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GESCHICHTE
R o l a n d
R e c k
Er nannte alle Opfer
Die Mörder kamen zum Gottesdienst: Vor 35 Jahren
wurde der Erzbischof von San Salvador Oscar Arnulfo
Romero ermordet. Angefeindet von der Oligarchie und
alleingelassen von Rom starb der Erzbischof kurz vor
Ostern. Vieles, was Romero tat und predigte, findet
sich bei Papst Franziskus. Denn dessen Credo „eine
Kirche der Armen“ lebte Romero, der unmissverständlich feststellte: „Die Ehre Gottes ist, dass der Arme
lebe.“ Dafür starb er. Ostern erinnert auch daran.
Es ist Montag Abend, der 24. März 1980. In der Kapelle der „Göttlichen Vorsehung“ des Krebskrankenhauses wird der verstorbenen Sara de Pinto gedacht. Es sind nur wenige Angehörige, Freunde, Bekannte in der kleinen Kirche versammelt. Am Altar steht Oscar Arnulfo Romero, der Erzbischof von
San Salvador. Es nütze den Menschen nichts, die Welt zu gewinnen, wenn sie
sich dabei selbst verlören, mahnt er die Trauernden. „Dessen ungeachtet soll
man trotz der Hoffnung auf ein besseres Jenseits nicht aufhören, sich um die
Neugestaltung dieser Erde zu bemühen,... besonders wenn sie so sehr wie die
unsere in Ungerechtigkeit und Sünde verstrickt ist... Wir wissen, dass niemand
für immer stirbt und dass diejenigen, die ihre Aufgabe mit tiefem Glauben,
mit Hoffnung und Liebe erfüllt haben, die Krone erhalten werden. In diesem
Sinne beten wir für Dona Sarita und für uns selbst...“ In diesem Moment, es ist
18.40 Uhr, dröhnt ein Schuss durch die Kirche. Von einem Dumdumgeschoss
getroffen, bricht der Erzbischof neben dem Altar zusammen und verblutet.
Der Tod kam für Oscar Romero nicht überraschend. Als Erzbischof eines Landes, das eine Oligarchie – entsprechend der Anzahl der Departements spricht
man in El Salvador von den „14 Familien“ - zu ihrem Privatbesitz erklärt hatte,
war jeder mit dem Tode bedroht, der diesen Besitzanspruch nicht bedingungslos anerkannte. Oscar Romero war dies nicht. „Der Grund unserer Übel ist die
Oligarchie“, stellte er unmissverständlich fest, „ein kleiner Teil von El Salvador
, der sich nicht um den Hunger der Menschen kümmern will. Weil sie ihre Profite haben und sie vergrößern wollen, müssen sie das Volk unterdrücken.“
Auf solche Wahrheiten stand in El Salvador die Todesstrafe. Verhängt von
einer Machtclique, die sich hemmungslos des Staats- und Machtapparates
bediente, und ausgeführt von den „Todesschwadronen“, jenen halboffiziösen
Mordbanden aus Polizei und Militär, zuständig für Entführung, Folter, Mord
und Terror. Allein im Todesjahr Romeros 1980 waren es 15.000 Ermordete.
Krasse Einkommens- und Vermögensunterschiede prägten das mit fünf Millionen Einwohner kleinste mittelamerikanische Land, das in Größe und Bevölkerungsdichte der Hessens entspricht. Eine Oberschicht, die in etwa einem
Prozent der Bevölkerung entsprach, nahm nicht nur den größten Teil des Landes für sich in Anspruch, sondern beherrrschte auch sonst die Wirtschaft.
Dagegen kämpfte eine linke Guerilla (FMLN). Die Ermordung Romeros führte
zum offenen Bürgerkrieg mit zig Tausenden Vertriebenen und Toten.
Romero starb als Volksheiliger. Der Mann des Vatikans, der Kirchenhierarchie,
den eine geradlinige Karriere auszeichnete und dem im Gegensatz zu seinem
Mitaspiranten, dem Weihbischof Rivera y Damas, jegliche Nähe zur aufrührerischen Befreiungstheologie abhold war; er, der als Erzbischof von der päpstlichen Kurie ausersehen war, jene revolutionären Keimzellen, die Basisgemeinden, jene „Iglesia popular“, in den entpolitisierten Gehorsam zurückzuführen,
ausgerechnet dieser Bischof wird zur „Stimme der Stimmlosen“.
Oscar Romero war kein Volkstribun. Dazu fehlte ihm das Temperament. Das
stille, stets etwas kränkelnde Kind wurde 1917 in der Kleinstadt Ciudad Barrios
an der Grenze zu Honduras geboren. Behütet wuchs er als Sohn einer tiefgläubigen Mutter und eines Angestellten auf. Der intelligente Schüler wurde
vom Rektor des Priesterseminars von San Salvador zum Studium nach Rom
geschickt. Am Tiber zum Priester geweiht, kehrte Romero mit 24 Jahren in
seiner Heimat zurück. Der junge Pfarrer erklomm in raschem Aufstieg die
Karriereleiter; Bischofssekretär, Seminarrektor, Generalsekretär der salvadori54
Oscar Arnulfo Romero, der ermordete Erzbischof von San Salvador, kann
ohne Zweifel als ein Vorbild für Papst Franzikus betrachtet werden.
anischen Bischofskonferenz, Exekutivsekretär des Rates der Bischöfe Mittelamerikas, Bischof des Bistums Santiago de Maria.
Getreu seines kirchlichen Werdegangs verrichtete er dieses Amt: fernab von
den Basisgemeinden, den Land- und Arbeitslosen, den Armen, in Konfrontation mit den jungen sozialkritischen Priestern und in beratender Nähe zur
Baumwoll- und Kaffee-Oligarchie. Er galt überdies als ein Bücherwurm, der
seine Fachliteratur der zwischenmenschlichen Begegnung vorzog.
Oscar Romero wurde 1977 zum Entsetzen vieler in den Basisgemeinden
Nachfolger des aus dem Amt geschiedenen Luis Chavez, der aus seiner Abscheu über die bestehenden Verhältnisse in El Salvador keinen Hehl gemacht
hatte. Romeros Ernennung passte ins Bild der Bestrebungen des Vatikans und
des Militärregimes, wieder engere Beziehungen zu knüpfen. Romero gestand
später im Gespräch mit kritischen Priestern seines Bistums: „Ich hatte die
Aufgabe, mit euch allen aufzuräumen!“ Doch die Wirklichkeit El Salvadors
war schrecklicher als die Verdrängungskunst des frommen Erzbischofs.
Oscar Romeros Damaskus-Erlebnis folgt nur kurze Zeit nach seinem Amtsantritt als Erzbischof. Am Spätnachmittag des 12. März 1977 fährt der junge
Jesuitenpater Rutilio Grande, Romeros Freund, zusammen mit dem siebzigjährigen Bauern Manuel Solorzane und seinem fünfzehnjährigen Ministranten Nelson Lemus zur Abendmesse nach El Paisnal in einen Hinterhalt. Man
findet sie, von Kugeln aus Polizei-MPs durchsiebt, in ihrem umgestürzten
Auto. Romeros Freund verblutete.
Von nun an scheint es, als habe Romero das Erbe seines ermordeten Freundes
angenommen. Seine Sonntagsmessen, die über den kircheneigenen Radiosender im ganzen Land zu hören sind, werden bald zu Kundgebungen der
Anklage und des Widerstandes. In seinen Predigten nennt er jeweils die Opfer
der Unterdrückung mit Namen – und seine Predigten werden immer länger.
Und die Anfeindungen aus seinem eigenen Episkopat und aus der römischen
Kurie nehmen zu. Ein Erzbischof, der sein Bischofspalais zu einer Cafeteria für
 Fortsetzung Seite 56
GESCHICHTE
 das gemeine Volk, zur Informationsbörse für
die Verfolgten und ihre Angehörigen umfunktioniert und selbst in ein Krebskrankenhaus am Rand
der Stadt zieht, bricht mit ehernen Gesetzen des
Amtes und der Hierarchie.
Es herrrscht „Kalter Krieg“. Im benachbarten Nicaragua stürzen 1979 die Sandinisten den von den
USA unterstützten Diktator Somoza. Und in Rom
herrscht Papst Johannes Paul II. Sowohl in Washington als auch in Rom ist die in Lateinamerika
populäre „Befreiungstheologie“ ein Werk des Teufels, der bekanntlich rot trägt.
Als im Februar 1980 bekannt wird, dass die USA
die Hilfe für die Junta in El Salvador verstärken
wolle, schreibt Romero an US-Präsident Jimmy
Carter: „Ich bin sehr besorgt über die Meldung,
nach der die Regierung der Vereinigten Staaten die
Frage prüft, wie sie die Aufrüstung von El Salvador unterstützen kann... Wenn diese Information
stimmt, trägt Ihre Regierung keineswegs zur Herstellung größerer Gerechtigkeit und zum Frieden
bei...!“ Einen Monat nach diesem Brief wird Romero ermordet.
Der Erzbischof weiß, dass er auf der „schwarzen
Liste“ steht, schließlich mangelt es nicht an Mord-
H o rst
drohungen gegen ihn. Mit Todesangst und Todesmut predigt er am Passionssonntag, dem 23.
März 1980. Wie immer in seinen Predigten geht er
akribisch auf die Menschenrechtsverletzungen der
zurückliegenden Tage ein, nennt die Namen der
Opfer sowie Orte und Umstände der Verbrechen.
Allein an diesem Sonntag nennt er 136 Ermordete,
darunter sechs Frauen und sechs Kinder. In hilfloser Verzweiflung appelliert er an die Soldaten:
„Brüder, ihr gehört zu unserem Volk. Ihr tötet eure
eigenen Brüder unter den Bauern, aber das Gesetz
Gottes sagt: Du sollst nicht töten!“ Und mit ganzer
Inbrunst wendet er sich schließlich an die Machthaber im Lande: „Im Namen Gottes, im Namen
dieses leidenden Volkes, dessen Schreie sich jeden
Tag lauter zum Himmel erheben, flehe ich Euch an,
bitte ich Euch, befehle ich Euch im Namen Gottes:
Schluss mit der Repression!“
Romeros Verhältnis zum bewaffneten Widerstand
war von kritischer Solidarität geprägt. Von der
lateinamerikanischen Kirche war der gewaltsame
Widerstand als „ultimo ratio“ anerkannt worden.
Romero in seiner Predigt: „Gewiss hat die revolutionäre Koordination Fehler begangen. Sie hat noch
viel zu tun, bis sie zu einer richtigen Alternative
revolutionärer demokratischer Gewalt wird... Sie
ist eine Hoffnung, eine Lösung, sofern sie an Reife
zunimmt und wirklich dem Willen des Volkes zu
entsprechen sucht.“
Am Begräbnis Romeros nahmen etwa eine Million Menschen teil. Scharfschützen richteten unter
ihnen ein Massaker mit 40 Toten an. „Mit Bischof
Romero ist Gott durch El Salvador gezogen“, würdigte der Jesuitenpater Ignacio Ellacurias den Erzbischof in einem Trauergottesdienst wenige Tage
nach dessen Ermordung. Die Rache folgte neun
Jahre später, am 16. November 1989 wurde Ellacurias, Rektor der Universität in San Salvador, mit
fünf weiteren Jesuitenpadres sowie einer Haushälterin und deren Tochter in San Salvador von einem
Terrorkommando ermordet.
Über die Würdigung Romeros durch den Vatikan
empörte sich der Theologe Karl Rahner 1983: In
Rom habe man den Erzbischof „als unbequemen
Stänkerer mit Schweigen übergangen“. Das änderte sich am 24. März 1994 als im Vatikan der Seligsprechungsprozess für Oscar Romero, der 1978
und 79 für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen
worden war, begann. Die Seligsprechung wird
heuer am 23. Mai in San Salvador stattfinden.
H a c k e r
Revolutionärer Reformer
KONSTANZ. Weil König Sigismund für den Herbst 1414 das Konstanzer
Konzil einberufen hatte, war er 2014 geistiger Schirmherr im ersten
Jahr der Feierlichkeiten zum 600-jährigen Jubiläum. Im heurigen zweiten Jahr des Jubiläums, das als das „Jahr der Gerechtigkeit“ begangen
wird, wurde der tschechische Geistliche und Reformator Johannes Hus
zum ideellen Schirmherrn erkoren. Als Ketzer vom Konzil zum Tod verurteilt, endete er am 6. Juli 1415 in Konstanz auf dem Scheiterhaufen.
Er gilt als wichtigster Vorläufer Martin Luthers.
Jan Hus auf einem Grafitti von Ermin Hasirci, zu sehen in der Unterführung der Alten Rheinbrücke zu Konstanz.
Vermutlich um das Jahr 1369 in dem zwischen Böhmerwald und Budweis gelegenen, heute tschechischen Husinec geboren, wird Jan Hus auch Johannes
Huss genannt. Als Sohn eines Fuhrmanns aufgewachsen, besuchte er zunächst
die Lateinschule im westböhmischen Prachatice, bevor er an der berühmten
Prager Karls-Universität ab 1390 sein Studium aufnahm. 1396 erlangte er den
akademischen Grad eines Magister Artium der Freien Künste und wurde Hochschullehrer.
Durch seinen Weggefährten Hieronymus von Prag, der ein Jahr später ebenfalls in Konstanz im Feuer endete, wurde Hus ab 1398 mit den Lehren des
englischen Theologen John Wyclif (1330 - 1384) aus Oxford vertraut. Dessen moralischer Rigorismus begeisterte ihn, so dass er einen Teil seiner Lehren
übernahm. Aufgrund der sittlichen Verfallserscheinungen des Klerus in England wie in Böhmen forderte Wyclif die Abkehr der Kirche von Besitz und
weltlicher Macht. Da von Papst, Kardinälen und Bischöfen geführt, lehnte er
die Kirche als eine hierarchische Institution ab. Nach seinem Verständnis sollte
sie eine Gemeinschaft von Gott auserwählter Menschen sein, deren Haupt allein Christus sei. Wyclif kritisierte auch den Verkauf von Ämtern (Simonie), die
Heiligenverehrung und den Reichtum der Kirche. Er verachtete den Handel mit
Sakramenten und forderte eine arme, machtlose, dafür an geistlichen Gütern
reiche Kirche.
1398 begann Jan Hus sein Studium der Theologie. Zwei Jahre später wurde er
zum Priester geweiht und 1401 erfolgte die Ernennung zum Dekan der philosophischen Fakultät. Nachdem er 1402 Professor geworden war, übte er in den
Jahren 1409 und 1410 das Amt des Rektors der Prager Universität aus, wo er
Theologie und Philosophie lehrte.
In Prag an die Bethlehemskapelle berufen, hielt er dort jährlich an die 200
Predigten, aber in tschechischer und nicht lateinischer Sprache, damit das einfache Volk ihn verstehen konnte. Die Kapelle wurde unter seiner Leitung zum
Sammelbecken reformorientierter und nationalbewusster Kreise. Hus machte
sich zur Stimme der tschechischen Bevölkerungsmehrheit gegen die kleine
Oberschicht zugezogener deutscher Herren. In Böhmen entwickelte die christliche Reformbewegung eine sozialrevolutionäre Dynamik. Als Hochschullehrer
liebte Hus Disputationen, in denen er die Argumente seiner Gegner ganz akribisch zu widerlegen pflegte, freilich nicht ohne Rechthaberei.
Als die Kirche ihn einzuschüchtern begann und die Freiheit seiner Lehre beschränken wollte, wandelte sich der Reformer zum Revolutionär. Ganz offen
rief er nun zum Ungehorsam gegen Papst Alexander V. auf: Niemand solle
seine Bücher abgeben, die Priester sollten weiterhin in Tschechisch predigen.
Darauf eröffnete die Kurie in Rom einen Prozess gegen ihn, die Ermittlungen
übernahm Kardinal Odda Colonna.
Aus Angst vor Verhaftung äußerte sich der Angeklagte von Prag aus. „Synagoge des Satans“ nannte er die Kurie und den Papst schmähte er als Dieb und
Antichristen. Im „Tractatus de ecclesia“ legte Hus 1413 seine Grundsätze nieder: Jeder Christ habe ein Widerstandsrecht gegen unrechtmäßig handelnde
Kirchenvertreter. Ein Befehl, der nicht dem „Gesetz Christi“ entspreche, dürfe
nicht ausgeführt werden. Widerstand sei dann sogar Ausdruck des wahren
Gehorsams gegen Gott. Ein Widerstandsrecht, das jedem Christen zusteht? Kurie und König waren alarmiert!
Jan Hus aber wähnte sich in Sicherheit: König Sigismund hatte ihn nach Konstanz eingeladen und ihm sicheres Geleit versprochen. Obwohl eigentlich
niemand mit dem Gebannten sprechen durfte, glich die Reise von Prag über
Nürnberg an den Bodensee im Herbst 1414 einem Triumphzug. „Bisher keinen
Feind gefunden“, stellte Hus gehobener Stimmung in einem Brief fest.
Zu früh gefreut, denn Feinde gab es viele am Ziel seiner Reise. Am 3. November
1414 erreichte Jan Hus Konstanz. Dort erschacherte sich Sigismund die Kaiserkrönung durch Rom, indem er wortbrüchig wurde und den Verfemten aus
Böhmen dem Konzil auslieferte, das diesen als Ketzer am 6. Juli 1415 auf dem
Scheiterhaufen verbrannte.
Ein Fanal, das 100 Jahre später mit Martin Luther und seinen „95 Thesen“ zur
Reformation und Kirchenspaltung führte.
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GESCHICHTE
G e rh a r d
R e is c hm a n n
Mord bis zum letzten Tag
BAD WALDSEE. Am 24. April wird um 17 Uhr in Bad
Waldsee eine Gedenktafel enthüllt. Sie erinnert an
vier auf dem Gebiet der Stadt Bad Waldsee ermordete KZ-Häftlinge. Ihr Todesmarsch war 70 Jahre zuvor
durch Waldsee gegangen.
Als die französische Armee unter General de Lattre um den 1. April 1945 den
Rhein überschritten hatte und unaufhaltsam Richtung Stuttgart (Einnahme
am 22. April) und Bodensee (Radolfzell, 23. April) vorrückte, hatte die
SS in den KZs auf der Schwäbischen Alb ein Problem: Wohin mit den
Häftlingen? Am 13., 17. und 18. April wurden insgesamt 1997 Häftlinge,
wie die Erinnerungsinitiative „Gedenkstätte Eckerwald“ dokumentiert hat,
aus den Lagern Frommern, Dautmergen, Schömberg und Schörzingen
(alle bei Balingen, Zollernalbkreis) auf Todesmärsche geschickt. Quer durch
Oberschwaben trieben die KZ-Schergen ihre Häftlinge Richtung Dachau.
Am 22. April 1945 – es war ein Sonntag – kam einer der Todesmärsche
durch Waldsee. Bad Waldsees Stadtarchivar Michael Barczyk sprach darüber
am Volkstrauertag 2013: „Ein Teilnehmer erinnert sich an eine tropfende
Dachrinne des Bachem-Werkes. Er wollte daran lecken und wurde sogleich
brutal zusammengeschlagen. In der Biberacher Straße standen Waldseer,
schauten zu, trauten sich nicht, den Hilferufen ,pain, pain’ (,Brot, Brot’) nachzukommen. Und dann fand man einen Tag später, am 23. April 1945, bei der
Eisenbahnunterführung bei Unterurbach die Leichen von zwei KZlern.“
Der Doppelmord nahe der Unterführung, am Ufer des Urbaches, war so gut
wie vergessen gewesen. Ernst Fricker, Jahrgang 1929, zwei Kilometer vom Ort
des Geschehens zu Hause, suchte nach der Gedenkfeier nach seinem kleinen
schwarzen Notizbuch. Nach seiner Kladde von 1945. Frühschoppen im „Rad“ in
Mittelurbach, sechs Wochen danach. Ernst Fricker hat sein Büchle von damals
dabei. „Zwei Sträflinge (KZ) erschossen von Offiz.“ – größer ist die Eintragung
nicht. „Dia hot ma verrota“, ist sich ein anderer am Tisch, der 83-jährige WelteBauer, sicher. Er hatte damals, im Sommer 45, mit zwei „Molle“ (Ochsen) den
Grabstein für die Verratenen herbeigeschafft. – „Innerhalb vo 24 Stunda hot
mei Großvat’r a Grabstell für dia Erschossene braucht“, fügt Franz Knitz (73)
hinzu. Sein Großvater war in den Tagen des „Umsturzes“ Bürgermeister von
Unterurbach gewesen. – „Däa Leicha­gschmack hon i lang it wegkriegt“, sagt
Alois Fricker (81). – „Bei d’r Umbettung anno 48 hond alte Nazi vom Dorf helfa
müssa“, sagt ein anderer.
Alois Fricker, 1945 13 Jahre alt, schildert eine gespenstische Szene: Es hatte
geheißen, bei Feinkost Linder in Waldsee (Ravensburger Straße / Ecke
Grabenmühlweg) gebe es Blockschokolade. „Viel Leut send agschtanda.“
Da zogen KZ-Häftlinge vorbei. Etwa 30 bis 40 Sträflinge, angetan mit der
gestreiften KZ-Kleidung. Brav anstehende Bürger trafen auf ausgemergelte
Opfer des Regimes. Alois Fricker: „Einige hond kaum no laufa kenna.“ Er
erinnert sich, wie ein Wachmann einen strauchelnden Häftling mit dem
Gewehrkolben stieß.
Die Häftlinge und ihre zahlenmäßig schwache Bewachung marschieren weiter Richtung Haisterkirch; drei können offensichtlich fliehen und verstecken
sich in der Nacht vermutlich in „Adlers Wäldele“ oberhalb des Urbachs. Am
Montagmorgen (23. April) halten sich laut Ernst Fricker die drei Flüchtigen am
Urbach auf, wohl um sich zu waschen und um etwas zu trinken. Da fährt ein
deutscher Kübelwagen heran. Einer der KZ-Häftlinge, der jenseits des Baches
war, kann flüchten, die beiden anderen werden an Ort und Stelle erschossen.
Die Täter lassen die Toten einfach liegen und fahren weiter.
Alois Fricker kann den Wochentag nicht mehr sagen, an dem er Schokolade
gehamstert hatte, doch es muss jener Sonntag, der 22. April, gewesen
sein. Damals hatte der Lebensmittelhandel auf dem Land vielfach auch
am Sonntagvormittag, nach der Kirche, geöffnet. Vielleicht war es auch
eine Sonderabgabe am Nachmittag gewesen, denn Anna Krattenmacher
– Mädchenname Fiegel, geb. 1925 – meint, es sei Abend gewesen, als der
Elendszug an ihrem Haus am Fuße des Haidgauer Berges, vier Kilometer
Hier geschah der Doppelmord am Bach. Ernst Fricker hat sein Notizbüchle
von 1945 dabei, in dem der damals knapp 16-Jährige für den 23. April 1945
diese Eintragung gemacht hat: „2 Häftlinge (KZ) erschossen von Offiz.“ Die
dürren Worte stehen für ein sogenanntes Endphasenverbrechen.
Foto: Gerhard Reischmann
östlich Waldsees, vorbeigekommen sei. „Mei Vat’r hot dene Häftling Wasser
nausbringe müssa“, berichtet die 90-Jährige. Sie sah, wie die Sträflinge den
Berg hochkeuchten, graue Decken über ihrer gestreiften Kleidung tragend.
Knapp vor der Bergkuppe, 800 Meter vom Haus Fiegel, in einem Waldstück
links der Straße, erschossen die Bewacher zwei Entkräftete.
Die Schüsse habe man unten im Dorf gehört, berichtet Helga Heinzelmann
(geborene Gregg), damals 13 Jahre alt. An jenem Abend war sie von der
Andacht in der Kirche gekommen und hat den Elendszug ebenfalls gesehen. Sie spricht von mehreren hundert Häftlingen und hat auch noch die
Bewacher mit geschulterten Gewehren vor Augen.
Anni Kübler, geb. Nothhelfer, Jahrgang 1931, kommen heute noch die
Tränen, wenn sie sich an den schweigenden Zug der Häftlinge erinnert.
Insbesondere die Letzten im Zug hätten kaum noch gehen können und seien
von den Wärtern angeschrien worden. Die Augenzeugin spricht von einem
„nicht enden wollenden Zug“ in Dreier- oder Vierer-Reihen. Demnach hat
Alois Fricker am Vormittag oder früheren Nachmittag nur eine Teilgruppe
gesehen.
Am 2. Juni 1945 findet man oben auf dem Berg die zwei Toten. Unter den
Augen einer Kommission der französischen Besatzer werden die Leichen
geborgen und auf dem Haisterkircher Friedhof bestattet. Haisterkirchs Pfarrer
Erich Dolderer hält eine aufrüttelnde Predigt: „Darum, liebe Christen, müssen
wir aufs Tiefste beklagen, was vor sechs Wochen auf der Gemarkung unserer
Gemeinde geschehen ist. Aus einem jener Konzentrationslager, die von der
Hölle erfunden sind, wurde ein Trupp Gefangener durch unser Dorf getrieben,
die Straße zum Berg empor. Auf der Höhe wurden zwei Gefangene von ihren
Wärtern erschossen und unbeerdigt ihrem Schicksal überlassen. Alle, die
von dieser Untat hörten, wurden mit Abscheu und Entsetzen erfüllt. Hinter
diesen beiden unbekannten Männern erhebt sich eine ungeheure Zahl von
Menschen, die ebenso und noch grausamer ermordet worden sind ... Diese
beiden Gräber inmitten unseres Gottesackers müssen uns stete Mahnung sein,
wohin Menschen kommen, wenn sie den lebendigen Glauben verlieren.“
Am 23. April 1945, es ist ein Montagmorgen, geht die 13-jährige Maria Knitz
(heute Bausinger) von Mittelurbach ins nahe Waldsee. Auch ihre Familie hat
von der Blockschokolade erfahren. „Dass der Feind fünf Kilometer vor der
Stadt stand“, habe man bei dieser Besorgung nicht groß problematisiert, sagt
sie im Rückblick. Als Maria zurückkommt, sieht sie nach der Unterurbacher
57
GESCHICHTE
Eisenbahnunterführung zwei Tote. Sie kann die
Szene auch heute, nach bald sieben Jahrzehnten,
noch genau beschreiben. Die beiden Ermordeten
seien in kniender Stellung gewesen, die kahlgeschorenen Köpfe auf den Boden gesunken.
Noch am Morgen desselben Tages: Am
Küchenfenster von Greggs Hof am Westabhang
des Haidgauer Berges klopft es. Helga, die GreggTochter, heute 83 Jahre alt, kann die Szene genau
beschreiben. Ihre Mutter habe hinausgeschaut
und ausgerufen: „Jessas, wa ischt au des für
oiner?!“ Maria, die 20-jährige weißrussische
Zwangsarbeiterin, geht vor die Türe und bringt
den abgehetzten, völlig erschöpften Mann herein. Auf dem Herd werden gerade Kartoffeln
für die Schweine gekocht. Mitsamt den Schalen
schlingt der Fremde die Kartoffeln hinunter. „Däa
sieht jo aus wia dä Tod“, sagt Mutter Gregg.
Im Strohschuppen nebenan wird ihm ein Lager
bereitet, das Essen bringen Greggs nachts hinüber. Niemand darf von dem Versteckten wissen.
So kommt der Entflohene über die Tage des
„Umsturzes“. Vieles spricht dafür, dass er der dritte
Mann vom Bach war.
Am Montag (23. 4. 1945) ist das Verbrechen
am Bach geschehen, am Dienstag spätabends
wird Waldsee von den Franzosen eingenommen.
Unterurbach und Mittelurbach sind noch nicht
besetzt; die Gemeinde Unterurbach hat nun mit
den zwei am Ortsrand liegenden Toten ein gefährliches Problem. „Ma ka se doch it liega lau“, heißt es
im Dorf. Bürgermeister Franz Knitz, der nicht weiß,
dass die Toten in ihren Sträflingsbekleidungen
französische Staatsangehörige waren, sorgt für
eine rasche, wohl nur notdürftige Beerdigung.
Nach dem Einmarsch französischen Militärs
in Urbach kommt es zu einer dramatischen
Zuspitzung. „Zur Vergeltung wollten die Franzosen
nach der Besetzung zwanzig Bürger von Urbach
erschießen“, schreibt Ernst Fricker in seinen
„Erinnerungen aus meinem Leben“. „Dies konnte
Bürgermeister Knitz verhindern, weil er glaubhaft
machen konnte, dass niemand von uns beteiligt
war.“
Ultimativ („binnen 24 Stunden“) fordern die
Franzosen eine würdige Bestattung der bei
Unterurbach ermordeten KZ-Häftlinge an Ort und
Stelle sowie die Errichtung eines Denkmals. Das
wird bis zum Herbst fertig. Für den 2. November
1945 – wohl zum Abschluss des Grabmalbaus
– setzt der französische Stadtkommandant
Waldsees eine Trauerfeier für die Ermordeten
an. Offensichtlich von ihm angewiesen, fordert Waldsees Bürgermeister die Mitglieder seines Gemeindeausschusses schriftlich auf, an der
Trauerfeier in der Nachbargemeinde teilzunehmen.
Auch die Anzugsordnung ist vorgegeben: „Schwarz,
hoher Hut“. Später wird auf dem Schriftstück handschriftlich eingetragen: „11 Herren anwesend“ (der
Ausschuss hatte 13 Mitglieder). „Bei d’r Trauerfeier
hond zwoi Dutzend Leit vo Urbach atreta müssa“,
erinnert sich Franz Schmid (Mittelurbach), wie der
„Welte-Bauer“ mit bürgerlichem Namen heißt. Er
ist der wohl letzte Zeuge jener Trauerfeier und hat
noch den Salut im Ohr, den die Franzosen zu Ehren
der Ermordeten geschossen hatten.
Drei Jahre später, Herbst 1948: Franz Knitz,
Jahrgang 1940, ein Enkel des seinerzeitigen
Urbacher Bürgermeisters, wird Augenzeuge der
Exhumierung. Mit einem Kuhgespann kommen
er und sein Vater vom Steinacher Ried her, wo
sie Wasen (Torf) gestochen hatten; auf der Höhe
des Grabmals werden sie von einem französischen
Posten angehalten. Und dann sehen sie, wie die
ausgegrabenen Särge mit einer Axt aufgewuchtet
werden und die sterblichen Überreste in Zinksärge
gegeben werden. Ein französischer Lastwagen
steht für den Abtransport bereit.
Bis vor kurzem wusste so gut wie niemand mehr
etwas über die Geschichte, jetzt kennt man die
Namen derer, an die die Gedenktafel erinnern
soll: Auguste Bonal, geb. 1898 in Sorres-Seine,
Frankreich, Manager bei Peugeot im Werk Sochaux
und Jules Monjoin, geb. 1921, ein Arbeiter, der
vermutlich ebenfalls bei Peugeot in Sochaux tätig
war. Bonal und andere Betriebsleiter sabotierten offenbar die Zulieferungen an die deutsche
Rüstungsindustrie. Auch die Namen der Toten
vom Haidgauer Berg sind bekannt: Karl Panhans
aus dem Sudetenland und Julius Spiegel aus dem
Burgenland. Karl Panhans starb mit 52 Jahre, Julius
Spiegel wurde 42.
Vier von unvorstellbar vielen, die im letzten Furor
des „Tausendjährigen Reiches“ zu Tode kamen.
Waldsee wurde am 24. April 1945 von französischem Militär besetzt. Die Befreier waren so nahe.
Mord am Berg, Mord am Bach: Auf dem kurzen Stück des Todesmarsches im Bereich Waldsee gab es vier Tote. Eine Häftlingsgruppe, aus dem KZ von der
Schwäbischen Alb kommend, war am 22. April 1945 von Aulendorf her über die Biberacher Straße nach Waldsee hereingekommen und wurde dann Richtung
Haisterkirch getrieben. Vermutlich im Waldstück zwischen Waldsee und Haisterkirch – dem Tannenbühl – konnten sich drei Häftlinge absetzen. Offenbar
flohen sie Richtung Unterurbach und verbrachten die Nacht auf den 23. April in „Adlers Wäldele“ nahe des Urbachs. Am Morgen des 23. Aprils wurden zwei
der Flüchtigen am Urbach von deutschen Uniformierten ermordet. Zwei weitere Ermordete fand man am 2. Juni 1945 in einem Waldstück links der über den
Haidgauer Berg führenden Landstraße. Ob die am 22. April durch Waldsee getriebene Häftlingsgruppe zu den bis Mittenwald Marschierenden gehörte oder
ob sich der Zug östlich Waldsees auflöste, ist derzeit nicht bekannt.
Karte: Redaktionsbüro Reischmann (Kimmerle)
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GESCHICHTE
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Es wären fünf
Vier Tote von zig Tausenden. Menschen, die alle kurz vor Ende des
Schreckens, kurz vor ihrer Befreiung ihr Leben verloren. Warum?
Der Krieg war verloren, daran gab es zu Beginn
des Jahres 1945 keinen Zweifel mehr. Und dennoch wurde weiter gekämpft, weiter gemordet,
weiter zugeschaut und weiter erduldet. Unfassbar,
gerade weil das Ende, die Befreiung so nahe war.
Aber die Opfer waren zu schwach und die Täter zu
schuldig, beiden fehlte die Kraft, dem Schrecken
ein Ende zu setzen. So trieb man auf dem Rückzug im eigenen Land die malträtierten Gefangenen vor sich her, ermordete die zu Schwachen,
die nicht mehr weiter konnten, genauso wie die
zu Starken, die noch zu fliehen versuchten. Mord
war der tiefste und letzte Sinn eines Regimes, das
die Deutschen vergiftet hatte. Sie wurden „Täter,
Helfer, Trittbrettfahrer“ (Titel).
70 Jahre nach Kriegsende erscheint in der Reihe
der 4. Band, dessen Inhalt: „NS-Belastete aus Oberschwaben“. Es gibt sie noch die Zeitzeugen und
selbst von der „Tätergeneration“ leben noch welche. Es ist also gerade mal ein Menschenleben her,
dass die deutschen Konzentrationslager offenbarten, was Menschen Menschen antun können.
Bei der Buchvorstellung im Biberacher Museum
kam man beim Nachdenken über Fanatismus
schnell zum Islamischen Staat (IS), der aktuelle
Inbegriff der Unmenschlichkeit. Wir wenden uns
mit Schaudern ab. Entsetzt über die Brutalität
religiöser Fanatiker. Dabei ist die Bestialität der islamischen Halsabschneider nur „Kindergarten“ im
Vergleich dessen, was Deutsche Deutschen, Juden,
Sinti und Roma, Behinderten und anderen Minderheiten angetan haben. Nationalismus war die Religion der „Herrenmenschen“ und das Volk waren die
Gläubigen mit dem „richtigen Blut“. Ihnen gehörte
die Zukunft ohne Erbarmen, dafür war jedes Mittel
recht, auch der kalkulierte und gewollte Hungertod von Millionen Menschen bei der Eroberung des
„Lebensraums im Osten“.
Wolfgang Proske, Herausgeber und Verleger der
Reihe, stellt der Monstrosität der Verbrechen Menschen gegenüber, die in unterschiedlicher Intensität
unter den Tätern waren und mitwirkten, dass das
geschehen konnte, was die Sieger entdeckten, als
sie ins „Tausendjährige Reich“ vorstießen. Doch es
waren nicht nur die Mordstätten im Osten, wo sich
die Opfer zu Bergen häuften, sondern eben auch
viele kleine Orte des Grauens, wie das Konzentrationslager auf der Schwäbischen Alb, die in ihrer Vielzahl zum Terrorsystem gehörten, dem zuzugehören
die meisten Deutschen stolz waren. Schließlich war
die „Volksgemeinschaft“ eine Gemeinschaft von
„Herrenmenschen“, die sich über das „richtige Blut“
definierten, führt der Geschichtslehrer aus. Und die
vorrangige Erkenntnis der Täterforschung sei, dass
es in Deutschland „keine nazifreien Zonen“ gab,
auch nicht im tiefkatholischen Oberschwaben.
Mit seiner Täterforschung und Nuancierung, dass
die Täter viele Helfer brauchten, die wiederum
von vielen Trittbrettfahrern begleitet und gestützt
wurden, verstellt Proske alle Ausflüchte, die im
Nachkriegsdeutschland die herrschende Lehre war,
wonach es Hitler und eine Hand voll SS-Chargen
waren, die im „deutschen Namen“ Unheil anstifteten. Nichts davon stimmte, es war eine glatte Lüge.
Man kann sie als Lebenslüge der Tätergeneration
begreifen, die ihr den Aufbau und das Weiterleben
ermöglichte. Kulturamtsleiter Dr. Jörg Riedlbaur
brachte es auf den Punkt: „Auf das Aufhören folgte
das Aufatmen, auf das Aufatmen das Aufräumen,
dem Aufräumen das Erinnern. Aber gerade mit
dem Erinnern taten sich viele Deutsche von Anfang
an schwer, manche tun es noch heute.“
Es habe im Nationalsozialismus „keinerlei Immunität“ gegeben, behauptet der Historiker Proske.
Weder Glaube noch Bildung habe davor bewahrt,
sich als Teil der „Volksgemeinschaft“ zu fühlen und
„alles beginnt mit freiwilligen Entscheidungen“:
gleichgültig sein, wo andere diskriminiert werden;
Vorurteile pflegen, wo man es besser wissen müsste; den Zeitgeist kritiklos hinnehmen, um daran
teilzuhaben und „Dienst nach Vorschrift zu tun, wo
man Sand ins Getriebe streuen könnte“. Was seziert
der Wissenschaftler: die Geschichte oder die Gegenwart? Nicht, dass man es nicht wissen konnte,
ermöglichte das millionenfache Verbrechen, sondern weil man es nicht wissen wollte. Ein Problem
das fortdauert. Man betrachte nur die Apathie
trotz aller Informationsmöglichkeiten und –flut,
mit der wir uns in der Gegenwart einrichten.
Was bleibt zu tun, war deshalb die Frage unter den
Besuchern, um angesichts des Fanatismus in der
Welt zu verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt. Für Aufklärung, Bildung und Wissenschaft
plädierte der Hausherr Frank Brunecker. Wohlwissend, dass auch diese bürgerlichen Leuchttürme
nichts gegen den nationalsozialistischen Zivilisationsbruch ausrichten konnten, sondern sich genauso instrumentalisieren ließen wie die Kirchen
und das entwurzelte Prekariat. Schlimmer noch:
die Wissenschaft lieferte mit der Euthanasie das
theoretische Fundament für die „Endlösung“ und
deutsches Ingenieurwesen sorgte für modernstes
Kriegsgerät. Es waren Wissenschaftler, die bis zum
letzten Schuss an „Wunderwaffen“ forschten und
dabei billigend in Kauf nahmen, dass ein Heer von
Arbeitssklaven dabei jämmerlich krepierte.
August Schlachter war nicht Ingenieur, sondern
Architekt. 1901 in Barabein bei Biberach geboren, widmet Wolfgang Proske ihm ein Kapitel
„Der Ofenbauer von Auschwitz“. Proske zeichnet
anhand von Archivmaterial den Werdegang des
Oberschwaben nach, der 1933 NSDAP-Mitglied
wurde und zuletzt SS-Hauptsturmführer war.
Schlachter war von Mai 1940 bis September 1941
„Bauleiter des Konzentrationslagers Auschwitz,
und er hatte die baulichen Voraussetzungen dieser
ersten Auschwitzer Holocaustfabrik geschaffen“,
stellt Proske und sein Co-Autor Christian Rack fest.
Es folgten Einsätze quer durch den Kontinent. Im
Elsaß als Bauleiter im KZ Natzweiler-Struthof, das
sich vom Arbeits- zum Todeslager „entwickelte“,
wo auch medizinische Experimente durchgeführt
wurden. Die Bilanz: 22.000 Tote, ermordet und an
Hunger und Krankheiten gestorben. Im Dezember
1942 ging Schlachter nach Kiew, wo bis November
1943 120.000 bis 160.000 sowjetische Kriegsgefangene und Zivilisten, vor allem Juden, ermordet
wurden. Danach war der Architekt als Bauleiter im
KZ Mittelbau-Dora im Südharz eingesetzt, wo er
für die Erstellung von Stollen verantwortlich war.
Die Arbeit in den Stollen war mörderisch, nach vier
bis acht Wochen starben die meisten Häftlinge,
Ersatz kam aus dem KZ Buchenwald. „Vernichtung
durch Arbeit“ lautete das Programm.
Im Frühjahr 1945 verhafteten die Amerikaner
August Schlachter, der sich als ziviler Mitarbeiter
der Heeresverwaltung ausgab, woraufhin er frei
gelassen wurde. Der französischen Besatzung ging
er aus dem Weg, indem er sich die nächsten Jahre im Allgäu aufhielt, wo er als „Nichtbelasteter“
eingestuft wurde, nachdem er seine NSDAP- und
SS-Mitgliedschaft verschwiegen hatte. Auch die
Entnazifizierungsinstanzen in Riedlingen und Biberach kamen zum selben Ergebnis und entlasteten ihn sogar in Abwesenheit. Ab 1953 arbeitete
Schlachter wieder als Architekt in Biberach, er
„starb 1996 unbehelligt in Biberach“, enden die
Autoren. Eine Nazi-Karriere, die nahezu bruchlos
in die deutsche Nachkriegsgesellschaft überging.
Erinnern war nicht gewollt.
Umso wichtiger, dass nun 70 Jahre nach dem Todesmarsch der KZ-Häftlinge durch Waldsee auf
dieses Geschehen aufmerksam gemacht und den
vier Toten gedacht wird. Dazu gehört auch, dass
es fünf wären, wenn eine Familie nicht ihrer Moral, sondern der verordneten Pflicht gefolgt wäre
und den vollkommen erschöpften Flüchtling von
der Tür gewiesen hätte. Sie versteckten ihn, darauf stand die Todesstrafe. Am Ende ist es immer
die Moral und das Gewissen, die durch nichts zu
ersetzen sind, weder durch Religion noch durch
Wissenschaft und schon gar nicht durch Pflicht.
Das gilt immer.
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