt
nicht mehr geben, und das wird furchtbar sein. Dann müssen wir halt mit neuen Medien arbeiten. Damit habe ich
keine Probleme. Aber solange Film verfügbar ist, gibt mir das diese phantastische Möglichkeit zu malen. Wir können
uns noch an Platten mit Kratzern erinnern, aber die jüngere Generation hat zu diesem Klang keinen Bezug mehr.
Mag auch die Qualität schlechter werden, der Klang ist einfach wärmer. Das wird irgendwann einmal vergessen sein,
weil niemand mehr diese Erfahrung machen wird. Und dann wird es neue Dinge geben, und man wird damit kreativ
sein müssen. Ich denke, dass die Möglichkeiten der digitalen Postproduktion neue Horizonte eröffnen und die Phantasie beflügeln werden. Walter Murch hat bereits im Jahr 1980 in meinem Interview darauf hingewiesen.
B.O.P.: Du bezeichnest das kontinuierliche Arbeiten an ­Projekten als «work in process». Uns ist aus der Kunstwelt
der Begriff work in progress geläufig. Worin besteht der Unterschied?
Work in progress bedeutet, dass man eine Arbeit veröffentlicht, die noch nicht fertig ist. Sie ist noch nicht das
Endprodukt. James Joyce führte diesen Begriff ein. Teile seines Buches Finnegans Wake wurden publiziert, bevor
das fertige Buch ­veröffentlicht wurde. In meinem Fall sehe ich das Ganze als Prozess, weil es in jeder Phase ein fertiges Produkt gibt, weil der Film am Anfang einen Titel hat und am Ende einen Titel hat und ein feststehendes Werk
ist, daher also work in process. Beim Schneiden, das heißt zu einer bestimmten Zeit im Leben, unter bestimmten
Umständen, mit bestimmten Erfahrungen, mit einer bestimmten Menge an Wissen, trifft man bestimmte Entscheidungen. Normalerweise hat man zehn- oder fünfzehnmal mehr Material, als dann tatsächlich im fertigen Film steckt.
Die Entscheidungen, die man trifft, werden vielleicht von einem 50-Minuten-Format diktiert. Es gibt so vieles, das
interessant ist, aber nicht in diesem Format berücksichtigt ­werden kann. Es setzt sich dafür in meinem Kopf fest. Es
bleibt bei mir. Durch working in process besteht weiterhin die Möglichkeit, dass ich zu einem anderen Zeitpunkt in
meinem Leben andere Entscheidungen treffe – und die sind dann ­ebenso gültig wie die alten Entscheidungen. Mir
gefällt der Gedanke nicht, dass ich ein Werk beende und es nie mehr ­wieder anfasse, weil ich seinerzeit diese großen
Entscheidungen getroffen habe. Ich glaube, dass es genau umgekehrt ist, ­vielleicht waren meine Entscheidungen
lausig und ich möchte das verändern, trotzdem werden die alten Entscheidungen bestehen bleiben. Sie haben ein
Eigenleben.
B.O.P.: Ich würde gerne bei den Themen Filmschnitt und ­Postproduktion einhaken, um kurz auf deine Experimentalfilme
zu sprechen zu kommen, die ebenfalls ein wichtiger Teil deiner Arbeit und somit auch unserer Retrospektive sind.
Diese Filme geben mir die Möglichkeit, frei zu arbeiten und dabei vielleicht sehr interessante Ergebnisse zu erzielen. Aus diesen Erfahrungen entstehen immer neue Ideen, die in die Dokumentarfilme einfließen. Die Experimentalfilme sind also ein Teil des Prozesses, Dokumentarfilme zu machen.
A.L.: Kannst du auch beschreiben, was du bei unserem Programmpunkt John Cage – live chance film projection vorhast, wo du mit Zufallsoperationen experimentieren wirst?
Ich habe daran gedacht, einige Auszüge oder Momente vorzubereiten und diese dann nach dem Zufallsprinzip zu
zeigen. Oder ich lasse das Publikum Zufallsoperationen durchführen. Zufallsoperationen machen unheimlichen Spaß.
Ich bin dann immer genauso überrascht wie das Publikum. Es wird ein Ereignis im Geiste John Cages werden, «to get
out of every cage we find ourselves in». Ich möchte unmittelbar am Ort des Geschehens mit dem Publikum experimentieren, um Erfahrungen zu machen, die ich nie zuvor gemacht habe und die das Publikum nie zuvor gemacht
hat.
B.O.P.: Es ist offensichtlich, und du hast auch vorher selbst davon gesprochen, dass du John Cage auf besondere Weise
verbunden bist. Er hat dein künstlerisches Denken und deine filmische Arbeit maßgeblich beeinflusst – Filme basierend
auf Zufallsoperationen sind ein gutes Beispiel. Hat es auch gemeinsame Projekte mit Cage gegeben, und wie gestaltete
sich die Zusammenarbeit?
Mein erstes Interview mit John Cage habe ich 1982 gemacht. Ich kontaktierte ihn nochmals 1986 wegen meines
Films Time is Music. Dann fuhr ich nach New York, um Elliott Carter und Cage zu treffen. Als ich John sah, war eines
der ersten Dinge, die er zu mir sagte: «Hast du je in Betracht gezogen, mit Zufallsoperationen zu arbeiten?» Und ich
antwortete ihm: «Nein, habe ich nicht, aber jetzt, wo du es sagst, werde ich es tun.» Er gab mir eine Floppy Disk mit
einem Computerprogramm für das I Ging, und ich begann zu experimentieren. Er konfrontierte mich mit dieser Frage
auf eine so direkte Weise, dass ich es wie eine natürliche Entwicklung empfand. Ich wollte es herausfinden. Ich
wollte diese ­Erfahrung machen.
B.O.P.: Und danach hast du mehrere Experimentalfilme gedreht, die in Zusammenhang mit seiner Arbeit stehen …
Ja, er war daran interessiert, dass ich mich ernsthaft mit Zufallsoperationen beschäftige. Ich glaube, dass er mit
anderen experimentellen Filmemachern darüber diskutierte, aber keiner sich voll und ganz auf diese Arbeitsmethode
einließ. Selbst Stan Brakhage verwendete nicht diese extremen Zufallsoperationen auf der Basis des I Ging, obwohl
John mit ihm darüber sprach. Es war natürlich Johns Methode zu komponieren, aber er betrachtete Zufallsoperationen in erster Linie als Werkzeug. Jeder könnte sie benutzen, um sich selbst von seiner Erinnerung und seinem Ego
zu befreien.
Es gäbe noch so viel über die Zusammenarbeit mit John zu erzählen, zum Beispiel rief er mich einmal an und
sagte: «Frank, könntest du eine komplette Fassung von Wagners Ring des Nibelungen in drei Minuten und vierzig
Sekunden machen?» Ich sagte: «Moment, John … ja, das ist möglich, wir können das machen.» Und so habe ich es
gemacht. Ich bestimmte dabei das Timing für Einzelbildaufnahmen mithilfe von Zufallsoperationen. Ich drehte
Wagner’s Ring in München und hatte dafür eine ganz besondere 35-mm-Kamera zur ­Verfügung, eine Arriflex aus
den 1950ern, mit der man noch perfekte Einzelbilder machen konnte. Es war ein Glück, dass ich diese Kamera fand,
die in einem Lager in München herumlag und nicht verwendet wurde. Wie komprimiert man den gesamten Ring des
Nibelungen, vierzehneinhalb Stunden Oper, in drei Minuten und vierzig Sekunden? Ich dachte, ich zähle einfach, wie
viele Einzelbilder drei Minuten und vierzig Sekunden Film ergeben. Ein Film hat etwa 25 Bilder pro Sekunde. Dann
wurde mit Zufallsoperationen bestimmt, wie viele Einzelbilder für eine Einstellung belichtet werden. Das Resultat
war ein unregelmäßiger Rhythmus, der an die Unvollkommenheit alter Animationsfilme von Georges Méliès denken
ließ. Damals arbeitete man noch mit nicht perfekten Techniken, was die ­Filme sehr organisch und lebendig macht.
Wagner’s Ring war Teil von Cages erster Oper, Europera 1 und 2, einem Auftragswerk der Frankfurter Oper. Johns
Idee war, dass der Film das Publikum unterhalten und in der Pause als Loop projiziert werden sollte. In der Nacht
des 12. November 1987, vor der Generalprobe von Europeras, wurde das Frankfurter Opernhaus von einem ostdeut-
schen Flüchtling in Brand gesteckt. Er hatte nach Essen gesucht und aus Frust darüber, dass der Kühlschrank leer
war, die Oper abgefackelt. Wir waren damals alle in Appartements im Opernhaus untergebracht. John Cage und
Merce Cunningham wohnten im ­ersten Stock, mein Kameramann und ich im zweiten. Mitten in der Nacht wurden
wir wegen des Feuers von der Polizei evakuiert. Was haben wir gelacht! John war in dieser Nacht so lustig. Er hatte
lange Zeit intensiv an diesem Projekt ­gearbeitet, es war also in Wirklichkeit ein sehr harter Schlag für ihn. Seine
Gemütsverfassung ließ das Ganze jedoch zu einer sehr humorvollen Angelegenheit werden. Sein Konzept für Europeras war, dass jahrhundertelang viele europäische Opern in die Vereinigten Staaten gekommen waren und er sie alle
auf einmal zurückwerfen wollte. Einige Leute behaupteten sogar, er habe die Oper angezündet, und er meinte: «Ich
habe sofort gestanden.»
A.L.: Du hast viele berühmte Orchester unter Leitung bedeutender Dirigenten gefilmt, und trotzdem bist du der Meinung, dass eine der besten Interpretationen von Zappas Musik von einem ziemlich unbekannten Orchester im Iran
stammte, und zwar dem Teheran Symphony Orchestra.
Nein, ich kann nicht sagen, dass sie Frank Zappa so gut spielten. Ich kann aber Folgendes sagen: Wenn ein Orchester, das ein lebender Organismus aus Menschen ist, wenn also diese Menschen mit Hingabe spielen, weil die Musik
für sie eine neue Entdeckung ist, und man merkt, dass sie gerne spielen, dann mag ihr Spiel vielleicht technisch
nicht überzeugend sein, man spürt aber etwas anderes, nämlich die Leidenschaft, die alles sehr lebendig werden
lässt.
A.L.: Das habe ich auch gemeint: Es war eine ­außergewöhnliche Interpretation.
Und genau das habe ich gespürt. Als ich sie hörte und die Mitglieder traf, habe ich mich sofort in dieses Orchester
und seinen Chefdirigenten Nader Mashayekhi verliebt. Sie lieben es zu spielen, sie haben Leidenschaft, und das
ergibt eine Sprache ohne Grenzen. Deshalb liebe ich Musik so sehr. Es ist ein ­globales Phänomen, eine globale
Schwingung – alles ist Schwingung. Die Stringtheorie baut auf Schwingung auf. Und was kommt der Natur der Dinge
näher als Musik? Nichts kommt ihr so nahe wie Musik. Wir sprechen also über die Natur, wir sprechen darüber, was
wir sind.
Ich interessiere mich sehr für die Musiker dieses Orchesters und dafür, wie sie überleben; wie sie leben; wie sie
ihre Leidenschaft aufrechterhalten in einer Umgebung, in der Musik nicht ernst genommen wird. Das ist die Richtung, in die ich mich derzeit mit meiner Arbeit bewege, ich interessiere mich mehr für die menschliche Seite. Nader
Mashayekhi zum Beispiel führte Four von John Cage mit vierzig Studenten im Konservatorium auf. Das war die
beste Cage-Aufführung, die ich in den letzten fünfzehn Jahren gehört habe. In der Musik von Cage geht es um neue
Erfahrungen, es geht darum, sich von der Vergangenheit zu befreien. Und genauso haben sie das Stück gespielt –
phantastisch. Es war unglaublich aufregend, und ich war tief berührt.
Die Avantgarde scheint mir heute eher im Iran zu Hause zu sein als hier im Westen, weil sie dort eine elementare
Notwendigkeit ist. Das ist meiner Meinung nach auch das Problem, das wir hier im Westen haben. Was müssen wir
verändern nach dem, was Cage gemacht hat, und worauf sind wir ­eigentlich noch neugierig? Neue Musik, die ganze
Avantgarde und die musikalische Revolution von ehedem sind hier zu einer etablierten Sache geworden. Aber im
Iran ist die Neue Musik lebendig, sie ist für die Menschen dort eine Notwendigkeit und verändert sie. Für mich ist es
viel aufregender, dort einen Film zu drehen als hier.
A.L.: Du hast auch sehr enge Verbindungen zu deinem ­Filmteam und zu bestimmten Kamera­männern. Vielleicht
­verrätst du uns, welchen Ansatz du bei der Kameraführung verfolgst. Du hast sehr lange mit einer Bolex ­gearbeitet.
­Könntest du uns erklären, warum du diese Kamera ver­wendest, wo du doch einige der bekanntesten Kamera­­männer in deinem Stab hast.
Melle van Essen. Er ist ein phantastischer Kameramann. Seine Arbeit hat etwas Magisches. Wie die Komposition
eines Gemäldes, von dem Magie ausstrahlt. Er sucht bei einer ­Einstellung wirklich die Essenz, die Seele; das ist ein
sehr menschlicher Ansatz. Er ist das Gegenteil von einem anderen Kameramann, mit dem ich sehr gerne arbeite,
Joost van ­Gelder, aber er hat ins kommerzielle Fach gewechselt, und ich arbeite nicht mehr mit ihm. Joost hatte
einen anderen Ansatz. Er wählt die Einstellungen eher nach künstlerischen Kriterien. Im Berio-Film Voyage to
Cythera ließ er zum Beispiel die Kamera rotieren, und wir arbeiteten viel mit der Bildfarbe. Man spürt die künstlerische Kraft in seinen Einstellungen. Mit der Bolex wiederum kann ich viel suggestiver vorgehen. Ich möchte aber
mit verschiedenen Arten der Einstellung nebeneinander arbeiten, das bereichert meine Filme und gibt ihnen mehr
Kraft.
B.O.P.: Luciano Berio ist einer der zentralen Komponisten von Wien Modern 2007. Über ihn haben wir noch nicht
gesprochen obwohl er in deiner Arbeit so wichtig ist. Es wäre interessant, mehr über dein Zusammentreffen und deine
Zusammenarbeit mit ihm zu erfahren. Wir könnten dabei von den Bezugspunkten zwischen Mahler und Berio in der
Sinfonia ausgehen, einem Stück, das ebenfalls bei Wien Modern aufgeführt wird.
Ein lustiger Zufall ist, dass ich Voyage to Cythera, den Film über Berio, 1999 nach dem Film über Mahler gedreht
habe. Als ich Sinfonia studierte – das Stück, das im Zentrum des Berio-Films steht –, stellte ich aufregenderweise
fest, dass Berio genau jene Komponisten zitiert, über die ich bereits Filme gemacht hatte. Ich konnte also meine
eigenen Filme zitieren. Das Jahr 1908 spielt eine wichtige Rolle in meinem Schönberg-Film. Es ist das Jahr des großen
«Erdbebens» in der westlichen Kunst – ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass das der allerdramatischste
Moment in der Geschichte der westlichen Kunst ist. Übrigens ist genau zu der Zeit ein ­Meteorit in Sibirien niedergegangen. Ich mag derartige ­Assoziationen, es ist ja auch etwas sehr Dramatisches passiert. Jedenfalls konzentrierte
sich auch Berio in Sinfonia vor allem auf dieses Jahr. Als ich mit Berio in Kontakt kam und ihm das erzählte, war
auch er sehr aufgeregt. Es war wie eine Erleuchtung. In Sinfonia legt er nämlich den Akzent genau auf diesen
«Moment der Geburt» des Jahres 1908, mit Schönbergs Durchbruch in die Atonalität und den Eruptionen, die das
­verursachte. Für mich ist Voyage to Cythera die richtige ­Einführung in alle meine Filme, weil sie alle auf eine sehr
­interessante Weise bereits in Luciano Berios Komposition ­vertreten sind. Das war eine wichtige Erfahrung, ein
Wieder­erkennen, das mir einen enormen Auftrieb gab und mich dazu anspornte, den Weg weiterzugehen, den ich
viele Jahre vorher eingeschlagen habe.
Es gibt eine dramatische Geschichte zum Interview mit Berio: Es war ein phantastisches Interview. Ich war überglücklich. Als ich nach Holland zurückkehrte, gab es auf dem Flughafen ein neues Sicherheitssystem; das Filmmaterial musste durch einen Scanner und dabei wurde alles gelöscht. Es war eines der besten Interviews meines Lebens
und es war gelöscht! Mein Gott! Das war ein schreckliches Erlebnis. Ich musste daher das ganze Interview noch einmal machen. Berio konnte als Künstler genau nachvollziehen, wie es mir ging. Also ­machten wir ein neues Interview,
das ebenso gut wie das erste war, diesmal aber, weil er mich ermutigte und unterstützte. Diese menschliche Seite hat
mich tief berührt. Es hilft mir, ­weiterzumachen. Das ist nicht leicht zu erklären, ist fast ­sentimental. Berio hat voll
und ganz kooperiert, weil er ­verstanden hat. Er hat sich nicht distanziert. Er kooperierte, akzeptierte und unterstützte mich, wirklich wunderbar!
B.O.P.: Sprechen wir doch von der Zukunft. Selbst wenn du wolltest, wäre es nicht einfach, lebende Komponisten der
Avantgarde zu finden, über die du Filme drehen könntest …
Es gibt einen. Er war immer da, aber ich konnte ihn nie mit einer Periode in meinem Leben verknüpfen. Das ist
Anton Webern. Er kommt jetzt in einem Projekt vor, das ich in China realisieren möchte, bei dem ich den Jangtse als
Metapher für den Fluss der Gedanken nehme, für Bewegung in der Zeit, für die Entwicklung und das Heranreifen
eines Menschen. Ich mache diesen Film als jemand, der aus dem Westen kommt, und ich erforsche und suche die
chinesische Identität. Das ist nichts Neues, das hat mich interessiert, seit ich zwölf war. Ich war von China fasziniert.
Wenn ich dort bin, fühle ich mich nicht wie ein Fremder. Ich interessiere mich sehr für die ­chinesische Philosophie,
die sehr weit zurückreicht. Wenn man die derzeitige Entwicklung betrachtet, ist China im Begriff, die führende Wirtschaftsmacht der Welt zu werden. Wenn wir in diesem «globalen Dorf» leben wollen, müssen wir nicht nur unsere
eigene Kultur verstehen, sondern auch mit anderen ­Kulturen den Dialog suchen. Ich glaube, dass es im 21. Jahrhundert eine elementare Notwendigkeit ist, sich mit China ­auseinanderzusetzen.
Als ich am Varèse-Filmprojekt arbeitete, hatte ich das Glück, dem Assistenten von Varèse zu begegnen: Chou Wen
Chung. Er kommt aus China – auch in dieser Beziehung war Varèse ein Visionär, hat er doch bereits in den frühen
1950ern einen chinesischen Studenten ausgewählt. Chou Wen Chung ist dieser alte Typus des Gelehrten von großer
Weisheit, die in der chinesischen Kultur wurzelt, und mit ihm werde ich diesen Film machen. Aber nochmals, ich
komme aus dem Westen, mein Erbe ist das eines holländischen Dokumentarfilmers, und mit diesem Gepäck gehe ich
an diesen Film heran. Aber in meinem Gepäck befindet sich auch Anton Webern. Im Prozess des Überquerens des
Flusses habe ich Webern immer bei mir, weil seine Musik für mich mit China verbunden ist.
B.O.P.: Es ist interessant, dass du Webern mit der Metapher des Flusses in Zusammenhang bringst. Seine Musik wirkt
doch eher punktuell. Zumindest oberflächlich betrachtet geht es ihm weniger um das Fließen und die Kontinuität, sondern eher um den Moment und die Verdichtung der Zeit.
Exakt! Momente. Ich wollte Metaphern nie auf eine vor­dergründige Weise verwenden. Der Jangtse-Fluss kommt
nicht deshalb vor, weil ich einen Fluss in meinem Film haben möchte, sondern weil der Fluss ein wesentliches Grundelement im chinesischen Denken ist. Die Menschen in China sprechen auch anders von Gott, als wir das tun; es
wird dabei von ­Bergen und Flüssen gesprochen. Das ist ihre Religion, ihre Art zu denken, die Verbindung mit der
Natur. Der Fluss verweist also in diesem Fall auf den Fluss des Lebens. Webern ist nicht so sehr mit der Idee des
Flusses verbunden, Webern ist mit Momenten meiner Identität als Filmemacher verbunden, und das möchte ich mit
Situationen, denen ich an verschiedenen Orten entlang des Jangtse begegne, in Beziehung setzen.
A.L.: Und welchen Komponisten hast du in deinem Gepäck, wenn du in den Iran fährst?
Nader Mashayekhi. Er hat 25 Jahre lang hier in Wien ­studiert und gearbeitet und möchte den Menschen in
Teheran die moderne Musik näherbringen.
A.L.: Es gab deutsche Medien, die diese musikalische Achse zwischen Deutschland und dem Iran sehr kritisch beurteilten, im Speziellen, als es um das Symphonieorchester Osnabrück ging, das ein Tabu brach und in Teheran ein Konzert
gab. Man verglich das mit den internationalen Athleten, die 1936 an den Olympischen Sommerspielen in Berlin teilnahmen …
Ja, ich weiß. Das ist eine für den Westen typische Polemik. Ich glaube, zukünftige Welten sollten sich viel mehr
damit beschäftigen, Grenzen abzubauen, als sie zu errichten. Für mich besteht kein Zweifel darüber, dass die Überheblichkeit des Westens keine Zukunft hat. Wir sollten endlich alle ein­sehen, dass wir nur ein Teil des Planeten sind
und nicht das ­Zentrum. Die Situation im Iran ist natürlich überaus problematisch, aber zu denken, wir wären überlegen, ist keine große Hilfe. Wir brauchen diesen intensiven Dialog mit dem Osten. Ich möchte nicht denen dort helfen, es ist genau umgekehrt, ich möchte mir selbst helfen. In diesem Zusammenhang mag ich John Cages Statement:
«how to improve the world (you will only make matters worse)» – «wie die Welt zu verbessern ist (du wirst alles nur
noch schlimmer machen)»…
Das Gespräch fand am 10. September 2007 in Wien statt.
Übersetzung aus dem Englischen von Friederike Kulcsar
Berno Odo Polzer und Andreas Lewin: «how to improve the world (you will only make matters
worse)». Ein Interview mit Frank Scheffer, in: Katalog Wien Modern 2007, hrsg. von Berno Odo
Polzer und Thomas Schäfer, Saarbrücken: Pfau 2007, S. 27-33.