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Süddeutsche Zeitung
WIRTSCHAFT
Dienstag, 21. Januar 2014
Bayern, Deutschland, München Seite 18
Zu viel Süßes Die Weltgesundheitsorganisation will die maximal empfohlene tägliche Zuckermenge halbieren
„Zucker
ist Gift“
Der Süßstoff findet sich in etlichen Lebensmitteln –
auch in Joghurt und Krautsalat
von marianne falck
A
lle lieben Süßes. Morgens Zucker im
Kaffee, nachmittags Kuchen. Oft
packt uns dann das schlechte Gewissen. 33 Stückchen Würfelzucker oder
knapp 100 Gramm: So viel Zucker isst jeder Deutsche im Schnitt pro Tag. Zu viel Zucker ist ungesund, das weiß jeder. Dass
sich aber der größte Teil der Tagesration –
83 Prozent – in verarbeiteten Produkten
verbirgt, wissen die wenigsten. Zucker
steckt nicht nur in Süßigkeiten und Softdrinks, sondern auch in unverdächtigen Lebensmitteln wie Joghurt, Krautsalat und
Brot.
Vor allem dieser unbewusste Zuckerkonsum sei schädlich, warnen Wissenschaftler wie Professor Robert Lustig von der University of California in San Francisco. Der
Amerikaner ist ein bekannter Experte für
Hormonstörungen und Übergewicht bei
Kindern. Er sagt: „Unser jetziges Ernährungssystem bringt uns um. Und die Lebensmittelindustrie hat keine Anreize, das
zu ändern, weil sie gut damit verdient.“
Dabei sind die Zahlen alarmierend.
Nach aktuellen Angaben des Overseas Development Institute (ODI) ist jeder dritte Erwachsene auf der Welt zu dick, in Deutschland ist es sogar jeder zweite. Zucker gilt dabei neben Fett als größter Dickmacher.
Wissenschaftler finden immer mehr Hinweise, dass zu viel Zucker nicht nur dick,
sondern ernsthaft krank macht: Fettsucht,
Diabetes, Herzerkrankungen, Bluthochdruck, Krebs und sogar Alzheimer werden
damit in Verbindung gebracht.
Falsche Ernährung kostet
die Krankenkassen jedes
Jahr Milliarden Euro
Bekannt ist etwa, dass Tumorzellen zur
Vermehrung sehr viel Zucker brauchen.
Der amerikanische Biochemiker Professor
Lewis Cantley hält es sogar für wahrscheinlich, dass Zucker in vielen Fällen Krebs
überhaupt erst entstehen lässt. Die Zuckerindustrie weist all diese Vorwürfe weit von
sich, schließlich sei Zucker als Energiequelle unverzichtbar. Zudem sei Übergewicht
die Folge eines Ungleichgewichts von Kalorienaufnahme und -verbrauch.
Die Weltgesundheitsbehörde (WHO)
warnt wegen der vielen Übergewichtigen
bereits vor einer „weltweiten Epidemie“,
die sich nicht nur in Industriestaaten, sondern zunehmend auch in ärmeren Teilen
der Erde ausbreitet. Dem übermäßigen
Konsum an zugesetztem Zucker will die
WHO nun den Kampf ansagen. Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung plant
sie, die maximal empfohlene Menge für
die tägliche Zuckerration um mindestens
die Hälfte zu senken. Der Richtwert für Zucker soll nicht mehr wie bisher bei maximal zehn, sondern bei fünf Prozent der täglichen Kalorienmenge liegen. Ein WHOSprecher bestätigte, dass die Organisation
an neuen Richtlinien arbeitet, wollte sich
aber zu Details noch nicht äußern.
Tatsache ist, dass der Mensch diese
Extraladung Süßes, die in vielen Lebensmitteln versteckt ist, gar nicht braucht.
Aus Kohlehydraten, die sich etwa in Getreide befinden, kann der Körper selbst Zucker herstellen. Warum also die großen
Mengen an verstecktem Zucker? Ganz einfach: weil die Industrie guten Gewinn damit erzielt. Laut Statistik isst jeder Deutsche etwa 36 Kilo Zucker pro Jahr, das ist
doppelt so viel, wie die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt.
Trotzdem sieht die Lebensmittelindustrie keinen Handlungsbedarf. Sie verweist
darauf, dass der Zuckerverbrauch seit Jah-
ren konstant sei. Dass es sich dabei um eine verzerrte Statistik handelt, sagt sie
nicht, denn sie enthält nicht alle Formen
des süßen Stoffs. Maltodextrin, GlucoseFructose-Gemische und andere Zuckerarten werden gar nicht erst erfasst, wie das
Bundesministerium für Ernährung und
Landwirtschaft (BMEL) bestätigt. Doch genau diese meist billigeren Varianten von
Zucker sind immer häufiger in verarbeiteten Lebensmitteln zu finden.
„Zucker ist Gift“, meint der US-Wissenschaftler Lustig. Und Verbraucher hätten
kaum eine Wahl, ihm aus dem Weg zu gehen. 600 000 verschiedene Lebensmittelprodukte liegen in den Regalen amerikanischer Supermärkte, bei 80 Prozent von ihnen sei Zucker zugesetzt, rechnet der amerikanische Wissenschaftler vor.
Für Deutschland wurden bisher keine
Daten erhoben. Doch sie dürften ähnlich
hoch ausfallen. Das könnte dramatische
Folgen haben. Lustig schließt nicht aus,
dass das staatliche amerikanische Gesundheitssystem bereits in zehn Jahren wegen
der hohen Kosten zusammenbrechen
könnte. Als Hauptgrund nennt er durch Zucker ausgelöste Krankheiten. Auch in
Deutschland haben diese Erkrankungen
weitreichende ökonomische Konsequenzen. Der Deutschen Gesellschaft für Ernährung zufolge belasten allein die Fettsucht
und deren Begleiterkrankungen das Gesundheitssystem in Deutschland pro Jahr
mit 17 Milliarden Euro.
Lustig hat 2013 gemeinsam mit Kollegen eine Studie veröffentlicht, die einen Zusammenhang zwischen Zuckerkonsum
und Diabetes verdeutlicht. Dabei stellten
die Forscher die Zuckermenge im Essen
der Häufigkeit von Diabetes gegenüber
und zwar in 175 Ländern weltweit über das
vergangene Jahrzehnt hinweg. Das Ergebnis: Mehr Zucker in der Ernährung führte
überall zu höheren Diabetes-Raten. Andere Wissenschaftler stellten fest, dass Zucker wie eine Droge wirkt, denn er regt im
Gehirn dieselben Gegenden an wie Alkohol
und Nikotin. Manche Forscher bezeichnen
die Gier nach Süßem sogar als echte Sucht.
Doch diese These ist umstritten.
Die Verbindung von Karies und Zucker
hingegen ist nicht von der Hand zu weisen.
Das zeigt unter anderem eine neue
Übersichtsarbeit der Wissenschaftlerinnen Paula Moynihan und Sarah Kelly von
der britischen Newcastle University. In der
Studie wiesen sie nach, dass bei einer
Halbierung von Zucker in der Nahrung
wesentlich weniger Karies auftritt. Der
deutsche Zuckerverband stellt die Aussagekraft der Untersuchung jedoch infrage.
Die Studienlage zum Einfluss eines geringeren Zuckergehalts in Lebensmitteln sei
dürftig, heißt es dort. Die Forderung, den
Konsum von Zucker einzuschränken,
widerspreche der Faktenlage. Der Verband verweist darauf, dass insbesondere
Deutschland im Vergleich mit anderen
Ländern bei der Zahngesundheit einen
Spitzenplatz einnehme.
Verbraucherschützer halten solche Argumente für Augenwischerei. Sie fordern
seit Jahren strengere Richtlinien. „Die tägliche Zuckermenge im Essen zu reduzieren,
wäre eine gesundheitspolitische Weichenstellung, die schon längst überfällig ist“,
findet Silke Schwartau von der Verbraucherzentrale Hamburg. Ihr geht es vor allem darum, den hohen Zuckergehalt auf
den ersten Blick zu verdeutlichen, etwa
über die Ampelkennzeichnung auf Verpackungen. „Die Bundesregierung muss endlich handeln und insbesondere Kinder vor
den Folgen von zu hohem Zuckerkonsum
schützen“, fordert auch die Verbraucherorganisation Foodwatch. In Deutschland sei
jedes fünfte Kind übergewichtig.
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