Isabell Trautmann, Schwalbach hr2-kultur Morgenfeier am Sonntag, 07.06.2015 Familienbande „Familienbande“ - so heißt ein Spiel, bei dem ich punkte, wenn ich mich gut in die Mitspielerinnen hinein versetzen kann. Es soll Menschen erheitern, die ihr Alltagsleben teilen – wie eine Familie. Eine Situation wird beschrieben – etwa: die Sicherung ist gefallen und es ist dunkel. Die Frage: „Was mache ich als nächstes?“ muss ich dann zum Beispiel aus der Sicht meiner Tochter beantworten. Es gibt mehrere Wahlmöglichkeiten von „Meinem Bruder kräftig gegen das Schienenbein treten!“ bis „Die Sicherung suchen und wieder reindrücken.“ Je nach allgemeiner Stimmungswetterlage der Spielpartner und der Brisanz der Frage ist es sehr lustig, die Beobachtungen zu vergleichen – oder es führt zu großer Verärgerung. Letztendlich geht es bei diesem Spiel darum, wie mich die Anderen sehen. Welches Bild haben sie von mir und welche Erwartungen haben sie an mich? Von den Menschen, die mir am nächsten stehen, möchte ich angenommen sein – mit meinen Stärken und Schwächen, mit meinen Eigenheiten und Wünschen. Ich möchte angenommen sein – so wie ich bin. Ich möchte das Gefühl haben, dazu zu gehören. Besonders für junge Menschen ist es auch wichtig, dass ihre Begabungen gesehen, geschätzt und - wenn möglich - gefördert werden. Wenn das in der Familie gelingt, ist das sehr schön und eine große Kraftquelle. Und umgekehrt: In der Familie abgelehnt zu werden, tut besonders weh und zermürbt manche Menschen ein Leben lang. Enge Bande sind oft mit hohen Erwartungen verknüpft. Wer bestimmt eigentlich in einer Familie, wer dazugehört und wer nicht? Zu wem fühle ich mich zugehörig und warum? Musik 1: Brillant classics 94777, Carl Philipp Emanuel Bach, Berliner Symphonie in Es-Dur Wq 179, II. Larghetto, Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach, Hartmut Haenchen Berlin Symphonies Fast alle von uns sind in Familien aufgewachsen und viele leben in Familien. Manchmal geht es uns in unserer Familie besser, manchmal schlechter. Es gibt Familienmitglieder denen wir uns sehr verbunden fühlen und andere, denen wir nicht so nahe stehen. Und wie überall, wo unterschiedliche Menschen zusammen sind, gibt es auch Spannungen auszuhalten. Davon blieb nicht einmal die Heilige Familie verschont. Spuren dieser Spannungen finden sich im Evangelium, obwohl die Bibel wenig vom Zusammenleben in der Familie Jesu erzählt. Aber beim Evangelisten Markus ist doch einmal von den Verwandten Jesu die Rede – und da geht es nicht sehr harmonisch zu. Zuerst erzählt Markus vom anstrengenden Leben Jesu als Wanderprediger: Er zieht umher und heilt viele Menschen. Weil er auch am Sabbat arbeitet und mit unreinen Menschen zu tun hat, bricht er immer wieder die Gesetze. Er fällt auf und erregt Ärgernis. Jesus hat so viel zu tun, dass ihm keine Zeit mehr zum Essen bleibt. Eines Tages umringen ihn wieder unzählige Menschen in einem Haus. Das ruft seine engsten Verwandten auf den Plan. Sie sind davon überzeugt: Wer so unstet ist, so viel arbeitet und so ungesund lebt, der spinnt. Also machen sie sich auf den Weg, um Jesus zu ergreifen. Sie wollen ihn mit Gewalt dahin zurückholen, wohin Menschen zu Jesu Zeiten gehörten, wenn sie aus ihrer Rolle fielen, wenn sie „verrückt“ waren: nach Hause in die Obhut der Familie. Damals war es üblich, Geisteskranke in der Familie zu pflegen. Seine Mutter Maria steht also jetzt mit Jesu Brüdern vor der Tür des überfüllten Hauses und will ihn abholen. Sie kann aber nicht bis zu ihm vordringen. Die Menge versperrt ihr den Weg. Sie muss draußen bleiben. Maria versucht, Jesus herausrufen zu lassen: „Deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und fragen nach dir“, wird Jesus zugetragen. Aber Jesus bewegt sich nicht von seinen Jüngern weg, er grenzt sich stattdessen von seiner leiblichen Familie ab. „Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?“ So fragt Jesus den Boten und alle im Haus. Und er setzt noch eins drauf, indem er auf die blickt, die es zufällig in das Haus geschafft haben und jetzt im Kreis um ihn herum sitzen. „Das hier sind meine Mutter und meine Brüder. Wer den Willen Gottes erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.“ sagt er zu diesen wildfremden Menschen. Musik 2: HMC 802156.58, Johann Sebastian Bach, Ich will Dir mein Herze schenken, RIASKammerchor, Rene Jacob, Matthäus-Passion „Er ist von Sinnen“, urteilen die eigenen Verwandten über Jesus. Deshalb wollen sie ihn – wie es damals üblich war - in sein Heimatdorf zurückholen und wohl dort isolieren, wenn nötig auch gegen seinen Willen. Wirklich kein schmeichelhaftes Urteil über jemanden, der sich tagtäglich für andere aufreibt und sein Leben für sie opfert. Und keine schöne Zukunftsperspektive für einen, der die göttliche Vision von vollkommener Liebe und einem besseren Leben unter möglichst viele Menschen bringen will. So geschmäht, ist Jesus dann beim Kontern auch nicht zimperlich: Wer sind eigentlich die Leute da draußen? Fragt er und meint damit seine Mutter und seine Geschwister, die vor der Türe eines überfüllten Hauses warten müssen. Mit denen habe ich nichts zu tun. Ich stelle mir vor, wie verletzend diese Szene für Maria, seine Mutter, gewesen sein muss. Erst kann sie nicht zu ihm persönlich durchdringen, und dann wird sie in aller Öffentlichkeit herabgewürdigt. Nach allem, was sie für ihren Sohn getan hat – nach so viel Liebe, Sorge, Arbeit und Zeit - kein bisschen Wertschätzung sondern das. Anscheinend haben sich also schon Maria und Jesus damals nicht einfach immer harmonisch als Familie miteinander verbunden gefühlt. Konflikte, die hart ausgefochten wurden, gab es damals wie heute. Musik 3: Phi 3339290, Antonin Dvorak, Fac me vere tecum flere, Collegium Vocale Gent, Royal Flemish Philharmonic, Philippe Herreweghe Stabat mater Dazugehören, angenommen sein – für viele Menschen ist diese Sehnsucht ein Lebensthema. Was macht die Nähe aus, die uns Kraft gibt und welchen Menschen fühlen wir uns nahe und verbunden? Im Laufe meines Lebens waren es nicht immer die selben Menschen, die mir wichtig waren und sind. Meiner Erfahrung nach bleiben aber die Gründe, warum ich mich jemandem nahe fühle, gleich. Besonders gerne verbringe ich Zeit mit Menschen, die meine Bedürfnisse wahrnehmen können und die zeigen, dass sie ihnen nicht egal sind. Wenn mir jemand nach einer durchwachten Nacht mit Babys neuem Zahn wissend zunickt und mich aufmunternd angrinst, dann tut mir das immer gut. Ein mürrisches: „Das wusstest du, bevor das Kind kam“ dagegen hilft garantiert nie, obwohl der Satz natürlich inhaltlich völlig richtig ist. So etwas zu sagen würde meinem Freund, der auch kleine Kinder hat, nie einfallen. Er hat schon Gleiches erlebt und weiß, wie sich ein Körper ohne Schlaf anfühlt. Ähnliche Lebensentwürfe und -situationen schaffen Nähe. Gleiche Interessen schaffen oft eine gute Grundlage für Wohlbefinden. Ich freue mich schon jetzt wieder auf den Herbst. Schon der Gedanke an ein, zwei Stunden im duftenden, feuchten Herbstwald, wo hinter jedem Blatt ein Pilz steht, lässt mein Herz höher schlagen. Auch meine Schwester ist pilzbegeistert – mit ihr macht mir das Pilzesuchen doppelt Spaß. Wenn Menschen meinen Lebensweg lange begleiten, finde ich das sehr schön. Wenn eine Freundschaft lange dauert, ist das für mich ein Eigenwert. Es gibt mir Sicherheit und Vertrauen. Auch, wenn ich mich einmal blöd verhalte, weiß ich: Diese Beziehungen werden weitergehen, weil es nicht nur auf den einen, verpatzten Augenblick ankommt. Über die Jahre weiß man, was man aneinander hat und es ist eine Vertrautheit gewachsen, die auch Krisen überdauert. Was mich wirklich glücklich macht und eine enge Verbundenheit schafft ist, wenn jemand ausdrücklich sagt: Ich mag dich! Du bist mir wichtig! Nicht formelhaft und ständig – nur ab und zu. Neulich hat ein Freund angerufen, weil er gerne wollte, dass ich abends vorbeikomme. Er würde sich darüber freuen, mich zu sehen, hat er gesagt. Seine einladende Stimme zu hören war so schön, dass ich gleich zugesagt habe – als ich am Vortag seine Mail gelesen hatte, habe ich noch lange hin und her überlegt, ob ich das zeitlich schaffen kann. Sich Freunden nahe zu fühlen, ist oft einfach und entspannt. Das liegt wohl daran, dass wir sie uns selbst aussuchen können. Außerdem ist in Freundschaften mehr Freiheit da: es gibt weniger Erwartungen. In Familien werden wir in der Regel hineingeboren. Da können auch sehr anstrengende Konstellationen entstehen. Musik 4: Arta F10159, Johann Sebastian Bach, Liebster Jesu wir sind hier, Jaroslav Tuma, Orgelbüchlein Der Evangelist Markus erzählt keine wunderbaren Dinge von der Geburt Jesu - da gibt es keinen Engel, der der Jungfrau Maria erscheint, und auch keinen Stall und keine Krippe. Markus beginnt sein Evangelium mit Johannes dem Täufer als Vorboten Jesu. Er erzählt dann sofort vom erwachsenen Jesus, der von Johannes getauft wird – dabei stellt eine Stimme aus dem Himmel ihn vor: „Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen gefunden.“ Die Berufung Jesu wird hier ganz anschaulich dargestellt: Dieser Mensch ist anders und von Gott genau so gewollt und angenommen. Gott ist sein Vater, so sehr gleicht er Ihm. Markus geht unverzüglich in die Vollen: Jesus verkündet das Evangelium, beruft Jünger, wirkt mächtige Zeichen. Jesu Leben wird von seiner Sendung durchdrungen und erfüllt. Er geht seinen ganz eigenen Weg, einen eigenen Weg zu Gott. Die Menschen, die ihm begegnen, lädt Jesus ein, ihm nachzufolgen. Wer Jesus hinterherläuft, kann sehen und erleben, was ihm wichtig ist und wie er andere Menschen behandelt. Wer Jesus hinterherläuft, kann durch dieses Vorbild einen Eindruck davon bekommen, wie liebevolles Tun einzelne Menschen verändert – und letztendlich die Welt heilt. Und Jesus lädt alle Menschen ein, Gott „Vater“ zu nennen – auch uns heute. Wie Jesus sind auch wir fähig, liebevoll auf unsere Mitwelt zuzugehen. Wer das versucht, ist mit Jesus auf dem Weg zu Gott. Mit ihm dürfen wir uns als Kinder Gottes verstehen, als von Gott mit allen Schwächen und Stärken angenommene Menschen. Die Zusage in der Taufe: „Du bist mein geliebtes Kind“ - die gilt auch für mich. Vor 2000 Jahren war Individualität noch nicht erfunden. Zu tun, was man für richtig hielt und sich dabei auch noch auf Gott zu berufen, war viel schwieriger als heute. Jesu Leiden und Sterben zeigen, dass es lebensgefährlich war, Autoritäten, Traditionen und Regeln infrage zu stellen. Wer Jesus begegnet, muss sich entscheiden - für oder gegen ihn. Letztendlich ist das immer eine Entscheidung für oder gegen Gott, seinen Vater, der ihn gesandt hat. Wer Jesus für geisteskrank erklärt, dem fehlt jedes Verständnis für seine Berufung und seinen Auftrag. So wie Markus das Evangelium erzählt, tut seine eigene Familie das und sogar seine eigene Mutter gehört in dieser Szene zu denen, die nicht glauben, dass Gott durch Jesus Heil schafft. Sie erkennt seine Berufung nicht. Jesus wird nicht wertgeschätzt, geschweige denn gefördert. Im Gegenteil: Sein unstetes Leben als Wanderprediger empfindet die eigene Familie wohl als Schande für die Verwandtschaft. Sein Lebensentwurf passt nicht zu den Gewohnheiten seiner Sippe. Aber aus Jesu Sicht verschließt sich damit sein engster Familienkreis dem Willen Gottes. Jesus wird von der eigenen Familie verkannt. Dabei geht es hier nicht um eine kleine Schrulle, die die anderen ablehnen, weil sie ihnen auf die Nerven geht. Es geht um das Wichtigste in Jesu Leben, um das, was sein Leben ausmacht: seine Mission. Wer diese Mission und den dazu gehörenden Lebensentwurf ablehnt, kann Jesus nicht nahe stehen. So kommt es zum Bruch und zu diesen harten Worten: „Wer ist meine Mutter und wer sind meine Geschwister?“. Jesus entscheidet: mit Menschen, die sich gegen Gottes Willen stellen, verbindet ihn nichts – nicht einmal mit seiner eigenen Mutter will er etwas zu tun haben, wenn sie sich seiner Berufung widersetzt. Dagegen bezeichnet Jesus die wildfremden Menschen, die bei ihm „drinnen“ im Haus sind, als seine wahre Familie. Mit ihnen verbindet ihn nur eines: Sie hören ihm zu und zeigen damit, dass sie Gott durch Jesus nahe sein wollen. Nicht mehr und nicht weniger. Ich verstehe das, was der Evangelist Markus hier erzählt so: Zu Jesus gehören ist nicht wie Blutsverwandtschaft. In unsere Familie wurden wir hineingeboren und wir gehören für den Rest unseres Lebens dazu. Zu Jesus gehören ist ganz anders. Ich muss mich dafür entscheiden, „drinnen“ bei Jesus zu sein und ihm zuzuhören. Wer sich mit Jesus auf den Weg zu Gott macht – vielleicht sogar gegen den Willen und die Erwartungen seiner Familie – der gehört zu ihm. Es gibt keinen Menschen, der ausgeschlossen ist, der nicht dazu gehört – gerade die, die Jesus noch kaum kennen, dürfen sich zugehörig fühlen. Gerade die, die nicht zu seiner Familie und seinen Jüngern gehören, nennt er hier sogar: Familie. Zu Jesus gehören schafft unter denen, die das versuchen, eine große Nähe. Um sie zu beschreiben, wählt Jesus selbst dann wieder das Bild der Familienbande: „Das hier sind meine Mutter und meine Brüder. Wer den Willen Gottes erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.“ (Mk 3,35) Musik 5: Brillant classics 94777, Carl Philipp Emanuel Bach, Berliner Symphonie in Es-Dur Wq 179 I. Prestissimo, Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach, Hartmut Haenchen Berlin Symphonies Zum Nachhören als Podcast http://www.hr-online.de/website/radio/hr2/index.jsp?rubrik=43760
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