Kamion #1: Aus den Kreisläufen des Rassismus

Einfahrt
🚎🚎🚎 Aus den Kreisläufen des Rassismus – nicht ein Kreislauf, nicht ein
Rassismus. Vor der Vielschichtigkeit dieser Ausgangslage fragen wir
in diesem Heft nach den Verhältnissen von Rassismus und Ökonomie, so wie sie sich in ihren Verfahren und Aktivitäten gegenwärtiger
Zirkulation präsentieren. Die Fragen der Logistik, beziehungsweise
logistischer Formen des Kapitalismus, nehmen hierbei eine zentrale
Rolle ein. So führt Stefano Harney in seinem Beitrag aus: „Ich spreche
vom Urmoment der Logistik im Kapitalismus, vom Sklav_innenhandel und seiner grausamen Fracht“. Diese historische Dimension
einer Biopolitik schreibt sich ebenso in die Wissenspolitiken eines
akademisch geführten kritischen Rassismusdiskurses ein wie auch
in neue Verfahrensweisen der Schließung möglicher Intervalle des
Widerstands.
Kamion #1 nimmt ihren Ausgang in der Zirkulation, wie sie
zum einen als Einfassung und Regulierung auftritt und zum anderen
ausbricht aus den logistisch abgestimmten Kreisläufen hin zu neuen
Möglichkeiten politisch widerständiger Aktualisierung. Das aus im Titel
verweist nicht nur darauf, dass wir Einblicke in verschiedene Konstellationen von Rassismus und Ökonomie gewähren, sondern auf ein immanentes Austreten oder Ausbrechen aus ihnen. Dies schließt die interventionistische Dimension der Texte mit ein. Am explizitesten fordert dies
der Beitrag aus dem Umfeld des Raumes für Autonomie und Ferlernen
(RAF-ASZ) ein. „Dieser Text versteht sich als antirassistische Intervention“ steht als erster Satz eines Textes, der eine Intervention in den
Organisationszusammenhang der kritnet-Tagung 2015 in Zürich zum
Ausgangspunkt nimmt. Die Intervention: Der Auszug einer Gruppe von
Aktivist_innen des RAF-ASZ aus dem Organisationsprozess der Tagung.
Ausgehend von der performativ und diskursiv doppelt geäußerten Kritik
fragen die Autor_innen nach den Möglichkeiten einer Wissensproduktion, die sich als politische Intervention zu den kritisierten Verhältnissen
positioniert. Diese Befragung als wiederkehrendes Moment ist für das
Publikationsprojekt kamion ebenso von Relevanz wie der Kontext kritnet.
So bildet die vom 26. bis 29. März 2015 stattfindende Kritnet-Tagung mit
dem Thema „Rassismus und Ökonomie“ die inhaltliche und organisatorische Klammer und Inspiration des Produktionsprozesses dieser
Nummer. Das gedruckte Heft – und das ist nicht unerheblich für ein Heft,
das wiederholt Logistiken und Materialitäten anspricht – liegt denn auch
als Beitrag zur Tagung auf, um sich materiell in die Wissenskreisläufe vor
Ort einzuspeisen.
transformieren, nationalstaatliche Grenzziehungen zu unterlaufen und
andere Formen des Zusammenlebens zu erproben. Die Geschichte und
Praxis der emanzipatorischen sozialen Bewegungen ist in dieser Betonung auch ein kleiner Versuch, Europa zu provinzialisieren und der
linken Neuerfindung Europas andere und über Europa hinausgehende
Bündnisse entgegenzusetzen.
Der (supra)nationale Rahmen birgt die Gefahr, dass die
„soziale Frage“ sich über den politischen Weg zur nationalen transformiert. Im Fokus steht zu Recht die Fiskalpolitik der EU, identifiziert mit
der Stärke Deutschlands, die Kritik richtet sich gegen die Finanzspitze,
den Wahnsinn des aktuellen Schuldensystems. Gleichzeitig zeigt sich
gerade da, dass die Frage, wie sich Produktion, Reproduktion und Distribution organisieren lassen, sich nicht (nur) über die Finanzmärkte
regeln lässt. Im besten Fall von staatlicher Politik wohlwollend flankiert,
oft eher mit ihr im Widerstreit, geht es darum, alltägliche Bedürfnisse
und Begehren selbst zu organisieren, neue Formen des Zusammenlebens zu erfinden, der kontinuierlichen Arbeit Zeit zu lassen und instituierende Praxen des Gemeinsamen zu entwickeln, um zumindest ab
und zu dem Kapitalverhältnis und den staatlichen Regierungsweisen zu
entwischen. Solidarische Ökonomien, Quartiersversammlungen, Selbstorganisierungen der Reproduktionsarbeit über patriarchale Familienund Geschlechterverhältnisse hinweg, aber auch Betriebs-, Fabriks- und
Theaterbesetzungen.
Es geht aber offensichtlich nicht nur um den Widerstand,
sondern auch darum, ein anderes Europa als das des Nord-Südgefälles
und der exzessiven Sparpolitik zu erfinden. Obwohl eine Partei (wenn
sie denn radikal genug ist) an einem solchen Projekt oder solchen Projekten mitarbeiten kann, können die Inhalte nicht „von oben“ kommen,
vom Senkblei der Vertikalität nach unten getragen. Sie wachsen nicht
spontan in den Köpfen von ein paar geschickten Parteistrateg_innen,
die sie dann in einem schönen Punkteprogramm auflisten. Diese Inhalte, Begehren und Bedürfnisse und die Formen möglicher neuer Institutionen entstehen immer wieder in der transversalen, langwierigen und
kontinuierlichen Arbeit, den langsamen Quartierversammlungen, der
Mannigfaltigkeit sozialer Bewegungen. ☁
Auf unterschiedliche Weise befassen sich die Beiträge im
Schwerpunkt mit möglichen Aktualisierungsformen, die sich den
systemischen Schließungen eines logistischen Kapitalismus verwehren
beziehungsweise diese kritisch hinterfragen. Logistik wird hier nicht
einfach zum Problem der Distribution, sondern der strukturellen Anordnung von Architektur und Administration, wie es sich im Beitrag zum
Schubgefängnis im österreichischen Vordernberg zeigt oder in Bezug auf
den Handel mit Körperteilen als eine Materialisierung von Rassismus im
Text von Tyna Fritschy. Ebenso findet sich die Frage einer Logistik in der
homogenisierenden Wirkung einer verallgemeinerten ökonomisch-rassistischen Politik in der Schweiz, den Zuschreibungen und Identifizierungen in einem pointierten Bildbeitrag zur langen Geschichte der Ausbeutung migrantischer Arbeit oder in der „zeichnerischen Recherche zur
Sexarbeit in Zürich“. Die unterschiedlichen Bewegungen und Zugänge
bilden keine vereinheitlichte Kritik, sondern befassen sich mit Realitäten,
die etwa im Text von Sandro Mezzadra und Brett Neilson in der Wendung
„to hit the ground“ aufblitzen, die keine adäquate Übersetzung zulässt.
Im Bezug auf das Finanzwesen und das Kapital beschreiben die Autoren
dieses Moment als effektives Zugreifen des logistischen Kapitalismus.
Wir fragen uns, wie mögliche Gegenaktualisierungen „on the ground“
aussehen können, wie sie beispielsweise im Beitrag zu Protesten gegen
Politiken der Illegalisierung als Praxen des Teilens beschrieben werden.
Die Entwicklungslinien des logistischen Kapitalismus in seiner
Verschränkung mit Rassismen zurückzuverfolgen und gleichzeitig seinen
aktuellen Manifestationen nachzugehen und diese aufzudecken, führt uns
zum Begriff der Materialität. Das Symbolische des Jay-Walking beinhaltet
diese Materialität ebenso wie die Überschreitungen der amerikanisch-mexikanischen Grenze durch logistikale Verbindungen und Verknüpfungen.
Die Frage nach Materialität verweist aber auch auf ihr Fehlen und ihr bewusstes Ausgelöscht-Werden in Homogenisierungsdiskursen der Abgrenzung und Grenzziehung. Dadurch werden wiederum Kategorisierungen
und Identifizierungen hervorgehoben, die sich über den Zugriff auf Fleisch
und auf migrantische Körper beschreiben lassen. Es handelt sich dabei
um einen Zugriff, der erst einer Schließung bedurfte durch europäische
(rassistische) Einschreibungen von ungeteilten, abgeschlossenen und sich
selbst besitzenden Körpern, die im logistischen Kapitalismus erst recht
zu ihrer grausamen Entfaltung finden. Indem wir aber die Schließung
von Subjektivitäten und Körpern zu sabotieren und die Kreisläufe des
rassistischen Urmoments der Logistik zu queren versuchen, möchten wir
einen materiellen Beitrag des Widerstands aus den Dringlichkeiten der
Gegenwart heraus und gegen den permanenten Zugriff leisten. ☁
70 Airbnb, Wohntourismus Ein Essay
in Streit-Thesen 🚀 Christian Berkes
65 Zu Verfahrensweisen des Kapitals und der
Entnahme 🚀 Sandro Mezzadra & Brett Neilson
85 Können wir uns eine feministische Ökonomie der
Kultur vorstellen? 🚀 Javier Rodrigo 🚚 Aus dem
Spa nis chen von Nina Höchtl
78 Stadt- und Kulturpolitik von unten:
Barcelona en Comú 🚀 Ma nuela Zechner
74 Darth Vader ist da und darf bleiben Der griechische
Skywalker oder wie ein linkes Szenario an Boden
gewinnt 🚀 Sofia Bempeza 89 Die mögliche Emanzipation in Spanien
und Europa Heute ist die Demokratie
eine wilde und konstituierende Demokratie
🚀 Antonio Negri und Ra úl Sánchez Cedillo
🚚 Aus dem Ita lienis chen von Gera ld Ra unig
98 Ausfahrt Fläche statt Tiefe. Gegen das neue Lob der Vertikalität
0 Einfahrt
4 Jay-Walker 🚀 Stefa no Ha rney 🚚 Aus dem
Englis chen von Nina Ba ndi & Gera ld Ra unig
13 Du mir (d)ein Körperteil Woher kommt
das Fleisch, um die Löcher zu stopfen?
🚀 Tyna Frits chy
58 Die Farbe des Territoriums: Umwertung und
existenzielle Territorien 🚀 Chris toph Brunner
42 Keine Perspektive Skizzen zum Abschiebeknast
Vordernberg 🚀 Juri Scha den & Sophie Uitz
29 Ein Teil dieses Konfliktes zu sein ist Teil
50 Papiere teilen Möglichkeiten und
Unmöglichkeiten des Gemeinsamen
vor dem Hintergrund der Proteste
gegen Politiken der Illegalisierung
🚀 Niki Kuba czek
dieses Kampfes Zum Konflikt über die soziale
Veranwortung von Wissenschafter_innen
anlässlich der Zürcher kritnet-Tagung
🚀 Nis tima n Erdede in Zus a mmena rbeit
mit RAF-Aktivis t_innen
57 Arbeiter_in
🚀 Ca rlos Toledo
21 Eine zeichnerische Recherche zu
Sexarbeit in Zürich 🚀 Martina Baldinger,
Ales s ia Conidi, La Spos a und Angela Wittwer mit einem Einleitungs text von
Andrea Tha l und Angela Wittwer
34 Wie „Freiheit“ und Rassismus
zusammengehen Die Verbindung von
Rassismus und ökonomisch-politischem
Liberalismus am Beispiel der Schweiz
🚀 Nina Bandi
Stefa no Ha rney
Aus dem Englischen von
Nina Ba ndi, Gera ld Ra unig
Jay-Walker
� Wie kam es, dass Jay-Walking mit dem Tode bestraft wird? Aus JayWalking eine Straftat zu machen, war ein Aspekt des Übergangs vom
kolonialen Kapitalismus zum Industriekapitalismus in den USA. Ein
Jay war jemand vom Land, der in der Mitte der Straße ging, ein Ort, der
allerdings rasch dem aufkommenden Automobilverkehr vorbehalten
wurde. Es gab eine öffentliche Kampagne, um die Leute davon abzuhalten, auf den Straßen zu gehen und so diesen Verkehrsstrom, dieses
Fließband der Autos aufzuhalten. Als aber Michael Brown am 9. August
2014 in Ferguson, Missouri wegen Jay-Walking niedergeschossen wurde,
änderte sich etwas. Natürlich wurde auch sehr schnell darauf hingewiesen, dass sich nichts geändert hatte. Unabhängig voneinander können
diese beiden Aussagen jedoch nicht verstanden werden. Denn das, was
sich geändert hatte, machte das, was sich nicht geändert hatte, umso
unveränderlicher. Ich werde im Folgenden zu erklären versuchen, was
ich damit meine. Aber ich beginne einfach mit dieser Behauptung. Der
heutige logistische Kapitalismus verlangt nach einem nie dagewesenen,
verallgemeinerten Zugriff auf uns. Dieser unbegrenzte Zugriff hat jedoch
eine Geschichte sowohl unter jenen, die ihm am meisten unterworfen, als
auch unter jenen, die am meisten von ihm befreit waren. Ich spreche vom
Urmoment der Logistik im Kapitalismus, vom Sklav_innenhandel und
seiner grausamen Fracht. Ich spreche aber auch von einer Geschichte, in
der der Zugriff nicht nur verweigert, sondern sabotiert und sogar befreit
wurde. Michael Browns Jay-Walking war ein Akt der Sabotage, und in
der Protestbewegung von Ferguson sehen wir die Befreiung des Zugriffs
einmal mehr am Werk, in den Jay-Walking-Fußstapfen der Black Radical
Tradition. In einem berühmten Ausspruch sagte Cedric Robinson, dass
die Black Radical Tradition die Kritik der westlichen Zivilisation sei. Hier
möchte ich sie übertragen als die Kritik der westlichen Idee und Praxis
des Zugriffs auf andere. Wie Denise Ferreira da Silva zeigt, verlangt diese
Idee und Praxis zunächst nach der Verweigerung des Zugriffs anderer auf
sich selbst, und erst dann nach der Herausbildung des Zugriffsrechts auf
andere – im Besonderen auf das, was Hortense Spillers als unbestimmtes
Fleisch der anderen bezeichnet.
Falls meine Rede metaphorisch oder romantisch klingt, oder
nach einem Optimismus des Willens: Ja, das ist sie, aber sie ist auch
sehr materiell – in der Tat materieller als alle deplatzierten Aufrufe,
„Rasse“ und Klasse zu verbinden (denn sie werden im Gegenteil nie
getrennt sein). Genauer noch möchte ich sagen, dass Michael Browns
Sabotage auf eine symbolische Art materiell war. Und um das zu verste4
hen, müssen wir auf die Entwicklungslinien des logistischen Kapitalismus zurückkommen und auf die Gründe, wieso die Verweigerung des
Zugriffs und das Streben nach anderen Formen der Bewegung (wieder)
in direkten Konflikt mit dieser Form des Kapitalismus gerät.
Wir werden zum verborgenen Reich des Operations Management in den 1960er und 70er Jahren vorstoßen müssen, als der industrielle Kapitalismus begann, zu dem zu werden, als was wir ihn damals
noch nicht erkennen konnten. Je nach Kontext bezeichnen wir ihn als
postmodernen oder postindustriellen Kapitalismus, als Globalisierung
oder als kognitiven Kapitalismus. Nun sehen wir aber, dass eine mögliche Bezeichnung auch die des logistischen Kapitalismus ist. Indem wir
ihn so nennen, gelingt es uns auch zu erklären, wie die lange, grausame
Geschichte von staatlicher und außerstaatlicher Gewalt gegen jene, die
am meisten dieses psychotische Verlangen nach Zugriff verkörpern, in
eine neue Phase der Intensität eingetreten ist. Das psychotische Verlangen nach immer mehr Zugriff war nie weg, es findet jetzt aber zu neuem
Leben, einem neuen Leben, das es aussaugen kann, in der unwahrscheinlichen, verborgenen Stätte des Operations Managements.
Verborgene Stätte
In den 1970er Jahren geschehen zwei Dinge in Bezug auf das
Operations Management. Das erste ist Kaizen, das zweite die Logistik. In
den 1970ern war die japanische Praxis der ständigen Optimierung, Kaizen,
im Operations Management äußerst einflussreich geworden wie auch in
den Managementpraktiken, die ihrerseits vom Operations Management
beeinflusst wurden. Mit Kaizen verschob sich der Blick des Managements
weg von den Arbeiter_innen und Maschinen hin zum Fließband. Das
Fließband war nicht mehr Mittel zur Fügung der Arbeiter_innen und der
Maschinen, sondern die Arbeiter_innen und Maschinen waren da, um das
Fließband zu organisieren, das zum Selbstzweck wurde.
Wie es Deborah Cowen in ihrem großartigen Buch The
Deadly Life of Logistics richtig beschreibt, ist das auch die Zeit, in der
das Operations Management die Logistik zum ersten Mal zur Kenntnis
nimmt. Das Resultat davon wird ein neues Verständnis davon sein, wie
das Fließband gefügt ist, und in der Folge und in Verbindung mit Kaizen, wie es durch die Gesellschaft auseinandergenommen und wieder
zusammengefügt werden kann, auf der Suche nach ständiger Optimierung durch die immer größere Nachfrage nach Zugriff. Wenn ich sage,
dass das Operations Management die Logistik zur Kenntnis nimmt,
meine ich, dass sich das Operations Management bisher darauf beschränkt hatte, was es innerhalb der Fabrikmauern überblicken konnte.
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1 Anm. d. Ü.: Wir differenzieren die Figuren des
Beraters, des Siedlers/
Kolonisten und des Bürgers in der Übersetzung
gendermässig nicht aus
und verwenden bewusst
die männliche Form, weil
sie abstrakte Figuren eines
jeweils anders verfassten
heteronormativen und
patriarchalen Kontextes
darstellen.
Seine Aufmerksamkeit begann am Eingangsportal und endete am Ausgangstor. Seit aber Arbeiter_innen auf die Fabrik (und Bewegungen auf
den Staat) Druck ausüben, begann sich das Operations Management
dem Problem anzunehmen, die Versorgung am einen Ende und die
Verkäufe am anderen zu gewährleisten. Und es begann, diese Probleme
als Produktionsprobleme zu betrachten, als Erweiterungen des Fließbands über die Fabriktore hinaus, als durchgängige Optimierung einer
durchgehenden Linie. Obgleich auch das wieder auf eine symbolische
Weise materiell wäre, könnte man sagen: Das Operations Management
folgte den Arbeiter_innen bei ihrem Exodus aus der Fabrik.
Als man begann, alles Material, das in die Fabrik kam, als Teil
der Kalkulation der Produktion zu sehen, und nicht nur als Kosten zu
Beginn der Produktion, und umso mehr mit dem aufkommenden Glauben, dass diese Kalkulation selbst dem Prinzip von Kaizen unterworfen
werden kann, führte das Operations Management, mehr als alle anderen kapitalistischen Wissenschaften, zur Entstehung der sozialen Fabrik. Aber dies erlaubt uns auch, die soziale Fabrik von einem anderen
Winkel aus zu betrachten. Dafür müssen wir noch etwas länger beim
Operations Management verweilen. Wir werden sehen, dass es auch
am Ursprung von all dem steht, von der Private Equity Firma über die
Derivate bis – und dies ist am wichtigsten – zur Figur des Beraters1, auf
die ich später nochmals zurückkommen werde.
Mit der Verlagerung der Aufmerksamkeit von den Arbeiter_innen
und den Maschinen zur Fertigungslinie selbst verändert sich die Art und
Weise, wie das Management über Wert spricht. Das Management sieht
das Fließband nicht mehr als statischen Kostenfaktor an – während die
Verbindung von Menschen und Maschinen den Mehrwert durch den
relativen Zuwachs an Produktivität generiert. Es ist umgekehrt das
Fließband, das dynamisch ist. Es ist der Prozess, in dem Wert geschöpft
werden muss, und insbesondere im Potenzial der Fertigungslinie. Mit
diesem Potenzial entsteht auch die Spekulation (die anderen Obsessionen des Managements verschwinden natürlich nicht gänzlich mit dem
Auftauchen einer neuen Obsession. In der Tat könnten wir auch eine
spekulative Verschiebung im Übergang vom Personalmanagement zum
Human Ressource Management und von der statischen Buchhaltung zu
dynamischen Formen der Buchführung in der andauernden Aufmerksamkeit gegenüber Arbeiter_innen und Maschinen sehen – in diesen
beiden sich verändernden Feldern wird Spekulation, oder die Zukunft
in der Jetztzeit, zum Objekt der Analyse.). Diese Spekulation mit der
Produktionslinie wird durch die Einbeziehung der Logistik und durch
Fortschritte bei den Algorithmen enorm verstärkt.
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Das Management begann bald nicht nur in der Fabrik in der
Optimierung der Fertigungslinie Wert zu schöpfen, sondern darüber
hinaus in allen Aspekten der Versorgung, der Verteilung und des Konsums außerhalb der Fabriktore. Und der beste Weg dahin war die wachsende Leistungsfähigkeit von Algorithmen zu nutzen, erstens durch die
Implementierung einer Reihe von internen Management-Systemen,
und dann durch die Verbindung unterschiedlicher Algorithmen: zunächst die aus der Logistik, dem Transport und der Lagerung, und dann
auch die aus dem Konsum – jene aus den Kund_innenbeziehungen
und dann auch die, welche eines Tages zu Big Data werden würden.
Dies kulminiert in Unternehmen wie SAP und 4G-Logistikfirmen, wo
sich die Firma im Kern aufgelöst hat und weniger in die Finanz als in
die Fertigungslinie aufgegangen ist. Die Idee, dass es immer eine bessere Möglichkeit geben würde, die Fertigungslinie anzuordnen, den
Prozessfluss auszugleichen, den Prozess kontinuierlich zu optimieren,
erhält eine enorme Stärkung durch den Algorithmus. Ein Grund dafür
ist, dass der Algorithmus diese Aufgabe – die kontinuierliche Selbstoptimierung – zumindest teilweise selber durchführt, insbesondere im
Fall von sogenannten genetischen und evolutionären Algorithmen. Der
Algorithmus vermittelt den Eindruck, nie mit sich selbst zufrieden zu
sein, und er scheint sich andauernd zu optimieren. In der Tat hat er kein
anderes Ziel als dieses, und er treibt die Fantasie voran, dass das Fließband ebenso sein eigener Zweck sein soll – wer daran arbeitet und wie
es mechanisiert oder computerisiert ist und sogar was es herstellt, das
ist alles sekundär im Vergleich mit seinem eigenen Effizienz-Ziel. Und
diese Idee eines Fließbands, das aus sich selbst heraus immer leistungsfähiger werden kann und dadurch immer mehr Wert produziert, bringt
eine Spekulation mit dem Fließband hervor. Um dies zu illustrieren,
müssen wir nur an die Führungspersonen denken, die sich von Institution zu Institution, von Firma zu Firma bewegen. Sie mögen nichts
wissen über die Menschen oder die Maschinen, die an diesen Stätten
wirken. Aber das ist egal. Sie wissen, wie sie das Fließband an diesen
Orten immer effizienter machen können. Das ist ihre einzig notwendige
Qualifikation. Auf der Ebene der Firma ist es Private Equity, das vorgibt, dies zu tun. Sie müssen nichts wissen über das Produkt der Unternehmen, die sie kaufen. Ja, sie verkaufen sich sogar genau aufgrund
dieser Indifferenz gegenüber dem Produkt. Sie wissen, wie sie neuen
Wert aus dem Fließband heraus generieren können. Ich füge auch
gleich hinzu, dass wir zwar wissen, dass dies nicht die ganze Geschichte
ist, dass die diesbezügliche Verleugnung in der Geschäftswelt jedoch fast
allumfassend ist. Das meine ich, wenn ich sage, es gibt eine Spekulation
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mit dem Fließband – eine Wette, ein Investment, dass dieses Band
immer schneller fließen kann, immer genauer, immer kreativer, immer
mehr, unabhängig von Produkt oder Ziel.
Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang
Aber was für das Kapital eine neue Welt der Spekulation
eröffnet, ist ein neuer Albtraum der Dekonstruktion für die Arbeit. Ich
verwende den Begriff Dekonstruktion hier mit seiner philosophischen
Konnotation. Derrida mag vergeben werden, dass er das Operations
Management nicht interpretiert hat, aber sein Nicht-zu-Ende-Denken
hat eine Parallele genau an dem Punkt in der Geschichte, nämlich im
Nicht-zu-Ende-Kommen der Arbeit, des Arbeitsprozesses selbst. Es
wurde zwar bemerkt, dass das Nicht-zu-Ende-Kommen die Eigenschaft
der neuen, immateriellen Waren sei, jedoch beschreibt dies nur die
Oberfläche der Dinge. Die Klassenmacht, die das Kapital im logistischen Kapitalismus entwickelt, kommt nicht oder nicht nur von der
nicht zu Ende gekommenen Ware, sondern von der nicht zu Ende kommenden Arbeit, die ihren Abschluss verhindert und sie mit Unvollständigkeit heimsucht, ja sogar mit dem Gedanken eines Wertüberschusses,
der in jedem Moment des Arbeitens noch eingefangen werden muss,
in jeder Fertigung der Linie. Nicht nur Derrida, sondern auch Bataille.
Oder Bataille durch Derrida: Die begrenzte Ökonomie der Fabrik trifft
auf die verallgemeinerte Ökonomie der algorithmischen Gesellschaft.
Die Arbeit wird durch ihr Potenzial an Überschuss zerlegt, welches für
das Management, auch wenn es in der Kreativitätsrhetorik verkleidet
daherkommt, faktisch ein äußerst materielles Mittel ist, um immer
mehr Zugriff zu verlangen, ohne je einer Schließung oder Begrenzung
des Arbeitsvertrages zuzustimmen. Für das Management gibt es nun
immer das Potenzial, immer die Metrik, auf mehr zuzugreifen, um
mehr quantifizieren zu können. Um es klar zu sagen: Das ist die Bedeutung von allem, vom Nullstunden-Vertrag für Kaffee-Baristas über
die Deregulierung von Kaffeemärkten für Kaffeebohnensortierer und
die Mikro-Arbeitsaufteilung des mechanical turk bei Amazon bis zur
privaten temporären Butler-‘App’ mit dem Namen Alfred. Es stimmt,
weder hört Arbeit je auf, noch kommt sie ihrer Mythologie nach, wie es
Peter Fleming richtigerweise in seinem neuen Buch dargelegt hat. Aber
sie hört nie auf, weil sie nie ans Ende gekommen ist. Oder genauer weil
das Fließband, und dadurch der Arbeitsprozess, nie abgeschlossen ist.
In der Tat ist der Arbeitsprozess in aktiver Weise nicht ans Ende gekommen. Und nicht nur muss dieser Prozess konstant zerlegt werden,
sondern er muss auch kontinuierlich wieder zusammengefügt werden.
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Wir müssen uns kollektiv fügen, um die Produktionslinie in der sozialen
Fabrik zu fügen.
Wir müssen uns kollektiv fügen, um die Fertigungslinie zu
fügen, weil der Arbeitsprozess formell nicht mehr in der Verantwortung
des Managements liegt (falls es informell je so war). Die Verantwortung liegt bei den über die soziale Fabrik zerstreuten Arbeiter_innen.
Und was bedeutet diese Verantwortung? Welche Form nimmt sie an?
Verknüpfung, Flexibilität, Verfügbarkeit, Umstrukturierung auf Abruf,
Übersetzbarkeit, kurz, Zugriff, radikaler Zugriff auf die Arbeit. Aber
nicht nur auf die Arbeit, es bedeutet den vollen und uneingeschränkten
Zugriff auf die Erde, auf all ihre organische und anorganische Materie,
und auch auf das Kapital, jedoch normalerweise in der Form von Schulden. Und daher sagen wir besser und vor dem Hintergrund von Randy
Martins bahnbrechender Arbeit: Es bedeutet den Zugriff auf die Finanzialisierung, das heißt, eine radikale Offenheit, finanzialisiert zu werden.
Der Berater
Es gibt natürlich Widerstand gegen diese Logik, wie es auch
eine andere, selbstbestimmte Logik und Logistikalität in den Undercommons gibt. Aber diese Logik des nicht zu Ende kommenden Arbeitsprozesses und des Verlangens, uns zu fügen, hat einen mächtigen Träger.
Diesen Träger der Logik des logistischen Kapitalismus werde ich den
Berater nennen. Ich meine mit dieser Bezeichnung nicht spezifisch
jene, welche sich selbst Berater_innen nennen. Genauso wenig meine
ich damit den Akt, Beratung anzubieten und beratende Dokumente zu
produzieren. Ich meine all jene, die den Virus des Arbeits-Algorithmus
in sich tragen und verbreiten. Um vom Berater sprechen zu können,
muss ich kurz auf die davorliegenden Figuren zurückgreifen, deren
Erbe er ebenso ist wie auch ein angsteinflößender Vorreiter des (extra)
legalisierten Diebstahls und der Gewalt.
Primitive Akkumulation, oder – wie ich vorziehe es zu nennen
– Sklav_innen- und Kolonialkapitalismus ist durch das Aufkommen
nicht des Zugriffs charakterisiert – Menschen leiden unter solcher
Nachfrage, seit die Geschichte der Welt eine Geschichte des Klassenkampfes ist –, sondern durch diese radikale, unaufhörliche, psychotische Forderung nach dem Zugriff. Wenn man so will, könnte man etwas
verkürzt sagen, dass dies auch die Differenz zwischen traditionellen
Praktiken der Sklaverei, einschließlich derjenigen in Teilen Afrikas, und
der ersten großen grauenhaften Logistik, des Afrikanischen
Sklav_innenhandels ist. Totale Gewalt begleitete die irrsinnige Forderung
nach totalem Zugriff auf das Fleisch der Afrikaner_innen, nach Arbeit
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und Sex. Angekündigt oder begleitet von einer ähnlichen Nachfrage nach aboriginalen Bevölkerungen und gefolgt von Varianten von
Zwangsarbeit und migrantischer Sklaverei bis zum heutigen Tag. Das
ist der Kern der primitiven Akkumulation. Der Träger dieser wahnsinnigen Forderung nach Zugriff war der Siedler/Kolonist. Doch der Kolonist stellte sich natürlich nicht als Träger dieser Beziehung vor, sondern
unverhohlen als Träger von Eigentum und „Rasse“.
Mit dem Aufstieg des industriellen Kapitalismus – der Kolonist verschwindet nicht, auch wenn er manchmal zum Jay wird, oder zur
Tochter des Bauers, wie wir an der Figur des Handelsreisenden sehen
werden – bekommen wir eine neue Herrschaftsfigur, den Bürger. Vom
Bürger kann man sagen, dass er das nationalistische Heteropatriarchat
als kapitalistisches Gesellschaftsverhältnis hervorbringt. In anderen
Worten sind die Klassenverhältnisse unterschiedlich ausgebildet, auch
wenn beide Kapitalismen und beide Träger überlappen und auf unterschiedliche Art und Weise fortbestehen. Es ist diese Abstammungslinie,
der ich die Hervorbringung des Beraters zuordne. Der Berater trägt
das uneingeschränkte, irrsinnige Verlangen nach absolutem Zugriff in
sich, und dies tut er, indem er den Algorithmus bei sich aufnimmt. Aus
diesem Grund begegnen sowohl dem Nationalismus als auch dem Eigentum neue Antagonismen mit dem Berater, da sie auf der Beschränkung des Zugriffs basieren. (Und in der Tat können wir sagen, dass es
gewisse Veränderungen im exklusiven heteromännlichen Privileg gibt,
auch wenn diese, wie in den Fällen von Eigentum und Nation, von einer
gewalttätigen Reaktion auf jeglichen neuen Zugriff begleitet werden,
einen Zugriff, der in jedem Fall selbst eine Form von Gewalt darstellt,
wie wir uns in Erinnerung rufen sollten.)
Der Berater ist gekennzeichnet durch einen doppelten Charakter, ähnlich wie die vorgängigen und immer noch wirksamen Figuren des Kolonisten/Siedlers und des Bürgers. Der Berater glaubt, er sei
ein algorithmischer Agent, der aktiv Menschen, Firmen, Institutionen
und sogar Länder umstrukturiert. Aber der Berater ist auch ein Problem
für den Algorithmus, ein Hindernis für diese Umstrukturierung, obwohl
sich der Berater dessen nicht bewusst ist, und sich als ein revolutionärer
Agent versteht. Davon ist er allerdings weit entfernt. Wir können seinen
doppelten Charakter erkennen, wenn wir die Herkunft des Beraters
beim Handelsreisenden verorten. Der Handelsreisende wird wörtlich
genommen zum Problem – zum ‘Handlungsreisenden-Problem’ in
der kapitalistischen Wissenschaft der Logistik. Dieses Problem ist gut
bekannt. Es handelt sich um die Frage, wie ein Handlungsreisender zu
bewegen ist, oder ein Tanklastwagen, irgendetwas eben, das auf einer
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möglichst effizienten Route bewegt werden soll. Aber noch wichtiger
ist die Frage, wie dies auf eine Weise geschieht, die Veränderungen in
der Bedeutung davon vorwegnehmen kann, was am effizientesten ist.
Anders gesagt ist es die Suche nach einem Algorithmus, der die kontinuierliche Optimierung verkörpert. Nun ist der Punkt aber, dass der
Geschäftsmann zu menschlichen Fehlern neigt und an menschliche
Zeit gebunden ist, so wie der Lastwagenfahrer auch. Dasselbe gilt für
den Berater. Letzten Endes sind sie dem Algorithmus im Weg, und
keineswegs sein Träger. Das ist der Grund dafür, dass es nicht darauf
ankommt, was ein Berater tut oder sagt (so wie es alle bestätigen können, die schon einmal einem zugehört haben). Der Berater ist ein Modellversuch, ein Experiment nicht in der Bewegung und Auslieferung
von Gütern, sondern in der Bewegung und Dekonstruktion des Arbeitsprozesses. Der Berater ist wie ein Agent, der es gewohnt ist, etwas
anderes aufzulösen, in diesem Falle eine existierende Fertigungslinie,
und der dann letztendlich sich selbst auflösen sollte, sobald diese Aufgabe erledigt ist. Das ist der Grund, wieso der Berater ohne sich dessen
bewusst zu sein, ein Problem darstellt, eine Lösung, aber nur in diesem
spezifischen, chemischen Sinne.
Natürlich hat der Berater, wie der Siedler und der Bürger
auch, ein ‘Back-up’. Das, was Fred Moten und ich an einem anderen
Ort Politik, Politik-Machen, Politik-Implementieren, Politik-Anschaffen
genannt haben, das ist die Waffe der Wahl, wenn der Berater auf
Widerstand stößt, wenn der Berater Planungen wittert in den Undercommons, eine andere Form des Zugriffs, eine andere Art des Fügens.
Der Berater und seine Politik-Macher, seine Version von Night Riders
erinnert uns daran, wieso Nahum Chandler Recht hat, wenn er auf die
andauernde Bedeutung von Du Bois’ Begriff des demokratischen Despotismus pocht. Der Liberalismus hat nie den Staat von der Ökonomie
getrennt, außer in der Ideologie, und genauso steht es um den Neoliberalismus. Diese beiden Figuren des Beraters und des Politik-Anschaffers sind im logistischen Kapitalismus nie inniger verbunden, als wenn
sie nach Zugriff verlangen.
Hands up
Aber diese irrsinnige Forderung lässt wieder die primitive
Akkumulation und ihr spezifisches, wenn auch ebenso psychotisches
Verlangen nach Zugriff auf undifferenziertes Fleisch und Land in den
Kolonien hervortreten. Damit kommt die Figur der Sklav_in, die nie
verschwand, zurück mit erneuerter Kraft der Unverfügbarkeit, die
nichts anderes ist als radikale Verfügbarkeit für andere. Dies führt dazu,
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dass alle Träger_innen der Figur der Sklav_in und der damit verbundenen Geschichten des totalen Zugangs, also alle zwangsarbeitenden,
migrantischen, weiblichen, queeren Figuren als eine direkte Bedrohung
der Produktionslinie erscheinen, über die Fertigungslinie der sozialen
Fabrik zerstreute Saboteur_innen. Logistischer Kapitalismus geht einher mit einer Staatsform, die nach derselben Form des unmittelbaren
Zugriffs verlangt. Sie stellt dich aber nicht zur Rede und macht damit
aus dir einen Bürger. Sie fragt nur nach deiner ID, falls sie überhaupt
nach irgendetwas fragt, bevor sie mit ihrer Gewalt ihren Zugriff auf dein
Leben demonstriert.
Eine Form des absoluten Zugriffs zu erlauben, gegen und vor
diesen gewalttätigen Forderungen nach Zugriff durch den logistischen
Kapitalismus und seine psychotischen Vertreter, als radikal verfügbar,
affiziert zu leben, wie Denise Ferreira da Silva es bezeichnen würde, das
heißt, die andauernde Praxis auszuüben, ja zu erhellen, die Fred Moten
und ich Haptizität nennen. Ein offenes Gefühl, als fühlend gefühlt zu
sein. Sie konnten seine erhobenen Hände nicht sehen, aber sie waren
erhoben, nur nicht zu ihnen, sondern zu uns. Sie hielten uns auf, diese
hoch erhobenen Hände. Für sie sah es aus wie ein Dämon, zu viele Augen, zu viele Zungen, zu viele Hände. Aber für uns sieht es schön aus.
☁
🚀 Stefa no Ha rney ist
Professor für Strategic
Management Education an
der Singapore Management
University und mit Tonika
Sealy Mit-Begründer des
Kollektivs Ground Provisions. Sein gemeinsam mit
Fred Moten geschriebenes und 2013 bei Minor
Compositions erschienenes
Buch The Undercommons:
fugitive planning and black
study wird im Herbst 2015
bei transversal texts in
deutscher Sprache erscheinen (transversal.at).
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Tyna Frits chy
Du mir (d)ein Körperteil
Woher kommt das Fleisch, um die Löcher zu stopfen?
� Einer der meist verbreiteten religiösen Texte des Mittelalters beschreibt die Wundertätigkeiten der beiden Ärzte und Heiligen St.
Kosmas und St. Damian. Besondere Verblüffung rief die Schilderung
hervor, wonach das Heiligenpaar eine Beintransplantation an einem
Geistlichen vornahm, dessen von Krebs zerfressenes Bein keine Lebensfunktion mehr erfüllte:
„Sprach der Eine zum Anderen: ‚Wo sollen wir frisch Fleisch hernehmen, das Loch zu füllen, da wir das faule Fleisch müssen ausschneiden?‘ Sprach der Andere: ‚Auf dem Friedhof zu Sanct Peter ist heute ein
Mohr begraben, der ist noch frisch: von dem hole, was wir für diesen
brauchen.‘ Also lief der Eine wol bald zu dem Friedhof und brachte des
Mohren Bein; darnach schnitten sie dem Kranken den Schenkel ab und
setzten des Mohren Schenkel an die Stelle, und salbten die Wunde mit
Sorgfalt; das Bein des Kranken aber taten sie an des Mohren Leib. Als
der Mann erwachte und keinen Schmerz empfand, griff er mit der Hand
an die Hüfte und fand sie ohne Fehl.“
Die sogenannte Aurea-Legende stammt aus den 1250er Jahren
und fasste die geglückte Beintransplantation als Wunder: das säuberliche und nahtlose Aneinanderfügen einer schwarzen Gliedmasse an
einen weissen Körper.
Die Aurea-Legende antizipierte die heute realen Möglichkeiten
der Transplantationsmedizin und sicherte sich somit als Ursprungsmythos einen festen Platz in deren Register. Kaum eine Internetrepräsentation eines Transplantationszentrums, die nicht auf des Mohrs transplantiertes Bein Bezug nimmt. Dabei ist die Transplantationsmedizin
als Teil der Spitzenmedizin eine junge Disziplin, und ihr Erfolg ist den
rasanten medizinischen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte
geschuldet. Heute können paarig oder segmenthaft angelegte Organe
wie Nieren, Leber und Lunge oder aber reproduzierbare Zellen wie
Blut, Knochenmark, Samen und Eier fast uneingeschränkt in einer
sogenannten Lebendspende von einem Menschen (in gewissen Fällen
auch von Tieren) auf den anderen übertragen werden. Andere Organe
wie das Herz können postmortal transplantiert werden. Die neue Möglichkeit der Übernahme von Organen und Zellen von fremden Körpern
bringt nicht nur ein neues Heilsversprechen hervor – „sie rettet Leben“
– , sondern gleichermassen ein neues medizinisch-technisches Dispositiv: An die Stelle vom ausbeutbaren, aber integren Körper tritt ein
segmentierter Körper, dessen nach Verwertbarkeit gegliederte
13
Funktionseinheiten eine neue Produktivität erlangen. Aufgeteilt und
zerteilt, wird der Körper Teil einer neu organisierten Verwertungsmaschinerie. Körperorgane werden zur Handelsware, neue ökonomische
Kreisläufe entstehen, oft am Rand der Legalität.
Nicht weniger folgenreich: Kulturell und religiös überlieferte Vorstellungen von körperlicher Integrität, von der Grenzziehung zwischen
Leben und Tod, aber auch von körperlichen Selbst- und Besitzverhältnissen verschieben sich in entscheidender Weise.
Inwiefern sind diese Entwicklungen in rassistische Logiken verwickelt? Lässt sich am schwarzen Beintransplantat der Aurea-Legende
der rassistische Kern der Transplantationspraxis ablesen, der sich
bis in die Gegenwart perpetuiert? Ist das Produktivmachen fremder
Körperteile durch das Eingliedern in einen neuen Organismus notwendigerweise eine gewaltsame Einwirkung auf den Körper der anderen
– rassistisch markiert und vergeschlechtlicht? Bringt der medizinischtechnische Apparat der Transplantationsmedizin eine weitere rassistische Operation hervor – eine, die die organische Begrenzung der Haut
herausfordert und die Ressourcen des Körperinnenraumes nutzbar
macht? Welche Rolle spielt es, ob die Organe und Körperteile kommerziell gehandelt oder aber ohne ökonomische Interessen gespendet werden? Lassen sich die sich verschiebenden Besitzverhältnisse am Körper
in eine Linie bringen mit Besitzverhältnissen in Sklaven-, Frauen- und
Menschenhandel oder dem Baby Broking?
Zurück zur Aurea-Legende als historischem Ankerpunkt dieser
Fragen. So verblüffend die Legende auch ist, ohne weitere Differenzierung hier Rassismus am Werk zu sehen würde eine ahistorische Leseart
nahelegen, wonach der Begriff „Mohr“ immer schon und unterschiedslos Teil eines rassistischen Vokabulars ist. Diese Argumentationslinie
verfolgen insbesondere Autor_innen aus den Reihen der kritischen
Weissseinsforschung. Die Schwäche ihres Ansatzes liegt darin, dass er
die Hautfarbe als isoliertes Merkmal zum rassistischen Marker gerinnen
lässt, statt die komplexen und sich verändernden historischen Konstellationen und die mit ihnen korrespondierenden und changierenden
Herrschafts- und Machtverhältnisse in den Blick zu nehmen.
Obschon Menschen mit dunkler Hautfarbe seit der Antike xenophober Diskriminierung und Prozessen des Othering ausgesetzt waren,
wurde diese Differenz bis zur Neuzeit niemals systematisch begründet
und in Stereotypen sedimentiert. In der Zeit, in der die Aurea-Legende
entstanden ist, war der Begriff „Mohr“ besonders stark umkämpft;
positive und negative Konnotationen traten in Konkurrenz miteinander.
Tatsächlich hat sich der Begriff „Mohr“ erst im Kontext von
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Kolonialismus und Imperialismus zu jenem Ausdruck gewaltsamer
rassistischer Sprachhandlungen entwickelt, der bis heute ungebrochen
Wirkung zeitigt. Als eindeutig rassistisch besetzt steht er erst am Ende
eines sich über mehrere Jahrhunderte hinweg vollziehenden Sprachwandels. Drei grössere Umbruchphasen lassen sich hierbei festmachen.
Die beiden jüngeren markieren das Projekt der kolonialen Weltaufteilung mit dem Eintreten in den transatlantischen Sklav_innenhandel im
16. Jahrhundert respektive die Ausarbeitung der modernen Rassenlehre
im 19. Jahrhundert. Der erste Umbruch jedoch, der für das Verständnis
der Aurea-Legende wesentlich ist, stellt die kriegerische Konfrontation
zwischen Christentum und Islam am Ausgang des 12. Jahrhunderts dar.
Die schwarze Haut war zu der Zeit nicht primär Marker der Differenz,
sondern symbolisierte das Band zwischen Europa und Afrika, das das
verfeindete Islamische Reich zu umspannen vermochte. Die Schaustellung der Universalität der christlichen Mission war der ideologischpolitische Beweggrund dieser Zeit.
Entsprechend entstanden während der Kreuzzüge eine Reihe
positiver Darstellungen von Afrikaner_innen, etwa König Balthasar
oder der Heilige Mauritius. Manche Autor_innen ziehen als Beleg für
das harmonierende Nebeneinander von Schwarzen und Weissen im
Spätmittelalter gar die pietätvolle Transplantationsszene der AureaLegende heran – eine etwas pikante Belegführung, aber immerhin lässt
sich die Szene auch als eine geglückte und im wahrsten Sinne des Wortes verkörperte Vereinigung von Schwarz und Weiss lesen.
Doch auch die Aurea-Legende selbst legt Zeugnis ab von den
machtvollen Bedeutungsverschiebungen im Verlaufe der Zeit. Die
unzähligen Variationen der Legende – meist repräsentiert in ikonografischen Darstellungen – verstellen den impliziten Bildinhalt bis aufs
Unkenntliche und spiegeln das für die jeweilige Zeit charakteristische
Vokabular an rassistischen Bildern und Einstellungen. Die cleane
Transplantationsszene um den bereits toten «Mohren» wird in einer
späteren Darstellung zu einer finsteren Gewaltschau: Das Relief aus der
Mitte des 16. Jahrhunderts zeigt das transplantierte Bein, das einem
lebenden Schwarzen amputiert worden ist, der vor dem Operationstisch
auf dem Boden liegt und sich mit schmerzverzerrtem Gesicht seinen
Kniestumpf hält.
Doch warum greift die fingierte Transplantationsszene auf einen
„Mohr“ zurück? Lässt sich das schwarze Bein als exemplifizierte Kompliz_innenschaft von Bewohner_innen des europäischen Festlandes mit
Afrikaner_innen lesen? Und falls diese Kompliz_innenschaft zutrifft, trifft
sie möglicherweise nur in Form eines herrschaftsstabilisierenden Aktes zu?
15
In dieser komplexen historischen Situation vermag die Legende
des transplantierten schwarzen Beines keine Eindeutigkeiten herzustellen. Eine ursprüngliche Verbindung vom Topos der Transplantation zu
diskriminierenden, (vor)rassistischen Praxen lässt sich jedenfalls nicht
nachweisen. Dafür lässt der Blick auf den frisch Operierten eine monströse Unheimlichkeit aufscheinen: Hybrid aus Schwarz und Weiss, Eigenem und Fremdem, Mischgestalt obskurer Provenienz, dessen Körper
– zusammengesetzt aus schwarzen und weissen Teilen – sich Logiken
der Inklusion und Exklusion und dem rassistischen Gebot der Reinheit
beispiellos verwehrt. Es triumphiert die verbindende Verkörperung über
die Trennung und Segmentierung entlang nur scheinbar gegensätzlicher Elemente.
Interessant ist, und dies nur als Randbemerkung, dass zur
selben Zeit Wolfram von Eschenbach in Parzival mit Feirefiz, Sohn
des weissen Königs Gahmuret und der schwarzen Königin Belacane,
ebenfalls eine Figur entwickelt, die keinen ebenmässig gefärbten Teint
aufweist, sondern schwarz-weiss gescheckt ist wie eine Elster. Die Imagination Eschenbachs handelt auch von einem Heilsversprechen. Vom
Heilsversprechen nämlich, dass ein weltumspannendes Rittertum, das
die Differenz dermassen einbegreift, die kriegerischen Konflikte zum
Erliegen bringen könnte.
Jenseits dieser utopischen Anklänge wirft die Legende eine elementare Frage auf: Woher kommt das Fleisch, um die Löcher zu stopfen?
In zahlreichen Ländern des Westens wird seit einigen Jahren
eine Debatte um die Liberalisierung des Organhandels geführt. Doch
die meisten Argumente – egal ob pro oder kontra – leisten vor allem
eines: Sie verabsolutieren den Organmangel. Beständig wird wiederholt, dass die Zahl der Spendeorgane konstant bleibt, während der
Bedarf an lebensrettenden Organen rapide zunimmt. Damit wird der
Organmangel rhetorisch begründet. Der Mangel wird zur grundlegenden Dimension in der Ökonomisierung der Organe. An ihm misst sich
ihr Wert. Doch der Begriff des Organmangels bedarf dringend einer
Dekonstruktion: Der Organmangel ist keineswegs Faktum, sondern
raffinierte Fiktion von Medizinaltechniker_innen. Die Artikulation von
Mangel verweist implizit immer schon auf die potenzielle Verfügbarkeit
dessen, woran es mangelt.
Das medizinisch-technische Dispositiv, aus dem das wirkungsmächtige Konstrukt des Organmangels hervorgeht, ist aufs Engste verknüpft mit westlichen Vorstellungen von Krankheit, die in Opposition zu
einer lebenswerten Gesundheit stehen, vom Altern, das niemals eintreten
darf, und vom Tod, den es bis in die letzte Konsequenz hinauszuzögern gilt.
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Die wachsende Nachfrage nach Organen – wohlgemerkt
geopolitisch im globalen Norden verortet – resultiert einerseits in der
Herausbildung illegaler Märkte und andererseits in Verschiebungen im
Paradigma der Biopolitik.
Obschon der gewerbliche Handel mit Organen in allen Ländern
ausser im Iran verboten ist, breitet sich im Schatten der staatlich kontrollierten Gesundheitseinrichtungen ein illegaler „Fleischmarkt“ aus,
der sich nur in seiner globalen Dimension verstehen lässt. Dies führt
schnell in dunkle Winkel des organisierten Verbrechens. Das Geschäft
bezieht seine Anrüchigkeit vielleicht gerade aus dem Umstand, dass
es der Kompliz_innenschaft des medizinischen Apparats und technologisch hochentwickelter Operationssäle bedarf. In China haben Menschenrechtsaktivist_innen aufgedeckt, dass in staatlichen Gefängnissen
exekutierten Häftlingen ohne Einwilligung derselben oder deren Angehörigen im grossen Stil Organe entnommen worden sind. Die meisten
der zahlreichen Geschichten, die von illegalen Organentnahmen handeln, sind jedoch schwer zu verifizieren und werden als Urban Legends
gehandelt. So kursieren etwa Berichte über organisierte Banden in Mexiko, die in Überfällen ihren Opfern unter massiver Gewaltanwendung
Organe entnehmen. Oder Berichte von Nieren, die für 300.000 Dollar
gehandelt werden. Fakt ist: Der illegale Handel mit Organen findet
statt, und er ist im Wachsen begriffen. Gemäss den letzten Schätzungen
der Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahr 2012 finden jährlich
um die 10.000 illegale Nierentransplantationen statt. Fakt ist ebenfalls:
Der Fluss von Organen folgt den Bewegungen des Kapitals. Vom Süden
in den Norden, von der dritten in die erste Welt, von arm zu reich, von
schwarz zu weiss und von Frau zu Mann.
An der biopolitischen Front wird das Phantasma Organmangel
ebenfalls produktiv. Zwar gilt in der staatlichen Organvergabepraxis
das Prinzip des Altruismus: Organe sollen nur gespendet werden dürfen, wenn keine finanziellen Anreize die Spende motivieren. Dabei ist
unerheblich, ob es sich um eine Lebendspende oder eine postmortale
Spende handelt. Organe aus der Lebendspende dürfen sogar nur auf
nahestehende und verwandte Personen übertragen werden. In diesem
rechtlichen Rahmen laufen die biopolitischen Bestrebungen hauptsächlich darauf hinaus, die Entscheidung über die Verfügungsrechte am
toten Körper zu forcieren. In Deutschland wird seit ein paar Jahren der
„Zwang zur Entscheidung“ diskutiert. Dies ist implizit ein Zugeständnis daran, dass der tote Körper der Dingwelt zugehört und in Kreisläufe
der Produktivität eingespeist werden kann. In anderen Ländern, namentlich in Brasilien, Belgien und Spanien, geht der Körper beim Eintritt des
17
Todes automatisch in den Besitz und die Verfügungsgewalt des Staates
über. In diesem Kontext wird verständlich, dass Leben und Tod nicht
nur wissenschaftliche, sondern immer auch politische Konzepte sind.
Die Veränderungen in Diskurs und Praxis der Organvergabe bearbeiten den Horizont dessen, was sagbar ist. Obwohl die Forderungen
nach einem staatlich regulierten Organhandel bisher ins Leere gelaufen
sind, geraten tradierte Vorstellungen von körperlicher Integrität unter
Druck. Gleichzeitig beunruhigende Realität als auch unrealisierte Zukunft ist die Vorstellung, dass nicht mehr nur die freie Arbeitskraft in
die Kreisläufe der Ökonomie eingespeist werden soll, sondern dass auch
die Zergliederung toter oder lebender Körper und deren Verschaltung
zu neuen funktionalen Einheiten und Organismen mit Lebensfunktion
kapitalisiert werden sollen. Zwar werden bereits heute Blut, Spermien
und Eizellen kommerziell gehandelt und Körperfunktionen wie die
Leihmutterschaft gegen Geld „verliehen“, doch (noch) steht der Ver/
kauf der Organe jenseits der Linie, die nicht überschritten werden soll.
Im Zentrum der Liberalisierungsdebatte steht das Selbstverfügungsrecht über den eigenen Körper. In diesem Verständnis ist der Körper
Eigentum, über das verfügt werden kann. Dies schliesst die freie Entscheidung mit ein, die eigenen Organe zu verkaufen und eine Selbstschädigung in Kauf zu nehmen. Allerdings – das die theoretische Pointe
– liegt die Warenhaftigkeit des Körpers nicht im realen ökonomischen
Tauschverhältnis begründet, sondern in der Konzeption des Körpers als
Eigentum. Es ist der folgenreiche liberale Trick des Staatstheoretikers
John Locke, der eine notwendige Verbindung zwischen Körpereigentum
und kapitalistischer Ökonomie behauptet. In den Zwei Abhandlungen
über die Regierung hält Locke den Grundsatz vom Eigentum an der
eigenen Person fest und macht ihn zur Grundlage der liberalen Ökonomie. Das heisst, historisch gesehen ist das Körpereigentumsprinzip ein
Tauschprinzip und damit Teil und Voraussetzung von ökonomischen
Ausbeutungsverhältnissen.
Doch das Ideologem des possessiven Individualismus, das den
Rahmen des Selbstbildes als umfassenden Besitz vorgibt, ist durch
seine konstitutiven Ausschlüsse charakterisiert. Es ist der weisse, heterosexuelle Mann, dem es privilegiert zugesteht, sich selber zu besitzen
und über sich selbst zu verfügen. Jenseits davon sind die (Selbst-)Besitzverhältnisse ungewiss und brüchig.
Im Szenario eines legalisierten Handels mit Körperteilen und
deren freien Flusses sind es diejenigen, die ihre(n) Körper(teile) zum
Kauf anbieten, die – so paradox das klingen mag – niemals die Chance
gehabt haben, sich selbst zu besitzen. Es lässt sich leicht aufzeigen,
18
dass sich der Handel mit Organen nur dann abwickeln dürfte, wenn ein
starkes Wohlstandsgefälle vorliegt. Damit verkehrt sich das Credo der
Apologet_innen des freien Handels in sein Gegenteil: Wo der Handel
stattfindet, ist das Selbstverfügungsrecht über den eigenen Körper
bereits empfindlich geprellt, wenn nicht ganz inexistent. Die Zeichen
stehen auf Ausverkauf statt auf Selbstbestimmung. Leidtragend wären
einseitig die ohnehin verletzlichen Gesellschaftsschichten, die in einer
prekarisierten Gesellschaftsordnung bis in die Mitte reichen.
Es ist indes bemerkenswert, dass es in der Debatte um die kommerzielle Organvergabe an jeder Selbstartikulation fehlt. Nirgendwo
auf der Welt hat sich eine kollektive Organisierung für ein „Recht auf
den Organverkauf“ formiert. Dies allein liefert einen entscheidenden
Hinweis auf die Parteilichkeit der Forderung und auf die Verzerrung
ihrer Darstellung.
Doch im Selbstverfügungsrecht über den eigenen Körper
schwingt auch das Versprechen einer emanzipatorischen körperlichen
Selbstbestimmung mit. Die einprägsamen Slogans „Our Bodies,
Ourselves“ respektive „Mein Bauch gehört mir“ waren in den feministischen Bewegungen der frühen 1970er Jahre wirksame Waffen gegen
das Abtreibungsverbot und gegen die Beschneidung der leiblichen
Selbstbestimmung durch den Staat. Wie wichtig und aufschlussreich
diese Station in der Diskussion um Selbst- und Besitzverhältnisse am
Körper auch ist, es wäre verfehlt, daraus einen grundlegenden Wert der
körperlichen Autonomie abzuleiten. Die körperliche Selbstbestimmung
aller ist gleichzeitig eine wünschenswerte Zukunft wie auch ein zweifelhaftes Ideal und Befreiungsversprechen. Indem Bezug auf den eigenen
Körper genommen wird, verschleiert das Konstrukt der Autonomie,
dass es de facto die Körper der anderen sind, auf die Anspruch und
Zugriffsrechte erhoben werden.
Doch auch diejenigen, denen dieser Zugriff auf den Körper der
anderen gelingt und die einen Körperteil empfangen, bleiben in den
Fängen des Besitzindividualismus. In seiner skurrilsten Ausformung
zeigt sich das, wenn sich das Organ der anderen bemerkbar macht als
Stück Fremdheit im eigenen Körper. Organempfänger_innen berichten,
dass sie sich nach einer Transplantation vom fremden Organ ‚besessen‘ fühlen oder es in ‚Besitz‘ genommen haben, oder sie laborieren
an der schwierigen Erfahrung, eine Person ‚beschädigt‘ zu haben. Die
empfindliche Störung des postoperativen Selbstverhältnisses in jedem
dieser Fälle zeigt an, wie hartnäckig sich der Besitzindividualismus hält
und wie Ideologie in ein psychologisches Phänomen umschlägt.
Es ist vielleicht in besonderem Masse die Perspektive derer, die
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nicht geschädigt werden und in einem asymmetrischen Verteilungskampf nicht leer ausgehen, die erahnen lässt, wie schwer es ist, den
Rahmen von Besitz und Übernahme zu verlassen. Die anderen, die
ekstatischen Körper, die – unter welchen Umständen auch immer – Teile ihres Körpers aus der Hand gegeben haben, haben im Selbstzerteilungsakt das identitäre und intakte Selbst, das sich auch selbst besitzt,
bereits hinter sich gelassen. Das ist der Umstand der Verletzlichkeit, der
potenziellen Gewalt, aber vielleicht auch der Umstand, neue Körperlichkeiten und Existenzweisen hervorzubringen.
Die Neuartigkeit dessen, was hier in Versatzstücken beschrieben
wird, ist vielleicht genau, dass die asymmetrischen Zugriffe auf den
Körper unter die Haut gehen. Die neue internationale Arbeitsteilung
strukturiert sich zwar entlang der Linien rassistischer Asymmetrie, aber
die zerteilten und neu zusammengesetzten Körper lassen – anders als
der montierte Mensch der Aurea-Legende – die Hautfarbe als rassistischen Marker unangetastet. Um gewaltsame und verletzende Zugriffe
zu vermeiden, ginge es vielleicht genau um bewusste Verhältnissetzungen zu den ungleich verteilten Verletzlichkeiten der Körper der anderen.
Dies hiesse mitnichten die Möglichkeiten der Medizin zu negieren,
sondern sie auf eine neue Weise nutzbar zu machen.
Auf der Suche nach einer alternativen Ökonomie der Reparation ist die utopische Version des neu zusammengesetzten Mannes der
Aurea-Legende, die antirassistische Cyborg, vielleicht das visuelle Emblem einer Widerstandsfigur, die sich nicht selber besitzt, sondern sich in
Beziehung setzt zu anderen, wie auch immer zerteilten Körpern und die
Zerteilung vom Teilen her denkt. ☁
🚀 Tyna Fritschy ist
Wissensarbeiterin, Cattiva
Maestra und Collaboratrice
und arbeitet an der Zürcher
Hochschule der Künste
(ZHdK). In ihrer Masterarbeit hat sie sich mit
Konzepten der Enteignung
und Ekstase beschäftigt.
20
Ma rtina Ba ldinger, Ales s ia Conidi, La Spos a und
Angela Wittwer mit einem
Einleitungstext von Andrea Tha l und Angela Wittwer
🚀 Martina Baldinger ist
Künstlerin und lebt in Olten
🚀 Alessia Conidi ist
Künstlerin und Illustratorin
und lebt in Basel
🚀 La Sposa ist Künstlerin
und lebt in Zürich
🚀 Andrea Thal war von
2007 bis 2014 die Leiterin
von Les Complices* und
lebt derzeit in Kairo
Eine zeichnerische Recherche zu
Sexarbeit in Zürich
🚣 Der folgende Beitrag zeigt Ausschnitte aus der Publikation Eine zeichnerische Recherche zu Sexarbeit in Zürich, die im Anschluss an die gleichnamige Ausstellung bei Les Complices* (27.08. – 20.09. 2014), einem
selbstorganisierten Ausstellungs- und Veranstaltungsraum, entstanden
ist. Diese Ausstellung wiederum war Teil einer zweimonatigen Reihe, in
der sich Les Complices* mit Sexarbeit auseinandersetzten.
Die Arbeit ist sowohl ein Versuch der Annäherung an Sexarbeit in Zürich durch das Medium der Zeichnung, wie auch eine
Untersuchung der Darstellungsmöglichkeiten und Grenzen der
Repräsentation von Sexarbeit.
Mit der per 1. Januar 2013 in Kraft getretenen Prostitutionsgewerbeverordnung der Stadt Zürich hat der Kreis 4, in dem sich auch Les
Complices* befinden, eine zunehmende Reglementierung, Verdrängung
und Unsichtbarmachung von Sexarbeit erfahren. Die Anwerbung von
Sexkonsumierenden im öffentlichen Raum ist verboten, der Strassenstrich fast gänzlich aufgehoben und mit dem Strichplatz am Depotweg
in die städtische Peripherie verschoben. Die Sexarbeit im Quartier findet
hauptsächlich in Etablissements mit Bewilligung für eine „sexgewerbliche Nutzung“ statt. Während Sexarbeit aufgrund von behördlichen Verordnungen zunehmend unsichtbar werden soll, erfordert die Ausübung
ihrer Tätigkeit, dass sich Sexarbeiter_innen – etwa mithilfe von Kleidung,
Make-up, Gestik oder Auftreten – eindeutig markieren.
Die Spannung, die sich aus behördlich verordneter Unsichtbarkeit, den stereotypen Bildern von Sexarbeit in den Medien
und den (Selbst-)Darstellungen von Sexarbeiter_innen ergibt, wirft
grundsätzliche Fragen nach der Darstellung und Darstellbarkeit von
Sexarbeit auf. Wird Sexarbeit als affektive Arbeit und affektive Arbeit
wiederum als Bestandteil jeglicher Erwerbsarbeit begriffen, so sind
auch Nicht-Sexarbeiter_innen verstrickt in die Darstellungsweisen von
käuflichem Sex.
Eine zeichnerische Recherche zu Sexarbeit in Zürich sucht
nach Darstellungen, die einerseits zirkulierende Codes und Markierungen aufgreifen, aber auch Diskontinuitäten produzieren und Sexarbeit
in einen gesellschaftlichen Kontext stellen, der eine Isolierung und
Stigmatisierung von Sexarbeit verhindert. ☁
🚀 Angela Wittwer ist
Künstlerin und lebt in
Zürich
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Nis tima n Erdede in
Zusammenarbeit mit
RAF-Aktivist_innen
Ein Teil dieses Konfliktes zu sein
ist Teil dieses Kampfes
Zum Konflikt über die soziale Veranwortung von
Wissenschafter_innen anlässlich der Zürcher kritnet-Tagung
🚚 Dieser Text versteht sich als antirassistische Intervention. Er ist
ein Versuch, aus meiner Erfahrung als politischer Aktivist im antirassistischen Kampf von einer ganz bestimmten Perspektive aus Kritik
zu üben. Wenn ich von Erfahrung spreche, meine ich nicht nur meine
persönliche Erfahrung, sondern auch kollektive Erfahrungen in verschiedenen antirassistischen Projekten. Meine Perspektive stammt aus
der Reflexion dieser Erfahrungen, es ist die Perspektive eines Lernprozesses, der immer noch andauert.
Anlass für diesen Text ist der Ausstieg von Aktivisten des
RAF-ASZ (Raum für Autonomie und das Ferlernen in der Autonomen
Schule Zürich) aus der Organisation des 11. Netzwerktreffens für
Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung vom 26. - 29. März
2015 in Zürich. Für diesen Ausstieg gibt es mehrere Gründe, auf die ich
unten näher eingehen werde. Dazu möchte ich Alternativen für die Sensibilisierung im Umgang mit Rassismus und Ökonomie vorstellen. Die
Alternativen basieren auf meinen aktivistischen Erfahrungen im Kampf
gegen Rassismus als Kurde in der Türkei und als Flüchtling in der
Schweiz. Mich interessiert dabei vor allem das Spannungsfeld zwischen
Aktivismus und Akademie und dessen rassistischen Implikationen. Ziel
dieses Texts ist es, auf eine Problematik aufmerksam zu machen und
eine Diskussion anzustossen, die hilfreich für zukünftige Zusammenarbeiten sein kann.
Die folgenden Ausführungen beschreiben das aktivistische
Selbstverständnis der RAF-ASZ: „RAF-ASZ im Kochareal ist ein selbstverwalteter und selbstbestimmter Raum, der sich mit der Normalisierung
von Herrschaft auseinandersetzen will. Dabei werden Kategorien wie
Kultur, Ethnie, Herkunft, Geschlecht, Bürger_innenschaft, Bürger_innenrechte, Menschenrechte, Aufenthaltsstatus, annerkante_r Flüchtling,
Wirtschaftsflüchtling, u.a. als Herrschaftsstrategien betrachtet. Sie strukturieren und normalisieren die gesellschaftlichen Machtverhältnisse.
RAF-ASZ besteht grundsätzlich aus Menschen, die sich durch
Selbst- und/oder Fremdzuschreibung nicht in eine oder mehrere dieser
Kategorien einordnen. Hier besteht kein Ausschlussprinzip, sondern
eher die Bestimmung eines Kritikfelds und einer Handlungsorientie1 https://ferlernen. rung. Der Raum für die Autonomie und das Ferlernen versteht sich als
wordpress.com/about/ ein politisches Bildungsprojekt im Sinne einer autonomen Schule.“1
29
2 Rubia Salgado, „Aufrisse
zur Reflexivität“, http://
www.ifa.de/fileadmin/pdf/
edition/kunstvermittlung_
migrationsgesellschaft.pdf
Ich beziehe mich oft auf Paulo Freire, einen brasilianischen
Pädagogen, der hier in Europa mit dem Konzept der „Pädagogik der
Unterdrückten“ bekannt geworden ist. Paulo Freire beharrt, wie auch
Antonio Gramsci, auf dem Prinzip der Wechselseitigkeit im pädagogischen Verhältnis. Das heisst, es geht um Lernende wie auch um Lehrende. Das bedeutet jedoch nicht, dass Lehrende und Lernende gleich
oder auf Augenhöhe sind. Freire sagt, dass der Unterschied zwischen
Lernenden und Lehrenden epistemologischer Natur sei und dass dieser Unterschied die Rechtfertigung aller pädagogischen Handlungen
bilde. Die Lehrenden verfügen über hegemonial legitimes Wissen, das
sie autorisiert, in einem bestimmten Lernsetting in der Funktion der
Lehrenden aufzutreten, zu sprechen und zu handeln. Die Lehrenden
sind in seiner Konzeption jedoch keine Wissensvermittler_innen, sondern sie strukturieren und begleiten den Prozess der Wissensproduktion. Die Lernenden verfügen ebenfalls über ein Wissen, das aufgewertet
und anerkannt werden sollte, ohne es zu romantisieren oder zu idealisieren. Das heisst, dass auch der Umgang mit dem „marginalisierten
Wissen“ mit Freire – wiederum im Einklang mit Gramsci – während
des Lernprozesses einer kritischen, reflexiven Prüfung unterzogen
werden soll.2
Mein Zugang zu Theorie kommt aus einer praktischen Notwendigkeit. Ich spreche mit Begrifflichkeiten, wenn ich versuche in
meiner politischen Arbeit meine täglichen Erfahrungen als politischer
Flüchtling in der Schweiz zu beschreiben. Das ist etwas anderes, als
wenn man sich aus einem Interesse jenseits von Notwendigkeit mit
solchen Erfahrungen beschäftigt. Ich wusste schon, was diese Begrifflichkeiten bedeuten, bevor ich theoretische Texte dazu gelesen habe,
weil ich das, was sie beschreiben, erlebe.
Die Kritik in diesem Text richtet sich an die Organisator_innen
der Zürcher kritnet-Tagung als konkretes Beispiel eines eurozentrischen Verständnisses von Wissenschaft. Dieses Wissenschaftsverständnis trifft auch mich als Aktivist im Kampf gegen Rassimus. Ich möchte
dies mit Beispielen erläutern. 2008, in meiner Anfangszeit im Exil, wurde die Verschärfung des Asylgesetzes diskutiert. Es war ein Höhepunkt
des rassistischen Klimas und Diskurses in der Schweiz. Ich versuchte
mich zu informieren, was die Verschärfung des Asylgesetzes für mein
Asylverfahren bedeutete und ich wollte wissen, wie meine rechtliche
Situation aussah. Es war schwierig, als Nicht-Deutschsprachiger den
rassistischen und diskriminierenden Berichten der bürgerlichen Tagesmedien zu folgen und sie zu verstehen. Das zwang mich, alternative
Wege zu gehen und sie führten mich zu Veranstaltungen in alternativen
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Räumen zum Thema Rassismus. Die Inhalte dieser Veranstaltungen
waren das, was ich gesucht hatte, aber die Struktur, die Sprache und die
Diskussionen waren mir unzugänglich, was in mir Frustration und Enttäuschung auslöste. Die Fragen folgten dem wissenschaftlichen Interesse der Fragesteller_innen und Flüsterübersetzungen oder Handouts gab
es nicht. Das bedeutete einen Ausschluss der von Rassismu betroffenen
aus Diskursen über Rassismus.
Durch das Sprechen über Flüchtlinge ohne Flüchtlinge werden
Flüchtlinge zum Objekt des Gesprächs gemacht. Das zu verstehen war
ein Lernprozess für mich. In der aktivistischen Praxis und im Kampf
gegen Rassismus habe ich in der Interaktion mit Mehrheitsangehörigen bemerkt, wie Flüchtlinge zu Forschungsobjekten gemacht werden.
Durch die Identifizierung als Flüchtling wurde ich in der Schweiz auch
mit Kunst konfrontiert, jedoch nicht als Konsument, sondern als Stoff
für diese Kunst. Ich habe Anfragen erhalten, in der Künstler_innen oder
Gruppen Flüchtlinge für ihr Anliegen suchten. Immer wieder musste ich
feststellen, dass sie das Stereotyp Flüchtling bedienen wollten. Das des
Hilfesuchenden, des Opfers, doch ohne ihm eine Beteiligungsmöglichkeit
zu geben. Ich realisierte, dass ihre Interpretation dessen, was ein Flüchtling ist, anders war als ich es selbst erlebte. Ich fühlte mich als Schablone
eines exotischen, authentischen, hilfsbedürftigen Asylbewerbers, den die
Künstler_innen als Schmuck für ihre Kunstwerke verwenden wollten. Ich
habe dennoch an vielen Kunstprojekten teilgenommen oder mitgewirkt.
Ich kämpfte dabei gegen Rassismus. Egal ob an einer Demo, an einer
Vorlesung der Kunsthochschule oder auf einer Theaterbühne – für mich
geht der Kampf weiter.
Mich stört es, wenn Künstler_innen und Wissenschafter_innen
ihre Position nicht selbstkritisch sehen, sondern sich weiter mithilfe von
Methoden mit dem Thema Rassismus beschäftigen, die zu Identifizierung, Stereotypisierung und Viktimisierung führen. Die Wissenschaft
sollte nicht nur politische Themenfelder erforschen, sondern auch
in den Formen ihrer Forschung soziale Verantwortung übernehmen.
Das heisst, gerade wenn Wissenschafter_innen sich mit dem Thema
Rassismus beschäftigen, müssen sie ihre Gewohnheiten als Mehrheitsangehörige verlernen. Ein Beispiel für diese Gewohnheiten ist die
Rollenverteilung bei Feldforschungen. Da taucht die Frage auf, wer die
wissende Person ist: die Person, die das Wissen akademisch lernt oder
die Person, die sich das Wissen durch Emanzipation und Erfahrung
aneignet? Auch von Bedeutung ist die Frage, mit welchem Interesse das
Thema einer Forschungsarbeit gewählt wird: als akademisches oder aus
sozialer Verantwortung in Bezug auf das gewählte Thema?
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Ich möchte vier Beispiele akademischer und selbstorganisierter Praxen anführen, die mir einfallen, wenn ich an Wissenschaft und
soziale Verantwortung denke. Es sind vier Beispiele von vielen.
Ismail Besikci, 1939 in einer türkischen Familie geboren,
forschte an der Universität von Erzurum und Ankara. Er veröffentlichte
die ersten soziologischen Untersuchungen über Kurd_innen in der
Türkei. Dafür wurde er zu über hundert Jahren Haft verurteilt. Er hat 17
Jahre in verschiedenen Gefängnissen verbracht. Von 36 seiner akademischen Arbeiten wurden 32 durch das Anti-Terror-Gesetz verboten.
Şirin Tekeli zählt zu den führenden feministischen Autorinnen und Aktivistinnen der zweiten feministischen Bewegung in der
Türkei. Sie studierte zuerst in Ankara, dann setzte sie ihr Studium der
Politikwissenschaft in Paris und an den Universitäten von Lausanne
und Istanbul fort. Sie lehrte ab 1968 an der Universität Istanbul an der
Fakultät für Wirtschaftswissenschaften. 1973 promovierte und 1978
habilitierte sie. Tekeli legte 1981 ihr Amt aus Protest gegen Säuberungen und politische Beschränkungen nieder und startete ihre Karriere als
feministische Aktivistin, Übersetzerin und Autorin. 1982 veröffentlichte
sie ihre Habitilationsschrift als Buch Kadınlar ve Siyasal-Toplumsal
Hayat, das erste Buch in türkischer Sprache, das sich mit der Marginalisierung von Frauen in der Türkei auseinandersetzte. 1996 wurde ihr in
Frankreich die Auszeichnung Officier dans l’ Ordre des Palmes Académiques verliehen. Sie lebt als freie Wissenschaftlerin in Bodrum, Türkei.
Ein weiterer Wissenschaftler, Nejat Suphi Agirnasli, ist in
Deutschland als Sohn politischer Flüchtlinge aufgewachsen. Als sehr
guter Schüler standen ihm mehrere Universitäten offen, er entschied sich
aber, in die Türkei zu gehen, weil er dort mehr reale Möglichkeiten für seine revolutionären marxistischen Ideen sah. Er studierte Soziologie an der
renommierten Bogazici Universität. In seinem Doktoratsstudium forschte er zu den Arbeitsbedingungen von Schiffswerftarbeiter_innen, um sie
darin zu unterstützen, ein Bewusstsein für ihre Rechte zu erlangen. Als
Aktivist der MLKP (marxistisch-leninistische kommunistische Partei)
nahm er an zahlreichen Demonstrationen und Aktionen an der Uni und
auf der Strasse an der Seite der Arbeiter_innen teil. Letzten Sommer
verabschiedete er sich. Als türkischer Revolutionär und Internationalist
ging er nach Kobane in Westkurdistan, um gegen den IS zu kämpfen. Im
September 2014 ist er dort für seine Überzeugungen gestorben.
Seit Februar 2010 entwickelt in Zürich eine Gruppe – zunächst unter dem Titel „Atelier“, nun als Anti Kulti Atelier – gemeinsam
gestalterische, politische Projekte. Bei den wöchentlichen Treffen in
institutionellen und autonomen Räumen in Zürich werden neue Ideen
32
3 http://www.papierlosezeitung.ch/2012/05/
fluchtlinge-als-stofffur-kunstprojekte-eingesprach-der-antikultiateliergruppe/
🚀 Nistiman Erdede
studiert im Bachelor
Medien & Kunst in der
Vertiefung Theorie an der
Zürcher Hochschule der
Künste (ZHdK). Er hat in
Diyarbakir (Türkei) ein
Studium als Chemietechniker abgeschlossen und war
als freiwilliger Dolmetscher
zu Menschenrechtsfragen
tätig. Er ist politischer
Flüchtling und Aktivist im
Migrationsbereich in der
Schweiz.
diskutiert, Entscheidungen getroffen und es wird gearbeitet: z.B. an
einem Schattenspiel, an alternativen Stadtplänen oder am Bleibeführer.
Der Fokus der Projekte liegt auf dem Kampf für die Rechte aller Menschen, die hier sind.3
Durch diese Beispiele habe ich ein anderes Verständnis von
akademischer Arbeit bekommen. Selbstverständlich stammen sie aus
einem Kontext, der eine andere Dynamik hat als das universitäre Feld
in der Schweiz. Trotzdem sind es Beispiele von Wissenschafter_innen,
die in ihrer Arbeit Mut zeigen und zugleich weniger Sorge um ihre akademische Position haben: Kritisch, ohne Anpassung und ohne Angst
sich mit politischen Themen zu beschäftigen, mit dem Ziel der sozialen
Veränderung und der Erweiterung des Felds der Wissenschaft.
Aus diesem Verständnis von Wissenschaft ergeben sich
konkrete Kritikpunkte am Planungsprozess der kritnet-Tagung. Ab
einem bestimmten Punkt der Planung war absehbar, dass die Tagung
als Austausch zwischen Akademiker_innen aus verschiedenen Ländern
konzeptioniert war und hauptsächlich Akademiker_innen von diesem
Austausch profitieren würden. Und vor allem tauchte die Frage auf, was
dieser Austausch auf lokaler Ebene bringen würde, was er beiträgt zum
Kampf gegen Rassismus im Hier und Jetzt.
Ich bin nicht einverstanden damit, dass mehrheitlich Mehrheitsangehörige und Akademiker_innen über Widerstandstraditionen
von Flüchtlingen oder das Grenzregime sprechen. Wenn wir darüber
sprechen, muss das gemeinsam erarbeitet werden von Aktivist_innen,
Wissenschafter_innen und all jenen, die sich keiner dieser Kategorien
zuordnen wollen. Das Thema betrifft gleichermassen Theorien wie Praxen, und nur wenn der ganze Prozess einen Austauschprozess darstellt,
können alle davon profitieren.
Meine Hauptkritik ist, dass sich die Organisator_innen des
11. Netzwerktreffens für Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung zu wenig damit beschäftigten, die Machtverhältnisse, die
spezifischen Ökonomien, die Mechanismen von Repräsentation und
Viktimisierung aufzubrechen, Ver/Lernprozesse zu betreiben und
soziale Verantwortung zu übernehmen. Es reicht nicht, die Kritik zu
akzeptieren, sie muss auch umgesetzt werden. Gleichzeitig haben für
mich die Gespräche und Diskussionen, die durch kritnet entstanden
sind, einen Prozess angestossen, der mir geholfen hat, meinen antirassistischen Kampf zu erweitern. Ein Teil dieses Konfliktes zu sein, ist Teil
dieses Kampfes. ☁
33
Nina Bandi
Wie „Freiheit“ und Rassismus
zusammengehen
Die Verbindung von Rassismus und ökonomisch-politischem
Liberalismus am Beispiel der Schweiz
1 Vgl. Mittelbande,
„Weltweit-Werden?
Fragmente eines Diskurses
über Ausschluss an der
Kunsthochschule. Oder:
Was heißt hier Internationalisierung?“, in: Kamion
Nr. 0, S. 61.
🚡 Am 9. Februar 2014 war es soweit, die Initiative zur Begrenzung der
„Masseneinwanderung“, lanciert von der Schweizer Volkspartei (SVP),
wurde mit 50,3% angenommen. Die Initiative besagt, dass die Bewilligungen für den Aufenthalt von Ausländerinnen und Ausländern in der
Schweiz durch jährliche Höchstzahlen und Kontingente gesteuert und
beschränkt werden, wobei explizit den gesamtwirtschaftlichen Interessen der Schweiz Rechnung zu tragen sei.
Ein Erzittern, Entsetzen und ein Aufschrei waren in linken
und migrantischen Kreisen zu vernehmen; in den Regierungsinstitutionen, in Hochschulen und Universitäten1, in Unternehmen und
in den Medien war es in erster Linie Ratlosigkeit. Vielerorts blieb es
auch einfach sehr ruhig, beunruhigend ruhig. Bis anhin hatte sich ein
großer Teil der sogenannten wirtschaftlichen und politischen Elite
versprochen, dass die Formel (die sich im Nachgang an die Ablehnung
an der Urne des Beitritts der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum 1992 herausgebildet hatte), die bilateralen Verträge wären gut
für die Schweizer Volkswirtschaft und somit im Interesse der gesamten
(Schweizer) Bevölkerung, weiterhin funktionieren würde, trotz nun
bereits jahrzehntelangem Nähren rassistischer und isolationistischer
Tendenzen fast im gesamten politischen Spektrum.
Nun hatte „der Souverän“ / „das Volk“ anders entschieden.
Und sogleich (ver)beugten sich nicht nur Regierungsmitglieder vor
dem Organe Supreme der schweizerischen Demokratie, von dem 25%
der in der Schweiz lebenden Bevölkerung bereits ausgeschlossen sind,
von deren Rest die Hälfte nicht an den Abstimmungen teilnimmt. Denn
das Resultat sei zu respektieren, schließlich sind diese sogenannt
direktdemokratischen Entscheidungen das Auszeichnungskriterium des
schweizerischen politischen Systems. Diese Form der Entscheidungsfindung und vor allem die Entscheidungen, die daraus resultieren, dürfen
gemäß „volksgläubiger“ Argumentation nicht in Frage gestellt werden.
Dass sich diese so festgesetzt hat, ist übrigens durchaus als ‚Erfolg’ der
SVP zu werten, da sie die Unangreifbarkeit der Abstimmungsmehrheit
durch einen pseudo-antielitären Diskurs seit mehreren Jahrzehnten propagiert.
Was hat es nun aber auf sich mit der Verbindung von direkter
Demokratie, einem ausgeprägten ökonomischen und politischen Libe34
2 Vgl. Vox-Analyse 114 des
gfs.bern, 10.04.2014
3 Wie es in Griechenland
oder Spanien zumindest
teilweise der Fall ist, wobei
sich die Frage stellt, welche
Rolle antirassistische
Positionen innerhalb linker
Bewegungen in Europa
spielen, s. z.B. Bündnis von
Syriza mit ANEL (vgl. die
Artikel zu Griechenland
und Spanien in dieser
Ausgabe).
ralismus und rassistischen Strukturen in Politik und Gesellschaft?
Nach der Abstimmung gingen die Erklärungsversuche gemeinhin in eine Richtung. In ihrem Zentrum steht eine von Angst vor
dem sozialen Abstieg geprägte (untere) Mittelschicht, „die Verlierer
der offenen, fortschrittlichen Schweiz“, die sich gegen die Konkurrenz
aus dem (europäischen) Ausland richten, und diese Angst sei ausgelöst
durch sogenannten „Dichtestress“ in vollen Pendlerzügen, durch die
Verdrängung aus den Städten in die Agglomerationen, die wiederum
durch die steigenden Immobilienpreise etc. bedingt ist. Aus einer Untersuchung zum Abstimmungsverhalten lässt sich vor allem eine starke
Verbindung zwischen Einkommen und Bildung und der Annahme bzw.
Ablehnung der Initiative ausmachen.2 Aber was sollen wir aus diesen
in den Medien weitherumgereichten Resultaten aus einer Meinungsumfrage schließen? Heißt das, dass die angeblich bildungsfernen und
sozial unteren Schichten rassistisch sind und somit verantwortlich für
diese Politik? Bestimmt nicht.
Eine mögliche Erklärung könnte sich auf das Fehlen einer
starken linken Bewegung stützen, die den Unmut hätte aufnehmen und
in eine solidarische linke Politik ummünzen können.3 Wobei sich dann
die Frage nach den Gründen für die Abwesenheit einer solchen Bewegung anschließen müsste. Ohne direkt darauf einzugehen, versucht
dieser Text an diesem Punkt einzuhaken, nicht um eine schwache Linke
für die Situation verantwortlich zu machen (denn linke Kämpfe gab und
gibt es auch jetzt), sondern um das „System“ Schweiz etwas genauer
zu beleuchten und darin nach Zusammenhängen zu suchen, die die
Verbindungen von Rassismus und den politischen und ökonomischen
Strukturen offenlegen.
Als Reaktion auf das Abstimmungsresultat vom 9. Februar
2014 gründete sich unter anderem die Operation Libero. Wie einflussreich oder weitreichend dieser Thinktank (von Bewegung, wie sie sich
selbst bezeichnen, kann nicht gesprochen werden) außerhalb einer bildungsbürgerlich geprägten, städtischen, akademischen Schicht ist, sei
dahingestellt. Es wurde, vielleicht aus Mangel an Alternativen, in allen
Mainstream-Medien darüber berichtet, und ihr ‚Manifest’ wurde weitherum abgedruckt, als Vorzeigebeispiel sozusagen. Interessant ist diese
Gruppierung aber aus einem anderen Grund, und zwar, da sie exemplarisch darstellt, wie und wo das Problem der Verbindung von Rassismus
und Ökonomie im schweizerischen Kontext verortet werden kann.
Auf ihrer Webseite beschreibt sie sich wie folgt: „Operation
Libero versteht sich als politische Bewegung, die sich für eine weltoffene und zukunftsgewandte Schweiz einsetzt. Eine Schweiz, die ein
35
4 Volksinitiative aus dem
Jahre 2000, mit dem Ziel,
den Anteil von Personen
mit ausländischem Pass
auf 18% zu begrenzen. Sie
wurde abgelehnt.
Chancenland ist und kein Freilichtmuseum. […] Die Operation Libero setzt sich ein für eine Schweiz, die Chancen bietet und Freiheiten
schützt. Eine Schweiz, die Zuwanderung als Bereicherung erkennt und
die ihre humanitäre Tradition hochhält. Eine Schweiz, die weiß, dass sie
wegen, und nicht trotz ihrer Offenheit ein erfolgreiches Land ist. Wir
wollen eine weltoffene, liberale, moderne und international vernetzte
Schweiz.“ Zudem ist in ihrem Manifest zu lesen: „166 Jahre nachdem
wir uns eine liberale Verfassungsordnung gegeben haben, droht das
Land in eine vorliberale Vergangenheit zurückzufallen. [... ] Anstatt die
Zukunft mit dem Geist von 1848 in Angriff zu nehmen, leidet die Schweiz
an Selbstgefälligkeit, Besitzstandswahrung und Vergangenheitsromantik. Und kaum eine politische Kraft scheint fähig, sich gegen die
Abschottungsgelüste zu stemmen.“
Anhand der Ausschnitte aus dem Manifest und ihrer Selbstbeschreibung lassen sich einige paradigmatische Aspekte dieses
Diskurses erläutern. Als erstes Problem möchte ich die Gegenüberstellung von Fortschritt und Traditionalismus aufgreifen. Postuliert wird
diesbezüglich, dass es eine Schweiz gibt, die in die Zukunft schaut, die
„freiheitsliebend“ ist, „liberal, modern und international vernetzt“.
Ebenso wird eine Offenheit gegenüber „Veränderungen“ vorausgesetzt,
wobei eine sehr spezifische Form von Veränderung gemeint ist (Liberalisierung der Märkte). Demgegenüber wird eine Schweiz imaginiert, die
sich in der Vergangenheit suhlt, die sich als Freilichtmuseum präsentiert, die sich gegen das „Fremde“ richtet, die traditionalistisch, isolationistisch und gegen „Veränderungen“ ist. Diese Gegenüberstellung
basiert jedoch auf einem falschen Gegensatz, einer Differenz, die es
in dieser Art nicht gibt und nie gegeben hat. Einerseits war der Traditionalismus immer auch Teil dessen, was die Operation Libero unter
Fortschritt versteht (z.B. ihr Begriff von Freiheit), und andererseits ist
die institutionelle Politik der Schweiz durch die Integration oppositioneller Parteien in das politische System geprägt, und somit von einer
starken Konvergenz der politischen Parteien (vgl. die 18%-Initiative4
und deren Mitinitianten Philipp Müller, heute Parteipräsident der FDP,
der ‚liberalen’ Partei). Dies geschieht nicht zuletzt als Folge der direkten
Demokratie und des daraus resultierenden Konsensprinzips, worauf ich
später zurückkommen werde.
Für ihren Freiheitsbegriff bezieht sich die Operation Libero
explizit auf 1848 und das Vermächtnis der ersten Bundesverfassung
der Schweiz, die damals zur Gründung des Bundesstaates in Kraft
getreten ist. Das liberale Erbe, das hier auf pathetische Art und Weise
zu beschwören versucht wird, ist einem ideengeschichtlichen und
36
5 Vgl. Patricia Purtschert,
Barbara Lüthi, Francesca
Falk (Hg.), Postkoloniale
Schweiz. Formen und
Folgen eines Kolonialismus
ohne Kolonien. Bielefeld:
transcript, 2012.
6 Eher anekdotisch lässt
sich hier anfügen, dass
gerade Henri Dunant, der
Inbegriff der sogenannt
humanitären Tradition
der Schweiz (Gründung
des IKRK), davor eine
Kolonialgesellschaft in
Algerien gegründet hatte
und der Grund für sein
Aufenthalt bei Solferino
1859 ein Treffen mit dem
französischen Kaiser war,
um über Landkonzessionen
im französisch besetzten
Algerien zu verhandeln.
7 Ich verwende hier dem
historischen Kontext
geschuldet bewusst nur die
männlichen Formen.
historischen Kontext entnommen, der vollständig ignoriert wird. Diese
Form von Täuschung steht exemplarisch für den hiesigen politischen
Diskurs, in dem sich die abstrakte Idee der individuellen Freiheit und
eine daran gebundene Zweckrationalität als äußerst wirkmächtig
erweisen. Es ist eine Anrufung an eine einerseits abstrakte und andererseits individualistisch ausgelegte Freiheit, und wenngleich in dem
Zusammenhang meist von negativen Freiheiten gesprochen wird, ist
es vor allem die Freiheit der Besitzenden, des Eigentums, und jener
mit den richtigen Papieren. Die Bedingungen dafür werden vollständig
außer Acht gelassen. Es wird diese glänzende Oberfläche deutlich, mit
der sich die Schweiz sowohl gegen Innen als auch gegen Außen repräsentiert, unterhalb derer die materiellen Konflikte in den Hintergrund
gedrängt oder komplett negiert werden (z.B. die Schweiz als Hort von
Steuerfluchtgeldern aus der ganzen Welt oder als Steuerungszentrum
des Rohstoffhandels).
In dem liberalen Gebilde geht es nicht nur um fehlende Materialität, sondern um eine noch größere „Leerstelle“: Die Freiheit von
1848 ist in erster Linie die Freiheit des weißen (besitzenden) Mannes.
Der Liberalismus als philosophische, politische und ökonomische
Denkrichtung ist von Aus- und Abgrenzungen geprägt, was sich auch
in der Herausbildung der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert widerspiegelt. Allen voran zeigt sich diese Schlagseite des Liberalismus in
der anderen, der „düsteren“ Seite der Moderne, der Aufklärung, des
Fortschritts: Kolonialismus, Sklaverei sowie die Entwicklung und
Einschreibung eines rassistischen Denkens. In der Schweiz, die als
Staat keine kolonialen Ansprüche geltend machte, wurde diese andere,
finstere Seite lange ignoriert. Wie jüngere Studien zur „postkolonialen
Schweiz“ zeigen,5 ist die Schweiz auf unterschiedlichen Ebenen Teil
dieser europäischen Geschichte. Es geht einerseits um ökonomische
Verflechtungen von Akteuren6 aus der Schweiz (vom Söldner bis zum
Unternehmer),7 aber auch um kulturelle Praktiken (von den Völkerschauen bis zum „Mohrenkopf“) und nicht zuletzt, aber umso wichtiger, um heutige Formen des Rassismus.
Das vermeintliche Nicht-Betroffen-Sein wird wiederum exemplarisch, wenn ein weiterer Aspekt aufgegriffen wird, und zwar die
Neutralität, mit der sich die Schweiz rühmt, sich von (bewaffneten) Konflikten zwischen anderen Staaten fernzuhalten (wobei Waffenlieferungen
schweizerischer Rüstungsfirmen explizit nicht als notwendiger Bestandteil dieses „Fernhaltens“ gesehen werden). Die Neutralität, sowohl als
nationaler (Gründungs-)Mythos als auch als (in einer spezifischen Form)
effektiv praktizierte Politik hat aber vielmehr dazu geführt, dass sich die
37
8 Diese Argumentation
wird in einer durchaus ambivalenten Art und Weise
auch in anti-rassistischen
Kämpfen augenommen,
vgl. den Slogan „ohne
uns geht nichts“ in einem
Manifest der Organisation
Solidarité sans frontières
aus dem Jahr 2009.
9 Ich sehe das Zusammengehen von marktliberalen
Positionen und rassistischer Politik, wie sie die
SVP vereint, nicht als
Widerspruch. Das GegenArgument, dass die Masseneinwanderungsinitiative
der Wirtschaft ‚schadet‘, ist
noch kein Argument dafür,
dass die SVP nicht doch kapitalistisch-ökonomistische
Positionen vertritt, So wird
z.B. die freie Zirkulation
von Kapital nicht in Frage
gestellt.
Schweiz als scheinbar homogenes Gebilde gegen Außen abzugrenzen
vermochte, und zwar in dem Sinne, dass diese in der Schweiz sogar als
eine Form der Selbstermächtigung, als Form der politischen Subjektivierung gegen „das Andere“, das „Außen“, das „Fremde“ gelesen bzw.
auch bewusst in diese Richtung instrumentalisiert wird. Hier sind auch
die Debatten, die derzeit um das 500-jährige Jubiläum der Schlacht von
Marignano als Gründungsmythos für die Schweizer Neutralität geführt
werden, aussagekräftig. Damals standen kämpfende Eidgenoss_innen
auf einem Schlachtfeld südlich von Mailand dem französischen König
gegenüber und mussten (oder wollten – je nach Interpretation) sich geschlagen geben und zurückziehen.
An der Selbstbeschreibung der Operation Libero lässt sich
auch eine starke Präsenz eines Nützlichkeitsbegriffs feststellen, der
bei der Debatte um Migration sehr oft ins Feld geführt wird (vgl. die
Argumentation zur Schweiz „als erfolgreiches Land“ in der oben
zitierten Selbstbeschreibung).8 Es geht in erster Linie um ökonomische Verwertbarkeit, ökonomisch getriebene Kalkulierbarkeit von
Kosten und Nutzen. Dahinter liegt aber ein unbegrenzt ausdehnbares
Nützlichkeitsparadigma, das sich z.B. auch in Debatten um sozialpolitische Anliegen zeigt. Begleitet wird dieses von einer ausgeprägten Verbindung der Figur des Individuums mit dem Begriff der „Eigenverantwortung“. Es ist also eine Nützlichkeit, die nicht nur der politisch-ökonomischen Ebene eingeschrieben ist, sondern eine Rationalitätsmaxime, die
jede/r für sich selbst zu erfüllen hat, geknüpft an die jeweilige „eigene“
Freiheit. Und auch hier wird in erster Linie wieder vom besitzenden,
weißen Mann mit den richtigen Papieren ausgegangen (vgl. z.B. die Debatten um die Einführung des Frauenstimmrechts vor knapp 40 Jahren
oder einer allgemeinen Mutterschaftsversicherung vor 10 Jahren).
Letztlich schlägt sich dies in einer konkreten Politik nieder,
die einerseits von ökonomisch-politischem Opportunismus gekennzeichnet ist, andererseits jedoch nur im Zusammenhang mit rassistischen Einschreibungen verstanden werden kann. Der ökonomischpolitische Opportunismus tendiert dazu, seine Verwicklung mit einem
„genuinen“ Rassismus zu verdecken.9 Ein wichtiges Beispiel dazu sind
die Beziehungen zwischen der Schweiz und Südafrika während des
Apartheid-Regimes (1948-94). Unter dem Deckmantel der Neutralität
und unter Anrufung der Wirtschaftsfreiheit hat sich die Schweiz den
internationalen Sanktionen widersetzt und während dieser ganzen
Periode intensive politische und vor allem ökonomische Beziehungen
gepflegt. Noch erschreckender ist die Art und Weise, wie im Anschluss
mit der Aufarbeitung umgegangen wurde. Obwohl 2000 ein nationales
38
10 Vgl. die Berichte zum
Nationalen Forschungsprogramm (NFP) 42+
des Schweizerischen
Nationalfonds (SNF). Die
Archivsperre wurde erst
kürzlich aufgehoben (Juni
2014).
Forschungsprogramm zur Untersuchung dieser Beziehungen ins Leben
gerufen wurde, verfügte die Regierung 2003 auf Druck von Banken und
großen Unternehmen und vor dem Hintergrund drohender Sammelklagen in den USA per Notrecht eine Archivsperre und behinderte so
massiv die Recherchen.10
Auffallend dabei ist: Es ist ein ökonomischer und politischer
Liberalismus, der begleitet wird von einer totalen, und auch quasi
natürlich erscheinenden Verflechtung von Ökonomie und (institutioneller) Politik. Anstatt diese Verflechtung aufzudecken wird ihr jedoch,
und dies auf eine äußerst wirkmächtige Weise, eine falsche Gegenüberstellung von Politik und Ökonomie entgegengehalten. So ist dann jede
Einschränkung, die scheinbar vom „Staat“ kommt, eine Einwirkung
auf diese individuelle, abstrakte Freiheit. Und die Ökonomie wird zum
Garant, um dies zu verhindern. Das Problem, wenn überhaupt, wird
einem zu mächtigen Staat zugeordnet, der die wirtschaftliche und individuelle Freiheit einschränken könnte (vgl. z.B. die Ablehnung der von
der christlichen Gewerkschaft Travail.Suisse lancierten Initiative für
sechs Wochen Ferien 2012).
Nun aber zum direktdemokratischen System. Dies basiert auf
Vorläufern, die bereits vor 1848 in einzelnen Kantonen in Kraft waren.
Nach und nach wurden das Verfassungsreferendum (1848), das Gesetzesreferendum (1874) und die Verfassungsinitiative (1891) auf Bundesebene eingeführt. Über Auswirkungen und die Rolle dieser Instrumente
kann sehr viel gesagt werden. Ich greife drei Aspekte auf: einerseits die
daraus resultierende Konsens-und Konvergenzmaschinerie, die sich auf
das gesamte politische Spektrum bezieht, zweitens die Unmöglichkeit,
auf dieser Grundlage linke Anliegen durchzusetzen, und zuletzt den
Zusammenhang mit der Frage der Repräsentation.
Die direktdemokratischen Instrumente haben auf institutioneller Ebene dazu geführt, dass nach und nach oppositionelle Strömungen in die repräsentative Demokratie einverleibt wurden. Dies geschah
zuerst jeweils durch die Eingliederung ins Parlament und dann in die
Regierung, da Gruppierungen, die „referendumsfähig“ sind, die Politik
durch die Androhung von Referenden mitbestimmen können. In den
letzten 50 Jahren hat dies vor allem zu einer Verschiebung nach rechts
und der Verbreitung von rassistischer und anti-migrantischer Politik
geführt. Die entstandenen Maximen des Konsenses und des Kompromisses verschleiern so politisch-materielle Konflikte, die erst gar nicht zur
Sprache kommen. Das Problem kann auch nicht dadurch gelöst werden, dass die Grundfreiheiten verfassungsrechtlich gestärkt würden (wie
es z.B. die Operation Libero vorschlägt), auch wenn das im Konkreten
39
die verheerenden Auswirkungen gewisser Vorlagen etwas beschränken
könnte.
Obschon die direktdemokratischen Instrumente helfen
mögen, linke Themen überhaupt zur Diskussion zu stellen, sind Anliegen, die Kapital und Eigentum in Frage stellen sowie Arbeit und
Umverteilung zum Thema haben, an der Urne jeweils komplett chancenlos. Eine Ausnahme bilden umweltpolitische Anliegen oder teilweise
Gesetzesreferenden, wie z.B. die gewonnene Abstimmung gegen eine
Revision der Altersvorsorge im Jahr 2004. Dies sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass durch Abstimmungskämpfe in erster Linie
rassistische Positionen eine sehr große Sichtbarkeit erhalten, und das
auch immer noch unter dem Deckmantel der demokratischen Legitimation. Ebenso ist nicht zu vergessen, dass jeder Abstimmungskampf
die Aufwendung beträchtlicher finanzieller Ressourcen bedingt und nur
schon dadurch ein großes Ungleichgewicht herrscht. Das „Hängen“
an diesen „Volksrechten“ und die damit einhergehende Verlangsamung
und Zähmung führen zu einer Blockade der Linken und verhindern die
Entstehung jedes politischen Moments.
In diesem Zusammenhang stellt sich zentral auch die Frage der
Repräsentation, denn gerade durch die direktdemokratischen Verfahren
werden die Ausschlussmechanismen, die diesem System inhärent sind,
auf eindeutige Art und Weise sichtbar. Eine ausschließende, selbst aber
durch Konsens und durch direktdemokratisch legitimierte Homogenisierung geprägte „Mehrheit“ verstärkt die Ausschließung auf doppelte
Weise, einerseits durch das Verfahren an sich und andererseits durch
die daraus hervorgehenden Entscheidungen. So hat es bis 1971 gedauert, dass eine (männliche) Mehrheit zugestimmt hat, den Frauen das
Wahl- und Stimmrecht zu erteilen. Im Kanton Appenzell Innerrhoden
wurde dieses Recht erst 1990 eingeführt, nachdem Frauen vor dem Bundesgericht geklagt hatten. Die Operation Libero hat den einen Aspekt
des Problems erkannt, nämlich die Nicht-Repräsentation eines Viertels
der in der Schweiz lebenden Bevölkerung, und so spricht sie sich für die
repräsentativ-demokratische Einbindung aller in der Schweiz wohnenden
Personen aus, unabhängig vom Pass (ein Anliegen, das jedoch an der
Urne, außer in ein paar wenigen französischsprachigen Gemeinden, wo
das bereits der Fall ist, absolut keine Chancen hat). Jedoch tun sie das
unter dem Stichwort „no taxation without representation“, was aufhorchen lässt, denn dieser Slogan wurde von den britischen Kolonien an der
amerikanischen Ostküste im Kampf um die Unabhängigkeit gegen das
britische Mutterland verwendet. Damals hatten als „Indianer“ verkleidete
Bostoner Bürger im dortigen Hafenbecken die Teeladungen englischer
40
Schiffe ins Wasser gekippt, mit dem Ziel, ihre Freiheit und politische
Repräsentation zu erwirken – diese Form der Verkleidung bleibt jene des
weißen Mannes vor dem weißen Mann.
Indem die Infragestellung des vorab gegebenen politischsozialen Körpers verhindert wird, führt das direktdemokratische System
somit dazu, dass um das Prinzip des Konsenses herum Politik im Sinne
konflikthafter Auseinandersetzung verunmöglicht wird.
Vor dem Hintergrund dieser klebrigen Gemengelage von
verdeckten ökonomischen Interessen, Konsens statt Politik und
den direktdemokratischen Mechanismen als Trigger für rassistische
Diskurse, ist es nicht verwunderlich, dass der Begriff Rassismus im
öffentlichen Diskurs in der Schweiz wenig präsent ist – vielmehr ist
von Fremdenfeindlichkeit die Rede, eben von der Fremdenfeindlichkeit
jener, die nicht am „Fortschritt“ und der „Öffnung“ der Schweiz partizipieren können. Rassismus wird so auf ein klassenspezifisch markiertes
und individualisiertes Problem reduziert, das kapitalistische Interessen
genauso verdeckt wie das Phänomen eines Rassismus der mehrheitlichnormalisierenden Mitte. Die Tatsache, dass Rassismus dem liberalen
Selbstverständnis und den politischen Institutionen eingeschrieben ist,
wird damit verschleiert. Eine rassistische Logik, gepaart mit einem ausgeprägten politischen und ökonomischen Liberalismus – dies macht die
Schweiz aus, aber ohne dass das eine auf das andere reduziert werden
kann und auch ohne dass sie voneinander zu trennen wären. ☁
🚀 Nina Bandi ist Philosophin und arbeitet an
der Zürcher Hochschule
der Künste (ZHdK). Im
Rahmen ihrer Dissertation
beschäftigt sie sich mit dem
Begriff der Repräsentation
im Kontext von Politik und
Kunst.
41
Juri Scha den & Sophie Uitz
Keine Perspektive
Skizzen zum Abschiebeknast Vordernberg
🏭 Arbeitsplatz Schubgefängnis
Wer den Wohnsitz nach Vordernberg in die Steiermark verlegt, bekommt
seit Juli 2014 500 Euro Begrüßungsgeld von der Gemeinde. Es ist der
Versuch einer Werbeaktion, zählt Vordernberg doch zu den am stärksten
von Abwanderung betroffenen Regionen Österreichs. Das Dorf liegt in
einem engen, abgeschiedenen Tal, umgeben von industriellen Ruinen
und Relikten. Als Vordernberg noch ein Zentrum der Stahlindustrie war,
umfaßte die Gemeinde dreimal so viele Bewohner_innen wie heute. Über
Jahrhunderte wurde das aus dem steirischen Erzberg gewonnene Erz in
mit Holzkohle betriebenen Hochöfen zu Roheisen verschmolzen und als
veredelter Rohstoff weiter verkauft, bis die Vordernberger Öfen technologisch mit den koksbefeuerten Anlagen des benachbarten Leobens nicht
mehr konkurrieren konnten. Erzimporte aus billigeren Abbaugebieten
und die zunehmende Mechanisierung des Bergbaus trugen ebenfalls dazu
bei, dass immer mehr Arbeitsplätze verschwanden und viele Menschen
wegzogen.
2014 wurde in der Gemeinde ein Schubgefängnis eröffnet. Die
Aussicht auf bis zu 200 neue Arbeitsplätze hatte den Anstoß dafür gegeben, sich beim Innenministerium als Standort zu bewerben. Das Gefängnis wurde als wirtschaftlicher Hoffnungsträger und Beitrag zur Lösung
der mittlerweile chronischen Abwanderung präsentiert.
Nach Erteilung des Zuschlags verzögerte sich die Realisierung
aufgrund der Entdeckung einer unter Naturschutz stehenden Kolonie der
roten Waldameise am designierten Gefängnisgelände.
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Diktion der Verdrängung
In einer Pressemitteilung des Innenministeriums hieß es
zur Lage des Gefängnisses am Ortsrand, dass diese gewählt wurde
um „eine für das Gemeinwohl verträgliche elementare Vollziehung
der Schubhaft zu garantieren.“ Am Rand des Dorfes und somit am
Rand der Gesellschaft sitzen Menschen ausgegrenzt und eingezäunt
in Vordernberg ihre Schubhaft ab. Ausgegrenzt wird damit auch das
Bewusstsein um die systematischen Illegalisierungen, Inhaftierungen
und Abschiebungen von Menschen, die in ganz Europa tagtäglich an
den Rändern der gesellschaftlichen Wahrnehmung vollzogen werden.
Im Abschiebeknast Vordernberg manifestiert sich dies in einer in
architektonischen Zynismus gegossenen Diktion der Verdrängung.
Diese tritt schon dann zutage, wenn das zuständige Architekturbüro
Sue die intendierte Wirkung ihres Gefängnisbaus beschreibt: „Obwohl alle geforderten Sicherheitsanforderungen erfüllt sind, tritt das
Gebäude nicht als Strafgefängnis in Erscheinung.“ Das Juryprotokoll
des Architekturwettbewerbs hebt lobend hervor, dass es „als Gebäude
in gewohnter Typologie“ die Straßenansicht prägt und „Normalität“
vermittelt. Mit gläserner Vorderfront, Seekiefer-Paneelen, lichtdurchfluteter Atmosphäre und einer Architektur, die sich selbst als modern
und humanistisch bezeichnet, wurden in Vordernberg keine Mühen
gescheut um das Wissen darüber zu verdrängen, dass es sich bei dem
schmucken Neubau um ein Gefängnis handelt, dessen alleiniger Zweck
es ist, Menschen einzusperren, auszugrenzen und abzuschieben.
In einer Pressemitteilung der privaten Sicherheitsfirma G4S
Secure Solutions AG wird das Leben (und die Arbeit) im Schubgefängnis zur ländlichen Urlaubsidylle verklärt: „Die Angehaltenen in Vordernberg fühlen sich in den Händen unserer MitarbeiterInnen bestens
aufgehoben.“ Offener Vollzug, Freizeitangebote und ein Foto von lachenden „Angehaltenen“, verstärkt durch die Abbildung eines in arabischer Schrift verfassten Briefs eines Gefangenen, der sich laut Übersetzung beim Management für die „großartige Betreuung“ bedankt. Der
Betrieb des Gefängnisses ist an G4S ausgelagert, womit in Vordernberg
das erste privat geführte Schubgefängnis Österreichs steht. Für G4S ist
der Betrieb von Gefängnissen nichts Neues. G4S ist eine international
agierende Firma, die seit Anfang der 1990er Jahre weltweit die Arbeit
von Militär und Polizei ergänzt. Sie ist bekannt für schlechte Besoldung
ihrer Mitarbeiter_innen und deren Prekarisierung.
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🚀 Juri Schaden lebt in
Östereich.
🚀 Sophie Uitz ist freischaffende Theoretikerin
und lebt in Wien. Derzeit
schreibt sie an ihrer Dissertation über Gewalt- und
Autoritätskritik
Gefangene zählen
Abschiebung, Ausschaffung – Deportation? Möglichst frei
von Konflikt und Bedenken versucht die Sprache der Behörden aufzutreten, die lieber von Rückführungen, Ausweisungen oder Überstellungen spricht, sofern nicht in euphemistischer wie zynischer Weise von
freiwilliger Ausreise die Rede ist – deren suggerierte Freiwilligkeit darin
besteht, sich für die sofortige Ausreise bei ansonsten drohender Schubhaft oder Illegalisierung zu entscheiden. Die neutralisierte und neutralisierende Sprache der Abschiebebehörden trägt zur Verdrängung
des Zwangscharakters jeder Abschiebung und der ihr vorausgehenden
Schubhaft aus dem Bewusstsein bei und war auch in Vordernberg
von Anfang an am Werk. Vom neuen Abschiebeknast wird offiziell als
„Anhaltezentrum“ (AHZ) gesprochen, der öffentliche Diskurs um das
„AHZ“ adressierte in den Jahren der Planung und des Baus nur selten
die Tatsache, dass es sich dabei um ein Gefängnis handelte. Seine Beziehung und Bedeutung für den Ort erhielt der Knast erst über seine
Funktion als wirtschaftlicher Betrieb, der das Gemeindebudget durch
Gemeindeabgaben und Kommunalsteuern aufbessert und neue Arbeitsplätze und Perspektiven für die Region schafft. Das Gefängnis nicht als
Ort des gesellschaftlichen Strafens und Disziplinierens, des Ein- und
Wegsperrens, sondern primär als wirtschaftlichen Betrieb begreifend,
werden die Gefangenen auch sprachlich schnell zur Ware reduziert,
die vor ihrer Überstellung verwaltet, verwahrt und gezählt werden
muss. Gefangene heißen dann Angehaltene, die nicht eingesperrt sind,
sondern verwahrt werden; Illegalisierte werden zu Ausreisepflichtigen,
deren Inhaftierung nicht mehr als ein Sicherungsmittel ist. In der Logik
des Zählens und Verwahrens zählen diejenigen, die inhaftiert sind, denn
für jede_n gemeldete_n Gefangene_n bekommt die Gemeinde Geld im
Rahmen des österreichischen Finanzausgleichs. Das Ineinandergreifen der Ökonomisierung von Migration mit dem sich in Vordernberg
sprachlich und baulich manifestierenden Abdrängen in die kapitalistische Logik und Logistik, knüpft daran an, was in dieser Ausgabe auch
Stefano Harney als „Urmoment der Logistik im Kapitalismus“ bezeichnet und Tyna Fritschy am Beispiel des Organhandels im Kontext kapitalistischer Logik diskutiert: Hinter der normalisierend wirken sollenden
Glasfassade des Gefängnisses werden Flüchtlinge und Migrant_innen
auf ihre zählbaren Körper reduziert und zur Ressource im kapitalistischen Warenfluss degradiert. Als Gefangene sind sie in den ersten
Monaten nach der Eröffnung dennoch in Erscheinung getreten: Gleich
mehrere Ausbruchsversuche aus dem Neubau wurden bekannt – zum
Teil waren sie erfolgreich. ☁
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Niki Kuba czek
Papiere teilen
Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Gemeinsamen vor dem
Hintergrund der Proteste gegen Politiken der Illegalisierung
„Ich teile meine Probleme mit dir, und du wirst mit deinen FreundInnen
teilen. Und wenn die Zeit kommt, in der wir kämpfen müssen, werden
1 Muhammad, Numan. wir zusammenkommen, und es wird kraftvoller sein.“1
2013. Das Land ist für uns
alle gleich. Gespräch mit
Numan, geführt von Bue
Rübner Hansen. Übersetzt
von Manuela Zechner.
http://transversal.at/transversal/0313/numan/de
2 Asyl Strike Berlin. 2012.
Demo Flyer. http://asylstrikeberlin.files.wordpress.
com/2012/08/2303-2013-demo-flyer-longenglish.pdf
🚴 Wie kann Teilen als politische Möglichkeit statt als romantische,
gewaltblinde Figur hörbar gemacht werden? Wie also können die radikalen Unterschiede in den Lebensbedingungen und die Unmöglichkeiten des Gemeinsam-Werdens, die vorherrschende Verteilung von
Rechten, Ressourcen und Möglichkeiten genau als die Bedingungen der
Möglichkeit des Gemeinsamen verstanden werden?
Verkettete Protest-Ereignisse
„Lagers are often located in the middle of nowhere. No one sees
us, we cannot see anyone. No one hears us, we cannot hear anyone. No
one talks to us, we cannot talk to anyone! We are invisible.“2 Am 29. Jänner 2012 bringt sich Mohammad Rahsepar in seinem Zimmer im Würzburger Flüchtlingslager um. Darauf folgt ein kollektiver Hungerstreik im
Zentrum von Würzburg und im März 2012 breiten sich die lokalen Platzbesetzungen von Refugees, Geflüchteten und Lagerbewohner_innen in
Deutschland aus. Im September 2012 beginnen Refugee-Aktivist_innen
zusammen mit nicht-illegalisierten Aktivist_innen einen 600km langen
Marsch von Würzburg nach Berlin, wo sie am 7. Oktober ankommen
und den Oranienplatz besetzen. Während Proteste in Ungarn, Italien,
Frankreich, den Niederlanden, Belgien, Schweden und entlang der EUAußengrenzen stattfinden, kommen am 24. November 2012 mehrere
hundert Menschen im Wiener Sigmund-Freud-Park an, die gemeinsam
die 35km vom Flüchtlingslager Traiskirchen nach Wien gegangen sind.
Einige bleiben über die Nacht im Park, denn das Versprechen, dass der
Park nicht „geräumt“ wird, besteht nur bis morgen. „Aber können Sie
uns bitte nicht doch ein kurzes Interview geben, wir brauchen jemanden,
der Deutsch spricht.“ Wer spricht wann im Plenum, wie tun mit den
Übersetzungen, welche Sprachen werden überhaupt gebraucht? Mit
welchen Methoden sollen gemeinsame Forderungen beschlossen werden
und wer verteilt wie das Geld für die Badner-Bahn-Tickets? Viele müssen
sich jeden zweiten Tag in Traiskirchen melden; heute hat wer gesagt, es
ist jetzt auf einmal jeden Tag. Sonst fliegst du aus der Grundversorgung.
40 € im Monat. Ich muss mich nicht melden in Traiskirchen, werde auch
50
nicht abgeschoben. Kann mir hier nicht passieren. Radikale Unteilbarkeit. Radikal unterschiedliche Einsätze. Dass der Park nicht von der
Polizei attackiert wird, gilt jetzt doch bis morgen. Die Zelte können also
noch stehen bleiben. Gute Nacht. Gute Nacht?
Durch deren Stattfinden erreichten die Protestmärsche, Platzbesetzungen und Organisierungsprozesse eine Medienpräsenz, die
es zumindest für eine Weile erlaubte, die Lebensbedingungen und
die Forderungen der Lagerbewohner_innen und Illegalisierten breit
und massenmedial sichtbar zu machen. Den Protesten gelang es, die
Medien dazu zu bewegen, auch andere Bilder von Migration und dem
Begehren anzukommen, zu zeigen: Nicht mehr nur als Kriminelle oder
als zu bemitleidende Opfer tauchten die illegalisiert-Gereisten hier und
dort in den Mainstream-Medien auf, sondern auch als Subjekte, die sich
artikulieren und organisieren.
Auf die vielen und lauten Forderungen nach besseren Lebensbedingungen für Menschen ohne EU-Pass wurde von staatlicher bzw. europäischer Seite aber lediglich mit Repression, repressivem Schweigen
und Sich-Taub-Stellen geantwortet. „Warum fragst du ihn um seinen
Ausweis, mich aber nicht?“ „Einfach so.“ Wie reagierten die Proteste
auf das vorherrschende Schweigen, was konnten sie den vorherrschenden Aufteilungen entgegenbringen? Was konnten sie andeuten,
skizzieren? Auf welche Möglichkeiten des gemeinsamen Kämpfens und
Lebens haben sie verwiesen, und auf welche Verhältnisse zwischen den
Möglichkeiten und den Verunmöglichungen? Wie tun mit dem Umstand, dass viele der Protestierenden darauf angewiesen waren, nicht
aufzufallen – im Lager, auf der Strasse, in den Datenerfassungsprogrammen. Angewiesen auf die Kunst und das Vermögen, unsichtbar zu
werden – Sichtbarkeit, gesehen und erfasst werden, in vielfacher Weise
alles andere als eine Errungenschaft, sondern sich der Einsperrbarkeit
und Abschiebbarkeit aussetzen.
Bedingung wie Folge der Proteste war ein Austausch zwischen
denen ohne bzw. mit „falschen“ Papieren und denen, die die „richtigen“ Papiere besitzen. Dieser Kontakt zwischen Illegalisierten und
denjenigen, denen hier Bürger_innenrechte gegeben wurden, steht
einer strukturellen Verunmöglichung gegenüber: Durch die Isolation
in abgelegenen Lagern oder privatgeführten Unterkünften, die sich als
Gaststätten nicht mehr gelohnt haben. Durch Repräsentationspolitiken
des Othering. Durch die meist radikal unterschiedlichen Alltagsverläufe,
die der Beschäftigung von Illegalisierten und Migrant_innen in unsichtbaren, prekären und extrem unterbezahlten Jobs bzw. der Tätigkeit in
kriminalisierten Ökonomien folgen. Durch die Normalisierung und
51
3 Germaine, Amine.
2013. Der Mann ohne
Chancen. Gespräch mit
Amine, geführt von Lisbeth
Kovacic und Birgit Mennel.
Übersetzt von Birgit Mennel. http://transversal.at/
transversal/0313/amine/de
4 Spivak, Gayatri
Chakravorty. 2008. Can the
Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne
Artikulation, übersetzt von
Alexander Joskowicz und
Stefan Nowotny. Wien:
Turia+Kant. S.53.
5 (S.74)
Naturalisierung dieser Auf- und Ein-Teilungen. Der Nationalstaat marginalisiert also nicht nur räumlich und ökonomisch, indem er Menschen
in abgelegene Gegenden verlegt, ihre Arbeitskraft illegalisiert und so
noch effektiver ausbeutbar macht, sondern er bringt auch und genau
dadurch die Stimmen der Marginalisierten zum Schweigen: Ihre Lebensbedingung werden unsichtbar gemacht sowie auch die staatlichen
Praxen der Aus- und Einteilung. Der Kontakt zwischen Illegalisierten
und denen, die als „von hier“ gelten, wird vielfach verunmöglicht. Die
Stimmen, die vom Umgang mit der Gewalt und von den Überlebensstrategien erzählen könnten, werden unhörbar gemacht. Der Austausch und
die Verkettung mit Menschen, denen hier vermeintlich natürlich Rechte
und Ressourcen zukommen, be- oder verhindert.
Gleichzeitig mit diesen mannigfaltigen, festen und weniger festen
Verunmöglichungen, vorherrschenden Auf- und Einteilungen existiert
aber das Vermögen, sich zu widersetzen, sich der Kontrollmechanismen
zum Trotz zu bewegen, zu vernetzen und Grenzen zu überschreiten. „An
der Grenze zwischen Serbien und Ungarn hat mich die Polizei aufgehalten. Weil ich in Ungarn nicht um Asyl ansuchen wollte, haben sie mich
nach Serbien zurückgeschickt. Aber beim zweiten Versuch, nach Ungarn
einzureisen, war ich dann erfolgreich.“3 Die Denormalisierung, Sichtbarmachung des Grenzregimes, der Nationalstaatlichkeit und deren
Gewalt bedeutet auch, die Widerständigkeit, Autonomie der Migration
gegenüber dem Grenzregime hörbar zu machen.
Die Ambivalenzen des Zuhörens
Wie kann die Widerständigkeit gehört werden, ohne von autonomen, heroischen, individuellen Subjekten auszugehen? Die Arbeit
des Zuhörens, die Gayatri Chakravorty Spivak als Stimmhaft-Machen
des Individuums4 und als Aufmerksamkeit für die andauernde Konstruktion der Subalternen5 umschreibt, ist von Ambivalenzen geprägt: Sie
verweist auf ein Hinhören, Aufwerten, Wissen, Überlebensstrategien
Anerkennen und impliziert gleichzeitig eine Verweigerung, die marginalisierten Stimmen zu homogenisieren, zu romantisieren, zu essenzialisieren und zu re-identifizieren. Es geht hier um eine Widersprüchlichkeit, die sich jedem Denken in Dichotomien entziehen möchtet: Den
Stimmen der Marginalisierten zuzuhören heißt nicht, diese als autonom
und von den Herrschaftsverhältnissen unabhängig vorauszusetzen.
Dieses Zuhören heisst aber gleichzeitig, ihre Einzigartigkeit, die Kraft
ihrer Singularität zu bemerken, durch die sie sich der universalisierenden Lesweise als Opfer, aber auch jener der heroisch-nomadischen
Figur widersetzen.
52
Zuhören-Lernen bedeutet also die Vielstimmigkeit, Gleichzeitigkeit von Eingeschränkt-Sein und das Vermögen, sich der Einschränkung
zu entziehen, zu hören. „Es gibt auf der einen Seite ein negatives Bild der
MigrantInnen – als ausgebeutetes Subjekt, und auf der anderen Seite gewissermaßen ein positives Bild: MigrantInnen als kulturelle Avantgarde der
Gegenwart, als diasporische Subjekte, ‚KosmopolitInnen von unten’. Ich
6 Mezzadra, Sandro. 2010. glaube, diese theoretische Polarität muss überwunden werden.“6
Autonomie der Migration
– Kritik und Ausblick. Übersetzt von Martin Birkner. In
Grundrisse. Zeitschrift für
Linke Theorie und Debatte.
Nr.34, S.22-29. S. 22
7 Kader, Simo. 2013. Ich
lebe wie diese Tiere, die
Fledermäuse … nur in der
Nacht. Gespräch mit Simo,
geführt von Birgit Mennel.
Übersetzt von Stefan
Nowotny. http://transversal.at/transversal/0313/
simo/de
Wie Widerstand denken
Widerständigkeit ist alles andere als ein heroischer, individueller Akt, sondern das lebendige Vermögen singulär und gemeinsam sich
der Kontrolle und der Regierung zu entziehen. Die Widerständigkeit
existiert also nur als im-Verhältnis-zu den Regierungstechniken, denen
sie immer wieder zu entwischen versucht in der Erfindung neuer Überlebensstrategien. „Ich will ein ruhiges Leben führen. Aber hier in Europa
muss ich es noch immer suchen, dieses ruhige und schöne Leben. Derzeit
lebe ich wie diese Tiere, die Fledermäuse. Wie Tiere, die nur in der Nacht
leben. Wenn ich die Polizei sehe, muss ich mir ständig die eine oder
andere List ausdenken, damit ich nicht mit ihnen reden muss und die
Kontrollen umgehe.“7 Die Autonomie der Migration liegt nicht in ihrer
Unabhängigkeit, sondern im nicht-(völlig-)determiniert-Sein durch die
Kontrollinstrumente: Das Vermögen, Wege zu finden, der Kontrolle auszuweichen, ihr zu entwischen, sie auszutricksen. Widerständigkeit ist das
gelebte Angehen gegen Regierungsweisen, das immer gleichzeitig mit von
Gewalt-betroffen-Sein, Schmerz und Handlungsvermögen, Potenzialität
zu tun hat; eine Gleichzeitigkeit, die der Sprache vermutlich fortlaufend
entwischen und ihr auf der Nase heru m tanzen wird. Vielleicht auch eine
Gleichzeitigkeit, die der Sprache wie eine Karotte vor der Nase baumelt
und sie so immer wieder aufs Neue zum Fortbewegen lockt.
Konstruktionen und Ereignis des Gemeinsamen
Manche besaßen Rückzugsorte, Schlafplätze, wo sie sich
erholen konnten. Soziale und/oder physische Räume. Manche hatten
wenig Zugang zu solchen Orten, andere noch weniger, wieder andere
jetzt gerade für diesen Moment. Die vielen Proteste gegen die nationalstaatlichen und europäischen Illegalisierungspolitiken hätten sich nicht
ereignen können, wäre da nicht das Begehren gewesen, die radikalunterschiedlichen Erfahrungen zu übersetzen, darauf zu beharren,
gemeinsame Forderungen zu stellen, um ein wie auch immer fragmentarisches und unvollständiges Gemeinsames zu konstituieren. Formen des
Zusammenseins und Formen des Dagegen-Seins. Judith Revel führt den
53
8 Revel, Judith. 2011. Das
Gemeinsame konstruieren.
Eine Ontologie. In Inventionen. Hrsg. Isabell Lorey,
Roberto Nigro, Gerald
Raunig, S. 27-37. Zürich:
diaphenes. S.29
9 Papadopoulos, Dimitris
und Vassilis S. Tsianos.
2013 After Citizenship:
Autonomy of migration,
organisational ontology and
mobile commons, In Citizenship Studies, Volume
17, Issue 2, S.178-196.
Begriff des Gemeinsamen ins Feld, um einer allumfassenden Idee von
Universalität etwas entgegenzuhalten. Die Konstruktion des Gemeinsamen siedelt sie inmitten der Dichotomie zwischen geschichtlichem
Determinismus und menschlicher Erfindungskraft an, denn „wir haben
es mit einem Pansch beider Modelle zu tun.“8 So wie die Migration der
Kontrolle ausweichen kann und von ihr mitbestimmt ist, so ermöglicht
sich das Gemeinsame trotz der Differenzen und ihnen entsprechend.
Und so wie das Migrationsregime von der Regulierung der Formen der Sichtbarkeit abhängt, so ereignete sich fragmentarisch eine
Hörbarkeit auf der Ebene der Massenmedien, den Regulierungen zum
Trotz: Es war nicht ein bereits konstituiertes „Gehör“ der Massenmedien, das in Folge ermöglichte, die Stimmen, also die Forderungen, die
Kritik und die Widerständigkeit der Illegalisierten, zu hören. Es war
das Stattfinden der Artikulation und der Organisation allen Verunmöglichungen zum Trotz, das die Stimmen der Illegalisierten für einen
gewissen Zeitraum in den Massenmedien hörbar werden ließ. So wie die
Migration die Kontrollmechanismen zur Rejustierung zwingt, so nötigte
das Sprechen-trotz-allem – als Ereignis – die Medien dazu, Bilder der
Organisierung und der Artikulation der Illegalisierten zu zeigen – Bilder, die andeuten konnten, das etwas ganz grundsätzlich verkehrt läuft.
Bilder, die womöglich das gegenwärtige Migrationsregime ein stückweit
denormalisieren und denaturalisieren konnten. Und gleichzeitig hätte
dieses Sprechen-trotz-allem, diese andere Form der Sichtbarkeit und der
Hinweis auf mögliche Formen der Verkettung und des Gemeinsamen
sich nicht so ereignen können, wäre ihm nicht eine lange, mannigfaltige
und erkämpfte Geschichte um das Zuhören-Lernen in und jenseits
antirassistischer Zusammenhängen vorher gegangen.
Mobile commons, gemeinsames sich-Entziehen
Entgegen einer individualisierten Vorstellung von Widerständigkeit beschreiben Dimitris Papadopoulos und Vassilis Tsianos9 die
Autonomie der Migration genau als das Vermögen, Formen des Lebens
jenseits der Regulierung der Migration hervorzubringen: Möglichkeiten,
die in Netzwerken des Tausches von Ressourcen, Informationen und Affekten bestehen. Räume des Teilens, die sie die mobile commons nennen.
Räume des Gemeinsamen, die es vermögen, sich der vorherrschenden
Auf- und kapitalistischen Einteilung gegenüber immer wieder aufs Neue
flüchtig zu verhalten. Mobile commons stellen eine Assemblage aus Affekten und Imaginationen der Bewegungsfreiheit dar, die sich mindestens so
sehr den Regierungen der Migration entziehen, wie das die migrantischen
Praxen als physische Bewegungen von Körpern im gerasterten Raum tun.
54
10 Negri, Antonio. 2011.
Auf der Suche nach dem
Common Wealth. In Inventionen. Hrsg. Isabell Lorey,
Roberto Nigro, Gerald
Raunig, S. 38-53. Zürich:
diaphenes. S.47.
11 Maghreb Arabisch für
die, die ihre Papier verbrennen; aber auch im übertragenen Sinne, für die, die
ihre Zukunft verbrennen,
sich also aufs Ungewisse
der Reise ohne fixe Ankunft
einlassen.
12 Yassine Zaaitar, in:
Enfin j’avais quitté le bled,
aufenthaltsraum 2013.
(Film, 23 min)
13 Refugee Tent Action.
2013. I rebel, therefore I exist. http://www.refugeetentaction.net/index.
Die Autonomie der Migration können wir damit als Vermögen
begreifen, sich dieser Begrenzung insofern zu entziehen, als sie immer
wieder aufs neue soziale Netzwerke, affektive Bündnisse, Wahrnehmungsweisen und Imaginationsräume herstellen kann, welche der Beschränkungen des Migrationsregimes trotzen oder entfliehen können. In
Erweiterung des Ansatzes von Papadopoulos und Tsianos, die die mobile
commons nur zwischen Migrant_innen verorten, möchte ich vorschlagen, die Organisierungen und die mannigfaltigen Austauschprozesse
der letzten Jahre, die als Refugee-, Non-Citizen- oder Flüchtlingsproteste
stattfanden, als bzw. über die mobile commons zu begreifen: Fragmentierte und widerständige Räume, die von den singulären Erfahrungen
der illegalisierten Migration ebenso abhängig waren wie auch umgekehrt. „Nichts würde sich konstituieren, wenn nicht das Gemeinsame
den Singularitäten Sinn verliehe und wenn nicht die Singularitäten dem
Gemeinsamen Sinn verliehen.“10
„Wir, die Harraga11 haben eine einzige Organisation: Ich kann
mich selbst organisieren, ich kann meine Reise selbst organisieren.“12
Wenn die Autonomie der Migration im Gemeinsamen besteht, individualisiert und singulär überleben zu können, dann muss es darum gehen, von
dieser Realität ausgehend ein anderes Gemeinsames zu schaffen, das ein
Gemeinsam-Leben konstituieren möchte anstatt einem Gemeinsamen
von Überlebensformen. „ … in order to transform our survival into actual
living“13. Formen des verstetigenden Teilens entwerfen, die den Austritt
aus dem Überleben und den Eintritt ins Leben möglich machen. Der Romantisierung der Überlebensfähigkeit entgegen muss es also darum gehen, die Möglichkeiten des Gehens und des Bleibens für alle zu schaffen.
Praxis des Teilens, der Aufteilung und Rasterung von Nationalstaat und
Kapitalismus, sich-widersetzend und ihnen-entwischend.
Zuhören-um-zu-Antworten als Praxis des Teilens
Wenn wir dieser Rasterung, Individualisierung etwas entgegensetzten wollen, dann heisst das nicht einfach diametral für eine
möglichst allgemeine Veränderung zu kämpfen, sondern die Effekte der
individualisierenden Illegalisierung, Wegsperrbarkeit und Abschiebbarkeit so weit wie möglich weiter zu teilen: Solange es das Grenzregime
in dieser Form gibt, sind Kämpfe dagegen unter anderem auch immer
Kämpfe um Papiere und ein besseres Leben für Einzelne. Denn das
Gemeinsame kann nirgendwo anders erprobt und erfunden werden
als in, in Ablehnung von und hinaus aus den gegenwärtigen sozialen
Realitäten, die das Recht zu bleiben und das zu gehen immer noch
nur individuell vergeben: Um das Leben Einzelner kämpfen als Kampf
55
14 Spivak, Gayatri
Chakravorty. 2000. Translation as Culture In Paralax
6:1, S.13-24. London:
Routledge.
15 Linda’s friends from
planet10. 2014: Share your
privileges. To be remembered: Linda Nkechi Louis.
http://www.malmoe.org/
artikel/alltag/2856
16 Muhammad, Numan.
2013. Das Land ist für uns
alle gleich. Gespräch mit
Numan, geführt von Bue
Rübner Hansen. Übersetzt
von Manuela Zechner.
http://transversal.at/transversal/0313/numan/de
🚀 Niki Kubaczek lebt in
Wien. Er hat Soziologie
studiert, studiert noch
immer an der Akademie der
Bildenden Künste und ist
Teil von transversal texts.
Die letzten Jahre haben
ihn u.a. Möglichkeiten
und Unmöglichkeiten von
Allianzen zwischen postkolonialer und postfaschistischer Kritik, zwischen
antirassistischer und
antifaschistischer Praxis
beschäftigt.
um ein gutes Leben für alle. Differenzen sehen, hören, übersetzen. „It
is this act of hearing-to-respond that may be called the imperative to
translate.“14 Formen der Übersetzung, die sich nicht linear und sukzessive entwickeln, sondern als Ereignisse des Gemeinsamen stattfinden.
Formen der Hörbarkeit, die die Unterbrechungen und die möglichen
Verbindungen sichtbar werden lässt.
Manche kämpften und kämpfen um die Verbesserung der
Bedingungen, unter denen sie gezwungen waren, ihr Leben zu organisieren. Manche gegen Bedingungen, die sie ZUM KOTZEN finden.
Manche um bessere Lebensbedingungen ihrer Freund_innen.
Die Proteste als Orte der Vernetzung können wir somit auch als kleine
Raum-Glättungs-Maschinen verstehen, die der Verzögerung und Rasterung Vernetzungsmöglichkeiten entgegenhalten konnten; nicht als
Lösung aller Probleme, sondern als Moment der teilweisen Beschleunigung: eher und früher ankommen können oder leichter und schneller
abhauen können; Kohle, Kontakte und Infos zur Verfügung stellen,
wenn wer sein Glück in Italien oder Deutschland versuchen möchte;
Kohle, Kontakte und Infos zur Verfügung stellen, wenn wer ankommen
möchte, einfach mal schlafen möchte.
Wenn wir Migration nicht nur als Bewegung von autonomen
Körpern im Raum begreifen, sondern versuchen, sie auch entlang ihrer
Fähigkeiten der Vernetzung zu lesen und hier einen wesentlichen Aspekt ihrer Widerständigkeit verorten, dann kann das auch zur Möglichkeit werden, nichtidentitäre, transversale Assoziationen, Allianzen und
Formen der Widerständigkeit zu imaginieren und diese zum Wuchern
zu bringen. Das Migrationsregime und die Politiken der Illegalisierung
zu denormalisieren heisst also ein Zuhören zu entwickeln und zu ermöglichen, das Gewalt und Widerständigkeit bemerkt, Differenzen nicht romantisiert, essenzialisiert oder reidentifiziert, sondern da-durch Formen des
Gemeinsamen, des Zuhörens-um-zu-Antworten (er)findet: Praxis des Teilens
verstetigt und weiter teilt.
„With Linda this space learned that sharing privileges is a daily
reinvented and developed political practice. With Linda this space learned about the political importance of differences in privileges – and that
searching for ways to collectively struggle, fight, resolve, let it go unresolved and go on with what we agree is central.“15
„Ich teile meine Probleme mit dir, und du wirst mit deinen FreundInnen teilen. Und wenn die Zeit kommt, in der wir kämpfen müssen,
werden wir zusammenkommen, und es wird kraftvoller sein.“16 ☁
56
Arbeiter_in aus der
K.u.k. Monarchie,
Proletarier_innen,
Zwangsarbeiter_in,
Gastarbeiter_in,
„Tschusch“,
Ausländer_in,
Migrant_in,
Saisonarbeiter_in,
undokumentierte(r)
Arbeiter_in.
🚀 Carlos Toledo ist Grafik
Designer und Teil von
Toledo i Dertschei. Das
Plakat Arbeiter_in zeigt
die Unmöglichkeit auf, ein
antirassistisches Plakat zur
Kontinuität der Überausbeutung in Österreich zu
gestalten.
57
Christoph Brunner
1 Siehe Brian Massumi,
„Fear (The Spectrum
Said)“, in Positions 13:1
(2005), S. 32-47.
2 http://www.dhs.gov/
national-terrorismadvisory-system
3 Hito Steyerl verfolgt
ähnliche Interessen in ihrer
Arbeit zu Bildpolitiken. Siehe Hito Steyerl, Die Farbe
der Wahrheit: Dokumentarismen im Kunstfeld, Wien
2008. Insbesondere auch:
Dies. „Das Reich der Sinne:
Polizei-Kunst und die Krise
der Sinne“, transversal
(Juni 2007), http://eipcp.
net/transversal/1007/steyerl/de sowie ihre Arbeit Red
Alert auf der documenta 12.
Die Farbe des Territoriums:
Umwertung und existenzielle
Territorien
� Affektive Atmosphären der Angst
Kalifornien befindet sich im Ausnahmezustand. Dieser
wurde am 17. Januar 2014 vom kalifornischen Gouverneur aufgrund
der anhaltenden Dürre ausgerufen. Das visuelle Pendant zur diskursiven Proklamation findet seinen deutlichsten Ausdruck in den
territorialen „drought monitor“-Grafiken, die das Gebiet in Orange- und Rottöne einfärben. Es handelt sich um eine affektive Politik
der Visualisierung, die die Bewohner_innen zur Partizipation und
Wachsamkeit anhalten soll. Das Territorium wird zu einem sinnlich
aufbereiteten Nährboden für eine Politik der Angst, wie sie spätestens
seit der unter der G.W. Bush-Administration nach 9/11 eingeführten
Terrorwarnskala Teil des US-Alltags ist. Von 2002 bis 2011 verwies
die Farbskala auf den Status der nationalen „Sicherheit“ bzw. Unsicherheit im Bezug auf mögliche Terrorattacken.1 In beiden Fällen
lässt sich eine Verbindung herstellen zwischen sinnlicher Aufmerksamkeit, dem Aufruf zur Partizipation an der Sicherheit der Nation
und der individuellen Verantwortung. So formuliert das Homeland
Security Office auf seiner Website in der Sektion National Terrorism
Advisory Board: “Das Board geht davon aus, dass alle Amerikaner
[sic] die Verantwortung für die Sicherheit der Nation tragen”.2 Aufmerksamkeit, Partizipation, Verantwortung – so lautet die Diktion
einer Regierungsform, die den möglichen eintretenden Ernstfall vorwegzunehmen versucht. Im Folgenden geht es um die Einfärbung von
Territorien und deren affektive Wahrnehmungspolitik. Partizipation
wird zu einem logistischen Instrument, das territoriale Setzungen mit
einer Verteilung von Angst und Verantwortung zusammenbringt. Es
ist diese logistische Form der Moral, die in ihrer bildlichen Abstraktion Territorien eingrenzt und mit einer bestimmten Wertigkeit, eben
der Sicherheit, verknüpft.3 Innerhalb dieser sinnlichen, logistischen
Kreisläufe changiert Sicherheit angefangen von Ressourcensicherung
bis hin zu Migrationspolitiken und der Terrorismusprävention. Demgegenüber stehen mögliche Praktiken der „Umwertung aller Werte“
(Nietzsche), die das Territorium in seiner materiellen und sozialen
Realität begreifen und so einer homogenen moralischen Logistik der
Angst widerstehen. Kalifornien dient hier als Kristallisationspunkt an
dem die territorialen Fragen der Migration zwischen Mexiko und den
USA mit denen einer Umweltkatastrophe zusammenlaufen und so
58
4 Einen guten Überblick
über Cruz‘ Arbeiten gibt
seine Website:
estudioteddycruz.com
eine übergreifende Logistik mit dem Ziel der Partizipation und Verantwortung hervorbringen.
Die Grenze zwischen Mexiko und den USA gehört zu einer
der meistbewachten und am häufigsten durchkreuzten Demarkationslinien unserer Gegenwart. Wo sind die existenziellen, sprich materiellen
Territorien, die ein Überleben im Gebiet der extremen Überwachung
zwischen Mexiko und USA ermöglichen? In Zeiten des logistischen
Kapitalismus, wie ihn Stefano Harney oder Sandro Mezzadra und Brett
Neilson unter anderem auch in diesem Heft ausarbeiten, stellt sich die
Frage, wie sich neue Territorien, abseits der abstrakten Einfärbungen,
eröffnen. Als mögliche Antwort auf diese Frage möchte ich auf die (gegen-)logistischen Strömungen eines „informellen Urbanismus“ eingehen, die sich in Tijuanas Shantytowns und San Diegos Vororten, bzw.
„the great transnational metropolis San-Diego-Tijuana“, ereignen.4 Es
handelt sich um Territorien, die sich je nach materieller, sozialer und
immaterieller Strömung von Dingen und Menschen einfärben, die sich
aber vor allem auch als Teil einer materiellen Umwertung konstituieren
– als mögliche Gegenaktualisierung zum logistischen Kapitalismus.
Political Equator
2007 wurde die letzte Publikation der Ausstellungsserie
inSite mit dem Titel „A Dynamic Equilibrium: In Pursuit of a Public
Terrain“ herausgegeben. inSite ist ein über mehr als 15 Jahre andauerndes Projekt zu politischen, ökonomischen und sozialen Prozessen
entlang und quer zur Grenze zwischen Mexiko und den USA, Tijuana
und San Diego. Der Grund für mein Interesse an dieser schon fast zehn
Jahre zurückliegenden Ausstellung ist die Beständigkeit, mit der sich
künstlerische Praktiken transversal mit der Fragen der Grenzpolitiken
auseinandersetzen. Anstelle einer umfassenden Retrospektive der
Ausstellungsserie möchte ich hier insbesondere auf die darin gezeigten
Arbeit des Architekten Teddy Cruz eingehen.
In seiner Arbeitsweise verbindet Cruz materielle, visuelle und
architektonische Strategien, Raum als soziale Intervention zu begreifen.
In den dynamischen Strömungen zwischen Tijuana und San Diego lassen sich nicht nur die Problematiken einer globalen Nord-Süd-Grenze,
die Cruz Political Equator nennt, auf der Ebene menschlicher Arbeitsmigration ausmachen. In seiner Arbeit mit lokalen aktivistischen Gruppierungen in San Diego und Tijuana verfolgt Cruz insbesondere den
infrastrukturellen, materiellen und affektiven Verkehr von Bewegungen
entlang dieser vermeintlichen Grenzlinie. Der Political Equator ist für
Cruz ein globales Phänomen, das sich entlang einer Linie zwischen dem
59
5 Teddy Cruz, „Border
Postcards: Cronicles
from the Edge“, in Sally
Yard (Hg.), A Dynamic
Equilibrium: In Pursuit of
Public Terrain, San Diego
2007, S. 70.
6 Teddy Cruz, „Mapping
Non-Conformity: PostBubble Urban Strategies“,
in: Emisphérica 7.1 (Sommer 2010), http://hemisphericinstitute.org/hemi/
en/e-misferica-71/cruz
33. und dem 28. Breitengrad um die Erde spannt. Das Projekt verdeutlicht die Zusammenhänge von lokalen Konflikten in Grenzregionen
mit Migrationsströmen Arbeitsuchender von Süd nach Nord und dem
Outsourcing der Produktionsstätten von Nord nach Süd. Diese Beobachtung fußt auf Thomas P. M. Barnetts Schema der „Neuen Weltkarte
des Pentagons“, die den Süden als „Non-Integrating Gap“ (Kluft der
Nichtintegration) und den Norden als „Functioning Core“ (funktionierender Kernbereich) bezeichnet.
In seiner Arbeit als Architekt und Aktivist greift Cruz die
globalen Effekte von Migration und Ökonomie auf und faltet sie in
den verdichteten urbanen Raum zwischen Tijuana und San Diego. Er
beschreibt die Entwicklung des Grenzübergangs San Ysidro als die
sukzessive Verfestigung einer vorher unsichtbaren Linie und als gigantisches infrastrukturelles Projekt, „des längsten Überwachungsinstruments der Geschichte“.5 Cruz sieht diese lokalen Entwicklungen vor
dem Hintergrund globaler Linien der Trennung und Kontrolle entlang
des Political Equator im Zuge des Sicherheitsdiskurses nach 9/11 und
den Polarisierungen von Terrorismus und Angst in ihrer direkten Verbindung zu Formen des Rassismus. Das Territorium des Political Equator wird zur Zone eines Überwachungsdiskurses, das sich auf der Ebene
von Wahrnehmung und visueller Darstellung abspielt. Zugleich findet
eine Verhärtung der Grenze auf physischem Wege statt, die den Fluss
der Körper und Materialien reguliert. Wie, so fragt inSite 2005, erzeugt
man ein öffentliches Terrain? Teddy Cruz’ Praxis nimmt an dieser Frage
nach dem öffentlichen Terrain, oder besser: nach dem existenziellen
Territorium und den komplexen Verwicklungen zwischen globalen,
infrastrukturellen Agitationen kapitalistischer Ausbeutung seinen
Ausgangspunkt. „Informal Urbanism“ ist der Begriff, mit dem sich die
Dialektik von lokal und global, aber auch innen und außen durchbrechen lässt. „Ich sehe das Informelle nicht als Substantiv, sondern als
Verb, das traditionelle Verständnisse von Ortsbezogenheit und Kontext
explodieren lässt und den Blick auf ein komplexeres System eines
verborgenen sozial-ökonomischen Austauschs eröffnet. Ich betrachte
das Informelle als Ort einer neuen Interpretation von Gemeinschaft,
Bürgerschaft und Praxis, in der aus sozialen Verhältnissen auftretende
urbane Konfigurationen eine performative Rolle von Individuen, die
ihre eigenen Räume erschaffen, suggerieren“.6 Urbanismus wird hier
zur Figur einer Taktik gegen transnationale Logistiken der Überwachung und ihren Formen der Gewinnschöpfung. Im grenzübergreifenden Urbanismus entwickeln sich Möglichkeiten neuer Werte jenseits
des moralischen Kontrolldispositivs des logistischen Kapitalismus.
60
7 Ein Beispiel der aktivistischen transborder-Selbstorganisation von Arbieter_innen lässt sich hier finden:
Michelle Téllez, Cristina
Sanidad, „Giving Wings to
Our Dreams“, in: Nancy A.
Naples, Jennifer Bickham
Mendez (Hg.), Border
Politics: Social Movements,
Collective Identities, and
Globalization, New York
2015, S. 323-354.
8 Der Neologismus der
„Transgrenzprojekte“ ist
dem englischen Begriff
„transborder“ geschuldet,
der die Frage der Grenze
von der der Nation im
deutschen Begriff „transnational“ löst.
Die Verhärtung der Grenze, wie sie sich materiell immer stärker manifestiert, ist einer Logistik der Kontrolle geschuldet, die den Fluss von Werten – insbesondere finanziellen Mehrwerten – überwacht. Im Zuge des
NAFTA-Freihandelsabkommens wurde die Südseite von sogenannten
Maquiladoras – Produktionstätten multinationaler Konzerne – überzogen. Diese Fabriken führten zu einem erhöhten Strom von Binnenmigrant_innen, die sich bessere Löhne erhofften, sich jedoch sehr bald mit
der Willkür der Arbeitgeber_innen und der Absenz rechtlicher Zuständigkeiten seitens der mexikanischen Regierung konfrontiert sahen.7 Die
Urbanisierungsbewegungen sind hier vierfach: Zum einen verweilen
immer mehr Migrant_innen aufgrund der Gefahren bei der nicht-registrierten Einreise in die USA in den Randbezirken Tijuanas, die sich zu
Shantytowns entwickelt haben. Zweitens ist dieser Raum Anziehungspunkt für Maquiladoras, da die unmittelbare Verfügbarkeit von Arbeitskraft eine Kontrolle von außen unterbindet. Drittens beobachtet Cruz in
San Diego einen zunehmenden Urbanismus der Homogenisierung und
Gentrifizierung in den Vororten und dem Stadtzentrum. Viertens verlaufen parallel Prozesse der illegalen Mehrfachnutzung von Wohnraum, die
Cruz als „non-conforming program“ bezeichnet.
Die informellen Mikroökonomien, die aus den sozialen Verhältnissen der Migrationsgruppen in San Diego hervorgehen, stehen
in direkter Korrespondenz mit den informellen Urbanisierungen der
Shantytowns in Tijuana. Als weiterer Verdichtungseffekt liefern die
Maquiladoras die entsprechenden Waren für die makroökonomische
Nachfrage des Nordens, während im Süden überschüssiges Baumaterial für Shantytowns wiederverwertet wird. Es sind diese materiellen
und sozialen Strömungen auf mehreren Ebenen, die ein vielfarbiges
urbanes Territorium des Stadtgebietes San Diego-Tijuana ausmachen,
das heterogen, spontan und improvisierend wächst und so die Makroebene der Grenzziehung herausfordert. Cruz nennt denn auch die
Politik, die er verfolgt, einen Urbanismus, der die Eigentumsgrenze
sprengt („urbanism beyond the property line“). In diesem materiellen
Zirkulieren bildet sich eine Zone der Umwertung, die sich einer rein
abstrakten logistischen Verwertung entzieht. Spannend finde ich hier
die vielschichtigen Formen der Intervention, die zugleich die radikale
Trennung durch die militarisierte Grenze anerkennt. In „Transgrenzprojekten“ gemeinsam mit NGOs versucht Cruz diese radikale Trennung
anzugreifen, indem er die mikroökonomischen Flüsse, Fluchtlinien und
sozialen Praktiken in Verbindung mit Policy-making bringt.8 So sieht er
sich in seiner Arbeit oft als Fürsprecher, der sich auch in den Stadtrat
der Grenzgemeinde San Ysidro wählen ließ, um über acht Jahre hinweg
61
eine Veränderung der Bauregulierungen zu erwirken, damit mehrere
und erschwinglichere Wohneinheiten pro Parzelle gebaut werden
können. In der Vielschichtigkeit dieser Prozesse geht es oft darum, die
urbanen, materiellen Infrastrukturen außerhalb der logistischen Einbindung von Mehrwehrt zu aktivieren und diese neu zu besetzen. Dies
steht in einem harschen Kontrast mit den affektiven Politiken der Überwachung und Angst.
9 Siehe zu diesem und den
folgenden Ausführungen,
Hille Koskela, „’Don’t mess
with Texas!’ Texas Virtual
Border Watch Program
and the (botche) politics of
responsibilization“, Crime
Media Culture 7:1 (2011),
49-65.
Überwachung und Abstraktion
2008 startete das Texas Border Watch Program, das es US-Bürger_innen ermöglicht, mittels 26 Webcams die Grenze zwischen Mexiko
und den USA zu überwachen. Es bedarf nicht mehr als einer Onlineanmeldung, und schon ist man Teil eines hoch technologisierten Überwachungsapparats. Über eine Hotline können die „Teilnehmer_innen“ (participants) lokalen Sheriffs Hinweise zu illegalen Grenzüberschreitungen
übermitteln. Das Texas Virtual Border Watch Program ermöglicht eine
Logistik des verdeckten Blicks (die Kameras sind getarnt), die sich an die
unterstellte moralische Verantwortung aller „guten Bürger_innen“ anschließt („see something, say something“) und die affektive Angstzirkulation fortschreibt. Im Zuge von 9/11 wurde Migration mit Terrorismus
in Verbindung gebracht und findet seinen Ausdruck in der Angst vor der
Bedrohung der nationalen, aber auch privaten, Sicherheit.9 Eine Angst,
die nicht mehr bedarf als einer Farbskala oder eines Tanzes grauer Pixel
auf einem Bildschirm fern der nächtlichen Grenze zwischen Mexiko und
Tijuana. Es wird deutlich, dass der Blick durch die Kommunikationsnetzwerke das Territorium auf den häuslichen Bildschirmen abstrahiert, während das Territorium zugleich – meist dürr und gräulich – von möglichen
polizeilichen Kontrollakten heimgesucht wird. Die 26 Kameras befinden
sich in ländliche Gegenden, und diese wirken oft wie ausgetrocknete Stillleben. Die Grenze wird durch die Überwachung immer wieder neu, und
zwar abstrakt, konstituiert. Sie existiert nicht mehr nur als physischer Ort
der möglichen Transgression, sondern als immanente Potenzialität des
alltäglichen Blicks. So hat es doch für die Beobachter_innen keine Konsequenzen, wenn man eine Grenzüberschreitung berichtet, umso mehr aber
für die Individuen, die dadurch der Polizei ausgeliefert werden. Zudem
wurde durch die Operation Gatekeeper der Migrationsstrom bewusst von
städtischen Zonen in ländlichere Gegenden verschoben, in denen der
Grenzübergang oft weitaus gefährlicher ist. Diese am Bildschirm langweilig anmutenden Bilder von Landstrichen und die erhöhte Gefahr des
Übergangs bringen die zynische Situation der Überwachungslogistik „at
a distance“ auf den Punkt.
62
Wie die Verfahrensweisen eines logistischen Kapitalismus,
der sich minutiös in die Alltagspraktiken einschreibt und jede Geste
zur Wertschöpfung umfunktioniert, so ist das Texas Border Watch
Program eine Indienstnahme der Bevölkerung mithilfe eines Sicherheits- und Angstdiskurses. Durch die modularen und abstrakten
Prozesse der computerisierten Bilderwelten entstehen neue Formen
des Rassismus, der sich mittels Überwachung an globalen und lokalen
Strömungen orientiert, an Kadenzen und Grafiken, an Einfärbungen
und Farbskalen. Das Territorium wird zu einer Pixellandschaft, die
sich nach Belieben einfärben lässt und somit als Werkzeug der Affektion dient. Durch diese Techniken der Abstraktion wird die Grenze
nicht mehr rein physisch konstituiert, sondern es entstehen immer
neue Grenzziehungen und deren Modulation, auf Basis abstrakter
Darstellungsformen. Zugleich schöpft die Einbindung von freiwilligen
Beobachter_innen Arbeitskraft ab, und generiert durch die technologisch-logistische Modulation einen Mehrwehrt an (potenzieller, affektiver) Sicherheit. Die Modulation der visuellen Grenzkontrolle paart
sich mit einer vorbeugenden Logistik der Kontrollstrategien, die aus
Sammlungen transnationaler biometrischer Datenbanken und Profilen potenziell gefährlicher Nationen besteht. Big Data at its best.
Fluchtlinien hin zu existenziellen Territorien
Cruz bezeichnet San Diegos Homogenisierung als „beige“
Kultur. Man könnte auch vom klassischen Standardgrau von Elektronikgeräten sprechen, das eine Resonanz zwischen homogenisierter
urbaner Struktur und technologischer Infrastruktur nahelegt. Gegen
diese homogenisierenden Darstellungen wendet sich Cruz’ Begriff der
„urban pixelation“. Mit diesem Begriff beschreibt er Mikrointerventionen, die sich den Bedürfnissen der lokalen Migrationsgruppen anpassen. Das soziale Bauprojekt Casa Familiar in San Diegos Grenzort
San Ysidro beinhaltet flexible Räumlichkeiten, die sich je nach sozialen
und familiären Umstände anpassen lassen und zum Teil als Büros oder
Student_innenstudios dienen können. Soziale Bedürfnisse fließen hier
in die materiellen Formungen der Architektur ein. Der Ort bietet Platz
für kleine Zusammenkünfte und beinhaltet einen Garten, dessen Erträge für lokal entstehende Mikroökonomien genutzt werden. Die Struktur
passt sich den Umständen eines verdichteten sozialen Lebensraums an.
Zugleich wird die Pixelisierung auch zur visuellen Strategie, um einer
homogenisierten Darstellung – z.B. rot für Alarm – entgegenzuwirken
und auf heterogene, jedoch eng miteinander verwobene, materielle
und soziale Verhältnisse zu verweisen. Cruz produziert Landkarten
63
mit tausenden kleinster Farbpixel, die nicht einer diskreten Ordnung
oder Funktion entsprechen, sondern auf die intrinsische Differenz
von molekularen, sozialen und ökonomischen Strömungen verweist.
Diese Karten machen keine Unterschiede zwischen Mexiko oder San
Diego, sondern forcieren deren Untrennbarkeit als urbanes Kontinuum.
Pixelisierung kreiert einen Umgang mit dem Territorium, der die Abstraktion eines homogenisierenden Blicks und den logistisch glättenden
Zugriff nicht mehr zulässt, sondern die Notwendigkeit einer primären
Heterogenität als existenziell hervorhebt. Gleiches gilt für Cruz‘ künstlerisches Ausstellungsprojekt Border Postcard – Bildcollagen von Sperrgutelementen die kunstvoll zu architektonischen Konstrukten geformt
werden. Diese Collagen beziehen sich auf die dynamischen Kreisläufe
der materiellen Wiederverwertung und Umwertung, die sich transversal durch San Diego-Tijuana hindurch manifestieren. Der Strom von
Sperrgut erstreckt sich bis auf ganze Wohnbungalows, die Mit Trucks
über die Grenze direkt in Tijuanas Shantytowns transportiert werden.
Cruz und sein Team arbeiten stetig an intelligenten Formen der Wiederverwertung. So haben sie Wege gefunden aus aufgeschnittenen und neu
zusammengeklemmten Autoreifen Befestigungswände zu entwickeln,
die als Baugrund neu entstehender Konstruktionen in Tijuana fungieren. Wert entsteht hier nicht aufgrund einer moralisch-logistischen
Codierung sondern durch immanente materielle Kapazitäten und deren
Aktivierungskraft.
San Diego-Tijuana mag auf abstrakter Ebene von einer harten Grenzlinie durchzogen sein. Diese Linie wird jedoch zu einer Zone
informeller Zirkulation ausgeweitet. Die materiellen Prozesse werden
hier von sozialen und politischen Organisationsformen transnationaler
Arbeiter_innenrechtsbewegungen und Aushandlungsprozessen mit
Maquiladoras begleitet. Die mikroökonomischen Bewegungen werden
von Cruz immer in Relation zu möglichen Interventionen auf politischer
Ebene mit den entsprechenden Regierungsstrukturen verknüpft und
entsprechend durch einen Aktivismus transversal zur vermeintlichen
Grenze vorangetrieben. In seinen Talks und Darstellungen (z.B. für
Stadtverwaltungen) wählt Cruz bewusst vielfarbige heterogene diagrammartige Visualisierungen zur Kommunikation komplexer Verhältnisse. Das Territorium besteht hier nicht mehr aus tief eingefärbten
Blöcken der Abgrenzung und logistischer Zuschreibung, sondern wird
zu einem heterogenen existenziellen Territorium, dessen Farbcode nicht
🚀 Christoph Brunner
nach Partizipation und Kontrolle trachtet, sondern neue materielle
ist Forscher, schreibt zu
Kollektivität und Affekt und Handlungsperspektiven eröffnet. ☁
lebt in Zürich.
64
Sandro Mezzadra und
Brett Neilson
Aus dem Englischen von
Christoph Brunner und
Nina Bandi
Dieser Text ist eine leicht
gekürzte Übersetzung von
Sandro Mezzadra, Brett
Neilson, „Operations
of Capital“ , The South
Atlantic Quarterly 114:1,
Winter 2015.
1 Finanzialiserung
bezeichnet in diesem
Zusammenhang die
zusehende Abstraktion von
ökonomischen Aktivitäten der Marktwirtschaft
aufgrund von Derivaten
und deren (spekulativen)
Kalkulationen. Christian
Marazzi, eine hier zentrale
theoretische und politische
Position, beschreibt mit
Finanzialisierung eine
Form der Finanzwirtschaft
die "Produktion von Geld
mittels Geld" bedingt und
den herkömmlichen Handel
von Geld für Waren ersetzt.
Siehe auch: Christian
Marazzi, The Violence of
Capitalism, Cambridge
Mass. 2010.
Zu Verfahrensweisen des Kapitals
und der Entnahme
🚍Entnahme (extraction), Finanzwesen (finance) und Logistik (logistics) liefern strategische Analysekanäle, um zentrale Mechanismen und
Tendenzen aufzudecken, die in gegenwärtigen Diskursen über Kapitalismus verborgen bleiben. Diese Bereiche sind überaus wichtig für die
Beobachtung von aufkommenden Dynamiken, welche den derzeitigen
kapitalistischen Wandel und seine ungleiche globale Ausdehnung prägen. Viele Analysen, die sich auf den Begriff des Neoliberalismus beziehen, verweisen auf das hegemoniale Zirkulieren einer ökonomischen
Doktrin oder auf Deregulierungs- und Steuerungsprozesse, ohne auf
die grundlegenden Transformationen des Kapitalismus einzugehen, um
die es uns mit den Begriffen Entnahme, Finanzwesen und Logistik geht.
Ausschlaggebend für unsere Analyse ist der Begriff der Verfahrensweisen (operations) des Kapitals, der unsere Aufmerksamkeit auf die
materiellen Aspekte der sowohl in spezifischen Situationen stattfindenden Intervention des Kapitals als auch auf ihre breitere Artikulation in
systemischen Mustern lenkt. Die Notwendigkeit einer solchen Analyse
wird insbesondere vor dem Hintergrund der Krise von 2007/2008 deutlich. Während die turbulente Geschwindigkeit der Krise die Hegemonie
der neoliberalen ökonomischen Doktrin in Frage gestellt (und teilweise
sogar zerschlagen) hat, haben sich die von uns hervorgehobenen Entwicklungen bis anhin nur verstärkt.
Die Verbindung der Begriffe Finanzwesen, Entnahme und
Logistik bedeutet keineswegs eine Synthese ihrer Verfahren. Viel eher
möchten wir die Notwendigkeit einer Arbeit mit diesen und durch
diese unterschiedlichen Perspektiven hervorheben. Ebenso geht es
uns darum, analytische Untersuchungen in ihrer konzeptuellen und
empirischen Durchdringung zu verkomplizieren und zu bereichern, um
zu verstehen, wie sich der gegenwärtige Kapitalismus durch und über
die wiederkehrende Krise hinaus verändert. Die Analyse der Finanzialisierung1 eröffnet einen privilegierten Zugang zum Verständnis neuer
Elemente und Mutationen in kapitalistischen Regimen der Akkumulation, der Distribution, der Ausbeutung und der Entnahme. In ihrem
Vorgehen muss sie die materiellen Schnittstellen und die facettenreichen Apparaturen beleuchten, durch welche (die) Finanzialisierung in
der Realität andockt. Durch die Fokussierung auf die Techniken des
Finanzwesens und seine Beschränkungen, die bei dessen gierigem
Versuch der Durchdringung von Nicht-Finanzialisiertem hervortreten,
wird zusehends deutlich, dass es zur kritischen Analyse des heutigen
65
2 Sandro Mezzadra, Brett
Neilson, Extraction, Logistics, Finance. Global Crisis
and the Politics of Operations, Radical Philosophy
178, S. 8–18.
Kapitalismus einer Vervielfältigung empirischer Zugänge ebenso wie
eines komplexeren Begriffsgerüsts bedarf. Gleich der Finanzialisierung,
die die Grenzen eines spezifischen ökonomischen Sektors überschreitet,
können auch Entnahme und Logistik nicht auf klar definierte Bereiche
eingegrenzt werden. Wir haben bereits an anderer Stelle hervorgehoben, dass Entnahme und Logistik für die Funktionsweisen des gegenwärtigen Kapitalismus äußerst wichtig sind.2 Ihnen gemeinsam ist eine
globale Reichweite, die ihnen zugrunde liegende Rationalität sowie die
Fähigkeit, gewaltsam Raum, Territorien und Leben zu unterbrechen
und hervorzubringen.
Wörtlich genommen bedeutet Entnahme die erzwungene
Gewinnung von Rohstoffen und Lebensformen von der Erdoberfläche,
ihren Tiefen und ihrer Biosphäre. Auch wenn diese Aktivitäten historisch nichts Neues sind, so haben sie ein gefährliches und bisher nicht
gekanntes Ausmaß erreicht. Mit der Bevölkerungsexpansion, mit neuen
Technologien, und den grünen Horizonten des Kapitalismus spitzte
sich auch der Ansturm auf die Umwandlung von sowohl organischen
als auch anorganischen Materialien in Werte zu. Der radikale Anstieg
des Landraubs – mittels Zwangsenteignung kultivierbaren Ackerlands
und der Waldrodung zur Produktion von Biokraftstoff und Nährstoffen – ist nur ein Aspekt der gegenwärtigen Landschaft der Entnahme,
die sich weit über die Bereiche des Bergbaus, der Ölbohrungen und
der Fischerei hinaus erstreckt. Ebenso lassen sich wichtige Prozesse
kapitalistischer Inwertsetzung wie die Gentrifizierung urbaner Räume
kritisch als Formen der Entnahme analysieren. Im Gegenzug beschreibt
Logistik die Kunst und Wissenschaft der Umwandlung von Kapital
zur Effizienzmaximierung im Transport, in der Kommunikation, der
Vernetzung und der Distribution. Auch wenn die Koordination von
Produktion und Distribution immer schon Teil des Kapitalismus war, so
haben die globalen Ketten und Netzwerke der Produktion und Zusammenfügung die Linien zwischen Produktion und Distribution aufgrund
der Bewegung von Komponenten, Menschen und Wissen entlang heterogener globaler Standorte verschwimmen lassen. Die technische
Bestimmung industrieller Orte, Zonen und Knotenpunkte mithilfe von
Berechnungen, die die Arbeitskosten gegen Transportkosten aufrechnen, wurde zu einem maßgebenden Mittel zur Erstellung von Arbeitsund Produktionstopographien. Die Ermöglichung solcher logistischer
Prozesse durch infrastrukturelle Einrichtungen und Interventionen, als
Hardware und Software, entwickelte sich zu einem lebhaften Bereich
kapitalistischer Aktivität mit dem Vermögen, ökonomische und soziale
Zukünfte zu formen. Diese Prozesse vollziehen sich anhand von unter66
schiedlichen Mustern entlang von Pfadabhängigkeiten und einer Alchemie von Algorithmen, Daten, Beton und Stahl.
Ein wichtiges Werkzeug für die Analyse von Entnahme und
Logistik ist der Begriff der Verfahrensweisen des Kapitals. Die Dynamiken der Enteignung, Ausbeutung und Akkumulation werden deutlich
durch die verkürzte Geschwindigkeit zwischen Öffnung und Schließung,
Inklusion und Exklusion, die den Austausch zwischen Kapital und einer
heterogenen Anordnung von sozialen und räumlichen Formationen bestimmt. Wir sind daran interessiert, wie hoch entwickelte Techniken und
Technologien des Wissens und der Kalibrierung in die soziale Realität
des Kapitals eindringen, das trotz seiner vielschichtigen Mutationen und
Brüche die gegenwärtigen Lebens- und Kooperationsweisen weiterhin
dominiert. Auch wenn eine Verfahrensweise als Teil eines weiteren Netzwerks von Verfahrensweisen existiert, so ist es doch heuristisch möglich,
den Moment spezifischer materieller Verfahrensweisen zu isolieren, um
analytisch die Gewalt hervorzuheben, die uns heimsucht und die aus den
verfeinerten und abstrakten Methoden und Paradigmen der Inwertsetzung hervorgeht. In diesem Sinne ist die Verfahrensweise ein Moment
der Verbindung und Vereinnahmung, der die Materialität von noch
so ätherischen Kapitalformen ausstellt. Hier eröffnet sich für uns ein
neuer Weg zur Annäherung an gegenwärtige Abstraktionsprozesse und
globale Verknüpfungen des Preises und der fortlaufend gegenseitigen
Bedingung von „abstrakter Arbeit“ und Geld im Weltmarkt – so wie sie
3 Karl Marx, Theorien über Marx effektiv beschrieben hat.3 Die Analyse des Finanzwesens und der
den Mehrwert, in: MEW Logistik wird zu oft von ihren materiellen Effekten getrennt, während
26/1, S. 253
Diskussionen zur Entnahme die brutalen Momente des Landraubs, der
Ölbohrung oder des Aneignens hervorheben. Der Begriff der Verfahrensweise erlaubt uns die „entnehmende“ Dimension des Finanzwesens
und der Logistik ebenso wie die rechnerischen und immateriellen Bedingungen der Entnahme zu sehen. Genau in dieser Verflechtung heterogener Modi der Entnahme mit den scheinbar metaphysischen Qualitäten
gegenwärtiger Abstraktion zeigt sich der Charakter der gerade entscheidenden Verfahrensweisen des Kapitalismus.
Trotz der Betonung der Verknüpfungen von Abstraktion und
Materialität sollte deutlich werden, dass wir Entnahme, Finanzwesen
und Logistik als zusammenhängende und sich in Wechselbeziehung
befindende Bereiche verstehen, um den gegenwärtigen kapitalistischen
Übergang zu verstehen. Mit dem Begriff „Übergang“ verweisen wir auf
eine offene Zukunft, die trotz alledem gehemmt wird durch systemische
Aspekte, deren kritische Beschreibung mehr bedarf als einer Ansammlung sozialer und ökonomischer Ungleichheiten auf Grafiken und
67
Tabellen. Es ist durchaus möglich, lang andauernde Kontinuitäten der
Entwicklung des Kapitalismus neben den Diskontinuitäten und Unterbrechungen seit den frühen 1970ern und 1990ern zu verdeutlichen.
Sehr wohl lassen sich das Ende des Bretton-Woods-Abkommens oder
der Zusammenbruch des heutigen Sozialismus beschreiben, jedoch besteht zugleich die Notwendigkeit, sich den auftretenden Dynamiken der
Enteignung und Ausbeutung zuzuwenden. Es geht hierbei nicht nur um
die fortlaufende Mutation der ursprünglichen Akkumulation, die sich
durch das Krisenmanagement beschleunigt hat – sei es durch Subprime-Kredite, Landraub, oder die Einschließung „öffentlicher Güter“ im
Wohlfahrtsstaat oder aber durch die logistischen Verschiebungen von
Arbeitsplätzen und Lebensgrundlagen an billigere Produktionsstätten.
Die Verwendung des Begriffs der Verfahrensweisen des
Kapitals eröffnet einen neuen Zugang zur kritischen Analyse der Beziehungen zwischen Kapital und Kapitalismus. Eine Verfahrensweise
bezieht sich immer auf einen bestimmten kapitalistischen Akteur,
während sie gleichzeitig in ein weiteres Netzwerk von Verfahren und
Verhältnissen mit anderen Akteuren, Prozessen und Strukturen eingebunden ist. Hierdurch ergeben sich zwei analytische Stoßrichtungen
zur Untersuchung der Funktion einer Verfahrensweise. Eine erste, mit
Verweis auf spezifische kapitalistische Akteure, enthüllt die Arbeitsweisen des Kapitals und insbesondere seine materiellen Konfigurationen.
Sie beleuchtet sowohl die Wertschöpfungsprozesse als auch die Reibungen und Spannungen, die sie wiederholt in gelebten und geerdeten
Umständen durchkreuzen. Eine zweite Stoßrichtung fokussiert auf die
Artikulation von Verfahrensweisen in größere und sich verändernde
Formationen, die den Kapitalismus als ganzes umfassen. In dieser zweiten Perspektive sind Fragen der soziologischen Beschreibung, der Ideologie, der Rolle des Staats und andere Kräfte der Macht und Regierung,
sowie kulturelle Dimensionen der Hegemonie relevant. Jedoch kann
die durch die Verfahrensweise des Kapitals hervorgerufene interpretative Unterscheidung nicht auf dieser Ebene fixiert werden. Viel eher
führt die unterbrechende Öffnung, die dadurch hervorgerufen wird,
dass die Aufmerksamkeit auf die spezifischen materiellen Effekte und
Kontexte der Verfahrensweisen des Kapitals gerichtet werden, hin zu
anderen Dimensionen und Linien der Untersuchung. Dieser Moment
der Unterbrechung hebt konstitutive Bruchlinien und Kämpfe hervor,
die eine andere Form der Analyse nahelegen, als es die Annahme eines
Netzwerk- oder Assemblage-Modells von Gesellschaft oder die Vision
des Kapitalismus als totales System tun. Die Art und Weise wie Kapital
und Kapitalismus ineinanderwirken, beeinflusst beide sich aus dem
68
Begriff der Verfahrensweise eröffnenden Analysewege. Zudem lassen
sich diese Verfahrensweisen durch Aspekte charakterisieren, die mit
anderen Verfahren des Kapitals außerhalb von Entnahme, Finanzwesen
und Logistik in Verbindung stehen. Die oben genannte Verflechtung der
entnehmenden Dimension von Kapital mit der Verstärkung der Abstraktion verweist genau auf diese Merkmale.
Logistik, und Finanzwesen im Besonderen, sind getrieben
von einer geglätteten Welt ohne Reibung und Widerstand, und sie produzieren Fantasien davon. Die absolute Herrschaft des Kapitals, die sie
suggerieren, ist wohl die hartnäckigste und übertriebenste dieser Fantasien. Sogar die Entnahme, die zutiefst im Morast der Bohrung und Aushöhlung verwurzelt ist, wird zusehends mit einer Versprechensrhetorik
der Sauberkeit und Umweltfreundlichkeit verbunden. In den jüngsten
Ausformungen des Daten-Mining, sei es in Anlehnung an Social Media
oder Industrie- und gar Militäranwendungen, sehen wir einen Entnahmeprozess, der Verhaltensweisen und Trends vorwegnehmen und somit
eine nahtlose Eingliederung der Gegenwart in die Zukunft erreichen
möchte. Entnahme, Logistik und Finanzwesen anhand ihrer Verfahrensweisen kritisch zu betrachten, erlaubt uns nicht nur zu erkennen,
wie sie für unterschiedliche Reibungs- und Verzahnungsprozesse empfänglich sind. Ein solches Vorgehen verweist auch auf die Ungleichheit
ihrer Verteilung und Funktionsweise entlang heterogener Maßstäbe und
Grenzen globaler Formen von Raum und Zeit. Es besteht kein Zweifel
an der Existenz von Zonen, Zentren, Regionen und sogar kontinentalen
Räumen, in denen die Intensität dieser Verfahren auf spezifische sowie
strategische Art und Weise konzentriert ist. Für uns ist es essenziell, in
diesen variablen Geometrien zu navigieren, um sowohl konzeptuelle als
auch empirische Untersuchungen von Entnahme, Logistik und Finanzwesen vorantreiben zu können. ☁
🚀 Sandro Mezzadra ist
Professor für politische
Theorie an der Universität
von Bologna.
🚀 Brett Neilson ist
Research Director am
Institut für Culture and
Society an der University of
Western Sydney. 2013
erschien ihr Buch Border as
method, or, the multiplication of labor.
69
Christian Berkes
Airbnb, Wohntourismus
Ein Essay in Streit-Thesen
🚄 Airbnb ist die größte Online-Vermittlungsplattform privater Reiseunterkünfte. Die Firmengründer in San Francisco stilisieren ihr
Unternehmen als Vorreiter einer neuen Tauschökonomie, die unsere
Gesellschaft zum Besseren wandelt. Davon ausgehend plädieren die
hier versammelten Unterstellungen für einen reflektierten Umgang mit
den Grundformen unseres Daseins: dem Wohnen und dem Arbeiten.
Sie verstehen sich als Kritik des Alltäglichen. Die Zahlen zu Berlin sind
einer Pressemitteilung von Airbnb entnommen.
Post-Rhetorisch.
1. Airbnb ist ein Finanz-Marktplatz – kein „Community-Marktplatz“.
Das „Gastgeben“ wird offensiv mit der Möglichkeit beworben, durch
die Einnahmen die eigenen Rechnungen decken zu können. Es geht
nicht darum, Menschen kennen zu lernen (Social Networking) oder
Dinge zu teilen (Sharing Economy).
2. Airbnb (von airbed and breakfast) spricht räumlich mobile und finanziell immobile Nutzer_innen an – „cost-sensitive visitors“. Die kleine
Vorsilbe wird passend von der Luftmatratze zum Billigflieger umkodiert. Von airbed zu airberlin.
3. Der betont freiheitliche Werbejargon von Airbnb versucht nicht, über
diese finanzielle Realität hinweg zu täuschen. Im Gegenteil, er nimmt
sie auf und wandelt sie in eine soziale und wirtschaftliche Utopie um:
„Das Auskommen, das dir deine Arbeit nicht sichert, sichert dir dein
Wohnen“. Utopien haben keine Wirklichkeit.
Regierungsform: Mensch.
4. Das Phänomen Airbnb ist die vollendete Zuspitzung und vollkommene Internalisierung wirtschaftlich neoliberaler Gesellschaftsorganisation. Die Airbnb-Vermieter_in ist die Kapitalist_in ihrer eigenen Lebensressourcen und ihres bloßen Daseins.
5. Airbnb ist eine Verwaltungsform von Unsicherheiten. Und damit Teil
heutiger Gouvernmentalität: Unser Regiertsein findet nicht mehr durch
eine souveräne Staatsgewalt, sondern in einer (sich selbst) verwaltenden Biomacht statt. Das Prinzip Airbnb basiert auf der Selbstausbeutung prekarisierter Lebensläufe. Fast 50% der Berliner Gastgeber_innen
70
verdienen weniger als das mittlere Haushaltseinkommen (unter 1.650
Euro pro Monat).
6. Airbnb ist ein freiwilliger Zwang, dem sich die Mehrheit der
Nutzer_innen nicht aus einer romantischen Vorstellung von Hospitalität und Nachbarschaft hingeben, sondern aufgrund von finanziellen
Nöten oder Notwendigkeiten. In Berlin sind 44% der Gastgeber_innen
„Freiberufler_innen“, „Unternehmer_innen“ oder „Selbständige“. Sich
eine Bohrmaschine teilen wollen ist eben etwas anderes, als sich eine
Wohnung teilen müssen. In Berlin werden 48% des durch Airbnb erzielten Zusatzverdienstes (der Gastgeber_in) für notwendige Grundausgaben wie Miete oder Lebensmittel verwendet.
7. Das Wohnen ist politisch. Unabhängig davon, ob man die Vermietung als erzwungenes oder freiwilliges Preisbieten, als Eingriff in die
Intimsphäre oder als Freiheit im Selbstdesign versteht – das Wohnen ist
eine für die Selbsterhaltung essenzielle psychosoziale Praxis.
8. Als Alltagsstrategie definiert Airbnb ihre Gastgeber_innen: Wird ein
Wohnungsverlust (wenn auch vorübergehend) durch das Übernachten
bei Freund_innen oder Familie kompensiert, dann nennen die Sozialwissenschaften diesen Status „verdeckte Obdachlosigkeit“.
Neue Bio-Ware: das Wohnen.
9. Die historische Linie der Kommodifizierung unserer Wohnumwelt
beschreibt zwei gegenläufige Tendenzen. Die Skala der Ware wird immer kleiner (Grund, Haus, Wohnung, Zimmer, Mensch), während sich
die Skala des Marktes zusehends vergrößert (lokal, regional, national,
international, global). Das Ergebnis ist die kosmopolitische Vermarktung unserer Psyche.
10. Mit Airbnb wird die ohnehin problematische Konstellation eines
von Renditeaussichten bestimmten Wohnungsmarktes zugespitzt.
Die Grenze zwischen „Tourismus“ und „Wohnen“ lässt sich hier nicht
scharf ziehen. Nicht mehr nur Häuser oder Wohnungen – auch das
Wohnen als Praxis ist zur Ware geworden. Das Angebot von Airbnb
zielt nicht auf marktfähige Objekte (Wohn-Container), sondern auf
warenförmige Subjektivitäten (Wohn-Innenwelten). Biotourismus.
11. Von Wohnungsmangel, Verdrängungsangst und steigenden Mieten
geprägte Wohnungsmärkte erpressen viele Stadtbewohner_innen und
71
fordern Reaktionen. Eines der Lösegeldversprechen heißt Airbnb. Wir
wissen: Erpressungen enden selten schön.
12. Der Wohnungsmarkt ist kein „idealer Markt“. Das Verhältnis zwischen dem Gebrauchswert einer Wohnung und ihrer Preisgestaltung
gerät schnell in Schieflage. Gründe dafür sind ihre Immobilität, die
geringe Anpassungselastizität (des Marktes), fehlende Gleichartigkeit
(der Ware) sowie mangelnde (rechtliche) Transparenz und Diskriminierung bei ihrer Vergabe. Diese Bedingungen macht sich die Airbnb-Gastgeber_in zunutze. Das führt zu der paradoxen Situation, dass weder sie
noch ihre Gäst_in in ihren Entscheidungen souverän sind. Souverän ist
der spezifische Markt.
13. Die Airbnb-Nutzer_in ist nie privat. In touristisch attraktiven Städten ist es rentabel, Wohnungen allein für die Vermietung als AirbnbUnterkunft zu erwerben. Damit wird dem Wohnungsmarkt Wohnraum
entzogen. Die Airbnb-Nutzer_in wird Spekulant_in an einem immer
schon politischen Wohnungsmarkt.
14. Wenn das Wohnen als psychosoziale und politische Praxis kommodifiziert ist, dann kann man dies „Biopolitik“, „das unternehmerische
Selbst“, „immaterial labour“, „gouvernmentale Prekarisierung“ oder
„kognitiven Kapitalismus“ nennen. Die Begriffsvielfalt kennzeichnet
einerseits die historischen Problemkontexte, andererseits eine fragmentierte Kritik.
15. Airbnb trägt Züge einer selbsterfüllenden Prophezeiung: Der
Online-Marktplatz spült Kapital in lokale Ökonomien (Verzehr, Einzelhandel, Dienstleistungen, Unterhaltung, Transport etc.) und trägt
damit – „in Städten mit angespanntem Wohnungsmarkt“ – zu Aufwertungsprozessen bei, die keinen Gleichverteilungsgrundsatz kennen.
Davon profitiert die Stadt als wirtschaftlich geführtes Unternehmen,
aber nicht als soziale Gemeinschaft. Innerhalb eines Jahres wurden von
Airbnb-Gäst_innen in Neuköllner Geschäften über 2 Millionen Euro
ausgegeben, ohne dass damit auch nur eine Wohnung langfristig gegen
Spekulation und Mietenwahnsinn abgesichert worden wäre. Airbnb
schafft die Bedingungen für den eigenen Erfolg selbst.
16. Das Unternehmen Airbnb reproduziert und begünstigt das Branding urbaner Räume und wird damit zum Akteur im Feld einer marktwirtschaftlich organisierten Stadtentwicklung, die unsere Stadt als
72
Beute begreift. Schon bald wird auch die Wohnung (und ihr Interieur)
zur Beute geworden sein.
(Lücken) im Recht.
17. Das Geschäft Airbnb floriert gerade in rechtlichen Grauzonen.
Viele Vermietungen sind praktisch illegal – in New York waren 64%
aller Übernachtungsangebote im Januar 2014 nicht rechtskonform
(laut einer Studie der dortigen Staatsanwaltschaft). Nur die wenigsten
Nutzer_innen kennen oder berücksichtigen die Untermietklauseln ihres
Mietvertrages oder die Bestimmungen in den Städten. In Berlin ist seit
Mai 2014 ein Gesetz gegen die Zweckentfremdung von Wohnraum in
Kraft. Airbnb-Anbieter_innen müssten nun zuerst eine Genehmigung
vom Bezirksamt einholen.
18. Das Überschreiten rechtlicher Schranken durch das Nutzen von
Airbnb findet suggestiv und zuweilen unreflektiert statt. Vermieten sei
einfach, kostenlos und sicher. Stimmt das, wenn ich dabei gegen wohnungspolitische Maßgaben meiner Stadt verstoße? Stimmt das, wenn
ich dafür meinen Mietvertrag brechen muss? Derartige Kleindelikte mit
Renditeaussicht sind vor allem auf individueller Ebene irrwitzig: Die
Airbnb-Nutzer_in macht sich kündbar und verkauft das, was sie durch
das in Aussicht stehende Kapital zu verbessern versucht.
19. Angebote wie Airbnb eröffnen neue und auch positive Möglichkeitsräume. Die Freude darüber sollte uns die bereits umkämpften aber
nicht vergessen machen. Wir sollten unser „Recht auf Wohnen“ nicht
aus Versehen verjubeln. ☁
🚀 Christian Berkes ist
Stadtplaner und Buchhändler. Er gibt Workshops zu
Formen zeitgenössischer
Raumaneignung und
radikaler politischer Theorie und hat die Plattform
botopress gegründet. Dort
erscheint in 2015 ein
kritischer Sammelband zu
Airbnb. botopress.net
weiterführende Literatur:
Lienhard Wawrzyn (Hg.): Wohnen darf nicht länger Ware sein (1974)
Franco „Bifo“ Berardi: The Soul at Work. From Alienation to Autonomy (2009)
Isabell Lorey: Die Regierung der Prekären (2012)
Airbnb: Reisetrend »Privatunterkunft« stärkt lokale Wirtschaft (2013)
Andreas Folkers & Thomas Lemke: Biopolitik. Ein Reader (2014)
Andrej Holm: Mietenwahnsinn. Warum Wohnen immer teurer wird und wer davon
profitiert (2014)
Vielen Dank an alle, die diesen Text kritisiert und kommentiert haben.
73
Sofia Bempeza
Darth Vader ist da und darf bleiben
Der griechische Skywalker oder wie ein linkes Szenario an Boden gewinnt
🚢„Wann, wenn nicht jetzt?“, fragen die Figuren im gleichnamigen
Roman Primo Levis. „Wann, wenn nicht jetzt – Wer, wenn nicht wir?“,
lautet die Appropriation und Ergänzung des Satzes von Levi auf Plakaten der Partei Syriza in Griechenland.
Aus Athen kommt der Aufruf für einen notwendigen Politikwechsel zur Beendigung der Austeritätspolitik in Europa. Syriza ist
nach den Neuwahlen an die Macht gekommen und will sowohl im eigenen Haus aufräumen als auch die Finanzpolitik der EU infrage stellen.
Schluss mit dem Irrsinn, als gäbe es keine Alternative zum neoliberalen
Imperativ. Ob sie nun linksradikal oder altsozialistisch, europakritisch
oder europafeindlich, patriotisch oder populistisch, antioligarchisch
oder wirtschaftsfeindlich genannt wird – Syriza ist da und leitet eine
neue Ära Griechenlands ein. Let the games beginn!
Der Wahlsieg Syrizas klingt, als riefe die „wahnsinnige“
Stimme Südeuropas den „vernünftigen“ Vertreter_innen der EU ihre
Kritik an der neoliberalen Wirtschaftspolitik entgegen. Die Metaphern
und die Szenarien variieren je nach Medien und Interessen: Armageddon, Godzilla oder Darth Vader sind nur einige der bildhaften Darstellungen der vermeintlich kommenden Katastrophe namens Syriza,
welche in der politischen Blogosphäre Griechenlands das Aufkommen
von Syriza beschreiben. Die Szenarien, die in den unterschiedlichsten
Medien europaweit erscheinen, erzählen wiederum von einem künftigen
Grexit, von turbulenten Jahren für den Euro-Gigant und obskuren oder
vermeintlich realistischen Optionen zum Schuldenabbau in Griechenland.
Ein paar einführende Worte zur ideologischen Verortung des
linken Bündnisses Syriza und seiner Akteur_innen. Syriza als Zusammenschluss der radikalen Linken umfasst verschiedene Positionen,
Fraktionen und Strömungen. Syriza setzt sich primär aus dem linksreformistischen Bündnis Synaspismos und einer Reihe linker politischer
Organisationen unterschiedlichen Hintergrunds (wie Ökosozialist_innen, Trotzkistische Kommunist_innen, Maoistische Kommunist_innen,
Sozialdemokrat_innen, Antikapitalist_innen, aktive Bürger_innen)
zusammen. Die Existenz verschiedener Fraktionen, Flügel und Strömungen stellt keine Neuigkeit für die Zusammenstellung dieser Partei
dar, sondern kennzeichnet sie seit ihrer Gründung 2004. Hinzu kommt
die Vielfalt der Gruppierungen, die Syriza wählen: Viele sehen sich
selbst als politisch links und sind sehr wohl im Lager der Sozialdemokrat_innen, der demokratischen Linken oder auch innerhalb der links74
autonomen Szene und im Kontext der sozialen Bewegungen zu verorten. Andere sind eher konservativen und nationalistischen Strömungen
zu zurechnen. Für die Anhänger_innen Syrizas bildet die ideologische
Polyphonie eine der Stärken der Partei. Für die Skeptiker_innen stellen
die verschiedenen Fraktionen und Strömungen Zeichen eines tief sitzenden Sektierer_innentums der politischen Linken dar. Musikalisch
gesagt, produziert Syriza eher eine Kakophonie als einer Polyphonie –
oder ein grelles, kitzeliges Rauschen.
Syriza als Bündnis linker Gruppierungen und als regierende
Partei verspricht so auch keine einheitliche kollektive Identität für alle
ihre Lager. Syriza kann als eine in einem konfliktuellen Terrain entstandene politische Partei angesehen werden. Sie eröffnet eine Bühne, auf
welcher sich sowohl das kollektive Begehren nach Reformen, wie die
Radikalität ihrer Sub-Bewegungen entfalten, die mit der Konformität
einer Staatsregierung einer noch-nicht-ganz linken Hegemonie zusammenprallen. Oder anders formuliert: Die zentrale Herausforderung
für Syriza ist es nun, sich nicht in eine Situation bringen zu lassen, in
welcher die Konflikte zwischen ihren Sub-Positionen den Rahmen des
linken Bündnisses sprengt. Syriza politisiert einmal auf der Seite des
radikalen Aktivismus und der sozialen Bewegungen, ein anderes Mal
linkspatriotisch und populistisch und dann wiederum im Namen des
guten alten Sozialismus oder des Kommunismus. Metaphorisch gesprochen, fußen Syrizas Ansätze auf paradoxen Bezüglichkeiten. Syriza
versteht sich gleichzeitig als David und Goliath, als Dienstherr und
Knecht und als Regulator und Reformator; sie will gleichzeitig zivil und
ungehorsam sein.
Syrizas große Mehrheit im Parlament sorgt für Euphorie
und Hoffnung. Sie löst aber auch Unbehagen aus. Kritisiert wird etwa
die schnell anberaumte Regierungskoalition mit der rechtspopulistischen ANEL, welche allein auf den gemeinsamen Positionen in Sache
Verhandlung des Memorandums, Ablehnung von Sparauflagen und
Lohnkürzungen beruht. Das politische Problem, das dieser taktische
there-is-no-alternative Schritt birgt, zeigt sich insbesondere an klar
entgegengesetzten Positionen der beiden Parteien hinsichtlich wichtiger Fragen, wie beispielsweise das Verhältnis von Staat und Kirche oder
die staatliche Migrations- und Genderpolitik auszusehen hat. Syriza
erscheint gerade innenpolitisch um einer Durchsetzung seiner Agenda
willen schlau zu taktieren.
Das „Sorgenkind“ Syriza soll im Folgenden mit Blick auf zwei
Teilbereiche behandelt werden: Das Verhältnis der Partei zu den sozialen Bewegungen sowie die kulturpolitische Agenda Syrizas. Mit einem
75
griechischen Sprichwort könnte man fragen: Was ist eine Krabbe und
was schon ihr Saft? Oder, was ist Syriza und was schon der Gewinn aus
ihr für die Menschen vor Ort?
Es lässt sich kaum bestreiten: Die sozialen und politischen
Bewegungen in Griechenland haben seit 2011 einen großen Aufschwung erlebt. Nach der initialen Occupy-Zeit auf dem Syntagma
Platz wurden dezentral neue Stadtteilversammlungen und Netzwerke
ins Leben gerufen. Aus den ersten Impulsen sind in den Großstädten
und auf dem Land zahlreiche aktive Basisbewegungen und politische
Organisationen hervorgegangen. Es sind Kooperative und Kollektive,
selbstorganisierten Sozial- und Kulturräume sowie Netzwerken für soziale Solidarität entstanden. Ebenso zeichnen sich die sozialen Kämpfe
der letzten zwei Jahre gegen die von der rechts neoliberalen Nea Dimokratia vorangetriebene Reform der Bildungspolitik, die Privatisierung
des öffentlichen Dienstes und die Veränderungen im Gesundheitswesen
durch eine hohe Kontinuität aus.
Den heutigen Bewegungen stehen also zahlreiche organisatorische Ressourcen zur Verfügung, obschon der Bestand an Mitteln seit
2013 immer knapper geworden ist. Gemeinsam mit informellen Kräften der Zivilgesellschaft agieren die Bewegungen und Organisationen
selbstständig beziehungsweise autonom und zeigen sich in ihren Strukturen zwar kontingent aber nachhaltig. Neben vielen Akteur_innen aus
dem links-autonomen Spektrum, die in den Bewegungen involviert
sind, bleiben in diesen Strukturen linke Parteien (aktive Mitglieder von
Syriza und Antarsya) nach wie vor präsent. Zwei eng verknüpfte Fragen
sind im Hinblick auf die Regierung Syrizas zu stellen: Inwiefern werden
aktive „Human Resources“ aus den Bewegungen von der Parteiorganisation absorbiert oder vereinnahmt? Und wie sollte ein künftiges
Vorgehen bezüglich Forderungen und Basismobilisierungen von Seiten
der Bewegungen unabhängig von Syriza (also nicht parteiisch opportunistisch) weiterhin in seiner Radikalität umgesetzt werden?
Die Schulen, Universitäten und Kulturinstitutionen leiden in
Griechenland seit einigen Jahren unter inkompetenter Verwaltung und
extremer Unterfinanzierung und müssen dringend neu strukturiert werden. Die ersten Töne aus dem Kultur- und Bildungsministerium Syriza
richten sich gegen eine weitere Privatisierung des Bildungswesens und
versprechen Investitionen in Human Resources und eine Verbesserung
der Infrastruktur. Den neuen Richtlinien des Kulturministeriums ist
vonseiten der organisierten Kulturarbeiter_innen affirmativ aber mit
Skepsis zu begegnen. Daher zum Abschluss noch drei Kommentare zu
möglichen Konfliktfeldern innerhalb der Kulturpolitik(en).
76
🚀 Sofia Bempeza ist
Künstlerin und Kunsttheoretikerin aus Athen. Sie
lebt und arbeitet in Zürich
und Wien. Schwerpunkte
ihrer Arbeit sind: politische
Interventionen im Feld der
Künste, Selbst-Organisation und Kulturproduktion in
der post-fordistischen Ära,
Gender-Öffentlichkeit(en)
Erstens: Kreativität in Zeiten knapper Kassen – wie sollte das gehen?
Es ist Common Sense, dass die gegenwärtige Theater-, Tanz-, Film- und
Kunstproduktion in Griechenland unter einer ausgesprochenen Prekarisierung leidet. Nichtsdestotrotz sind viele Kulturarbeiter_innen bereits
auf dem Weg neue Strukturen und eigene Netzwerke zu schaffen. Neue
Formen von Produktion, Vermittlung und Austausch werden somit erprobt. Das Institute for Live Arts Research, das Projekt Salon de Vortex
und das selbstorganisierte Embros Theater in Athen, um hier nur einzelne Beispiele zu nennen, streben an, institutionelle wie freie Räume
zu etablieren und eigene Netzwerke zu pflegen. Parallel dazu existieren
Initiativen, die auf Open Source Technologien wie Praktiken bauen und
auf der Basis von Commons organisiert sind. Je mehr man jedoch auf
die Nachhaltigkeit dieser Netzwerke pocht, umso stärker zeigt sich die
Notwendigkeit, effektive Strategien gegen die Prekarität der kreativen
Arbeit zu entwickeln.
Zweitens: Syriza deklariert in ihrer kulturpolitischen Agenda,
dass Kultureinrichtungen künftig öffentlich und transparent finanziert
werden sollten. Es existieren jedoch Grauzonen im Bereich „staatlicher“ Kulturinstitutionen wie zum Beispiel das Museum für zeitgenössische Kunst (EMST) und das neue Konzert- und Theaterhaus Lyriki,
deren Finanzierung halb von der öffentlichen Hand und halb von privaten Großstiftungen getragen wird. Es ist in dem Fall lohnend zu beobachten, wie sich eine staatliche (linke) Kulturpolitik von den materiellen
Abhängigkeitsverhältnissen und Profilierungen ihrer Gönner tangieren lässt.
Drittens: Die anvisierte „innovative Kulturpolitik“ Syrizas
klingt teilweise auch nach einer zweifelhaften Adaptierung der Knowhow-Modelle der spätkapitalistischen Kreativindustrie. Dabei verlangen
die kulturpolitischen Stimmen aus der freien Szene nach neuen Konzepten für Kunst- und Kulturinstitutionen und fairen Förderinstrumenten,
durch welche die materiellen Ressourcen breiter verteilt werden sollten.
Diese Akteur_innen drängen auf nachhaltige Strukturen, wie eine
grundlegende Umorientierung der institutionellen Kulturpolitik.
Es wird sich bald zeigen, ob das Kulturkabinett auf jene Expert_innen des Feldes hört, die sich gegen paternalistische institutionelle Strukturen wenden und neue Institutionalisierungsformen austesten.
Denn eins muss noch abschließend betont werden: Eine emanzipatorische, in Dissens verhaftete Kunst- und Kulturproduktion fördert
den gesellschaftlichen Widerstreit – und diese sollte der linksradikalen
politischen Tradition Syrizas nahliegen. ☁
77
Manuela Zechner
Stadt- und Kulturpolitik von
unten: Barcelona en Comú
� Die Stadt zurückgewinnen; Politik dort machen, wo wir Tag für Tag
mit Händen und Füssen aktiv sind; die lokalen Institutionen zurückerobern; und das Ganze von unten, radikal demokratisch. Is it a bird, is
it a plane, is it Schäume und Träume? Nein, es ist Barcelona en Comú:
eine zivilgesellschaftliche Plattform, die sich vorgenommen hat, die
1 Barcelona en Comú, kommenden Kommunalwahlen zu gewinnen.1
katalanisch für „Barcelona
Gemeinsam“, vormals
Guanyem Barcelona. Das
Guanyem Manifest auf
Deutsch: https://guanyembarcelona.cat/gewinnenwir-barcelona/
Kleine Geschichte
In Spanien hat die 15M Bewegung von 2011 den politischen
Horizont gesprengt und durch drei Jahre sozialer und politischer Mobilisierung („Wir schliefen, jetzt sind wir aufgewacht!“ war ein Slogan
der Bewegung) einen Zyklus von Kämpfen um Institutionen eingeleitet.
So gewann Podemos, eine im Frühjahr 2014 aus der Bewegungslinken
entstandene überregionale Partei, bei den EU-Wahlen im Mai 2014
schnurstracks fünf Sitze. Sie hat in den Meinungsumfragen nun den
katholisch-konservativen Partido Popular (PP) und den sozialdemokratischen Partido Socialista überholt und damit dem Zwei-ParteienSystem, das Spanien seit Franco im Griff hatte, Adios gesagt.
Zur mehr oder weniger gleichen Zeit, als Podemos auftauchte, begann sich in Barcelona eine Plattform für die (spanienweiten)
Kommunalwahlen im Mai 2015 zu formieren. Eine zivilgesellschaftlich
und von sozialen Bewegungen geprägte Plattform, die sich der elitären
und austeritätswütigen Politik des regierenden PP sowie der katalanischen Lokalregierung (Generalitat) entgegenstellen will. Sie nannte
sich Guanyem Barcelona, „Gewinnen wir Barcelona“ und wie es seit der
15M Bewegung üblich geworden ist, hatten sich in rhizomatischer Manier bald auch „Ganemos“-Strukturen in Madrid und Malaga formiert.
Voraussetzung für den Start von Guanyem Barcelona im
Sommer 2014 war es, mindestens 30.000 UnstertützerInnenunterschriften zu sammeln. Die wurden schnell erreicht, und so machten sich
VertreterInnen der Plattform daran, die Plattform im Parteiregister des
Innenministeriums einzutragen. Da war ihnen allerdings ein obskurer
katalanischer Stadtrat zuvorgekommen – der sogleich anbot, den Namen zu übergeben, wenn er die überregionale Koordination von Guanyem-Plattformen übernehmen könne. Guanyem verzichtete dankend und
verklagte den Mann, der die Partei unter anderem mit einer falschen
Adresse registriert hatte. Diese Klage wurde vom Innenministerium – in
der Hand des konservativen PP – allerdings abgelehnt. So wurde aus
78
Guanyem Barcelona im Februar 2015 Barcelona en Comú. In diesem
Text beziehe ich mich auf beide Namen, wenn auch ab sofort nur noch
letzterer gilt.
2 Organigramm von
Guanyem Barcelona:
http://commons.wikimedia.
org/wiki/File:Guanyem_
Organigram.png
3 Der Codigo Etico von
Guanyem: https://barcelonaencomu.cat/sites/
default/files/pdf/codi-eticeng.pdf
4 Die Arbeitsgruppen und
deren Positionspapiere:
https://guanyembarcelona.
cat/es/ejes-tematicos/
Arbeitsweise und Struktur
Zur Methode von Barcelona en Comú gibt es unendlich
viel zu sagen, denn Grundbaustein dieser Initiative ist ein radikal
demokratischer Ansatz, der Stadtpolitik von unten möglich machen
will. Das bedeutet offene Plena, eine transparente Organisation von
Stadtteilversammlungen mit thematischen Arbeitsgruppen und
Versammlungen, vertreten in einer Koordinationsversammlung und
zusammengeschlossen mit Arbeitsgruppen für Logistik, Kommunikation, Öffentlichkeitsarbeit, usw. Ein komplexes Organigramm, das
einer wilden sozialen Maschinerie eher gleichkommt als einer still
geordneten (flachen oder vertikalen) Hierarchie.2 Hier wird Politik
und Organisation täglich neu erfunden, denn es handelt sich um ein
Experiment kollektiven Denkens und Tuns – ohne Vorlagen, ohne
Förderung, ohne Lobby, aber mit vielen Köpfen, Händen und Füssen.
So trafen im Oktober 2014 über 300 Menschen zusammen und stellten einen beeindruckenden Ethik-Kodex zusammen, der Barcelona en
Comú als politischer Leitfaden dient.3
Die Struktur der Barcelona en Comú-Plattform wird mit jeder
Arbeitsphase verbessert und verändert. Die thematischen Arbeitsachsen (Gesundheit, Migration, Kultur, Tourismus, Arbeit, Wirtschaft,
Urbanismus, Gender, lokale Regierung, Bildung, Information ...)
formierten sich als offene Versammlungen und haben seit Oktober
intensive Arbeit an Leitfäden und Grundbedingungen geleistet, die
zur Orientierung der Plattform beitragen und deren eventuelle Politik
im Rathaus leiten sollen.4 In den Arbeitsgruppen treffen ExpertInnenAktivistInnen verschiedener Bereiche zusammen und teilen ihr Wissen:
Guanyem bedeutet nicht zuletzt eine ungeheuere zivilgesellschaftliche
Aufarbeitung und Umarbeitung von Wissen und Erfahrung, ausgehend
von der (grossteils deklassierten) Mittelschicht, lokal-nachbarschaftlichen Netzwerken und sozialen Bewegungen. Hohe Arbeitslosigkeit und
Deklassierung spielen dabei eine wichtige Rolle.
Und es sieht gut aus für Guanyem: gemeinsam mit Podemos,
Proces Constituent, ICV/EuiA und Equo treten sie bei den Wahlen an.
Die Beliebtheit der Kandidatin für das Amt der Bürgermeisterin Ada
Colau (frühere Sprecherin der PAH - Plattform der Betroffenen von
Verschuldung und Räumung) und die zunehmend sichtbare Korruption
des regierenden PP sowie der katalonischen autonomen Regierung gibt
79
dieser Allianz starken Rückhalt. Erste Wahlumfragen sagen Barcelona
en Comú äusserst gute Ergebnisse voraus.
5 Ada Colau bei der
Guanyem Kulturtagung:
http://www.europapress.
es/catalunya/noticia-colaudice-reto-echar-mafia-lograr-cambio-cultural-largoplazo-20150118205229.
html ODER http://www.
catalunyapress.cat/cat/
notices/2015/01/ada-colau-la-cultura-del-gran-esdeveniment-ha-fracassat.fa-falta-potenciar-la-barcelona-creativa-116727.php
6 Jornadas Economia
Cooperativa de la Cultura :
https://guanyembarcelona.
cat/es/jornada-economiacooperativa-de-la-cultura/
Die Kulturpolitik zurückgewinnen
Dabei geht es vor allem darum, die Schäden des Creative
Industries- und Smart City-Modells rückgängig zu machen und Räume sowie Ressourcen für Kultur von unten freizugeben. Als „kreative
Stadt“ hatte Barcelona seit den 1990er Jahren seinen Boom und seine
Blase, mit der Krise sind tausende Kreativindustriebetriebe eingegangen und öffentliche Kulturinitiativen zugemacht worden. Es gibt aber
auch eine andere Geschichte, einen anderen Alltag der Kulturproduktion in Barcelona und das sind die vielen gemeinschaftlichen Projekte
und Räume, die Tag für Tag kritische und soziale Kultur produzieren.
Katalonien hat eine lange und dichte Geschichte des Cooperativismo
und in Barcelona gibt es unzählige selbstverwaltete Buchläden, Medienplattformen, Kunst- und Bildungsprojekte. Aus ihnen soll die neue
Kulturpolitik entwachsen, in die Institutionen hineinstrahlen und dort
neue Fenster aufmachen. Kultur, die von unten kommt, aber nicht aus
dünner populistisch-banaler Suppe, sondern aus der Selbstorganisierung und Selbstrepräsentation heraus.
Denn die Kultur ist nicht nur in der Krise, weil sie als erstes
weggekürzt oder weil sie kommerzialisiert wird. Vielmehr geht es um
eine Wertschätzung von Kultur aus einem neuen Blickwinkel, der
jenseits von geringer Wertschätzung, Privatisierung, Prekarisierung
und Banalisierung auch die Rolle von Kultur neu denkt. Kulturinstitutionen, die demokratisch funktionieren; Kulturerbe, das jenseits der
Fassadenwirtschaft auch etwas mit sozialer Geschichte zu tun hat;
Selbstermächtigung und schlaue minoritäre Kulturformen jenseits von
neutralisierendem und touristischem Multikulturalismus. „Kultur“ soll
nicht nach Tickets klingen, sondern nach Nachbar_innenschaftsräumen. Ada Colau bringt das auf den Punkt, wenn sie vermutet dass in
Zeiten wie diesen, in der europäischen Krise mit ihren vielen Rassismen
und Polarisierungen, die Produktion intelligenter und kritischer Kultur
eine zentrale Rolle spielt.5
Für eine kooperative Kulturwirtschaft
Im Jänner organisierte die Kultur-Arbeitsgruppe von Guanyem
eine Tagung, um die Grundlinien der neuen Kulturpolitik auszulegen.6
Das begann mit einem Arbeitsnachmittag im Sedeta-Stadtteilzentrum,
wo um die 60 erfahrene KulturaktivistInnen verschiedener Bereiche
zusammentrafen, um in vier Arbeitsgruppen zu diskutieren. Dabei
80
7 Guanyem-TourismusPositionspapier: https://
guanyembarcelona.cat/
docs/Esborrany-EixTurisme.pdf
überschnitten sich Perspektiven von Kultur als Arbeits-und Lebensfeld,
das mit fairen Bedingungen und Rechten verbunden sein muss, und
Kultur als alltäglichem Gemeingut, als Commons, das keinerlei Expertise bedarf und von allen geschaffen wird.
In der Gruppe zu „Kulturarbeit und Prekarität“ wurden
verschiedene Modelle der Kulturförderung, der Budgettransparenz,
des Arbeitsrechts und der kollektiven Organisierung von KulturarbeiterInnen besprochen, mit dem Beschluss, einen Ethik-Code für Kultur
zu schreiben. Dort sollen Prinzipien der Anstellung und Finanzierung
sowie Förderung verankert werden, an denen sich eine entprekarisierende und transparente Kulturpolitik orientieren kann.
In der Gruppe zu „Sozialer Ökonomie der Kultur“ wurde der
Reichtum selbstverwalteter und kooperativer Kulturinitiativen besprochen sowie mögliche Massnahmen zu deren Stärkung und zur Förderung
der sozialen Netzwerke, die ihnen zu Grunde liegen. Die soziale Ökonomie ist in ihrer informellen wie formellen Dimension zentral für ein gutes
Leben in der Stadt und schafft im Gegenteil zur marktbasierten und zentralisierten Kulturökonomie nachhaltige Initiativen und Netzwerke.
In der Gruppe zu „Kultur und Stadt“ ging es um die vielen
Räume und Infrastrukturen, die Institutionen und das Kulturerbe (das
ja in einer vom Tourismus abhängigen Stadt wie Barcelona eine zentrale
Rolle spielt – aber keine Sorge, auch für Tourismus hat Guanyem eine
emanzipatorische Vision, und es gibt eine Arbeitsgruppe dazu7). Zentrale Frage war, welche Art von ‚Software’ denn eine Bewegung wie Guanyem in Bezug auf die reichhaltige existierende ‚Hardware’ schaffen
müsste, um deren Infrastrukturen und Räume zugänglich zu machen.
Das führte zum selben Ergebnis wie in der Arbeitsgruppe zu Prekarität,
nämlich dass jenseits von finanzieller Förderung das Bereitstellen von
Infrastruktur zentral fürs Kulturschaffen ist.
In der Gruppe zu „Neuen Kulturökonomien“ wurde im Sinne von
peer to peer, open source und cultura libre weitergedacht. Welche Formen von
infrastrukturellem Crowdfunding sind möglich, und welche Forme(l)n der
Wertschätzung und –messung? Projekte sollen nicht nur nach ihrer Sichtbarkeit oder Rentabilität beurteilt werden, sondern nach ihrer Kapazität,
soziale Beziehungen zu schaffen. Es braucht einen offenen Code für Kulturinstitutionen, der leicht Einsicht in deren Funktionieren gibt und veränderbar ist, damit sich Institutionen als Prozess verstehen können.
Am zweiten Tag des Treffens standen die Türen offen und nach
kurzen Podiumsinputs zu diesen Bereichen trafen nochmal verschiedene
Menschen in diesen vier Themenbereichen zusammen. Fast 300 Menschen waren da, die diskutierten und Notizen für die Zusammenstellung
81
eines Leitfadens mit konkreten Vorschlägen für kommunale Kulturpolitiken sammelten. Dabei sind die Inputs von bestehenden Initiativen
zentral: wie die der Cooperland-Konvergenz zu sozialer Kooperation,
die politische Massnahmen erarbeitet und der Stadt Vigo sowie der EU
vorgelegt hat, oder der Floc Society, die in Ecuador auf der Basis von
Open Source Ethik ein neues kulturpolitisches Modell umsetzt. Denn
Modelle und Experimente gibt es schon genug: die Herausforderung ist,
aus ihnen zu lernen und sie politisch und institutionell umzusetzen.
8 Ich verzichte hier auf
detaillierte Ausführungen
zum Kampf um nationale
Unabhängigkeit, der in
Katalonien mit der Krise
neue Kraft gewonnen hat.
Die Angelegenheit ist so
komplex und widersprüchlich, dass sie hier keinen
Platz hat.
Das Kommunale: Nähe und Differenz im Triebwerk
Wenn auch das Niveau sozialer Mobilisierung und Solidarität
in Barcelona recht einzigartig ist, stellt Barcelona en Comú trotzdem
keinen Einzelfall neuer Bewegungen für radikal demokratische Stadtpolitik dar. In anderen Städten Spaniens und Europas – ja sogar auch
in deutschsprachigen Ländern – tut sich was. Mit der momentanen
politisch-institutionellen Krise scheint klar: Wir müssen politisch-soziale Handlungsräume neu denken, wenn wir aus der Klemme zwischen
staatlicher bzw. nationaler und überstaatlicher Erpressung entkommen
wollen. Die Stadt ist dabei ein wichtiges Spielfeld, als Handlungs- und
Erfahrungsraum, dessen Gewebe wir kennen und täglich mitbeleben.
Die Stadtviertel verstehen sich in Spanien seit der 15MBewegung als wichtige Gestaltungsräume. Der Kampf für demokratische Selbstbestimmung spielt sich nun nicht mehr nur auf hyperlokaler
(Plätze, Strassen) oder staatlicher Ebene (Demos gegen Kürzungen,
Rücktrittsforderungen) ab,8 sondern zunehmend auch auf kommunaler.
Die Rückeroberung der Institutionen (soziale Rechte und Einrichtungen, demokratische Mechanismen) und der Selbstbestimmung (über
sozialen Reichtum, Leben und Lebensraum) landet so im Sand der Infrastrukturen und wird als gemeinsames Problem greifbarer. Wie wollen
wir unsere Schule, unseren Platz, unser Frauenhaus – nicht irgendeines, sondern das hier, in unserer Strasse? Für eine tiefgreifende Veränderung und Partizipation ist diese Nähe unentbehrlich. Die Frage nach
Selbstbestimmung wird im Kommunalen ganz konkret, und gleichzeitig
führt sie schnell über Selbstreferenzialität hinaus. Denn die Stadt ist ein
wirres Faden- und Triebwerk unterschiedlicher Interessen, Bedürfnisse
und Lebensstile – exklusiv-subkulturelle wie nationalistisch-kulturalistische Ideen haben hier keinen Platz. Vielschichtigkeit steht auf der
Tagesordnung, steht aber keinerlei in Widerspruch zur Nähe oder zu
den urban-kommunalen Commons.
Die grosse Herausforderung ist momentan wohl, lokale Prozesse und Intelligenzen zu stärken, ohne dabei den Blick auf die Anderen
82
und das Anderswo zu verlieren. Das betrifft das externe, europäische und
global konstituierende Aussen sowie auch das interne (MigrantInnen und
jene ohne Papiere, TouristInnen, minoritäre Bewegungen, usw.). Dem
kann sich Stadt nur stellen, wenn sie als heterogener Raum gedacht wird,
der verschiedene „Aussen“ und „Andere“ schon in sich trägt: global vernetzt, dissensfähig, hospitabel, „afectada“ (offen-betroffen), sich selbst in
Bezug auf die Welt ständig umwühlend und schlau machend.
9 Angela Davis, Hrant Dink
Memorial Lecture, Istanbul, 2015 http://vimeo.
com/116635676
10 Vgl. Precarias a la Deriva, Was ist dein Streik?,
Wien: transversal texts
2014, 98-110
11 Siehe das zweite Seminar des Kurses „Cuidados,
cuidad y infraestructuras
de lo comun“ den wir
(La Electrodoméstica, la
Hidra und Synusia) im
Frühling 2015 in Barcelona
organisiert haben: http://
nocionescomunesbcn.
net/2014/11/15/curso-como-cono-se-sostiene-esto/.
12 Die Relation zwischen
Stadt und Staat wäre damit
auch am Tisch. Das geht
zwar über diesen Text weit
hinaus und wird auch mit
einer Podemos-Staatsregierung keine selbstverständliche Angelegenheit
sein, aber Thema wird es
zunehmend werden. Bleibt
nur zu hoffen, dass sich der
Zwiespalt zwischen Provinz
und Staat mit einer solchen
Erstarkung der Stadt
auflockert und damit neue
und alte Nationalismen
abflauen.
Die Stadt als Prozess mit sozialhistorischer DNA
Was heisst es, die Stadt als Prozess zu sehen und diesem
Prozess zu vertrauen? Als auf Differenz aufbauender Prozess hat Stadt
natürlich viel mit Demokratie zu tun, und wenn man hier jenseits von
patriarchalen, kolonialen und kapitalistischen Mustern denkt, kann man
sich einen ganz schönen Prozess vorstellen. Dabei müssen wir mindestens
drei Prozesse gleich mitdenken: die Vertreibung vom Land, die Geschichte
von Sklaverei und Kolonialismus, und die Unterwerfung der Frauen. Das
meine ich nicht im Sinne von Identitätspolitiken oder um Intersektionalitätspunkte einzusammeln, sondern um allen Ernstes einer radikalen Vision von Stadt nachzugehen und kritische Elemente in der DNA der Stadt
anzudenken. Wie Angela Davis sagt, „an intersectionality of struggles, not
of identities”9 – and of imaginaries, könnte man hinzufügen.
Erstens: Stadt hat einen Hegemonieanspruch gegenüber dem
Land, und der Widerspruch zwischen Stadt und Land ist im Kapitalismus um nichts weniger stark als jener zwischen Arbeit und Kapital.
Vom Blickwinkel der Ökologie sowie der Klasse kann man sagen: die
Stadt hat sich mit der Industrialisierung zu einem Monster entwickelt,
das für ein Modell des Lebens und Umgehens steht, dem man weder
Nachhaltigkeit noch Gerechtigkeit nachsagen kann. In Barcelona gibt
es eine Menge von Genoss_innenschaften und anderen Initiativen, die
an ökologischer Landwirtschaft, nachhaltiger Planung, lokalen Handelsnetzwerken und Besetzung von Land arbeiten und Impulse für neue
Stadt-Land Beziehungen setzen. Diese müssen über Smart City Marketing und Nachbar_innenschaftsgärten hinausgehen.
Zweitens: die Frage nach der „ciudadania“, der StaatsbürgerInnenschaft, die ja die „Stadt“ in vielen Sprachen im Namen
trägt, muss in Bezug auf die Stadt neu gedacht werden. „Cuidadania“,
eine neue, auf Sorge (cuidado) basierende BürgerInnenschaft oder
Sorgegemeinschaft,10 und buen vivir-Modelle jenseits des Sozialstaats sind
Teil dieser Diskussion.11 Dabei geht es darum, das Rechtssubjekt jenseits
von Staatsangehörigkeit – und im weiteren auch von Lohnarbeit – zu
positionieren.12 Wenn Entscheidungen dieser Ebene auch dem Staat
83
13 In diesem Sinne haben
wir den oben erwähnten
einen Kurs zu „Stadt, Sorge
und Infrastrukturen der
Commons“ organisiert,
in dem diese Fragen und
konkrete feministische Politiken diskutiert wurden
.
14 David Harvey, „ The
Right to the City“, New
Left Review No. 53, 2008.
Übersetzung der Autorin.
http://newleftreview.org/
II/53/david-harvey-theright-to-the-city
obliegen, so liegt die Voraussetzung für ein Umdenken des politischen
Subjekts nichtsdestotrotz in den Beziehungs- und Positionsgeflechten der
Stadt.
Damit kommen wir zum dritten Punkt: die Stadt als Raum
der Reproduktion und die Rolle von Sorge und Gemeinwohl darin. Wie
können wir Stadt und Infrastruktur aus feministischer Sicht neu denken? Mit der Politik als Männerclub zu brechen ist ein Teil der Antwort
– Barcelona en Comú hat diesbezüglich gute Ansätze. Weiters geht es
darum, das urbane Subjekt neu zu denken – unsere Städte wurden für
lohnarbeitende, häuslich Umsorgte, autonome und konsumfähige Menschen gedacht. Da braucht es nicht nur urbanistische Interventionen,
sondern auch genderpolitische und allgemein partizipationsfreundliche.13
Hier liegen die grösseren und gröberen Herausforderungen,
denen man nachgehen kann, wenn man von einer neuen Möglichkeit der
Stadt ausgeht. Das mag grössenwahnsinnig klingen, ist aber Grundlage
einer soliden Kommunalpolitik, die mehr als kosmetische Veränderung will.
Die Analysen und Vorschläge der Arbeitsgruppen von Barcelona en Comú
arbeiten auf genau solch tiefgreifende Veränderung hin – wenn auch Schritt
für Schritt. Denn das Recht auf Stadt ist eine Frage der Beziehungen:
Wenn wir fragen, was für eine Stadt wir wollen, müssen wir
immer auch fragen, welche Art von sozialen Beziehungen,
Verhältnissen zur Natur, welche Lebensstile, Technologien
und ästhetischen Werte wir uns wünschen. Das Recht auf
Stadt ist weit mehr als die individuelle freie Nutzung städtischer Ressourcen: es ist das Recht, uns selbst zu verändern,
in dem wir die Stadt verändern. Weiters ist es ein gemeinschaftliches statt nur individuelles Recht, denn die Veränderung hängt von unserem kollektiven Vermögen ab, Prozesse
der Urbanisierung zu bestimmen.14 Deshalb ist die richtige Methodologie für die Stadt eine des Prozesses
und der Ethik: sie geht von Differenz und produktiver Heterogenität aus
und kann ohne Identität, Moral und Autentizitätsanspruch auskommen.
Barcelona en Comú erarbeitet in diesem Sinne eine einzigartige Vision der
Stadt, die abgesehen von ihren unzähligen innovativen und restaurativen
Massnahmen auch Teil eines grösseren Umdenkens – und Mitdenkens –
ist, das heute möglich zu werden scheint. ☁
🚀 Manuela Zechner ist
Forscherin, Kulturarbeiterin und Übersetzerin.
84
Javier Rodrigo
Aus dem Spanischen von
Nina Höchtl
1 https://firaeconomiafeminista.wordpress.com/
Auf Deutsch empfehlen wir
hier Käthe Knittlers Intro
Feministische Ökonomie,
erschienen 2014 beim
Wiener Mandelbaum
Verlag (Anm. d. Ü.).
Können wir uns eine feministische
Ökonomie der Kultur vorstellen?
⛵ Die Definition von feministischer Ökonomie, die von der Messe der
feministischen Ökonomie am 14. und 15. Oktober 2014 in Barcelona
erarbeitet wurde, ist kurz aber präzise:
„Wir verstehen Ökonomie im weiten Sinne als all jene Beziehungen, die es uns ermöglichen, ein würdiges Leben zu führen, ein
Leben, das sich zu leben lohnt. Das schliesst Formen von Produktion,
Distribution und Konsum ein, die auf Bedürfnissen und Wünschen
beruhen, aber auch Arbeitsverhältnisse, die Ungleichheit und Machtverhältnisse meiden, und stattdessen auf Reziprozität, Solidarität und
gegenseitiger Unterstützung aufbauen.“1
Warum gibt es nicht mehr Praxen und Debatten, die sich mit
den Schnittpunkten zwischen Feminismen, Sozialökonomie und Kultur
auseinandersetzen? Zur Organisierung von Kulturarbeiter*innen, zu
unseren affektiven Kulturen und zur Frage des immateriellen Kapitals
gab es schon Diskussionen. Ein weiterer wichtiger Punkt wäre, die
Verteilung von Macht, Bekanntheit und Gehältern im Kulturbereich
zu überdenken, sich also mit der bereits bekannten Feminisierung der
Arbeit nicht nur zu Hause, am Arbeitsplatz oder in Alltagsbeziehungen
auseinanderzusetzen, sondern auch in kulturellen Institutionen. Es gibt
im kulturellen Bereich deutliche Ungleichheiten und eine patriarchale
Ökonomie des sozialen und symbolischen Kapitals (vieles davon basiert
auf der exzessiven Sichtbarkeit und Hyperausbeutung der Ich-AG).
Das Problem ist jedoch nicht gelöst, indem einfach quotenmässig mehr weibliche Direktorinnen und Künstlerinnen in Mussen repräsentiert sind, wenn auch eine Arbeit an den Geschlechterverhältnissen
unumgänglich ist (besonders in den öffentlichen Institutionen!). Es ist
genauso wenig richtungsweisend, wenn es Direktor*innen oder “queere”
Kurator*innen gibt, aber das gleiche Profil oder die gleiche männliche
Position in Anspruch nehmen und den institutionellen Habitus so weitertragen. Es reicht nicht, eine gewisse radikale Avantgarde mit ins Boot zu
nehmen. Mit Geschlechterquoten werden nicht automatisch die Bedingungen und realen Strukturen der Praxis verändert, denn die Arbeitsteilungen und die Verteilungen des Reichtums bleiben oft genauso einseitig.
Ein Beispiel: Auch wenn “Vermittlung” und “Pädagogik” oftmals zentrale Themen für Museen und Kultureinrichtungen zu sein scheinen, geben
diese Institutionen in Spanien nicht mehr als 10% ihres Budgets für Bildung, die Schaffung von Öffentlichkeiten und Vermittlung aus.
85
2 englische Zusammenfassung unter http://www.
sostenibilitatbcn.cat/index.
php/angles
3 Die fábricas de creación
sind von der Stadt Barcelona seit 2007 geförderte
Kultureinrichtungen in
grösstenteils ehemaligen
Fabriken, die das kulturelle
Schaffen und die kulturelle
Produktion unterstützen:
http://fabriquesdecreacio.
bcn.cat/en
4 Das Ateneu Popular de
9 Barris ist ein 1500m2
grosses Kulturzentrum,
das sich aus einem Kampf
von Nachbar*innenschaftsgruppen für den
öffentlichen Gebrauch des
Fabriksgeländes entwickelte und von ihnen auch
unterstützt wird, um eine
soziale Transformation zu
ermöglichen: http://www.
ateneu9b.net/
5 Der Autor bezieht sich
hier auf die allgemeine
Erarbeitung eines EthikKodex der Stadtbewegung
Guanyem Barcelona.
Siehe auch den Text von
Manuela Zechner zur
kulturspezifischen Tagung
von Guanyem Barcelona in
diesem Heft.
Das Problem besteht hier vor allem in der üblichen Perpetuierung einer obsoleten entwicklungs- und produktivitätsorientierten
Arbeitsstruktur in der Kultur. Diese Perpetuierung wirkt sich auf jede
mögliche Umverteilung des Reichtums aus, die die politische Ökonomie
der Kunstinstitutionen und der Kulturpolitiken untergraben müsste. Es
wäre notwendig, die Rahmen dieser Ökonomien zu sprengen, um über
die üblichen entwicklungsorientierten und meistens auch globalisierenden Diskurse der Gegenwart hinauszugehen. Zum Beispiel in Bezug
auf die Regenerierung des Stadtgefüges (siehe auch die Agenda 212
in Barcelona), auf den entstehenden Diskurs der fábricas de creación3
(Kreativfabriken) oder auf die übliche Verherrlichung des gemischten
Modells öffentlich-privater Finanzierung als Allheilmittel des neoliberalen Markts und der Kulturindustrien.
Warum muss es ein*e Direktor*in sein, der*die als einzelne Person eine Kulturinstitution oder ein Programm führt oder
koordiniert und nicht eine gemischte Gruppe von Menschen, eine
Bürger*innenversammlung oder andere politische Experimente, die
die patriarchale Ökonomie untergraben können? Wir leben untertänig
in einer globalisierten Ökonomie der Kultur, die von großen Namen
und Stars abhängt. Der gängige Kodex guter Kulturpraxen baut auf
der Figur der Direktor*in auf, einer von „Expert*innen“ auserwählten
Person mit Verwaltungsautonomie. Keine Spur von Modellen gemischter Teams oder anderer Konstellationen. Und doch kennen wir einige
Experimente, die in diese Richtung hin arbeiten: das Ateneu Popular
de 9 Barris4, Astra Gernica (soziales Zentrum und kooperative Kulturfabrik im Baskenland) oder der partizipative Finanzhaushalt, der von
der Diputación Foral de Álava organisiert und fast drei Jahre lang durch
eine Bürger*innenversammlung namens Amarika verwaltet wurde.
Ein weiterer Knackpunkt, bei dem feministische Denkweisen
nützlich sein können, ist die Verwaltung von Lohn und Umverteilung
sowohl des konkreten also auch des symbolischen Kapitals, das ja eine
beständige Einnahmekomponente in der Kultur ist. So wie in Barcelona kürzlich ein Ethikkodex in der Politik formuliert wurde5, so sollten
die dort diskutierten Vorschläge und Fragen alle Kulturpolitiken und
Institutionen gleichermaßen durchströmen. Es wäre zum Beispiel interessant, die Gehaltsschemata in kulturellen Institutionen – von den
Direktor*innen über die Saalaufsicht und die Schulgruppenbetreung
bis hin zu den Toilettenputzer*innen – neu zu entwerfen. Was sind die
Gehälterscheren? Können wir sie benennen? Wie können wir sie verändern? Ein*e Direktor*in eines Kunstmuseums in einer Großstadt kann
in Spanien fast 100.000€ pro Jahr verlangen, während diejenigen, die
86
6 https://carrotworkers.
wordpress.com/
7 http://nosotras
denunciamos.wordpress.
com/tag/vitoria/
8 Vgl. Transductores
(2012) Decrecimiento
cultural: Otras formas
de políticas culturales,
http://transductores.net/
es/content/decrecimiento-culturalotras-formasde-pol%C3%ADticasculturales
die Tickets verteilen, die Saalaufsichten oder Führungen machen, nicht
mehr als 5 oder 6 € pro Stunde verdienen. Sie werden über Teilzeitarbeitsagenturen in absoluter Prekarität und ohne alle Rechte ausgelagert. Oftmals sind sie Scheinselbständige, teilweise mit Berufsbildern,
die mit Bildungsaufgaben zu tun haben.
Beispiele von konkreten Kämpfen in diesem Bereich sind
jenes der Kunsterzieher*innen der 53. Biennale in Venedig, die 2009
gemeinsam mit der Plattform Pirate Bay und SALE docks (einem Sozialzentrum in Venedig) einen Vermittlungsstreik und eine militante
Recherche über die prekären Arbeitsbedingungen der Praktikant*innen
durchführten; die Arbeit des Carrotworkers Collective in London,
die das Tate Britain zwang, ihre Praktikant*innen zu bezahlen und
dabei die Begehrensökonomie der Freiwilligenarbeit in der Kultur
demontierte6; oder die juristischen Fälle im staatlichen Kontext,
die in Institutionen wie dem MUSAC oder dem Artium Vitoria7 von
Kunsterzieher*innengruppen gewonnen wurden.
Die feministische Ökonomie stellt das Leben und das Recht
auf ein würdiges Leben ins Zentrum. So fragen wir in Bezug auf Kultur:
Wo finden die Hausarbeit und die weniger glamourösen Aspekte der
Arbeit in den Kulturinstitutionen statt? Wer macht sie? Wie werden sie
entlohnt? Warum werden sie bei den transformativen oder materialistischen Diskursen über Kultur nicht mitgedacht? Sind diese Berufe so
erbärmlich und verwerflich, dass über sie nicht einmal geredet werden
kann? Selbst in den „radikalsten“ Kreisen? Warum sehen wir in den
Museen keine Gruppen von stillenden Müttern? Wo sind die Räume
der gemeinsamen Bildung in diesen Zentren? In wenigen Debatten im
staatlichen Kontext werden diese Fragen so niedrig eingeschätzt wie im
Kulturkontext, werden sie so wenig als kollektive Care-Aufgaben zur
Sprache gebracht – ungeachtet des großen Booms etwa von Silvia Federici.
Ebensowenig wird gefragt, wie diese „schmutzigen“ Jobs kollektiviert und horizontalisiert werden könnten ... und die Fragen gehen
weiter: Wie können Räume der Kooperation und gleicher Arbeitsbedingungen zwischen diesen Bereichen geschaffen werden? Warum werden
in Krisenzeiten bis zu 300.000 € teure Ausstellungen produziert, in
denen nicht einmal 10% des Projektbudgets in Bildungsprozesse und
lokale Arbeitsnetzwerke fliessen? Wo bleiben Reproduktion und Hausarbeit in Kulturinstitutionen?
Mit einer feministischen Ökonomie der Kultur geht ein Ansatz zum degrowth der Kultur einher.8 Wenn die Sozialökonomie kulturelle Praktiken durchläuft, sollte ein erster Schritt sein, den Extraktivismus und das Monopol bestimmter Serviceunternehmen in Museen,
87
Kulturinstitutionen und -praktiken zu vermeiden. Wozu diese Monokultur von Unternehmen wie Focus, Ciutart oder Magma? Wer sagt, dass
deren Dienste wirklich effektiv sind? Wer sind die Manager*innen und
Funktionär*innen, die die Ausschreibungsvoraussetzungen kalibrieren? Sind wir in der Lage, grüne Gütesiegel wie jene von agro-ökologischen Kooperativen zu generieren? Vorrichtungen, die faire Arbeitspolitiken und Rahmenbedingungen in der Kultur gewährleisten? Können
wir Bürger*innenvereinbarungen und Ausschreibungen erproben, die
auf den Prinzipien und den Politiken der sozialen und lokalen Ökonomie basieren? Wie würden sich diese in Gemeindezentren, kulturellen
Projekten und Events wie einem Filmfestival oder einem Musikfestival
auswirken? Können wir von den Produktionsökonomien auf „langsame“ Ökonomien des aktiven Zuhörens übergehen, so dass wir Politiken
des kulturellen degrowth generieren?
So wie die feministische Ökonomie das gute Leben sucht,
bringt sie auch das gute Teilen mit sich. Für diesen kollektiven Aspekt
ist die Würde der Teilung zentral: Wie gehen wir diese Frage in kulturellen und politischen Räumen an? Warum müssen wir für Kultur bezahlen, Eintritte in Museen oder hohe Preise für den Konsum bestimmter
kultureller Produkte? Warum schaffen wir nicht Bedingungen dafür,
dass öffentlich subventionierte Produktionen und Materialien immer
mit freien Lizenzen zirkulieren und commonsbasierten Kulturmodellen folgen? Warum regenerieren wir nicht andere Kulturmärkte und
Formen der Verbreitung, durch das Experimentieren mit Zeitbanken,
Dieser von Nina Höchtl Gemeinschaftswährungen und Kooperativen des Konsums und der
übersetzte und von Kulturproduktion? ☁
Manuela Zechner
überarbeitete und leicht
gekürzte Text findet sich im
(castillanischen) Original
auf der (katalanischen)
Nativa-Webplattform:
www.nativa.cat/2014/11/
es-posible-una-economiafeminista-de-la-cultura/
🚀 Javier Rodrigo lebt in
Barcelona und ist Forscher
und Kunstvermittler.
🚚 Nina Höchtl arbeitet
als Artist Researcher, an
queerfeministischen Fragen
und ist Vorstandsmitglied
der VBKÖ.
88
Antonio Negri und
Raúl Sánchez Cedillo
Die mögliche Emanzipation in
Spanien und Europa (1)
Heute ist die Demokratie eine wilde und konstituierende Demokratie
Aus dem Italienischen von
Gerald Raunig
1 Mit „Vorhängeschloss“ ist
die seit 1978 andauernde
Blockadepolitik der etablierten Parteien in Spanien
gemeint, die jede progressive Verfassungsreform
verhindert. Der Ausdruck
zirkulierte schon länger,
wurde aber von Pablo Iglesias in seiner ersten Rede
als Generalsekretär von
Podemos aufgegriffen und
popularisiert. https://www.
youtube.com/watch?v=_
aCG6sSzypQ
🏇 Die GenossInnen, die Podemos ins Leben gerufen haben, sagen: Es ist
uns gelungen, in positiver Weise der begrenzten Horizontalität der Bewegung zu entkommen, die so reich ist und zugleich oft auch so fruchtlos.
Es ist uns gelungen, und zwar mit einer politischen Geste der Selbstkonstituierung, der Organisation und der Repräsentation. Wir hatten den
Verstand zu begreifen, dass der Raum zwischen den Kommunal- und den
Parlamentswahlen, zwischen Mai und Ende des Jahres 2015, die einzige
Möglichkeit ist, „das Vorhängeschloss von ‚78“1 aufzubrechen: In der
Zeit der Wahlen ist der Gegner gezwungen, sich über das ganze Territorium auszudehnen – die verfassungsmäßigen Garantien der Freiheit
funktionieren besser als unter anderen Bedingungen, sie werden zu möglichen Zonen des Bruchs mit dem gegenwärtigen Regime, das zutiefst
diskreditiert und gespalten ist. Dann aber wird die kapitalistische Front
Ende 2015 vielleicht in der Lage sein, ihre Offensive neu aufzustellen und
sich neu zu organisieren, nachdem sie auf unseren Widerstand auf harte
Weise reagiert, ihn vielleicht sogar vernichtet haben wird. Die historische
Chance wird dann für lange, für zu lange Zeit vorüber sein.
Das alles räumen wir ein. Die GenossInnen von Podemos sind
die einzigen in Europa, die ernsthaft versucht haben, diesen Übergang
zu unternehmen: Sie waren es, die, ausgehend von einer Bewegung
von unerhörter Kraft und Neuartigkeit, eine vertikale Achse aufgebaut
haben; sie waren es, die ohne Demagogie und Ausflüchte einen Ausweg
aus dem „Basisdemokratismus“ beschritten haben, der am Ende angesichts der zeitlichen Erfordernisse und in der Beschaulichkeit seiner
Horizontalität zur Ohnmacht neigte. Nur Baron Münchhausen fabulierte, dass er es allein schaffen würde, sich am Zopf aus dem Schlamm
zu ziehen und zu fliegen ... Podemos ist es gelungen.
Nun ist es aber, um weiter zu gewinnen, nicht nur notwendig,
über den Gegner nachzudenken – wie man ihn schlägt, ihn desartikuliert, ihn jede politische und konstitutionelle Bedeutung verlieren
lässt. Es muss sicher sein, dass man, was man hierfür tut, im selben
mehrheitlichen und radikaldemokratischen Maßstab tut, aus dem es
geboren wurde. In diesem Prozess dürfen keine Engpässe erzeugen werden, weder räumliche noch zeitliche. Nur ein Beispiel: Die Italienische
Kommunistische Partei, auf die sich die TheoretikerInnen von Podemos
so bereitwillig beziehen, verlor als neuer Samson alle Kraft, die Haare
wurden ihr geschnitten und sie wurde vom Feind gefangen genommen,
89
2 Eine Mischung der Akronyme des sozialistischen
PSOE und des konservativen Partido Popular,
ironische Erfindung der
15M-Bewegung, vor allem
seit sich beide Parteien der
Sparpolitik und den Regeln
der Troika untergeordnet
haben.
als sie diesen Leitsatz vergaß. Der Engpass nannte sich damals „Autonomie des Politischen“.
Leicht wird dieser Engpass zur Schlinge, die sich um jedeN
schließt, die/der nur den Finger hineinsteckt – und manchmal auch den
Hals. Die vor mehr als einem Jahrhundert ausgearbeitete politikwissenschaftliche Kritik der politischen Partei ist in dieser Hinsicht mehr als
deutlich: nicht nur in Bezug auf die Grenzen der Bürokratisierung der
Partei-Struktur (auf der diese Theoretiker bestanden, die als Männer der
Rechten, die sie waren, die im Entstehen begriffene Stärke der ArbeiterInnenparteien denunzierten), sondern vor allem in Bezug auf die Eigenheiten des Befehls, der Ausrichtung, des Führerkults, des „Charismatischen“, all dessen, was die „Autonomie des Politischen“ ausmacht. Dies
war eine richtige Analyse der Tendenz und damit auch eine Bedrohung
(eine unter tausenden, aber eine besonders treffende), die im Kampf jener
Politikwissenschaftler gegen die Parteien des Proletariats gewandt wurde.
Bis hierher bewegen wir uns innerhalb der Grenzen, die wir
als „räumliche“ bezeichnet haben. Daneben gibt es auch „zeitliche“
Grenzen, die mit der „Autonomie des Politischen“ verbunden sind.
Wir gehören sicherlich nicht zu denen, die die Möglichkeit bestreiten,
Wahlzeiten oder soziale Verfallsdaten der Krise auszunutzen und auch
nicht zu jenen, die die Notwendigkeit bestreiten, den wunden Punkt der
Befehlskette zu treffen, vor allem zu genau jenem Zeitpunkt, an dem die
Kräfte des sozialen Protests der BürgerInnen am stärksten sind. Aber
Achtung: Es ist nicht einfach, die Regierung auszuüben. Es kann nicht
nur darum gehen, es einfach zu tun. Dies umso mehr in den derzeitigen
Governance-Regimen, in denen die Kontinuität der Handlung nicht nur
in einem langjährigen Zyklus gehalten werden muss, sondern aus einer
Abfolge von pünktlich eingehaltenen Terminen besteht. Es ist die Fähigkeit des Gegners (Rechtsnationale und / oder „PPSOE“2, nationalistische Projekte der katalanischen Hauptstadt, europäische und globale
Troikas etc.), den Gegenangriff auf unbestimmte Art zu zerstückeln. In
dieser zeitlichen Dimension und angesichts dieses Gegners ist es essenziell für die Tätigkeit einer von Podemos übernommenen Regierung,
sich innerhalb der Bewegungen zu bewegen. Die bolivianischen GenossInnen haben es gut verstanden, für eine lange Zeit Regierung und
konstituierende Versammlung zusammen zu leben. Es war ein Durcheinander – aber was für ein starkes und lebendiges Durcheinander!
Das Problem der Regierung „in der Zeit“ ist nicht nur ihre
Wirksamkeit, sondern vor allem die Unumkehrbarkeit ihrer Errungenschaften. Wer mit der „Autonomie des Politischen“ flirtet, endet damit,
die Entwicklung der Demokratie an der Basis als zweitrangig zu den90
ken. Manchmal kann man sich Formen der Führung sogar nur durch
eine charismatische Schlagkraft als stark vorstellen: manchmal ist das
auch tragischerweise das, was geschehen ist. Aber es ist uns nicht gegeben: Wir wirken gerade darauf hin, endgültig aus den Weber‘schen
Dilemmata des bürgerlichen Befehls auszusteigen, die bisher nur autoritäre Lösungen für jene sozialen Konflikte legitimiert haben, die die
Kämpfe auf die Höhe des Politischen führten.
Aber kehren wir zum zentralen Problem zurück: von der
Horizontalität zur Vertikalität, von der Agitation und vom Widerstand
der Bewegung zur Regierung. Podemos fordert von allen GenossInnen,
ausgehend von dieser Ebene zu denken. Ist es die Ebene der Zentralregierung? Mag sein. Die Ebene der Regierung der Großstädte? Das ist noch
näher und möglicher. Aber kann es nicht gerade nur dann, wenn man die
Aktion aller BürgerInnen auf eine starke Erneuerung der Stadtregierung
lenkt – kann es nicht nur in diesem Fall ein nahes, greifbares Beispiel
eines wirksamen konstituierenden Projekts geben? Ja, für uns scheint das
der Fall zu sein – weil die Stadt und das Gemeinsame, das städtische Leben und seine Formen der Begegnung kompakte Figuren der Verwaltung
und der konstituierenden Initiative bilden können. Die acampadas in den
Metropolen, in den Städten und auch in den kleinen Dörfern sind Formen
der konstituierenden Begegnung gewesen, die zeigen, wie die metropolitanen Lebensweisen allgemein ausgedrückt jetzt schon politische und
produktive Formen sind. Im Zusammenspiel von Demokratie und (Re-)
Produktion der Stadt haben wir die Möglichkeit, das Politische zu artikulieren; das heißt, den Willen zu gewinnen mit der Fähigkeit zu verbinden,
Entscheidungen in einem breiten, pluralen und aktiven Netz der militanten Präsenz und der Produktion von Programmen zur Transformation zu
treffen. Da, in der Mitte, liegt die Regierung. Und genau da wird auch das
Problem Foucaults leibhaftig, „wie wir regiert werden wollen“.
Und vor allem von da aus, von den Stadt- und Gemeindeverwaltungen, ergibt sich die Möglichkeit, die Regierung auf staatlicher
Ebene aufzubauen, Stein auf Stein zu setzen. In einem biopolitischen
Regime (in dem Befehl, Leben, Produktion, Affekte und Kommunikation sich verflechten und mischen wie in einem Labyrinth) sind Sprünge
schwierig, wenn nicht unmöglich – auch in der alten Politik war es
so, und wenn es Sprünge gab, manchmal auch heroische, war es zu
oft notwendig, umzukehren, jenes zu schnell durchquerte Terrain mit
künstlichen Institutionen zu bedecken. Die Horizontalität zu vertikalisieren bedeutet nicht nur das Vermögen zur Grundsatzentscheidung,
zur Regierung, zur Führung eines „Bewegungskriegs“ zu erringen, sondern auch und vor allem sich auf eine breitere Sicht von oben erhoben
91
3 Die 15M-Bewegung bündelte von 15. Mai 2011 an
mit ihren Platzbesetzungen
den Widerstand gegen die
spanische Austeritätspolitik
und erprobte dabei neue
Formen der Organisierung
4 Im spezifisch spanischen
Kontext versteht sich der
Hinweis auf die „Mehrheit“
einerseits als ein Echo auf
den occupy-Slogan von den
99% in der 15M-Bewegung,
andererseits als Interesse
an einer alternativen Form
von Organisierung und
(Selbst-)Institutionalisierung, wie es von den Neugründungen nicht nur von
Podemos, sondern auch
Partido X, Guanyem und
Ganemos vertreten wird.
Der hier abgedruckte Text
ist Teil einer vierteiligen
Artikelserie der beiden Autoren zur politischen Lage
in Europa, laufend publiziert auf der multilingualen
Plattform von transversal
texts, transversal.at.
🚀 Antonio Negri ist politischer Philosoph und lebt in
Paris. Raúl Sánchez Cedillo
ist Aktivist und Mitglied
der Universidad Nomada
www.universidadnomada.
net) und der Fundación de
los Comunes http://fundaciondeloscomunes.net/ und
lebt in Madrid.
zu haben: und so erschließt es sich, wie der Bewegungskrieg sich nicht
lohnt, wenn die eroberten Positionen, die verteidigten Fronten nicht
gehalten, konsolidiert und nach und nach entwickelt werden.
Die Regierung muss dafür sorgen, die Macht der BürgerInnenorganisationen zu garantieren, sagte man vor nicht langer Zeit in
Lateinamerika, solange die progressive Bewegung erfolgreich war; denn
nur in diesem Fall ist die Zentralregierung sicher vor improvisierten oder
organisierten Rückschlägen. Sicher vor wem? Nicht mehr nur vor jenem
Gegner, den wir kennen, vor den reaktionären Kräften, denen wir gegenüberstehen, sondern vor einer viel stärkeren Hierarchie, die durch Europa
hindurch aufwärts geht, bis zu den Regierungsspitzen des Finanzkapitals.
Die Erkenntnis, keine Angst zu haben und angesichts dieser
Kräfte gewinnen zu können, ist ungeheuer. Aber achtet darauf, nicht
den Teufel herauszufordern, der aus der Tiefe der Auseinandersetzung
noch zum Vorschein kommen kann. Unsere Stärke bleiben die acampadas, die Gemeindeverwaltungen, die mareas, die Bewegungen – mit
anderen Worten all das, was die 15M-Bewegung3 möglich und praktikabel gemacht hat. Manchmal steht zu vermuten, dass für die UnterstützerInnen von Podemos die Dimension der Macht [poder] eine getrennte
Dimension ist. Das ist falsch: Macht ist ein gesteigertes Vermögen zu
handeln, sie ist eine Perspektive der Aktion zu und in den politischen
Beziehungen, doch „die Macht“ [Poder] und „die Politik“ gibt es nicht.
Politik ist nichts anderes als die vielfältigen und unterschiedlichen
Abstufungen der Gegenmacht. Und doch pochen die FührerInnen von
Podemos innerhalb und außerhalb der Organisation darauf: „Zuerst
übernehmen wir die Macht, dann widmen wir uns dem Programm.“
Die „Autonomie des Politischen“ kann eine unheilvolle Theorie werden, wenn sie in der Überschätzung der Institution und der
Wirksamkeit des staatlichen Befehls den materiellen Ursprung und die
Legitimität des Fundaments des Politischen bestreitet. Die Repräsentation, die die VertreterInnen von den Vertretenen trennt, dieser „allgemeine Wille“ (den man „Volk“ oder „Volkseinheit“ nennt), der für die
VertreterInnen einen mystischen und unanfechtbaren Grund erschafft
– nein, das ist es nicht, was von Interesse ist für die Bewegungen. Das
Wichtigste ist es, den Fluss der politischen Bewegung (wieder)herzustellen, ein offenes System der Governance von unten, das Bewegung
und Regierung zusammenhält – durch die andauernde konstituierende
Debatte und einen andauernden Ausbau dieser Debatte den BürgerInnen gegenüber. Es besteht die Möglichkeit, diese Brücke zu bauen,
dieses Gemeinsame – wenn alle sich dieser Notwendigkeit beugen, die
da heißt: „Mehrheit sein“4. Das ist die entscheidende Ermächtigung. ☁
92
Ausfahrt
Fläche statt Tiefe. Gegen das neue Lob der Vertikalität
� Uns scheint, es gibt neuerdings eine seltsame Häufung von sehr
unterschiedlichen Stimmen, die die Anrufung der Vertikalität betreiben.
So zum Beispiel die Tendenz, (pseudo)horizontale postfordistische
Produktionsweisen und ihre Inwertsetzung von Affekten, Kooperation
und Kommunikation als ubiquitär zu beschreiben und damit gleich
auch jede Form von horizontalem Austausch zu denunzieren. Und wenn
noch im gleichen Atem der fehlende Tiefgang zeitgenössischen Denkens im Kulturbetrieb aufgeworfen wird, handelt es sich meist um einen
alten Topos. Die wiederkehrende Klage über die Oberflächlichkeit der
Welt, die uns zur Mittelmässigkeit tendieren lasse und die neue Formen
der Gleichmacherei erzeuge, ist nichts als die fade Wiederholung einer
kulturpessimistischen Figur, die in ihrem Beharrungsvermögen die
alten Eliten oder das Begehren nach neuen affirmiert.
Gerade auf dem Terrain der postfordistischen Produktion ist
die Inwertsetzung von Partizipation und das Sprechen über Beteiligung
und Mitbestimmung tatsächlich vor allem ein strategisches Moment
der Indienstnahme im Betriebsmanagement wie in der Stadtpolitik:
Sprechen-Lassen, zur-Sprache-Bringen, Sprechen-um-des-SprechensWillen. Diese Facette erscheint als karikierte Vereinnahmung der
Autonomie als Fluchtlinie emanzipatorischer sozialer und politischer
Bewegungen. Insofern haben Kooperationsanrufung und Bürger_innenbeteiligung als herrschaftssichernde Ressourcen wenig mit Versuchen konsensueller Entscheidungsprozesse und basisdemokratischer
Selbstorganisierung gemein. Vor diesem Hintergrund geht es darum,
die Ströme der sozialen Kooperation an den Oberflächen anders zu
reterritorialisieren, anders als es die Zwänge zeitgenössischer Produktion vorgeben, aber auch anders als in „alten Zeiten“: nicht als Besetzung
eines homogenen Raums, nicht als Tiefenbohrung oder Höhenflug in
eine exklusive Sozialität, nicht als Wiedergewinnung der Souveränität
in Form einer alten Gemeinschaft oder der Mehrheit innerhalb eines
territorialen Staates, sondern als flache Neuzusammensetzung des Gemeinsamen. Fläche statt Tiefe. Mannigfaltigkeit statt erhabener Höhe.
Das Vertikale ist immer von oben nach unten gedacht, wie die
Linie, die eine Schnur mit einem Senkblei verlängert. Was wäre dagegen,
wenn es keine vertices, keine Spitzen, keine Gipfel gäbe, keine Höhen, keine Tiefen, wenn wir uns diesmal nicht die Erde, sondern unsere Sozialität
als flach vorstellen würden, die Welt als eine Konsistenzebene von flachen
Mannigfaltigkeiten? Wie wäre es, wenn wir diese Mannigfaltigkeiten
93
gerade als auf den Oberflächen herumspukend imaginieren würden?
Was wenn sich alles an der Oberfläche abspielen würde, nichts darunter?
Wenn es keine Tiefe der Seele, keine Tiefe des Staates mehr gäbe?
Die Frage ist nicht, wie man „der Postmoderne“ die mangelnde Tiefe beibringt, wie man der alten bürgerlichen Öffentlichkeit ihre
Höhe und Erhabenheit zurückgibt, wie man Vertikalität wiederherstellt
in einer vermeintlichen Welt der Gleichmacherei und des Relativismus.
Vielmehr stellt sich uns das Problem, wie vor dem Hintergrund der
Funktionsweisen postfordistischer Produktion Horizontalität auf ihrem
emanzipatorischen Gehalt insistieren oder wieder emanzipatorische
Gestalt annehmen kann.
Doch auch in den Analysen der neuen linken Bewegungen in
Europa häuft sich der Ruf nach der Vertikalität. Hier ist es eine doppelte
Ungeduld, die die Rufenden treibt. Ungeduld mit den behäbigen Geschwindigkeiten horizontaler Verhandlung, zugleich Ungeduld mit den
Suchbewegungen, die eine Verortung der Bewegung innerhalb und jenseits der traditionellen Politik bestreben – sei es in neuen Parteien, sei es
in neuen institutionellen Organisationsformen, die über die Parteiform
hinausgehen. Diese Ungeduld kann sich als molekular-revolutionäre
Ungeduld des Antreibens neuer instituierender Praxen, neuer Formen
des sich beharrlichen „Selbst-Einrichtens“ erweisen, sie kann sich aber
auch in alte Formen der Institutionalisierung einschliessen. Wenn einzelne Diskurse aus der Bewegung im Beschleunigungsversprechen vertikaler Entscheidungsprozesse ein neues emanzipatorisches Potenzial
vermuten und sich die Frage politischer repräsentativer Verantwortung
als „historische Chance“ artikuliert, kann die Kraft des Sich-selbst-Einrichtens schwinden, und mit ihr die Weigerung, sich einrichten zu lassen.
Wenn es also einen weiteren Vektor, eine weitere Richtung
braucht, die zur Horizontalität hinzutreten soll, dann nicht die Vertikalität, sondern die Transversalität, die Linie, die getrennte Vorstellungen
von Basisdemokratie und Repräsentation durchquert. Manchmal ereignen sich Überschneidungen, Wechselwirkungen, gegenseitige Verstärkungen von instituierenden Praxen und Institutionen des Gemeinsamen.
Die Instituierung des Gemeinsamen kann aber von beiden Polen ausgehend vorangetrieben werden – in konfliktueller Komplementarität, in der
Schaffung einer Konsistenzebene von flachen Mannigfaltigkeiten, eher
mit Sicht auf immanente Horizonte als in Erwartung der auf einen Mittelpunkt, eine Einheit, eine_n Autor_in ausgerichteten Vertikale.
Und wenn auch die Subjektivierungsweisen und die Formen
der Zeitlichkeit mannigfaltig, einander überlappend, manchmal widersprüchlich sind: Es gibt keinen einfachen Ausweg aus der Horizontalität,
94
die ein wichtiges Feld der Austragung der komplexen Asymmetrien von
sozialen Bewegungen darstellt. Das ist also keine Frage von Ohnmacht
und Macht, sondern von dauernd sich verändernden Machtverhältnissen. Es bedarf dauernder Diskussionen über die Asymmetrien dieser
Machtverhältnisse und über die Gefahr ihrer Verdrängung und Verdeckung, auch und gerade durch Begriffe wie Horizontalität oder radikale
Inklusion. Dennoch braucht es neben der molekular-revolutionären
Ungeduld auch die Beschaulichkeit, die Langsamkeit, Formen des Aussetzens in der horizontalen Praxis und eine tendenziell alle umfassende
Inklusion. Inwiefern die (neuen) linken Parteien schlicht der „Majestät
Masse“ huldigen, sei es als altehrwürdiges „Proletariat“, als „Volk“ oder
im Slogan der „99%“ und über populistische Konstruktionen versuchen, Mehrheit zu werden, oder ob es innerhalb der parlamentarischen
europäischen Demokratien entgegenlaufende Logiken des Repräsentierens und Regierens gibt, wird sich erst noch zeigen.
Und selbst die neuen Parteien sind nicht immer Werkzeuge
oder Agentinnen der Beschleunigung, sondern geradezu umgekehrt
eher Bremse. Insofern ist Syriza als (Not-)Bremse zu verstehen, die
versucht, mit einer neuen Regierung die Highspeed-Zermalmung aller
staatlicher sozialer Institutionen und das allgemeine Ausweiden der kulturellen, sozialen und physischen Umwelt durch die in ihrem Höhenflug
und Machtschwindel gefangene dreifaltige Spitze Europas zu bremsen.
Syriza soll der Keil sein, der im richtigen Moment zwischen die Zahnräder der europäischen Finanzpolitik gesteckt wird. Es geht aber nicht
primär um den Keil an sich, sondern um das Stoppen der Zahnräder.
Darum, auch auf Regierungsebene anzusetzen und ein anderes Europa
zu entwickeln, welches dem immer wieder neu erzeugten und verstärkten Nord-Südgefälle innerhalb Europas und der exzessiven Sparpolitik
etwas entgegensetzt. Der Widerstand geht einher mit der Invention
dieses neuen Europas, verstanden als ein emanzipatorisches Projekt.
Die Stärke der sozialen Bewegungen der letzten Jahrzehnte
zeigt sich gerade dort, wo es ihnen gelang, eine transnationale Dimension zu erreichen, ohne ihren eurozentristischen Charakter (gerade
im deutschsprachigen Raum) zu bestreiten. Wie das viel kritisierte
„Event-Hopping“ der Gipfelstürmer_innen, die No-Global-Proteste
davor und danach gerade in Europa ohne aussereuropäische Funken
wie den Aufstand in Chiapas oder der Aktivist_innen der indischen
Bauernbewegung nicht zu denken waren, so die Platzbesetzungen der
M15-Bewegungen und der Occupy-Bewegung nicht ohne die Aufstände
im arabischen Raum. Ebenso stehen die aktuellen kurdischen Kämpfe
auch für einen ausdrucksstarken Versuch, soziale Beziehungen zu
95
Impressum
Herausgeber_in, Verleger_in, Medieninhaber_in: Kamion. Verein für Wissenstransfer und Medienproduktion,
Stuwerstr. 25/5, 1020 Wien. Redaktion: Clemens Apprich, Nina Bandi, Ljubomir Bratić, Christoph Brunner, Clemens
Christl, Petja Dimitrova, Tyna Fritschy, Simone Gaubinger, Simon Graf, Therese Kaufmann, Patricia Köstring, Daniela
Koweindl, Niki Kubaczek, Sandra Lang, Radostina Patulova, Gerald Raunig, Vera Ryser, Catrin Seefranz, Florian Sorgo,
Carlos Toledo, Sophie Uitz, Manuela Zechner. Mit Beiträgen von: Sofia Bempeza, Nistiman Erdede in Zusammenarbeit
mit RAF-Aktivist_innen, Stefano Harney, Antonio Negri und Raúl Sánchez Cedillo, Javier Rodrigo. Grafik & Layout:
Toledo i Dertschei und Sonia Garziz. Erscheinungsweise: 2x jährlich. Jahres-Abo: € 13 (inkl. Porto). Einzelheft: € 7 / 3,50.
Kontakt und Bestellungen: diekamion.org, [email protected]
96
Einfahrt
🚎🚎🚎 Aus den Kreisläufen des Rassismus – nicht ein Kreislauf, nicht ein
Rassismus. Vor der Vielschichtigkeit dieser Ausgangslage fragen wir
in diesem Heft nach den Verhältnissen von Rassismus und Ökonomie, so wie sie sich in ihren Verfahren und Aktivitäten gegenwärtiger
Zirkulation präsentieren. Die Fragen der Logistik, beziehungsweise
logistischer Formen des Kapitalismus, nehmen hierbei eine zentrale
Rolle ein. So führt Stefano Harney in seinem Beitrag aus: „Ich spreche
vom Urmoment der Logistik im Kapitalismus, vom Sklav_innenhandel und seiner grausamen Fracht“. Diese historische Dimension
einer Biopolitik schreibt sich ebenso in die Wissenspolitiken eines
akademisch geführten kritischen Rassismusdiskurses ein wie auch
in neue Verfahrensweisen der Schließung möglicher Intervalle des
Widerstands.
Kamion #1 nimmt ihren Ausgang in der Zirkulation, wie sie
zum einen als Einfassung und Regulierung auftritt und zum anderen
ausbricht aus den logistisch abgestimmten Kreisläufen hin zu neuen
Möglichkeiten politisch widerständiger Aktualisierung. Das aus im Titel
verweist nicht nur darauf, dass wir Einblicke in verschiedene Konstellationen von Rassismus und Ökonomie gewähren, sondern auf ein immanentes Austreten oder Ausbrechen aus ihnen. Dies schließt die interventionistische Dimension der Texte mit ein. Am explizitesten fordert dies
der Beitrag aus dem Umfeld des Raumes für Autonomie und Ferlernen
(RAF-ASZ) ein. „Dieser Text versteht sich als antirassistische Intervention“ steht als erster Satz eines Textes, der eine Intervention in den
Organisationszusammenhang der kritnet-Tagung 2015 in Zürich zum
Ausgangspunkt nimmt. Die Intervention: Der Auszug einer Gruppe von
Aktivist_innen des RAF-ASZ aus dem Organisationsprozess der Tagung.
Ausgehend von der performativ und diskursiv doppelt geäußerten Kritik
fragen die Autor_innen nach den Möglichkeiten einer Wissensproduktion, die sich als politische Intervention zu den kritisierten Verhältnissen
positioniert. Diese Befragung als wiederkehrendes Moment ist für das
Publikationsprojekt kamion ebenso von Relevanz wie der Kontext kritnet.
So bildet die vom 26. bis 29. März 2015 stattfindende Kritnet-Tagung mit
dem Thema „Rassismus und Ökonomie“ die inhaltliche und organisatorische Klammer und Inspiration des Produktionsprozesses dieser
Nummer. Das gedruckte Heft – und das ist nicht unerheblich für ein Heft,
das wiederholt Logistiken und Materialitäten anspricht – liegt denn auch
als Beitrag zur Tagung auf, um sich materiell in die Wissenskreisläufe vor
Ort einzuspeisen.
transformieren, nationalstaatliche Grenzziehungen zu unterlaufen und
andere Formen des Zusammenlebens zu erproben. Die Geschichte und
Praxis der emanzipatorischen sozialen Bewegungen ist in dieser Betonung auch ein kleiner Versuch, Europa zu provinzialisieren und der
linken Neuerfindung Europas andere und über Europa hinausgehende
Bündnisse entgegenzusetzen.
Der (supra)nationale Rahmen birgt die Gefahr, dass die
„soziale Frage“ sich über den politischen Weg zur nationalen transformiert. Im Fokus steht zu Recht die Fiskalpolitik der EU, identifiziert mit
der Stärke Deutschlands, die Kritik richtet sich gegen die Finanzspitze,
den Wahnsinn des aktuellen Schuldensystems. Gleichzeitig zeigt sich
gerade da, dass die Frage, wie sich Produktion, Reproduktion und Distribution organisieren lassen, sich nicht (nur) über die Finanzmärkte
regeln lässt. Im besten Fall von staatlicher Politik wohlwollend flankiert,
oft eher mit ihr im Widerstreit, geht es darum, alltägliche Bedürfnisse
und Begehren selbst zu organisieren, neue Formen des Zusammenlebens zu erfinden, der kontinuierlichen Arbeit Zeit zu lassen und instituierende Praxen des Gemeinsamen zu entwickeln, um zumindest ab
und zu dem Kapitalverhältnis und den staatlichen Regierungsweisen zu
entwischen. Solidarische Ökonomien, Quartiersversammlungen, Selbstorganisierungen der Reproduktionsarbeit über patriarchale Familienund Geschlechterverhältnisse hinweg, aber auch Betriebs-, Fabriks- und
Theaterbesetzungen.
Es geht aber offensichtlich nicht nur um den Widerstand,
sondern auch darum, ein anderes Europa als das des Nord-Südgefälles
und der exzessiven Sparpolitik zu erfinden. Obwohl eine Partei (wenn
sie denn radikal genug ist) an einem solchen Projekt oder solchen Projekten mitarbeiten kann, können die Inhalte nicht „von oben“ kommen,
vom Senkblei der Vertikalität nach unten getragen. Sie wachsen nicht
spontan in den Köpfen von ein paar geschickten Parteistrateg_innen,
die sie dann in einem schönen Punkteprogramm auflisten. Diese Inhalte, Begehren und Bedürfnisse und die Formen möglicher neuer Institutionen entstehen immer wieder in der transversalen, langwierigen und
kontinuierlichen Arbeit, den langsamen Quartierversammlungen, der
Mannigfaltigkeit sozialer Bewegungen. ☁