Recovery ist eine individuelle Erfahrung, ein fortlaufender Prozess

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Recovery ist eine individuelle Erfahrung, ein fortlaufender Prozess,
mit Ebbe und Flut vergleichbar
"Man kann neue Ufer nur erreichen, wenn man den Mut hat, die alten zu verlassen."
Unbekannt
Nach einem mehrwöchigen internationalen Exchange Programm 2009 in Nordirland und
näherem Kennenlernen wie Recovery 1:1 in der Praxis gelebt und umgesetzt wurde, sowie
zwei weiteren Upgrades und Vergleichsstudien zu diesem Thema in Turku (Finnland) und
Malta, war für mich sehr schnell klar, diese "neuen Ufer" zu begehen und Recovery in
unserer Institution zu adaptieren.
Von Dieter Reichl
Unsere Ansicht von Recovery
Für „uns“, das Haus zum Sternen, begleitetes Wohntraining in Uerikon (ZH), bedeutet
Recovery nicht nur eine neue Form der Behandlung - nicht eine Reihe von Massnahmen die
man in Reihenfolgen anwenden kann. Recovery ist für uns eine Reihe von Geschichten, die
das Leben von Menschen mit psychischen Leiden beschreiben. Darum möchten wir eine
Kultur entwickeln und leben, die gelebte Erfahrungen von psychischen Problemen befreit
und auf die Prioritäten der KlientInnen reagiert, statt bürokratische und professionelle
Tagesordnungen neu zu definieren.
Professionelle und Institutionen können mit ihrer Haltung und ihren Aktionen diese
Geschichten hilfreich beeinflussen. Für KlientInnen und BetreuerInnen sollte durch die
Zusammenarbeit, dem gegenseitigen Austausch von Wissen und dem Entgegenbringen von
Respekt eine "echte" Partnerschaft entwickelt werden.
Unser Recovery-Statement und die Einsicht in Prozessentwicklung
Unser Ziel ist es, Betroffene auf ihrer persönlichen Recovery-Reise zu begleiten und zu
unterstützen. Wir sind zuversichtlich und glauben an die Fähigkeiten der Betroffenen, auch
allenfalls mit Symptomen ihrer psychischen Erkrankung, ein für sie stimmiges Leben führen
zu können.
Auf Basis dieser Ausrichtung begannen wir 2009 in unserer Institution, das RecoveryKonzept aufzubauen. Dabei wurde uns bewusst, dass nicht allein das Studium von
Fachliteratur oder die Teilnahme an Recovery-Workshops etc. die Recovery-Haltung in eine
Institution bringt. Recovery muss in jedem Managementprozess eingebettet, im Leitbild
verankert und durch das Sprechen einer gemeinsamen Sprache gelebt werden. „Rethinking“
- Umdenken von Seiten der Professionellen und der Betroffenen ist der erste und enorm
wichtige Schritt in diese Richtung. Was seit Jahrzehnten in der klassischen Psychiatrie
praktiziert und gelebt wurde, ist unmöglich von heute auf Morgen umkehrbar. Dieser
Paradigmenwechsel kann nur dann stattfinden, wenn wir blockierende Praktiken loslassen
und das braucht Zeit und ist ein Prozess...
Peer-Einatz im Haus zum Sternen
Die Zusammenarbeit mit Peer-Workern, die seit 2010 kontinuierlich an unserem RecoveryProzess teilnehmen, war und ist eine von vielen positiven Erlebnissen und Etappen,
Recovery-orientiert zu arbeiten. Mittlerweilen sind zwei Peer-Worker als Freelancer sowie
neu eine Praktikantin, die sich in Ausbildung zur Peer Workerin befindet, in unserer
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Institution tätig. Die Erfahrungen zeigen, dass eine Begleitung durch eine Ansprechsperson
aus dem Team wesentlich ist. Viele initiierte Prozesse von beiden Seiten müssen
vorbesprochen und evaluiert werden und regelmässige gemeinsame Sitzungen mit dem
Team dienen der Transparenz, Reflektion und Effizienzprüfung. Wesentlich hierbei ist es,
eine gemeinsame Sprache zu sprechen. Keine fachspezifische Sprache der Psychiatrie,
sondern eine Sprache, die alle verstehen, die auf Hoffnung, auf dem Glauben an
Entwicklung basiert ist.
Die Angebote bei uns im Bereich Peerarbeit sind sehr breitgefächert. Regelmässige
öffentliche Veranstaltungen zum Thema wie z.B. „Mein persönlicher Recoveryweg“, „Tag der
psychischen Gesundheit" (unter Einbezug von Peer-Workern), Einzelbegleitung und
Beratung etc. sollen dazu dienen, das Leben wieder in den Griff zu bekommen.
Am Recoverytag, der von einem Peer-Worker geplant, organisiert und moderiert wird,
werden Jahresziele festgelegt. Unter anderem wurde in diesem Rahmen ein Bewohnerrat
gegründet und ein Workshop zum Thema Achtsamkeit geplant, welcher ebenfalls durch den
Peer-Worker durchgeführt wurde. Eine weitere Peer-Workerin bietet interne Töpferkurse an
und leitet einmal pro Woche am Nachmittag unseren „Kaffitreff“.
Dies sind nur einige Beispiele, die das Tätigkeitsfeld, der bei uns tätigen Peer-Worker,
umschreiben. Peerarbeit ist und bleibt ein sehr wichtiger Aspekt von Recovery, der viele
konstruktive Prozesse entstehen lässt und zur Übernahme von Selbstverantwortung,
Inklusion und Wohlbefinden Wesentliches beiträgt.
Persönlicher und Team-Prozess und daraus entstehende externe Angebote
Mit internen Workshops versuchen wir gemeinsam den Recoveryprozess zu festigen. Als
Beispiel möchte ich den „Life Coaching Skills Course - Neue Rollen - Neue Fähigkeiten Neue Wege“ erwähnen, der von einer Fachperson aus Nottingham durchgeführt wurde.
Desweiteren wurden wir in den letzten zwei Jahren im Bereich Stimmenhören aktiv und
führten hierzu einen Workshop mit zwei externen Recovery-orientierten StimmenhörerInnen
aus Kassel und Wien durch. Das Resultat war die Gründung einer Selbsthilfegruppe für
StimmenhörerInnen, die auch für externe Betroffene offen ist.
Es ist immer wieder erstaunlich, wahrzunehmen, wie mittels dieser Programme in den
Bereichen Wohnraum, Beschäftigung, Bildung und Freizeitgruppen - mit denen wir
versuchen den Zugang und die Möglichkeiten für Recovery zu gewährleisten - Fortschritte
erzielt werden. Daher besteht meines Erachtens die Notwendigkeit, eine gemeinsame
Recovery-Bildung als Basis in jeder Institution anzustreben. Es soll nicht nur eine physische
Integration, sondern auch eine spirituelle Bedürfniserfassung zusammen mit den KlientInnen
stattfinden.
All diese Aktivitäten tragen dazu bei, dass wir in unserer Institution neue Wege begehen, uns
gemeinsam neue Fähigkeiten aneignen, neue Rollen entwickeln.
Wir glauben, dass eine grundlegende Überprüfung der Qualifikationsstruktur und der
Professionellen/KlientInnen-Balance innerhalb von psychiatrischen Institutionen nötig ist. Wir
müssen unsere Dienstleistungen neu bewerten, die interne Kultur mit anderen Prioritäten
versehen, die sozialen Ziele und die alleinige Kontrolle der Symptome ändern, um
tatsächlich Recovery zu praktizieren.
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„Eine Reise von tausend Meilen beginnt mit einem einzigen Schritt.“
(Lao-tse)
In unserer Institution arbeiten wir hauptsächlich mit dem Tool „Recovery-Star“, welches
Betroffene dabei unterstützt, eine Art Landkarte für ihre Recovery-Reise zu entwerfen, um
die eigenen Fortschritte zu finden und zu planen. „Recovery-Star“ konzentriert sich auf
Lebensbereiche, die es erlauben, den individuellen Recovery-Prozess aus der Sicht der
Betroffenen kritisch und reflektierend zu beurteilen.
Kontinuierliches Networking und Synergienbildung durch meine Aufenthalte in England,
Schottland und Nordirland, tragen zu einem fortlaufenden Prozess und eine permanente
Konsolidierung von Recovery in unserer Institution bei.
Weitere Infos unter: www.hauszumsternen.ch
Dieter Reichl ist Betriebsleiter im Haus zum Sternen, begleitetes Wohntraining, Uerikon (ZH).
Desweiteren ist er als Supervisor, Praxisberater und Projektbegleiter sowie Dozent für
Management, Kommunikation und Recovery tätig.