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Vortrag Prof. Halbfas am 20.03.2015 – 3. Jahrestagung GFGR
Die GfGR und die Situation in der röm.-kath. Kirche
1. Das römische Rechtssystem
Dem evangelischen Verständnis der Freiheit eines Christenmenschen liegt die katholische
Situation sehr fern. Bereits der Codex von 1917 statuiert eine Rechtspflicht zu glauben,
was das kirchliche Lehramt als (unfehlbar) von Gott geoffenbart vorlegt. Die Neufassung
des CIC von 1983 erweitert diese Rechtspflicht mit der Bestimmung, auch für die nicht
definitiv von Papst oder Bischofskollegium verkündigten Lehren in Glaubens- und
Sittenfragen bestehe die gleiche Verbindlichkeit. Zwar gelte dafür kein
„Glaubensgehorsam“, wohl aber ein „religiöser Verstandes- und Willensgehorsam“, der
alles zu meiden verlange, was einer solchen Lehre nicht entspricht (can. 752). Der
verstorbene Kirchenrechtler Prof. Dr. Werner Böckenförde kommentierte diesen Canon
folgendermaßen:
Die Überlieferung des Glaubens vollzieht sich auf der rechtlichen Ebene nach dem Modell von
Gesetz/Befehl und Gehorsam. Mit der Veröffentlichung eines Dokuments im Amtsblatt beginnt die
Verpflichtung zur Annahme. Wie bei einem Gesetz wird mit dem Inkrafttreten Gehorsam verlangt …
In der neuen Formel für den Treueid wird der Rechtsgehorsam versprochen und so durch eidliches
Versprechen religiös abgestützt. Das zeigt sich auch in den Instruktionen der Kongregation für die
Glaubenslehre vom 24. Mai 1990 über die kirchliche Berufung der Theologen, welche die
Verpflichtung zur Bereitschaft ausspricht, „aufgrund des Glaubensgehorsams“ (auch nicht
dogmatisierte) Lehren des Lehramtes loyal anzunehmen.1
Böckenförde verbindet mit dieser Bestimmung die Frage, ob hier nicht die Grenze des
Rechts nach innen überschritten wird. „Gehorsam nach Art des dem Staat gegenüber
gebotenen Gesetzesgehorsams fordert Loyalität, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Die
Weitergabe von Glaubenslehren und kirchlichen Lehräußerungen kann jedoch nicht
gelingen, wenn sie nur (noch) aus Loyalität geschieht. Sie braucht Überzeugungskraft, und
diese setzt die innere Zustimmung zu den Lehren voraus, die es zu vermitteln gilt.“
Ein paar Jahre später, im Oktober 1998, hatte Böckenförde der KirchenVolksBewegung
"Wir sind Kirche" gesagt, der Ruf nach der Gleichheit aller Gläubigen, wie er nach dem
Zweiten Vatikanischen Konzil ermutigt wurde, habe durch die Neufassung des Kirchlichen
Gesetzbuchs CIC in can. 208 die Antwort erhalten, die "wahre" Gleichheit der Christen
bestehe in der Taufwürde. Dies sei eine Gleichheit, welche die Ungleichheit in der
Rechtsstellung, je nach Standeszugehörigkeit und Geschlecht, einschliesse. Der
Sehnsucht nach Freiheit und Verantwortung begegne der Codex jedoch durch die
Einforderung von Gehorsam, allein aufgrund formaler Autorität, unabhängig von Einsicht.
Die Laien würden nach wie vor die "hörende" Kirche bilden. In ihrer Rechtsgestalt
1
Norbert Lüdecke/Georg Bier, Freiheit und Gerechtigkeit in der Kirche. Gedenkschrift für Werner
Böckenförde. Forschungen zur Kirchenrechtswissenschaft, Band 37. Echter Verlag, Würzburg
2006, 162 f.
1
präsentiere sich die Kirche weiterhin als ein Ort sakral begründeter Herrschaft, in der
christliche Freiheit zu Gehorsam werde.
Von diesem Hintergrund her, der nie wegzudenken ist, kann es verständlich werden, dass
der „Gesellschaft für eine Glaubensreform“ katholische Theologen nicht zuströmen. Zwar
mag für den katholischen Laien das zitierte Kirchenrecht belanglos bleiben. Relevant ist es
bei solchen, die im kirchlichen Dienst stehen, also materiell Abhängigen als auch bei
Theologen an staatlichen Hochschulen, die zwar als Beamte auf Lebenszeit finanziell
gesichert sind, aber bei theologischer Abweichung mit dem Verlust ihres Lehrstuhls zu
rechnen haben.
Allerdings tut sich heute eine Kluft auf zwischen dem, was Rom verlangt und dem, was in
Lehre und Seelsorge praktisch geschieht. Theologen stehen in der Spannung,
wissenschaftlich gewonnene Einsichten, die der verbindlichen Lehre widersprechen, so
lange nicht zu publizieren oder nur mit gewundener Vorsicht zu vertreten, so lange sie
nicht emeritiert sind. In der Pfarrseelsorge fühlen sich oft Kleriker wie Laien im Gewissen
verpflichtet, die Ausführung römischer Befehle zu verweigern. Das wiederum tolerieren
viele Diözesanbischöfe, solange es nicht in der Zeitung steht oder zu Beschwerden führt.
Insgesamt lässt die aktuelle Situation einen Schwund universalkirchlicher Autorität
erkennen. Statt unbegründet Befohlenes gehorsam auszuführen, erinnern sich Gläubige
daran, dass es einmal Zeiten gab, in denen galt: "Die Salbung, die ihr von ihm empfangen
habt, also der Geist Christi, bleibt in euch, und ihr braucht euch von niemand belehren zu
lassen; ... bleibt in ihm" (nach 1 Joh 2,27). Für Rom hat sich nach dem letzten Konzil damit
die Frage verbunden: Änderung oder Verschärfung des Rechts? Ohne Rücksicht auf das
drohende kulturelle Abseits des Katholizismus wurde unter Papst Johannes Paul II. und
Benedikt XVI. mit Ingrimm das Programm "Jetzt erst recht!" gewählt.
Die Repräsentanten dieses hierarchischen Systems sind die Diözesanbischöfe, aber auch
sie stecken in Konflikten. Böckenförde beschreibt sie als Männer mit verschiedener
Einsicht und Einsichtsfähigkeit, auch divergierendem Weitblick. Sie seien häufig von
Ängsten geplagt und von der Frage bestimmt: Wie wirkt meine Äusserung auf die
Nachbarbischöfe, auf die Bischofskonferenz, auf den Vatikan? Es könne Bischöfe geben,
die sich in einem bestimmten Punkt vorgewagt haben und nun keinen neuen Konflikt
riskieren. Bei anderen Bischöfen fehle schlicht die Freiheit, mehr für die Beteiligung des
„Gottesvolks“ zu tun. Sie seien Bischöfe geworden, weil sie Rom nach strengen
Auswahlkriterien und durch den Treueid einmal die Gewähr ihrer "Linientreue" boten.
Böckenförde fragt jedoch, warum es den Bischöfen erspart werden solle zu zeigen, ob sie
die Gläubigen nur für Untergebene oder für ernst zu nehmende Gesprächspartnerinnen
und -partner halten. Dies beinhalte keinerlei Aggression. Es gehe vielmehr darum, das
Bewusstsein für die Notwendigkeit und Möglichkeit von mehr Partizipation zu stärken, und
dies nicht subversiv und an den Bischöfen vorbei, sondern sie fordernd und einbeziehend,
damit sie ihre eigenen Berührungsängste abbauen könnten.
Letzten Endes sollte man nicht meinen, es gäbe in der Hierarchie keine Angst, dass
irgendwann und unabwendbar mit einem Kollaps des Systems gerechnet werden müsse –
und sei es auf jene leise aber statistisch exakt ablesbare Weise, dass Kirchenaustritte die
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einstige Volkskirche auf ein Sektenformat reduzieren. Wenn es in Zürich vor fünfzig
Jahren noch 270 000 reformierte Christen gab, heute aber nur noch 90 000, wobei mit
weiteren 20 000 Kirchenaustritten bis zum Jahr 2030 zu rechnen sei, hebt sich auf
katholischer Ebene die Entwicklung nicht ganz anders ab: Im erzkatholischen
Olpe/Sauerland wurden 1960 in der Gemeinde St. Marien 61,6 Prozent sonntägliche
Kirchenbesucher gezählt; ebenfalls fünfzig Jahre später waren es nur noch 9,6 Prozent.
Man darf schließen, dass die fundamentalen Umschichtungen, die sich im
gesellschaftlichen Gefüge ereignen, weder von der katholischen noch von der
evangelischen Amtskirche hinreichend aufgearbeitet werden. Der tiefste Grund für den
rasanten Traditionsabbruch ist zweifellos ein Glaubensschwund, über den nachzudenken
Aufgabe aller urteilsfähigen Christen ist. Auch wenn es für Katholiken „Ungehorsam“
darstellt, der Frage nachzugehen, welcher Glaube seine Vermittelbarkeit einbüsst und
welcher Glaube den Menschen zu größerer Identität verhilft, so darf hier das Recht jedes
Christenmenschen in Anspruch genommen werden, in Umbruchzeiten, für die es keine
geschichtliche Parallele gibt, allein und mit anderen darüber nachzudenken, wie das
Evangelium Jesu neu zur Sprache kommen und verstanden werden kann.
2. Jesus und Paulus
In den zurückliegenden Jahren haben sich die katholischen Kritiker auf die römische
Kirchenstruktur konzentriert und damit die Frage nach dem Überleben des „Christentums“
ihrer Konfession verbunden. Was sie nicht in den Blick nahmen, war die fundamentale
Glaubenskrise, die sämtliche Mängel und Missstände des römischen Systems übersteigt,
denn diese Glaubenskrise betrifft die reformatorischen Kirchen und Gemeinschaften
ebenfalls. Überall schmilzt die Substanz der Tradition dahin. In beiden Konfessionen
leeren sich die Kirchen, erscheinen überflüssig, werden umgenutzt und verkauft. Die
Kirchenaustritte setzen sich fort auf hohem Niveau. Die evangelischen Zahlen übertreffen
die katholischen Zahlen und zeigen an, dass die Krise tiefer greift, als die katholischen
Kritiker annehmen. Die bayrische Landeskirche hat im vergangenen Jahr eine
dramatische Austrittswelle erlebt. Mehr als 30 500 Christen haben der evangelischlutherischen Kirche den Rücken gekehrt, eine Steigerung um mehr als 62 Prozent
gegenüber dem Vorjahr; da waren es „nur“ 18 800. Die katholischen Vergleichszahlen
liegen noch nicht vor, lassen aber eine ähnliche Tendenz erwarten. Selbst wenn der
beklagte römische Zentralismus überwunden würde, das Papsttum sein Macht- und
Wahrheitsmonopol aufgäbe, die klerikale Hierarchie sich mit synodalen Strukturen
verbände …, der tradierte Glaube hätte seine Krise immer noch ungelöst vor sich.
Aus diesem Grunde ist eine spezifisch katholische Kirchenkritik nicht fortzusetzen. Es geht
um ein Gesamtverständnis unserer Zeit. Die Abkehr vom christlichen Glauben, wie sie
sich in Europa vollzieht, erfährt noch keine angemessene Reflexion, weder in den Kirchen
noch in der Gesellschaft. Eine überzeugende Glaubensrevision aber lässt sich nur
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entwerfen, wenn man die Ursachen des Glaubens- und Kirchenverfalls aus Geschichte
und Gegenwart erkennt. Ich möchte auf eine Weichenstellung des Anfangs aufmerksam
machen, die sich heute so dramatisch auswirkt.
Alle christlichen Kirchen bekennen in ihren zentralen Formeln einen Glauben, in dem das
Leben Jesu und sein Reich-Gottes-Programm nicht vorkommt. Die
Glaubensbekenntnisse, wie sie gelehrt und gesprochen werden, ersetzen den historischen
Jesus – von seiner Kreuzigung abgesehen – durch Christusdeutungen. Dies ist eine
Paulus zu verdankende Verdrängung des historischen Jesus. Er hat Jesus zu dessen
Lebenszeit nicht gekannt. Hat sich offensichtlich auch nie bemüht, nähere Kenntnisse über
Jesus und seine Reich-Gottes-Botschaft zu gewinnen, obwohl er Petrus besuchte und
fünfzehn Tage bei ihm blieb (Gal 1,18). Vielleicht wollte er sich nicht in Abhängigkeit von
diesen Augen- und Ohrenzeugen begeben, weil er Wert darauf legte, „sein“ Evangelium
„nicht von einem Menschen übernommen und gelernt, sondern durch die Offenbarung
Jesu Christi empfangen“ zu haben (Gal 1,12). Jedenfalls überging Paulus alles, was Jesus
zu seinen Lebzeiten bewegte und lehrte. Gäbe es nur „sein Evangelium“, wie er es vertritt,
wäre für uns Jesus nicht einmal eine blasse Kontur: wir würden keine Gleichnisse kennen,
keine Bergpredigt, kein Vaterunser, keine Kenntnis von Jesu Leben und Verhalten haben.
Es ist darum falsch, immer nur von „dem“ Evangelium zu sprechen, statt das Evangelium
Jesu und das inhaltlich ganz andere Evangelium des Paulus zu unterscheiden. Würden
wir diese Unterscheidung deutlich bewusst machen, wäre die fällige Glaubensreform
bereits zu einem guten Teil geleistet.
Was Jesus interessierte, ist eine Lebensordnung, die er als „Herrschaft Gottes“ oder
„Reich Gottes“ verstand: keine jenseitige Welt, sondern eine Lebensweise in der Welt der
Menschen. Er schrieb in den Alltag dessen göttliche Bestimmung hinein. Jesu Evangelium
ist im eigentlichen Sinne keine Lehre sondern ein Lebensmodus, der seine
Überzeugungskraft aus sich selbst besitzt. Die Wahrheit eines Christentums, das der
Reich-Gottes-Verkündigung Jesu folgt, muss nicht geglaubt, nicht bewiesen und nicht
verteidigt werden. Sich auf sie einzulassen, verlangt kein Verstandesopfer sondern
Sensibilität, Mitmenschlichkeit und Mitgefühl für alles Leben. Das Christentum, das sich in
dieser Rückbesinnung auf das Evangelium Jesu zu sich selbst bekehrt, ist eine Größe, die
sich heute noch nicht kennt.
Wir dürfen dieses Evangelium nicht auf seine kirchliche Engführung begrenzen. Das
Evangelium Jesu untersteht keiner Verwaltung. Es bahnt sich seinen eigenen Weg über
die christlichen Kirchen hinaus. Es wirkte im Programm der französischen Revolution
„Freiheit - Gleichheit - Brüderlichkeit“ oder in der Erklärung der Menschenrechte. Es setzt
sich fort in der Sozialgesetzgebung der europäischen Staaten; im Internationalen Roten
Kreuz; in Organisationen wie Amnesty International, Attac, Ärzte ohne Grenzen als auch in
den Zielen von Greenpeace oder dem World Wide Fund For Nature (WWF).
Das Evangelium zielt auf weltliche Werte: auf Menschenrechte, Ehrfurcht vor der Natur
und dem Leben, soziale Gerechtigkeit, die Würde der Frau, Wahrhaftigkeit … Auch wenn
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die christlichen Kirchen weitgehend mit sich selbst beschäftigt sind, die von den Propheten
Israels und dem Reich-Gottes-Programm Jesu angestoßene Bewegung bleibt Salz der
Erde und Licht der Welt. Dieser Anstoß ist nicht an die Kirche gebunden. Er geht von
prophetischen und dienenden Menschen aus. Ihr Handeln und ihr Wort kündet Gott in der
Wirklichkeit der Welt. Man muss nur wissen, welche Wirklichkeit „Gott“ meint.
Bei Paulus jedoch erfährt das Wort Evangelium eine vollständige
Bedeutungsverschiebung. An die Stelle der Reich-Gottes-Botschaft Jesu tritt die
Verkündigung des Gekreuzigten und Auferstandenen und das damit verbundene „Heil“.
Somit unterscheidet sich das Evangelium Jesu wesentlich von der Jesus-Interpretation
des Paulus. Die geschichtliche Entwicklung folgte dem Weg des Paulus. Während das
Denken Jesu davon bestimmt war, dass Gott einem jeden Menschen unmittelbar ist,
beansprucht Paulus den Tod Jesu als Sühneleistung, deutet entsprechend das
Mahlverständnis Jesu um und begründet im Fortgang dieser Entwicklung das heutige
Kirchenverständnis.
Die sich daraus entfaltende Christologie beherrscht das Apostolische
Glaubensbekenntnis, in dem der historische Jesus von Nazaret fehlt. Dieses „Loch“ im
Credo setzt sich im theologischen System fort, wird aber kaum als Defizit empfunden.
Aber solange die Christenheit Jesus in der Interpretation des Paulus sieht, entfernen sich
modernes Denken und paulinischer Glaube voneinander - mit der Konsequenz
weiterwirkender Missdeutung des Christlichen und entsprechender Distanzierung.
3.
Welches Christentum?
Vor jeder dogmatischen Einzelproblematik steht also die weiterreichende Frage: Welches
Christentum haben wir, für welches engagieren wir uns? Die Umprägung der ReichGottes-Botschaft Jesu in die paulinische Sühnetheologie hat – wahrscheinlich
unvermeidlich – den jüdischen Anfang in hellenistische Denkmuster übersetzt. Es ist die
erste „Übersetzung“, der viele weitere gefolgt sind: Nicht minder verzeichnend wirkte sich
die Konstantinische Wende aus, deren Herrschaftstheologie sich bis heute in der
Hierarchie der Römischen Kirche abbildet und die, gemessen am jesuanischen
Programm, bereits massiv häretisch genannt werden kann. Unter Karl dem Großen
gewann die römische Ordnung neue Räume und Völker. Die fränkisch-germanische
Annahme des Christengottes war eine weitere Transformation. Sie war davon bestimmt,
dass der Christengott sich stärker erwies als andere Götter, ein für die politische Führung
ausschlaggebender Aspekt. So gelangte das Christentum vor allem über die
Herrenschicht ins Volk. Reich-Gottes-Evangelium, Bergpredigt und Liebesgebot waren
Fußnoten in diesem Christentum.
Im Rückblick zeigt sich, dass wir den meisten „Übersetzungen“ des Christentums
entwachsen sind. Wenn die Dichter der deutschen Klassik bereits ihre religiöse (meist
pietistische) Herkunft hinter den Metaphern des griechischen Mythos versteckten,
Nietzsche zu einer Zeit, als andere noch blind waren, die Agonie der nicht mehr tragenden
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Glaubensbegründungen erfasste, das kirchliche Christentum seitdem immer weniger die
Gesellschaft prägt, so geht es heute nicht mehr um die Kritik einzelner dogmatischer
Komplexe, sondern um eine Neubestimmung des Christentums insgesamt.
4.
Aber nicht nur die Theologie sondern auch die Struktur unserer Kirchen ist zu bedenken.
Die Vermittlung des Glaubens ist wesentlich daran gebunden. Für die katholische Kirche
bestimmt, wie ich eingangs darlegen konnte, eine klerikale Hierarchie diese
Glaubensbestimmung und Glaubensvermittlung. Allerdings scheint in Europa das Ende
der Priesterkirche unaufhaltsam näher zu kommen, weil ihr der Nachwuchs ausbleibt. Die
Zahlen der Welt- und Ordenspriester befinden sich in den letzten Jahrzehnten in stetem
Rückgang. Das Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz kommentierte: „ Gegenüber
der bisherigen Seelsorgestruktur und im Blick auf die Pfarreienlandschaft hat diese
Entwicklung gravierende Veränderungen zur Folge. Auf die Zukunft hin rücken damit die
anderen Mitarbeiter(innen)gruppen stärker ins Blickfeld.“
Soziologisch ist also klar, wohin die Reise geht. Die Klerikerkirche bewegt sich in Europa
ihrem Ende entgegen. Es lässt sich allenfalls darüber streiten, ob dieses Ende erst erreicht
ist, wenn sich der schrumpfende Klerus nur noch selbst verwaltet, oder bereits in einer
Zwischenstufe, wenn in den derzeit entstehenden neuen „Seelsorgeeinheiten“ lediglich die
Hauptpfarreien noch besetzt werden können.
Derzeit versucht man, durch Zusammenlegung von Gemeinden den Priestermangel
administrativ zu „aufzufangen“. Die Größe des Seelsorgeraumes wird der je verfügbaren
Priesterzahl angepasst: ein „Versorgungskonzept“ – unbeirrt auf dem Hintergrund des
traditionellen priesterzentrierten Kirchenbildes. Aber der Pfarrer hört auf, Seelsorger der
Gläubigen in den Gemeinden zu sein, er ist nun Manager eines pastoralen Megaraumes
und darin vor allem für ehren- und hauptamtliches Personal verantwortlich. „Aus
personbezogenem Seelsorgetreiben wird organisationsbezogene Pastoralbetriebsamkeit“
(Paul M. Zulehner). Mit diesen ausgreifenden Raumstrukturen entfernt sich die Kirche vom
alltäglichen Leben der Menschen, zumal eine nachgehende Seelsorge, die aus der Nähe
zu den Menschen gedeiht, seitens der Priesterschaft nicht mehr möglich ist. Für kranke,
alte und der Zuwendung bedürftige Menschen wird der Klerus ausfallen. Aber Seelsorge
verlangt die Begleitung in gesunden und kranken Tagen, das Gespräch mit Kindern und
Heranwachsenden, mit glücklichen und unglücklichen Menschen. Mit dem Ende dieser
Begleitung hört die Priesterschaft auf, im Lande verwurzelt zu sein. Der Rückzug der
Kirche aus der Fläche forciert – zusätzlich zum Auslaufmodell „Volkskirche“ – den aus
anderen Problemkreisen gespeisten Verfallsprozess der Gemeinden, und dies um so
mehr und heftiger, als die bisherige Abhängigkeit vom Priester keine eigenständige
Laienkompetenz und Verantwortung entstehen ließ und vom Kirchenrechts auch nicht
eingeräumt wird.
Will man die heutige Krise nicht als Erschöpfung und Abbruch hinnehmen, sondern als
Chance zu einem neuen Aufbruch werten, liegen im derzeitigen Mangel zugleich die
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Voraussetzungen für eine vitalere Zukunft, die nicht in einer Kirche sakramentaler
Versorgung besteht, sondern in Gemeinden, die das Schema Priester-Laie hinter sich
lassen und sich in breiterer Verantwortlichkeit auf den Weg nach vorne machen.
Im französischen Bistum Poitiers wird/wurde (?) auf das Potential der Laien gesetzt, auf
ihre Ideen und Möglichkeiten, miteinander Kirche entwickeln zu können. Nicht der
Priestermangel liefert hier die Begründung für den neuen Weg, sondern der Wille,
Gemeinden auf der Grundlage der Initiationssakramente zu entwickeln. Das ist die
Grundentscheidung.
Der Bischof von Poitiers, Albert Rouet, fragt: „Warum sollte es bei einer kirchlichen
Funktionsweise bleiben, die unmöglich aufrechtzuerhalten ist? Trotz aller Mahnungen und
Notfallmaßnahmen gelangt das Modell Pfarrei an die Grenzen seiner Möglichkeiten. Wenn
man befürchtet, dass die Laien nicht zum pastoralen Handeln fähig sind, warum firmt man
sie dann? Sollten sie Unmündige in der Kirche bleiben?“
Das Modell Pfarrgemeinde wird hier aufgegeben, d.h. die Gemeinde definiert sich nicht
mehr vom Pfarrer her. Der Bischof beruft sich auch nicht auf den Kanon 517 § 2 des
kirchlichen Gesetzbuches, nach dem Laien an der Verantwortung für die Pastoral beteiligt
werden können. „Diese Erlaubnis führt in eine Sackgasse … Um die Strukturen von
gestern beizubehalten, ist man zu allen Tricks bereit.“
Im Poitou sind für eine örtliche Gemeinde fünf Verantwortliche Bedingung. Zur Aufgabe
dieser Equipe gehört die Verantwortung für den (überwiegend priesterlosen) Gottesdienst,
die Sorge für Alte, Kranke und Hilfsbedürftige; die Katechese für Kinder, Jugendliche und
Erwachsene; alles, was eine lebendige Gemeinde konstituiert …, bis zur Gestaltung von
Begräbnisfeiern. Keineswegs sollen jedoch die fünf Verantwortlichen das alles selbst tun;
sie können andere Menschen, die dazu geeignet sind, dafür suchen. Die örtliche
Gemeinde ist auch nicht an die Umschreibung der bisherigen Pfarrgemeinden gebunden.
Sie kann kleiner wie größer sein. „Die neuen Gemeinden werden nicht gebildet, um
fehlende Priester zu ersetzen, sondern um alle in die Verantwortung einzubinden.“
In zwölf Jahren pastoraler Arbeit sind im Erzbistum Poitiers mehr als dreihundert örtliche
Gemeinden neu entstanden. „Das Empfinden von Schwäche und Schwund, das bis dahin
geherrscht hat, nimmt ab. Spürbar lebt die Hoffnung auf. Die Menschen wandeln sich
durch die Ausübung ihrer Aufgaben.“
„Daher muss man zulassen“, erklärt Erzbischof Rouet, „dass die Festlegung des Gebiets
einer Gemeinde nicht einfach auf dem Verwaltungsweg erfolgt, sondern sich aus der
Geschichte einer betroffenen Bevölkerung ergibt, die gerufen ist, sich durch eigene
Gremien an der Festlegung zu beteiligen … Worauf es grundlegend ankommt, ist der
Übergang vom Helfen zur Übernahme von Verantwortung.“ Das bedeutet zugleich:
Bischof und Pfarrer verzichten darauf, kraft Amtes zu bestimmen, wo es lang geht.
„Man muss nicht mehr auf bessere Zeiten warten, sondern man kann das christliche
Leben an einem bestimmten Ort selbst in die Hand nehmen … Der Priester steht nicht
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mehr im Zentrum dessen was möglich ist, sondern der Gemeinde gegenüber als
derjenige, der bestärkt (zuweilen auch tröstet) und unterstützt“
Wenn der Priester für die örtlichen Gemeinden nur noch bedingt verfügbar ist, kommt es
zu Entscheidungen, die den stets als unverzichtbar gesetzten deutschen
Ausgangsbedingungen entgegenstehen: In jeder örtlichen Gemeinde wird jeden Sonntag
Gottesdienst gefeiert. Die Dorfkirche bleibt nicht geschlossen mit dem Hinweis, die
nächste Heilige Messe finde zehn Kilometer entfernt statt. Die Kirchengemeinde bleibt vor
Ort. „Wir haben in der Basisequipe [dem örtlichen Gemeindeteam] lange diskutiert und
kamen zu dem Ergebnis, dass wir mit unseren sonntäglichen Versammlungen zum Gebet
ein sichtbares Zeichen für unsere Gemeinden darstellten …“
Bei solchen Entscheidungen bleibt es nicht aus, dass die alte Furcht vor Demokratie in der
Kirche wieder aufkommt. „Sagen wir es in aller Klarheit, hier geht es um Macht“, sagt
Bischof Rouet. Diese Position will er dem Pfarrer nicht weiterhin zuschreiben.
Die Abschaffung des Pfarrers in Poitiers unter Erzbischof Rouet hat jedoch kein anderes
Bistum übernommen, auch wenn sich manche auf Poitiers berufen. Und doch ist diese
Abschaffung der entscheidende Punkt, weil sonst die Laien nur Gehilfen bleiben. Rom hat
dem Nachfolger Rouets 2012 natürlich sofort verpflichtet, die secteurs kirchenrechtlich als
Pfarreien zu konstituieren. So dass doch wieder ein Priester der Chef jeder Einheit ist.
Aber der emeritierte Erzbischof Albert Rouet ist zuversichtlich, dass sich die Entwicklung
nicht zurückdrehen lässt, dass die Christen in Poitiers „schon zu viel leben und verstehen
von dem heiligen Potential, das in ihnen atmet“.
5.
Priestertum ohne Priesteramt. Die protestantische Situation
Eigentlich hätte es den reformatorischen Kirchen angestanden, ein Gemeindemodell zu
entwickeln, wie es im Bistum Poitiers entstand. Das würde die katholische Situation
ungemein inspirieren und herausfordern. Doch leider blieb es hier bis heute bei einer
Pastorenkirche. Das Verständnis Luthers, es gebe keinerlei geistliche Differenz zwischen
Priestern und Laien mehr, könnte freilich zu der Annahme verleiten, im reformatorischen
Spektrum diese Situation bereits vorzufinden. Dem widerspricht allerdings der Befund,
auch die evangelische Kirche ist eine Klerikerkirche. Bei Manfred Josuttis lese ich:
Der protestantische Pfarrer ist eine merkwürdige Zwitterfigur. Der Ausbildung und
Amtstracht nach tritt er auf als Gelehrter. Durch die Art seiner Dienstleistungen
gehört er in die Reihe der Priester. In seinem theologischen Selbstverständnis
möchte er am liebsten als Prophet agieren. Und die meiste Zeit verbringt er
wahrscheinlich damit, die Rollen des kirchlichen Verwaltungsbeamten und des
gemeindlichen Freizeitanimateurs zu spielen.
In diesem widersprüchlichen Bild, aus dem kein Pfarrer ohne weiteres herausspringen
kann, lässt sich die reformatorische Bestimmung des Amtes nicht wiederfinden.
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Tatsächlich sind in der Vergangenheit je nach Zeitumständen immer wieder andere
Momente im evangelischen Amtsverständnis dominant geworden – ohne Reflexion einer
theologischen Legitimation. Um mir nicht selbst zuviel kritische Provokation
herauszunehmen, will ich Michael Weinrich zitieren:
Statt im Gefälle der reformatorischen Kritik am Priesteramt eine
Entmythologisierung des Pfarrers anzustreben, kompensieren viele evangelische
Pfarrer - besonders in einer Diasporasituation gegenüber der katholischen Kirche –
ihre durchaus benannten, aber nicht theologisch kritisch aufgearbeiteten
kirchlichen Minderwertigkeitskomplexe in einem zwanghaft pfäffischen Habitus ...
Den reformatorischen Kirchen scheint selbst nicht mehr präsent zu sein, dass die
Substanz der reformatorischen Kritik in der Kritik an der Kirche als sakramentaler
Heilsvermittlerin lag. Längst liebäugeln sie öffentlich mit Amtswürden und
Hierarchie, dem Kreuz auf der Brust und strenger würdiger Demutsgestik, ja, mit
missverständlichem „Geheimnis“-Vokabular und Amtskragen ...
Die Zeiten haben sich geändert: heute werden die verhinderten protestantischen
Priester vor allem der Ersten Welt von einer biblisch orientierten katholischen
Theologie des Volkes in Lateinamerika beschämt.
Ein Impulspapier der EKD von 2006, „Kirche der Freiheit“, nennt als zentrale Kompetenz,
um den „Schlüsselberuf der evangelischen Kirche“ aus seiner „geistlichen und mentalen
Orientierungskrise“ zu führen, „theologische Urteilsfähigkeit und geistliche Präsenz“. Doch
gibt es erhebliche Spannungen innerhalb der Kompetenzbeschreibung des Berufs.
Einerseits soll der Pfarrer im Sinne der traditionellen „Betreuungskirche“ die Gemeinde
„versorgen“. Andererseits soll sich eine Beteiligungskirche entwickeln, die ihr
Glaubensleben mehr oder weniger selbst organisiert. So etwa entwirft das genannte
Impulspapier der EKD die Vision, dass im Jahr 2030 zwei Drittel aller Predigten in
deutschen evangelischen Gemeinden nicht von Pfarrern, sondern von Lektoren und
Prädikanten gehalten werden. Nichtlutherische Mitgliedskirchen diskutieren, ob diese auch
das Abendmahl leiten dürfen – was angesichts des flämischen Dominikaners Edward
Schillebeeckx, der schon viel früher der Ansicht war, katholische Kirchengemeinden hätten
das Recht, Laien mit der Leitung der Eucharistiefeier zu beauftragen, eine für die
evangelische „Kirche der Freiheit“ eher ängstliche Fragestellung ist.
Es gibt ungeklärte Problembestände: Man hält an der Ordination des Pfarrers fest, doch
soll damit keine ontologische Heraushebung des Amtsträgers durch den Weiheordo
erfolgen. Daneben freilich liest man in einer Publikation der Rheinischen Kirchenleitung
(2009) von einer „göttlichen Stiftung des Amtes“, die in der katholischen Kirche
überbewertet, in der evangelischen Kirche aber unterbewertet werde. Der göttlichsakramentale Stiftungscharakter des Amtes soll demnach nicht „unevangelisch“ sein.
Beim Besuch evangelischer Kirchen fällt mir auf, dass hier manches auf einem
überalterten Ausdruck verharrt. Während seit dem letzten Konzil die katholischen Kirchen
den Altar weiter in die Gemeinde gerückt haben, die Bischofskirchen ihn sogar zentral in
die Vierung stellen, sodass die Gemeinde ihm von drei Seiten umgibt, hat er in den
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meisten evangelischen Kirchen seine vorreformatorische Position an der Ostwand des
Chores behalten, einschließlich dem obligaten grünem Kanzel- und Altarvorhang.
Da die evangelische Kirche in ihrer Theologie, zumal der historisch-kritischen Exegese
über zweihundert Jahre Pionierarbeit geleistet hat, insgesamt aus ihren reformatorischen
Verständnis eine viel größere Gestaltungsfreiheit für Gottesdienste beanspruchen und
unbekümmerter neue Gemeindemodelle experimentell erproben könnte …, finde ich, dass
sie ihre freieren Möglichkeiten nicht genutzt hat, eine Pastorenkirche geblieben ist, anstatt
die katholische Tradition nach vorne zu locken.
6.
Was folgt aus alledem für unser Selbstverständnis und unsere Arbeit in der GfGR? Ich
zähle abschließend einige Aspekte auf, mehr aphoristisch aber doch anregend:
a. Eine Glaubensreform, die unsere Gesellschaft anstrebt, lässt sich nicht durch
theologische Arbeit alleine bewirken. Ein wesentlicher Anstoß kann vom Gottesdienst
ausgehen. Dafür ist die heutige Tagung ein Anlass, das zentrale Thema Gott und
Gebet zu reflektieren und vielleicht auch, erste Schritte zu meditativen Elementen im
Gemeindegottesdienst zu tun. Es wäre sehr viel gewonnen, wenn wir Menschen
heranbilden könnten, die in der Lage sind, eine Gemeinde anzuleiten, die Meditation
der Stille zu üben.
b. Gewiss besitzt das Christentum eine mystische Tradition, doch ist sie peripher
geblieben, wurde einer diskursiven Theologie untergeordnet und hat keine soziale
Gestaltung gefunden. In der Mystik geht es weder um Begriff und System, noch um
Wissen und Anspruch als um einen Erfahrungshintergrund, ohne den jede
Glaubenslehre taubes Stroh ist. Noch vielmehr: Es geht um die Zurücknahme des Ich,
damit jene tieferen Erfahrungsebenen auftauchen können, welche die normale IchAktivität verdeckt. Denn das Ich mit seinen bisher absolvierten Bewusstseinsebenen –
der erstaunliche Weg der Evolution des menschlichen Geistes – ist zugleich ein
Schleier, der die tiefere Identität des Menschen verdeckt.
c. Man wird nicht erwarten können, dass sich kirchliche Gottesdienste regulär mit
Meditationsübungen verbinden, aber wünschens- und fördernswert ist es, dass es
zunehmend mehr Meditationslehrer unter Theologen und Pfarrern gibt, deren Einfluss
zu einer deutlichen Veränderung des spirituellen Milieus in den Kirchen führt. Wenn es
denn so ist, wie der in diesem Zusammenhang unaufhörlich zitierte Karl Rahner
meinte, dass die Überlebenschance des Christentums an seiner Wiederentdeckung
der Mystik hänge, und diese die „Religiosität der Zukunft“ sei, „… weil die Frömmigkeit
von morgen nicht mehr durch die … öffentliche Überzeugung und religiöse Sitte aller
mitgetragen wird, die bisher übliche religiöse Erfahrung also nur noch eine sehr
sekundäre Dressur für das religiös Institutionelle sein kann“, kommt alles darauf an,
der meditativen Praxis im kirchlichen Milieu Raum zu geben.
d. Das freilich würde vieles verändern: Ämter und Titel, Kleiderordnung und
Repräsentanz, Darstellung von Autorität und Macht, Anspruch auf Kontrolle und
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Unterwerfung. Denn wenn es in der Meditation um die Zurücknahme des Ich geht, um
die Öffnung des Bewusstseins in eine tiefere Dimension, dann relativieren sich alle
anderen Bedeutungen. Dann verwandelt sich auch das christliche Selbstverständnis:
Symbole und Bilder erschließen sich in einer neuen Leuchtkraft, das
Glaubensverständnis vertieft sich. Es ereignet sich eine Bewusstseinserweiterung, in
der Konfessionen und Religionen nicht gegeneinander abgeschottet sind, sondern
transparent werden für die hinter ihnen liegende Ebene, die gewöhnlich eine kulturell
bedingte Interpretation überdeckt. Und es geschieht eine Schwerpunktverlagerung von
der Formel, dem dogmatischen Ausdruck, der kontrollierten Orthodoxie zu einer
eigenen spirituellen Lebendigkeit hin.
e. Nach meiner bisherigen Wahrnehmung ist nicht zu unterstellen, dass die Mitglieder der
GfGR auf einem gemeinsamen Niveau in ihrem Glaubensverständnis stehen. Das
muss auch nicht der Fall sein. Je nach Alter, Vorerfahrung, Kultur und Bildung sind
divergierende Formen im christlichen Glaubensverständnis selbstverständlich. Aber
ein Nenner für Übereinstimmung und Gemeinsamkeit kann in gottesdienstlichen
Formen gewonnen werden.
f.
Dennoch ist eine sprachliche Bildung für alle – im Kirchenvolk und außerhalb –
anzustreben. Carl Gustav Jung hat einmal gesagt: „Religion ist ein System, das uns
vor der Erfahrung Gottes bewahrt.“ Er meint, dass die Metaphern und Symbole der
religiösen Sprache, auf historische Faktizität reduziert, existentiell belanglos werden.
Selbst wenn sich der biblische Exodus aus Ägypten mit einem faktischen Ereigniskern
verbindet; hinter der Gestalt des Mose eine historische Erinnerung steht, sei sie
erreichbar oder nicht: diese Texte sind in ihrem historischen Anteil kein Gegenstand
des Glaubens. Als mythische Traditionen sind sie gültig und wahr. Sie haben eine
Wirkungsgeschichte, die Kulturen und Religionen gestaltet hat, revolutionäre
Aufbrüche inspiriert und immer noch in die Zukunft reicht.
g. Wichtiger als eine Reform dogmatischer Komplexe erscheint mir die Konkretisierung
des Evangeliums Jesu im Kontext der Gegenwart. Dafür ist auch viel kultureller Schutt
abzutragen. Die schärfste und (zumindest 1959 noch) verwirrende Kritik des
allgemeinen Jesus-Kitsches hat Günter Grass mit seiner „Blechtrommel“ vorgetragen.
„Der Gips-Jesus ist unbrauchbar geworden … Echte Jesus-Nachfolge kann sich heute
gar nicht mehr anders vollziehen als im Bruch mit dem Klischee frommer JesusNachfolge.“ Doch treibt dieser Roman – wie andere, die ihm gefolgt sind – nur
strategisch Blasphemie, um der Zerschlagung falscher Jesusbilder willen. Wir ahnen
gar nicht, wie weit der Kitsch in Gebeten, Liedern, Bildern, Kulturformen … die Distanz
zum Christentum gefördert hat. Auf diesem Gebiet herrscht zu geringe
Aufmerksamkeit und Bildung. Auch könnte die moderne Lyrik der gottesdienstlichen
Sprache wieder Sensibilität und Kraft geben. Wenn Christine Lavant mit Gott hadert,
Marie Luise Kaschnitz klagt: Die Sprache, die einmal ausschwang, Dich zu loben /
Zieht sich zusammen, singt nicht mehr / In unserem Essigmund“, Rose Ausländer
zürnt: „Vater unser / nimm zurück deinen Namen / wir wagen nicht / Kinder zu sein …“
oder die holländische Jüdin Esther Hillesum 1942 in einem Sonntagmorgengebet
erkennt: „Dies eine wird mir immer deutlicher: dass du uns nicht helfen kannst,
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sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst.
Es ist das einzige, auf das es ankommt: ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott.
… Und mit fast jedem Herzschlag wird mir klarer, dass du uns nicht helfen kannst,
sondern dass wir dir helfen müssen und deinen Wohnsitz in unserem Inneren bis zum
Letzten verteidigen müssen“ …, wenn Menschen unserer Zeit so denken und zweifeln,
dürfen die Texte des Gottesdienstes nicht weiterhin sprechen wie vor hundert,
fünfhundert und tausend Jahren. Andere Texte, eine andere Sprache im Gottesdienst
vermittelt mehr waches Fragen und Offenheit, stimuliert ehrliche Theologie anstelle
konventioneller Formeln. Wenn unsere Gottesdienste Gläubige, Fragende, Zweifler,
Nichtmehrgläubige, Agnostiker, Atheisten im je Gesagten berücksichtigen würden,
denn jeder einzelne ist heute all diese zusammen, würde das Verständnis des
Evangeliums Jesu schrittweise aus dem kirchlichen Gatter in die Auseinandersetzung
mit der eigenen Zeit führen.
h. Auch das Wort Gott meint kein Faktum. Ein Faktum ist ein Objekt in Raum und Zeit.
Das Wort Gott verweist auf ein Unverfügbares jenseits alles Denkbaren und
Benennbaren, wobei die Sprache gegenüber dieser Transzendenz scheitert. „Das
Transzendente ist in unserem Gott dasselbe wie in uns selbst. Ist unser Gott
durchlässig für die Transzendenz, so sind wir eins mit dem, was wir Gott nennen. Das
Gottesbild führt uns also unserer eigenen Transzendenz zu“ (Joseph Campbell).
i.
Evangelische und katholische Kirche stehen sich nicht wie zwei monolithische Blöcke
gegenüber. Ich habe für meine Theologie mehr kritische Impulse und Korrekturen von
der evangelischen Theologie empfangen als von katholischer Seite, sehe aber auch,
dass die katholische Tradition aus ihrem Wurzelgrund dem evangelischen
Kirchenleben in mancherlei steifer Kargheit belebende Impulse für mehr sinnenhafte
Gottesdienste geben kann.
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